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Full text of "Göttingische gelehrte Anzeigen"

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Göttingische 


selehrte Anzeigen. 


Unter der Aufsicht 


der 
Königl. Gesellschaft der Wissenschaften. 
163. Jahrgang. 


Erster Band. 


Berlin. 
Weidmannsche Buchhandlung. 
1901. 


Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel 
in Göttingen. 


Verzeichnis 
der an dem 163. Jahrgange (190]) 
der 
Göttingischen gelehrten Anzeigen 
beteiligten Mitarbeiter. 


Die Zahlen verweisen auf die Seiten. 


G. von Below in Tübingen. ” 364. 

H. Bloch in Straßburg. 872. 

W. Bousset in Göttingen. 753. 

K. Brandi in Marburg. 144. 242. 

C. Brockelmann in Breslau. 342. 509. 
G. Buchholz in Leipzig. 166. 

O. Bürger in Santiago di Chile. 350. 


W. Caland in Breda. 125. 
P. Corssen in Berlin. 1. 645. 


H. Diemar in Marburg. 489. 
K. Dziatzko in Göttingen. 354. 


R. Eucken in Jena. 900. 


Ais Frankenberg in Louisendorf. 177. 276. 677. 
Fuhr in Berlin. : 98. 


P. Goldsoh midt in Berlin, 87. 751. 
a” 


IV Verzeichnis der Mitarbeiter. 


E. Gothein in Bonn. 401. 
H. Graeven in Hannover. 77. 196. 


J. Haller in Rom. 807. 

W. Heyd in Stuttgart. 263. 

H. Höffding in Kopenhagen. 134. 

A. Höfler in Wien. 468. 

O. Hölder in Leipzig. 301. 

H. Holtzmann in Straßburg. 673. 835. 948. 


A. Jülicher in Marburg. 183. 345. 628. 706. 


G. Kawerau in Breslau. 293. 513. 
W. Kisch in Straßburg. 206. 

Th. Kolde in Erlangen. 711. 864. 
A. Korte in Greifswald. 960 

A. Köster in Leipzig. 797. 

J. C. Kreibig in Wien. 128. 

W. Kroll in Greifswald. 575. 


A. Leist in Gießen. 340. 

F. Leo in Göttingen. 318. 
H. Lietzmann in Bonn. 89. 
J. Loserth in Graz. 907. 


Leo Meyer in Göttingen. 325. 734. 897. 

G. Meyer von Knonau in Zürich. 260. 582. 587. 999. 
L. Mollwo in Göttingen. 173. 

R. Much in Wien. 453. 


B. Niese in Marburg. 596. 
E. Norden in Breslau. 593. 


M. Perlbach in Halle. 826. 
M. Ritter in Bonn. 652. 


O. Scheel in Kiel. 835. 913. 

C. Schmidt in Berlin. 996. 

A. E. Schönbach in Graz. 425. 

E. Schroeder in Marburg. 46. 

A. Schulten in Göttingen. 560. 

F. Schulthess in Göttingen. 204. 802. 991. . 
W. Schuppe in Greifswald. 656. 

E. Frhr. v. Schwind in Wien. 723. 


Verzeichnis der Mitarbeiter. 


W. Sickel in Straßburg. 373. 
J. Sommer in Poppelsdorf. 526. 
F. Studniczka in Leipzig. 539. 
H. Suchier in Halle. 406. 


E. Troeltsch in Heidelberg. 15. 265. 
Tupetz in Prag. 336. 


Th. Vahlen in Königsberg. 787. 
W. Voigt in Göttingen. 330. 742. 


H. Wagner in Göttingen. 138. 

O. F. Walzel in Bern. 972. 

H. Wartmann in Sankt Gallen. 818. 

J. Wellhausen in Göttingen. 738. 

P. Wendland in Wilmersdorf. 777. 

F. Wiegand in Erlangen. 634. 

U. von Wilamowitz-Moellendorff in Westend (Berlin). 30. 


H. Zimmern in Leipzig. 416. 421. 


Verzeichnis 
der besprochenen Schriften. 


Die Zahlen verweisen auf die Seiten. 


Germanistische Abhandlungen, begründet von Karl Wein- 
hold, hrsg. von F. Vogt. XVI. Die Jacobsbrüder von Kunz 
Kistener, hrsg. von K. Euling. [Schroeder]. 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. 
Festgabe für Richard Heinzel. [Schönbach)]. 


Abou Othman Amr, Le livre des Ovares, publié par G. van 
Vloten. [Schulthess]. 


Acta apostolorum Graece et latine edidit A. Hilgen- 
feld. [P. Corssen]. 


L. Apulei Madaurensis apologia et florida rec. J. van der 
Vliet. [Kroll]. 


Bäumker, s. Beiträge. 
Beckmann, s. Reichstagsakten. 


Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. 
Hrsg. von Baeumker und Frhr. v. Hertling. 


II 1. Domanski, B. Die Psychologie des Nemesius. 
[Eucken]. 


46 


425 


802 


575 


904 


Verzeichnis der besprochenen Schriften. 


Ill 4. Worms, M. Die Lehre von der Anfangslosig- 
keit der Welt bei den arabischen Philosophen des Orients 
und ihre Bekämpfung durch die arabischen Theologen. 


[Eucken). 


Beiträge zur Romanischen Philologie. Fest- 


gabe für Gustav Gröber. [Suchier]. 


Belser, J., Einleitung in das Neue Testament. [Jülicher]. 


Bergk, s. Poetae. 


Assyrische Bibliothek, hrsg. von F. Delitzsch und P. Haupt. 
XVI. Delitzsch, F., Assyrische Lesestiicke. Vierte Auflage. 


[Zimmern]. 


Bibliothéque de l’école des hautes études. Sciences re- 
ligieuses. XI. Levi, La doctrine du sacrifice dans les Bräh- 


mapas. [Caland). 
Black, s. Cheyne. 


Blass, F., Die Rhythmen der attischen Kunstprosa. [Norden]. 
Brandenburg, E. Moritz von Sachsen. Erster Band. 


[Brandi]. 


— —, —, Politische Korrespondenz des Herzogs und Kur- 
fürsten Moritz von Sachsen. Erster Band. [Brandi]. 


Braude, M., Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 


[Schuppe]. 


Briefe und Aktenstücke zur Geschichte Preußens unter 
Friedrich Wilhelm III. Vorzugsweise aus dem Nachlasse von 
F. A. Stägemann, hrsg. von Franz Rühl. [Goldschmidt]. 87. 


Budge, W., The earliest known coptic Psalter. [Schmidt] 


Bugenhagen, s. Quellen. 
Bülow, O. Das Geständnisrecht. 


[ Hölder] 


[Kisch]. 
Burkhardt, H., Funktionentheoretische ö Vorlesungen. 


Cheyne and Black, Encyclopaedia biblica II. [Holtzmann]. 
Chronik der Stadt Zirich, s. Quellen. 


Cornelius, H., Psychologie 
[Kreibig]. 


als 


Erfahrungswissenschaft. 


VII 


900 


406 
706 


416 


125 


593 


144 


161 


656 


751 
996 


206 


301 


673 


128 


Vil Verzeichnis der besprochenen Schriften. 


Nassau-Oranische Correspondenzen. Erster Band. Mei- 
nardus, O., Der Katzenelnbogische Erbfolgestreit. [Diemar]. 


Delaville le Roulx, J., Cartulaire general de l’ordre des 


Hospitaliers de S. Jean de Jerusalem (1100—1310). IV 1. 


[Heyd]. 

Delbrück, H., Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der 
politischen Geschichte. I. (Niese]. 

Delitssch, s. Bibliothek. 


Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich. II. 
vı. VI1. VO. VII 1. [Voigt]. 


Dierauer, s. Quellen. 


Dionysii Halicarnasei opuscula ed. H. Usener et L. 
Radermacher. Volumen prius. [Fuhr]. 


Domanski, s. Beiträge. 
Dorner, A. D., Grundriß der Dogmengeschichte. [Tröltsch]. 
Dunlop Gibson s. Palestinian Syriac texts. 


Egli, E.. Analecta reformatoria. (II). [Meyer von Knonau]. 


Ehrhard, A. Die altchristliche Literatur und ihre Erfor- 
schung von 1884—1900. Erste Abteilung. [Jülicher]. 


Euling, s. Abhandlungen. 


Faulhaber, s. Hesychius. 


Fayum towns and their papyri, by B. Grenfell, A. Hunt, 
D. Hogarth. [von Wilamowitz-Moellendorff]. 


Festschrift zu Goethes 150. Geburtstagsfeier, dargebracht 
vom Freien Deutschen Hochstift. [Köster]. 


Funk, F. X, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Unter- 
suchungen. II. [Jülicher]. 


Gauß, C. F. Werke. Achter Band. [Sommer]. 

Geib, O., Theorie der gerichtlichen Compensation. [Leist]. 
Gottlieb, Th., Die Ambraser Handschriften. I. [Dziatzko). 
Gots, s. Kampschulte. 

Gramsow s. Studien. 


489 


263 


596 


742 


98 


265 


30 


797 


183 


526 
340 
354 


Verzeichnis der besprochenen Schriften. 


Grenfell, s. Fayum. 


Grüneisen, C., Der Ahnenkultus und die Urreligion Israels. 
[Frankenberg]. 


Gunkel, s. Handkommentar. 


Haller, s. Urkundenbuch. 


Handkommentar zum Alten Testament, hrsg. von Nowack. 
I 1. Gunkel, H., Genesis übersetzt und erklärt. [Franken- 
berg]. 


Harrisse, H., Découverte et évolution cartographique de 
Terre-Neuve et des pays circonvoisins. [Wagner]. 


Heinemann, s. Quellen. 
Herre, s. Reichstagsakten. 


Herrmann, M., Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. [Walzel]. 


v. Hertling, s. Beiträge. 

Hesychii Hierosolymitani interpretatio Jesaiae pro- 
phetae edita a M. Faulhaber. [Lietzmann]. 

Hilgenfeld, s. Acta. 


Frhr. Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 
[Studniczka]. 
— —, s. Inscriptiones. 


Hogarth, s. Fayum. 
Hunt, s. Fayum. 


Ibrahim ibn Muhammad al-Baihagä, Kitab al-maha- 
sin val-masävi, hrsg. von F. Schwally. I. [Brockelmann]. 
Inscriptiones Graecae insularum maris Aegei. II. In- 
scriptiones Graecae insularum Symes, Teutlussae, Tebi, Ni- 
syri, Astypalaeae, Anaphes, Therae et Therasiae, Pholegandri, 
Meli, Cimoli ed. Fr. Hiller von Gaertringen. [Studniczka]. 


Kampschulte, F. W., Johann Calvin, seine Kirche und sein 
„Staat in Genf, II. Hrsg. von W. Götz, [Kaweraul. 


177 


677 


138 


972 


89 


539 


342 


539 


293 


x Verzeichnis der besprochenen Schriften. 


Kayser, H., Handbuch der Spectroscopie. I. [Voigt]. 330 
King, L. W., The letters and inscriptions of Hammurabi. II. 
IL. [Zimmern]. 421 


Kistener, s. Abhandlungen. 
Klostermann, s. Origenes. 


König, E., Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische 


Litteratur komparativ dargestellt. [Frankenberg]. 276 
— —, — Hebräisch und Semitisch. [Wellhausen]. 738 
Kunze, J., Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 

[Scheel]. 835. 913 


Levi, S., s. Bibliothéque. 


Liebenam, W., Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 
[Schulten). 560 


D. Martin Luthers Werke. XIX. [Kolde]. 711 


Mayr, M., Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum ita- 
lienischen Landestheile. [v. Schwind]. 723 


v. Meier, E., Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsge- 
schichte. [v. Below]. 364 
Meinardus, s. Correspondenzen. 


Meyer, L., Handbuch der Griechischen Etymologie. [Meyer]. 
325. 734. 897 


— —, Ph., s. Studien. 


Mitteilungen aus dem Naturhistorischen Museum in Ham- 


burg. Jahrgang XIV—XVI 2. Beiheft. [Bürger]. 350 
Monod, G., Etudes critiques sur les sources de Vhistoire ca- 
rolingienne. I 1. [Bloch]. 872 


Müllenhoff, K., Deutsche Altertumskunde. IV. [Much]. 453 
Nowack, s. Handkommentar. 


Oechs'li, W., Quellenbuch zur Schweizer Geschichte. [Meyer 
“yon Knonau}, 999 


Verzeichnis der besprochenen Schriften. 


Oeltzelt-Nevin, A., Kosmodicee. [Höfler]. 
—. — —, Nachtrag: Ueber Willensfreiheit. 
[Hofler]. 
Origenes Werke. III. Hrsg. von E. Klostermann. [Wend- 
land]. 


Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 
I 1—3. I 1—9. [Ritter]. 


Palestinian Syriac texts from palimpsest fragments in 
the Taylor-Schechter collection ed. by A. Smith Lewis and 
M. Dunlop Gibson. [Schulthess]. 


Papyri, s. Fayum. 
Peter, H., Der Brief in der römischen Litteratur. [Leo]. 


Pfister, A., Aus dem Lager der Verbündeten. 1814 und 
1815. [Mollwo]. 


Pieper, A., Die päpstlichen Legaten und Nuntien in Deutsch- 
land, Frankreich und Spanien seit der Mitte des 16. Jahr- 
hunderts. I. [Gothein]. 


Pindarus, s. Poetae. 


Poetae Lyrici Graeci coll. Th. Bergk. I 1. Pindari car- 
mina recensuit O. Schroeder. [Korte]. 


Preuschen, E., Antilegomena. [Holtzmann]. 


Quellen zur Pommerschen Geschichte. IV. Jo- 
hannes Bugenhagens Pomerania, hrsg. von O. Heinemann. 
[Perlbach]. 


Quellen zur Schweizer Geschichte. XVIII. Chro- 
nik der Stadt Zürich, mit Fortsetzungen, hrsg. von J. Dierauer. 
[Meyer von Knonau]. 


Radermacher, s. Dionysius. 


Deutsche Reichstagsakten. X 1. Hrsg. von H. Herre. 
XI. XI. Hrsg. von G. Beckmann. [Haller]. 


Rietschel, G., Lehrbuch der Liturgik. I. [Kawerau). 


Riezler, sg, ‚ Geschichte Baierns. Vierter Band (von 1508— 
1597). [Brandi]. Zr 


468 


468 


777 


52 


204 


318 


173 


401 


960 
835 


826 


582 


807 
513 


242 


XII Verzeichnis der besprochenen Schriften. 
Rühl, s. Briefe und Aktenstücke. 


Schlitter, H., Die Regierung Josefs II. in den österreichi- 
schen Niederlanden. I. [Loserth]. 


Schroeder, s. Poetae. 

Schwally, s. Ibrahim. 

Schware, s. ‘Umar. 

Schweizer, P., Die Wallenstein-Fragen in der Geschichte 
und im Drama. ([Tupetz]. 

Seeberg, R., Lehrbuch der Dogmengeschichte. Zweite Hälfte. 
[Troeltsch]. 

Smith Lewis, s. Palestinian Syriac texts. 

Die Zürcher Stadtbücher des XIV. und XV. Jahrhunderts. 
Hrsg. von H. Zeller-Werdmüller. II. [Meyer von Knonau). 

Stägemann, s. Briefe und Aktenstücke. 

Stein, s. Studien. 

Studia Sinaitica IX/X. [Schulthess]. 

Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche. III 6. 


Meyer, Ph., Die theologische Litteratur der griechischen 
Kirche im sechzehnten Jahrhundert. [Wiegand]. 


Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte. Hrsg. 
von L. Stein. XII. Gramzow, Friedrich Eduard Benekes 
Leben und Philosophie. [Höffding]. 


Thiele, E., Luthers Sprichwortersammlung. [Kolde]. 


Ulmann, H., Russisch-preußische Politik unter Alexander I. 
und Friedrich Wilhelm IIL bis 1806. [Buchholz]. 


Der Diwan des ‘Umar ibn Abi Bebi’a, hrsg. von 
P. Schwarz. I. [Brockelmann]. 


Urkundenbuch der Stadt Basel. IV. Hrsg. von 
R. Wackernagel. VII. Hrsg. von J. Haller. [Wartmann]. 


Usener, 8. Dionysius. 


van der Viset, 8. Apuleius. 


907 


336 


15 


587 


991 


634 


134 


864 


166 


509 


818 


Verzeichnis der besprochenen Schriften. 


van Vloten, s. Abou Othman Anr. 
Vogt, s. Abhandlungen. 


de Waal, A., Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grot- 
ten vun St. Peter. [Graeven]. 


Wackernagel, s. Urkundenbuch. 


Waitz, G., Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. Zweite Auf- 
lage. Bearbeitet von G. Seeliger. [Sickel]. 

Waitz, H., Das pseudotertullianische Gedicht adversus Mar- 
cionem. [Jülicher]. 

Weber, H., Lehrbuch der Algebra. Zweite Auflage. 
[Vahlen]. 

Weinel, H., Die Wirkungen des Geistes und der Geister im 
nachapostolischen Zeitalter. [Bousset]. 

Weinhold, s. Abhandlungen. 

Wendt, H. H., Das Johannesevangelium. [Corssen]. 

Wiegand, J., Das altchristliche Hauptportal an der Kirche 
der hl. Sabina. [Graeven]. 

Worms, s. Beiträge. 

Wrede, W., Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. [Holtz- 
mann]. 

Zeller- Werdmüller, s. Stadtbücher. 


77 


373 


628 


187 


753 


645 


196 


948 


Göttingische 


yelehrte Anzeigen. 


Unter der Aufsicht 


der 
Königl. Gesellschaft der Wissenschaften. 
163. Jahrgang. 


Zweiter Band. 


Berlin. 
Weidmannsche Buchhandlung. 
1901. 


Für die Redaktion verantwortlich : Prof. Dr. Georg Wentzel 
in Göttingen. 


Januar (901. Nr. |, 


Acta apostolorum Graece et Latine secundum antiquissimos testes edidit actus 
apostolorum extra canonem receptum et adnotationes ad textum et argumentum 
actuum apostolorum addidit Adolfus Hilgenfeld. Berlin, G. Reimer, 1899. 
XIV und 310 S. 8. Preis Mk. 9. 


Die ältesten Zeugen, auf welche H. den Text der Apg. gründet, 
sind die Vertreter derjenigen Ueberlieferung, die man friiher die 
occidentalische zu nennen pflegte, in erster Linie der Codex Bezae 
(D). Diese Ueberlieferung bezeugt nach H. nicht nur den ältesten, 
sondern auch den einzig echten Text, während der heutigen Tages 
allgemein angenommene — der textus receptus novus, wie H. sich 
ausdrückt — nach ihm nicht, wie Blass meint, eine spätere Bear- 
beitung des Verfassers selbst, sondern vielmehr das Werk griechi- 
scher Sophisten oder Grammatiker ist (p. XIV). 

Es gab eine Zeit, wo man die Ansicht Bornemanns, mit dem H. 
in der Wertschätzung des Cod. Bezae wesentlich übereinstimmt, der 
Curiosität wegen zu verzeichnen pflegte, ohne sie einer Widerlegung 
zu würdigen. Aber die Zeiten ändern sich. Der Codex Bezae hat 
durch Blass bekanntlich viele Gläubige gewonnen, und H. hofft, daß 
das neue Jahrhundert, in das wir nunmehr eingetreten sind, die 
Blinden alle sehend machen wird (p. VII). 

Wer mit den Zeugen des sogenannten occidentalischen Textes 
vertraut ist, den ich mit Blass der Kürze halber 8 im Gegensatz zu 
dem üblichen, «, nennen will, wird sich immerhin wundern, daß bei 
einem Versuch, aus ihrer ungeheuren Mannigfaltigkeit einen ur- 
sprünglichen Text wiederzugewinnen, die höchst verwickelten Vor- 
gänge der Textgeschichte, die zu dieser Mannigfaltigkeit geführt 
haben, nicht einmal angedeutet werden. Vergebens sucht man sich 
aus der kurzen Einleitung, die dem Text voraufgeschickt ist, dar- 
über zu belehren, wie H. über das Wesen und die Beschaffenheit 
der Zeugen, über ihr Verhältnis zu einander denkt, nach welchen 
Grundsätzen und welcher Methode er sodann den Text consti- 
tuiert hat. 


Wir werden also aus dem Texte selbst die Methode zu ermitteln 
@6tt. gel. Ans. 1901. Nr. 1. 1 


2 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


suchen, nach der er hergestellt ist. Bevor wir aber dieses unter- 
nehmen, wollen wir die Einrichtung des kritischen Apparats ins Auge 
fassen, um uns zu überzeugen, ob der Bau, der darauf errichtet ist, 
auf sicherem Grunde ruht. 

Die schmerzliche Erfahrung, daß bei der Herstellung des Appa- 
rates Fehler aller Art sich einschleichen, werden ja die meisten 
machen, die sich mit solchem Geschäft befassen, aber die Kritik darf 
sich dadurch nicht abhalten lassen, den Wert der Arbeit nach dem 
Maaße der dabei erreichten Deutlichkeit und Zuverlässigkeit zu be- 
messen. Hier handelte es sich in der Hauptsache nicht um neue 
Collationen, da die 8. Auflage der großen Tischendorfschen Ausgabe 
zur Grundlage genommen wurde, sondern wesentlich um eine durch 
die veränderte Wertschätzung bedingte neue Gruppierung des dort 
aufgestapelten Materials. 

Daß der Apparat dabei an Uebersichtlichkeit und Deutlichkeit 
gewonnen habe, wird man nicht behaupten können. Man vergleiche 
z.B. 13, 29: xaı xadelovres axo tov Evdov xu (xae om. Thom.) 
ednxav (avrov add. in marg. Thom., sed in Ph obelo notavit) es 
pynpecov Dd Thom. (in marg. praem.) xcı, om. axo tov Evdov, xaı 
(praem. Psch. gig.) x«dsAovres (avrov add. syr. utq.) axo rov Evdov 
(oravpov E Psch.) efyxav (avrov add. syr. utq. gig.) eg pynuecov 
EB cett. M syr. utq. gig. — Was hier (in marg. praem.) xat, om. axo 
tov Evdov bedeuten soll, habe ich beim besten Willen nicht ent- 
rätseln können. Sieht man im übrigen zunächst einmal von den 
vielen Parenthesen ab, so bedeutet die umfangreiche Angabe, daß die 
Ueberlieferung sich hier in zwei Hauptzweige spaltet, Dd Thom. 
einer-, EB etc. andererseits. Worauf läuft aber der Unterschied der 
beiden Gruppen hinaus? Auf ein winziges x«ı vor ed'nxev, das, ab- 
gesehen von seiner inneren Unmöglichkeit, noch dazu in seiner 
Gruppe nur von einem der drei Zeugen bestätigt wird. Das hatte 
Tischendorf kürzer ausgedrückt, nämlich e@yxev: D xaı ednxav (item 
d), das letztere freilich irrtümlich, denn d beweist nichts, wovon 
später. 

Zu dem Text 22, 28 xal droxgidels 6 yıllapyos einev heißt es 
im Apparat im wesentlichen so: xat «noxgıdes o yeıkınpyos (xuı 
periisse videtur) D, anexgidn de o yılıapyos EB cett. | cınev avrw 
D>. — Jedermann wird glauben, daß xaı vor axoxg:ferg in D verloren 
gegangen zu sein scheine, aber aus Scrivener erfährt man, daß es 
anders gemeint ist, nämlich daß nach yecdsegzos anscheinend xa aus- 
radiert ist. Der Corrector D> hat ferner nicht esxev «vrw, sondern 
nur «vrm zugesetzt, während esxey schon die erste Hand hat, was 
aus H. nicht ersichtlich ist. 


Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. 3 


Wenn 9, 20 angegeben wird pera zaang zappneies fl. m 4 Iren. 
197, so kann man wirklich nicht gleich wissen, daß die Ziffern hier 
Seitenzahlen bedeuten, da sonst auf solche Weise Minuskelhand- 
schriften bezeichnet werden und 2, 30 unzweideutig Iren. p. 193 
steht. 15, 20 hinwiederum ist Iren. III, 12, 14 nach Buch, Kapitel 
und Paragraph citiert, während meist ohne weiteres Iren. gesetzt 
ist. — Origenes wird nach Bänden und Seiten citiert, mit Ausnahme 
der Bücher Contra Celsum, Clemens Alexandrinus dagegen nach 
seinen Schriften. Bei Origenes wird nicht unterschieden, ob ein 
Citat aus einer im Original oder einer nur in der lateinischen Ueber- 
setzung erhaltenen Schrift stammt, ebenso wenig ist angegeben, 
daß die wichtigen Varianten 4, 31 und 9, 20 von Irenaeus auch grie- 
chisch erhalten sind. — 15, 20 werden Iren. Tert. Ambros. Hieron. 
nach ihren Schriften citiert. Dazwischen steht Cypr. 329, was ich 
nicht verstehe, denn Cyprian citiert die Stelle überhaupt nicht. In 
weitaus den meisten Fällen ist, wie bei Irenaeus, nur der Name des 
Kirchenvaters in Abkürzung angegeben, wobei ich bemerke, daß 
mit Lucfr. (z. B. 13, 6) Lucifer Calaritanus gemeint ist. 

Die Auswahl aus den Citaten der Väter scheint willkürlich. Den 
Zeugnissen von Chrysostomus und Theophylaktus, oft nicht belanglos 
für den ß-Text, z. B. 20, 10 und 15, bin ich an den Stellen, wo ich 
danach suchte, nicht begegnet. Während wichtigere fehlen, wird da- 
gegen wiederholt Beda ex graeco angeführt, dessen griechischer Co- 
dex doch kein anderer war als der uns erhaltene Laudianus E. Bei 
H. stehen freilich beide gelegentlich mit einander in Widerspruch, 
z.B. 4, 31 und 13, 41; aber ein Blick in Tischendorfs Ausgabe des 
Laud. zeigt, daß H. sich über diesen geirrt hat. 

Nach einer Seite geht H. natürlich über Tischendorfs Apparat 
hinaus. Waren doch diesem sehr wichtige Zeugen des ß-Textes ent- 
weder ungenügend, wie die erst durch S. Berger vollständig ent- 
zifferten Fragmente des lateinischen Floriacensis, oder überhaupt 
nicht bekannt, wie der sogenannte Gigas und der Paris. lat. 321. 
Auch aus S. Berger’s Histoire de la Vulgate hat H. Nutzen gezogen, 
wobei ich aber nicht verschweigen kann, daß Anmerkungen wie 12, 18 
Berg. p. 162 add.: aut quomodo exisset über das Maaß erlaubter 
Breviloquenz hinausgehen. 

Für keine Bereicherung unserer Einsicht kann ich es halten, 
daß die Varianten der Pariser Ausgabe des R. Stephanus vom Jahre 
1550 mitgeteilt werden. Zum mindesten hätten uns die Varianten 
von ß erspart bleiben können, da 6 nichts anderes als der Cod. Be- 
zae ist, besonders in den Fällen, wo sie ersichtlich falsch sind, wie 
2,47. 3, 1, 15, 20. 


1* 


4 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


Dagegen ist es anzuerkennen, daß H. die interessante Minuskel- 
handschrift 137 s. XI in Mailand hat neu vergleichen lassen. Sie 
ist in den Apparat unter dem Buchstaben M ‘quasi maiusculus’ 
(p. IX) aufgenommen. Freilich wäre es nicht nötig gewesen, den 
Apparat mit den vielen gräulichen Fehlern, von denen diese Hand- 
schrift wimmelt, zu belasten. Bedenken flößt die Bemerkung in der 
Einleitung ein, M würde 15, 14 nicht zugleich als Zeuge für die 
Lesart exeoxewaro und e&eiskaro erscheinen, wenn die Druckbogen 
in Mailand nach der Handschrift vollständig hätten revidiert werden 
können, wie es mit den ersten drei geschehen sei. Ist der genannte 
Fehler der einzige? Nach H.’s Angabe hat M 24, 24 sowohl zıvas 
nuegas als nuepas tevac. 27,7 steht M ebenso unter den Zeugen 
für als gegen xara ocAumvnv, 22, 29 gilt das Gleiche sogar für den 
ganzen Satz xa rapeypnua edvoey avtov. Wie mag es an den an- 
dern Stellen stehen, wo H.’s M von Tischendorfs 137 abweicht ? wie 
23, 25 (megısyovoav M, syovoav 137) v. 34 (erngwrnse M, xaı exegu- 
noag 137) 22, 26 (ote ewpacoy Exvrov Asycı om. M, hab. 137). 

Die beiden syrischen Uebersetzungen hat H. selbst verglichen 
und zwar die Peschitta in der Ausgabe von Martin Trost vom J. 
1621, während Tischendorf die Ausgabe von Schaaf zu Grunde ge- 
legt hatte. Ob die Differenzen zwischen Tischendorf und H. (z. B. 
22, 12. 13. 14) auf dieser Verschiedenheit der Ausgaben, ob auf 
Versehen von der einen oder andern Seite beruhen, vermag ich bei 
meiner Unkenntnis des Syrischen nicht zu sagen. Die Philoxeniana, 
von Tischendorf und Blass als syr?, d. h. syriaca posterior bezeichnet, 
wird Ph von H. genannt Neu ist auch die Bezeichnung Thom. c. ast. 
für die von dem Bischof Thomas von Heraclea mit einem Asteriscus 
versehenen und Thom. (mg.) für die am Rande der Philoxeniana 
von ihm zugesetzten Lesarten. H. nimmt an, daß für die letzteren 
zwei Handschriften benutzt seien, und unterscheidet 23, 23. 24 mg.! 
und mg.” Ebenda findet man die Bemerkung: om. Thom. (mg.), 
etiam alterum codicem haec continere testatus. Mir ist es nicht 
möglich gewesen, irgend eine Spur von einer solchen Unterscheidung 
des Thomas zu entdecken. 

Wo Beschränkung auf das Wesentliche, Durchsichtigkeit und 
Klarheit der Anordnung, Praecision und Consequenz in den Angaben 
den kritischen Commentar beherrschen, wird man mit diesen Tugen- 
den auch die Zuverlässigkeit im Bunde finden. Wir haben, als wir 
uns nach jenen umsahen, auch diese bereits öfter vermißt. Die bei- 
läufig erwähnten Fälle sind nicht die einzigen. | 

Widersprüche, wie wir sie bei M fanden, begegnen auch sonst: 
26, 15 ist P sowohl unter denen verzeichnet, die xvgcog haben, als 


Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. 5 


unter denen, die es auslassen. E soll 12, 25 xcı (vor Imavny), 25, 4 
peldesy nach der ersten Angabe haben, nach der zweiten nicht. 2, 17 
tritt E zuerst für xa: 0: wgeoBuregoc, dann für x. o 2. vuwv ein. 
27,7 sind es sogar drei Handschriften zugleich, die sich in solcher 
Weise widersprechen, nämlich außer M (s. oben) noch BN. — 28, 1 
steht im Text tore, im Apparat statt dessen re; 18, 1 im Text dva- 
zopioas dt, im Apparat axoywenous de, zugleich wird ds D erst 
zugeschrieben, dann abgesprochen. 

2, 23 steht zu dem Text dvefAare im Apparat avecdare M, eben- 
so 27, 10 gogriov etiam M, ohne daß eine Variante vorläge. Was 
aber bedeutet vollends 26, 26 «Ada etiam M, wo dAA« im Text nicht 
vorkommt ? — 26, 23 fragt man sich, warum im Apparat pedde: EB 
cett. angegeben ist. Das Rätsel löst sich, wenn man Tischendorf 
aufschlägt, denn hier erfährt man, was bei H. ausgefallen ist, daß NHP 
und mehrere Minuskeln peddey haben. 

4, 12 heißt es: ov D fl. ovde dB (syr. utq.) gig. ovre EPM. Was 
NA haben, erfährt man nicht, und warum d mit neque, gig. mit nec 
mehr für ovds als für ovrs zeugen, ist nicht ersichtlich. 

23, 34/5 ist der Text Zpn‘ KéAcE: xal avOdpevos Epn' dxodco- 
paé cov. Dazu der Apparat: 34 epn ılıE (xılıcıa Thom.) xae xvGo- 
wevog &pn M Thom. (mg.) gig. | 35 axovsouaı cov (cov om. Thom. 
mg.) MPh, egy «xovoouaı cov Psch. Thom. (mg.) gig. Hier ist zu- 
nächst bei Thom. der Widerspruch in Bezug auf gov zu notieren, 
der durch Versetzung der Parenthese zu lösen ist. Vergebens sucht 
man aber den Unterschied zwischen M einer- und Thom. gig. an- 
dererseits zu ergründen. In Wirklichkeit hat Thom. mg. dixit, Cili- 
cia. Et cum cognovisset, dixit: Audiam, dixit. Gig. aber: Et cum 
audisset, dixit: Audiam te, mit völliger Uebergehung des fn: xtAıE. 

Diese Beispiele sind aufs Geratewohl herausgegrifien, es kommt 
schlimmer, sobald man genauer nachprüft. 

Einer der wichtigsten Zeugen ist Irenaeus. Er bestätigt an 
vielen Stellen den Text von ß, an manchen geht er mit a, an eini- 

gen hat er singuläre Lesarten. Ich habe alle seine Citate mit H. 
verglichen, dabei fand ich, daß in weitaus den meisten Fällen sein 
Zeugnis überhaupt nicht beachtet, in einigen unrichtig wieder ge- 
geben ist. So bestätigt Iren. den Zusatz von ß 2, 30 nicht. 3, 21 
stimmt er nicht mit DB etc. überein, sondern hat die singuläre Les- 
art per sanctos prophetas suos. 15, 7 hat er zwar in vobis mit BA 
etc., aber die Wortstellung gleich D. 3, 13 bestätigt er ®eAovrog 
von D, aber nicht das damit unvereinbare xgrvavrog. 

Die unberücksichtigten Lesarten betreffen durchaus Dinge, die 
H. principie der Erwähnung wohl für würdig gehalten hat, z. T. 


6 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1, 


sind sie von hervorragender Bedeutung. Z.B. 3, 17 add. nequam 
== ß v.18 om. ovrwg = fl. (fl. fehlt gleichfalls) v.21 om. aw aımwvog 
= ß v. 22 add. ad patres nostros = ß etc. etc. — Es ist sogar 
nicht einmal angegeben, daß Iren. 15, 20 den Zusatz et quaecumque 
nolunt sibi fieri, aliis ne faciant und 15, 29 denselben in der zweiten 
Person hat. Zu 15, 20 wird angemerkt, daß nach dem von E. v. d. 
Goltz mitgeteilten Scholion des Cod. Lawra 184 B 64 Eusebius adv. 
Porphyr. den Zusatz in derselben Form wie D angeführt habe. Der 
Scholiast sagt aber nicht, daß Eusebius diese Lesart gebilligt, son- 
dern daß er sie so aus Porphyrius angeführt habe. In der Form 
aber weicht das Citat in dem Cod. Lawra von D ab. Aus demsel- 
ben Scholiasten wäre zu 15, 29 zu notieren gewesen, daß der Zusatz 
auch in dem griechischen Text des Iren. stand (cf. Texte u. Unters. 
N. F. Il, 4, p. 41). 

An manchen Stellen könnte man denken, Iren. sei bei H. unter 
einem cett. (= ceteri) einbegriffen. Da er aber in der Einleitung 
bestreitet, dass Iren. je mit & zusammentreffe, so muß man an- 
nehmen, daß auch an solchen Stellen sein Zeugnis übersehen ist, 
wie 10,41; 15, 26; 17,28; wolren. die Zusätze von ß nicht teilt. 

Nächst Irenaeus ist Tertullian der älteste Zeuge für 8. Obwohl 
seine Citate weniger zahlreich als die des Irenaeus und von Rönsch 
bequem zusammengestellt sind, so sind sie darum nicht sorgfältiger 
behandelt. So ist z.B. sein Zeugnis für das Fehlen der zvıxrd 
15, 29 nicht vermerkt. Ebensowenig, daß er, der im übrigen an 
dieser entscheidenden Stelle für 8 eintritt, doch den Zusatz doa un 
Beisre etc. nicht bezeugt. Nicht beachtet ist, daß Tert.’s Ueber- 
setzung 15, 28/9 eine Lesart oy éxdvayxsg dneysodeı statt trav End- 
vayıss" dntyeodeı voraussetzt. Wer möchte sich da verwundern, 
daß die auch von Blass übersehenen Zeugnisse für u Feouayöusv 
23, 9 und yeyparıaı ydg Ev Mwücst 26, 22 übersehen sind? 

Des demnächst ältesten lateinischen Zeugen, Cyprians, Citate, 
nicht umfangreicher als die Tertullians, haben eine erwünschte Er- 
gänzung durch die Fragmente des Palimpsests von Fleury (fl.) er- 
halten, deren Text mit dem cyprianischen identisch ist. Auch aus 
diesen sind die Angaben so dürftig und unzuverlässig, daß mam 
überall auf die Ausgabe von S. Berger zurückgehen muß. 

Ich muß mich auch hier darauf beschränken, durch wenige Bei— 
spiele, die Art und Weise, wie fl. benutzt ist, zu charakterisieren. 

5, 27 Text: ‘Ayaydvrss dt adrods Zornoav Ev tH ovvedoin oc 
Ennonrnosv avtovs 6 legeds Adyov. Dazu als einzige Variante a2 5 
fl. praetor für fegevg. Nach Berger hat fl. Ut modo (1. oma. 
perduxerunt eos in conspectu concilss cepit ad eos praetor dicere. —— 


Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. 7 


5,29 hat fl. nach H. respondens autem ait Deo. et dixit Petrus ad 
eum, nach B. respondens autem petrus dixit ad illos Cui obaudire 
oportet dd an hominib- ille autem ait dod et dixit Petrus ad eum. 

14, 19/20 Text: xul énsostoavres rods ÖyAovs xal Addaavreg 
tov Ilatiov Eoveay fw trijg aédews, vouifovres tePvava avrdév, xv~- 
xAodavıov St tay pabyray adrod dvactag eislAdev eis tiv Adorgav 
xéityv. Als einzige Abweichung wird verzeichnet wodw om. fl. und 
gerade hier stimmt fl. mit dem Texte, im übrigen weicht er voll- 
kommen ab: et concitaverunt turbam ut lapidarent paulum quem 
trahentes foras extra civitatem putaverunt eum esse mortuum tunc 
circumdederunt eum dicentes (1. discentes) et cum surressisset (1. 
discessisset) populus vespere Levavit se et introiwzt civitatem lystram. 

26, 28 Text: 6 08% ‘Ayelaxas xeds roy IIaddov Eqn: ‘Ev öAlyo 
us welBero Xguotiavoy yevéodoar. Commentar: egy fl. | revere fi. | 
yeveoSat (fl.) xocnoo: B etc. | Berger: agrippa ad eum ait modico 
suades mihi paule xpianum facere. 

Selbst der Codex Bezae (ed. Scrivener) ist nicht mit geniigender 
Sorgfalt verglichen. Wenn man 2, 20 petacrgegerae D, petacteagy- 
oeraı D> usraorgapıoraı D* verzeichnet findet, so muß man freilich 
denken, die Akribie sei hier aufs äußerste getrieben. Auf solche 
Peinlichkeit wird man aber gern verzichten, wenn man weiß, daß D* 
‚eine ganz moderne, nicht viele Jahrhunderte alte« Hand ist (s. Scri- 
vener p. XXVI). Wünschenswerter wäre es, wenn z. B. 18, 6 darauf 
geachtet wäre, daß in D ysıvousvov steht, und dementsprechend in 
Text und Commentar nicht ye-, sondern yıvousvov gedruckt wäre. 
18, 2 steht im Apparat: oı xexatwmxyoay (sic etiam D**, xaerwandev 
D). Aber Scr. druckt: oc xs xarmxndev (= of xal xarhxndsv) und 
bemerkt dazu S. 445 « pro e in xarmxyosy A? d.h. xarwandev ist 
in xeroxnoav, wahrscheinlich von A, verbessert. 18, 7 ist die Wort- 
stellung ovouzeatos (corr. -zı) Iovorov nicht beachtet. 18, 3 soll n0av 
yg oxnvoxoıoı ty vexvn von D d bezeugt werden; ich habe den 
Satz bei Ser. vergebens gesucht. Dagegen habe ich umgekehrt dort 
19, 4 die Worte eo tov egyouevoy wer avtoy in eum qui venerit post 
ipsum gefunden, die nach H. in D d fehlen. 

Ich werde mir nach diesen Proben den Nachweis sparen diirfen, 
daß die übrigen Zeugen mit keiner größeren Sorgfalt behandelt sind. 
Nur auf einen Punkt muß ich noch eingehen. Die Varianten der 
lateinischen und anderen Uebersetzungen sind teils lateinisch ange- 
geben, teils ins Griechische rückübersetzt oder ihre Zeichen sind 
hinter die aus griechischen Handschriften belegten Varianten gesetzt. 
Man kann, wie wir gesehen, sich auch auf die lateinischen Angaben 
nicht verlassen, aber in dem andern Falle ist besondere Vorsicht an- 


8 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


zuraten. 4, 14 steht in dem Apparat ors ovv rw ımoov noav fl. 
Aber fl. hat quoniam eum ihu conversabantur = ovvsoroapnsav 
(vgl. Mt 17,21 abdf vg und Acta 10,41 D). 23, 16 nv evedoay 
avrov fl. gig. Das stimmt für gig., aber fl. hat conventionem eorum 
= ovorgogiy (vgl. v. 12). 3,6 sımev de xetgog xeog avrov Thom. 
(mg.) fl. gig. Stimmt für die beiden ersten, gig. hat ait autem illi 
Petrus. 25, 21 xatoaga xaı aırnoausvov tnonPyvar gig. Darauf ist 
der Text gegründet rod 0 Tlavdov éxixadecapévov Kaioaga xal 
altyoawévov tnondiver. Gig. hat aber: tunc Paulus appellavit Ce- 
sarem et petiit etc. Mit dieser Form des Satzes stimmt die Fort- 
setzung, die bei H. lateinisch angeführt ist und in dem Commentar 
unverständlich bleibt. U. 8. w. | 

Es wird undenkbar scheinen, daß solche Dinge aus H.’s Feder 
gekommen sind. Sie stammen auch nicht aus seiner Feder; denn 
H. hat nach p. IV Text und Apparat von drei Mitgliedern des theo- 
logischen Seminars in Jena abschreiben lassen. Aber H. hat für 
Apparat wie Text die Verantwortung übernommen, sie sind bei 
G. Reimer erschienen und nicht als Seminararbeit gedruckt. 

Ein so beschaffener Apparat kann für den Text kein anderes 
als ein ungünstiges Vorurteil erwecken, und leider trügt dies Vor- 
urteil nicht. Statt eindringenden Verständnisses der Ueberlieferung, 
methodischer Abwägung der verschiedenen variantenbildenden Fak- 
toren, sicherer, innerlich begründeter Textgestaltung, begegnen wir 
bald blindem Vertrauen, bald grundsatzlosem Tasten und Schwanken ; 
und es scheint, als wenn die ungefügste und verchränkteste Satzbil- 
dung, die ungeheuerlichsten Wortformen in H.’s Augen das beson- 
dere Kennzeichen des ursprünglichen lukanischen Stiles seien. 

Wir finden 14, 24 AAdav 16, 19 eidav und elyav 17,15 xaracıd- 
vovreg 5, 35 tods ovvedglovg 21, 24 Ste xogevov 17,27 Pndagpicaccay 
(gedruckt ist gydAap.) und sdgoıcev, alles dies auf Grund von D. D 
wird auch für die rätselhafte Form u ov@xys 18, 9 verantwortlich 
gemacht. Aber D hat nicht ocmxys, wie im Apparat angegeben ist, 
sondern cé:mong, offenbar ein Schreibfehler für ce:amnons, wie eine 
spätere Hand verbessert hat. 

D wird von H. in der Einleitung als der wichtigste Zeuge für 
den originalen Text des Lucas bezeichnet. Ueber das Verhältnis 
der neben dem griechischen Texte (D) stehenden lateinischen Ueber- 
setzung (d) zu diesem bemerkt er, daß beide zwar auf das nächste 
mit einander verwandt, aber doch von einander unabhängig seien 
und daß sie eine gesonderte Existenz geführt hätten, ehe sie mit 
einander vereinigt worden wären. In Wirklichkeit gehen die beiden 
Texte an manchen Stellen soweit auseinander, daß es den Anschein 


Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. 9 


hat, als hätten sie nichts mit einander zu thun, an anderen aber 
stimmen sie so merkwürdig überein, daß die Absicht einer voll- 
kommenen Harmonie unverkennbar ist. Schon hieraus geht hervor, 
daß uns entweder beide oder doch der eine von beiden nicht in 
ihrer ursprünglichen Form erhalten sind, aber auch, daß keiner von 
beiden ohne den andern vollkommen verstanden werden kann. Es 
ist daher nicht einzusehen, warum H. d für sich besonders auf 
S. 127—196 hat abdrucken lassen. 

Wir haben in der zufällig erhaltenen Form dieser bilinguen 
Ueberlieferung das Produkt einer längeren Entwicklung zu sehen, 
über die sich derjenige, der diese Ueberlieferung für die Constituie- 
rung des ß-Textes nutzbar machen will, zunächst Klarheit verschaffen 
muß. Zwei Faktoren, beide hinlänglich bekannt, sind in diesem Pro- 
cesse besonders wirksam gewesen, einmal die Einwirkung des Latei- 
nischen auf das Griechische, sodann die Verwirrung, die der «-Text 
angerichtet hat. Beiden Faktoren hat Blass bei seiner Reconstruc- 
tion des B-Textes Rechnung getragen, aber für H. hat dieser Vor- 
gang kaum Bedeutung gehabt. Er schreibt z. B. auf Grund von D 
11, 1 totg ddeAgois ol Ev ti Iovdatea, wo ot das ursprüngliche rosg 
in Folge der Uebersetzung qui erant verdrängt hat. Ebenso 4, 12 
övoua .. 6 dedouevoy st. rd Od. aus nomen quod datum est. 17, 27 
Enzeiv 6 Heidv conv st. £. rd Hstov. Hier ist der Umbildungspro- 
ceß in D noch nicht vollendet : corey ist nach dem Lateinischen zu- 
gesetzt, ro unverändert ($nreıv to Pevov eorey quaerere quod divinum 
est). — 12, 17 tva aıyiomaıv st. aıyäv. Die ursprüngliche Lesart 
von D ist in Folge späterer Correctur nicht mehr zu erkennen. Es 
scheint, als habe die erste Hand zwischen Infinitiv und Conjunktiv 
geschwankt. 17, 30 fva ueravoronav, st. weravosiv. Hier hat D 
wa peravosıv. Wenn dieser Fall noch nicht deutlich genug war, so 
hätte doch 13, 28 wwe so avacgeory ut interficeretur über den Gang 
der Veränderung in D belehren müssen. — 12, 16 (ddvteg abröv xul 
eEeornoav aus viderunt eum (Hs. eunt) et obstupuerunt. Entspre- 
chend setzt H. x«/ mit D auch 13, 7. 27. 29. — 7,4 hat D e&eA- 
dov xcı xarmxndsv. Hier setzt H. selbst den in D begonnenen Pro- 
cess fort und schreibt mit Berufung auf d Psch &£74dev xal xurg- 
ANoEV. 

Sehr häufig sind die Fälle, wo H. mit D eine aus « in ß ein- 
gedrungene Lesart beibehält. Einige Beispiele, in denen die auszu- 
merzende «-Lesart von mir gesperrt ist, mögen das erläutern. 

3, 11 of 8 Haußndevres Eornoav ... Zxdaußoı. 4, 34 door 
YaQ xTjropes Fouy yoolav 7} olmay Unijexzor. 7,26 «ti re &m- 


10 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


odon!) Auloe Hoy adrols uayouedvoıs!) xal sidev adrode ddı- 
xoüvrag. 18, 8 dxovovres Enlorsvov nal EBanıifovro xtorevorvtes. 
20,18 do dk mageyéevovto ngös adroy dudes Svtmy adrady einev. 

Auch in Fällen, wo das Richtige bei andern Zeugen erhalten ist, folgt 
H. der Autorität von D. Z. B. 3, 13 xard& xgdoamnxov Ilsı$drov tod x el- 
vavros Exeivov axodvesy adıbv Sélovtoc. Iren. ante faciem 
Pilati cum remittere eum vellet. Aehnlich Hier. Das rov hinter ITeı- 
Actov beruht auf unbeabsichtigter Wiederholung der letzten Silbe. 

Oft hat natürlich das Eindringen von Lesarten aus « weitere 
Verderbnisse zur Folge gehabt, so daß die Elemente sich nicht so 
einfach wie in den bisherigen Beispielen scheiden lassen, wie z. B. 
18, 5 f. wo H., wesentlich in Uebereinstimmung mit D. schreibt: 
xagsyévovto 6d dnd rig Maxsdovias réte Zilüs al Tiuödeos, 
owvelye te (ovvaıyero D) r& Adyo adios drapagrvedpevog tots 
‘Tovdalosg, slvor roy Xguordoy xvgeov ’Imooüv. noAlod dt Adyov 
yevopevov (yeıvousvov D) xal yeapady dıspunvsvousvov, dvriradoo- 
uevov dt adrüv xal BAaapnuovvrov Extıvakdusvog 6 Haddog etc. 
An verräterischen Zeichen fehlt es in dieser Periode nicht: die auf- 
fällige Stellung des rdrs, der mangelhafte Anschluß des Genitivus 
abs. dvriraooousvov auröv. Dagegen findet man eine in sich zu- 
sammenhängende, von dem Einfluß von « durchaus freie Construction 
in fl.: Tunc supervenerunt a Macedonia Silas et Timotheus atque 
iterum cum multa (Hs. multis) fierent verba et scripturae interpre- 
tarentur, contradicebant Iudaei quidam et maledicebant. Tunc ex- 
cussit etc. Offenbar hat man hiervon in der Reconstructien von ß 
auszugehen. 

18, 19 hat H. im wesentlichen mit D xar/ivrnoav (xatavrnoag D) 
dt sis “Eqecov. xal t@ Enıövr oaBBdrm éxsivovg warllınev Exel, 
adrog dt elgedPcoy sls thy suvaywmyny dvedéysto vols "Iovdatorg. Die 
in « fehlenden Worte r& éxidvte oaBBerm haben auch M und Thom. 
c. ast. Aber beide verbinden sie mit dem Vorhergehenden (eis 
“Egecov +G £. 6.) und fahren mit a fort xdxsivovs. Das hat wenig- 
stens Sinn, aber es vereinigt sich nicht mit dem Schluß von v. 21, 
wo M nach Tischendorf (die Angabe bei H. widerspricht sich) statt 
évizin &xd rig "Epéoov, wie H. mit D und a schreibt, vielmehr 
tov Öb ‘dxvidav slacev Ev ’Epéom, aurös dt dvsverdelg etc. hat. 
Aehnlich Thom. mg. Hieraus ergiebt sich mit höchster Wahrschein- 
lichkeit, daß, um ß wiederzugewinnen, die Worte &xsivovg — adrds 
ö3 auszuschalten sind und v. 21 mit M Thom. zu schreiben ist. 

Gar nicht beachtet hat H. die kolometrische Schreibung von D 


1) D core extoven und pazopevoc (nicht wazouevor, wie im Apparat ange- 
geben ist). 


Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. ll 


und in Folge dessen gelegentlich einen Text hergestellt, der zwar 
in den Worten mit D iibereinstimmt, dem Sinne nach ihm aber wi- 
derspricht. So 13, 38 f. did rovrov tty kpects apaetidy xaray- 
yédderae xal uerdvoia. and xévrav ov odx Advuviiyte Ev véup 
Movetwe SixarmPijvar, év tovt@m obv etc. Aus der Stichenabteilung 
von D geht deutlich hervor, daß nach seiner Absicht dad xdvroy 
mit dem Vorhergehenden verbunden werden und mit &v tovrm ein 
neuer Satz beginnen soll. 

5, 36 teilt D folgendermaßen ab: oo dueAvdn avrog dt avrov — 

XL HAVTES 0001 Exiforto avtm — xuı Eyevovro so ovdev. Das xaı 
zu Anfang des dritten Stichus ist offenbar nicht ursprünglich, son- 
dern entweder aus « eingedrungen oder aus dem vorhergehenden 
Stichus irrtümlich wiederholt. Das Richtige hat d: et omnes quod- 
quod obtemperabant ei facti sunt nihil. H. aber klammert sich ge- 
rade an dieses xa und ohne sich um die stichische Anordnung von 
D zu kümmern, macht er aus D folgendes zurecht: ög dısAddn aürdg, 
di’ avrov xal navıss Boo. Ensidovro aurd, xal EyEvovro eig ovdEv. 
— 5, 29 schreibt H. mit D?: 6 d& IIergos einsv xedg adtovs’ Medag- 
zeiv Ost Ye uällov N dvdgmnoıs. Ueber D? bemerkt H. p. X: 
quae Scrivener s. m. signavit »incerti cuiusdam neque antiquissimi 
scriptoris lectiones indicans<, doleo me signasse D?. sed ipsa res 
parum mutabitur. Der Unterschied ist ein gewaltiger: statt der 
originalen Lesart von D folgt H. einer ganz willkürlichen Aenderung, 
die ebensowenig in der Ueberlieferung wie in der Absicht von D 
eine Stütze findet. de statt dec ist kein Schreibfehler, wie H. an- 
nimmt; die Aenderung ist allerdings alt, nach Scrivener aus dem 
Ende des VI. Jahrhunderts, nicht von G, wie H. angiebt, aber das 
darf an der Meinung von D nicht irre machen, die deutlich aus der 
stichometrischen Anordnung hervorleuchtet : xaos Bovieotat eyayaysıv 
EP NAS — to aya tov Avdgmnov Exsıvov — nevdagysv de Em 
kallov 7 avdomnoıs — O de nergo0 Eınev xgoo avtove. Diese 
Lesart ist sonst nirgends überliefert und gewiß nicht die von ß. 
Diese wird vielmehr aus fl. zu gewinnen sein. 

Auch wo D von H. corrigiert worden ist, zeigt er, daß er 
die Natur der Handschrift nicht erkannt hat. 12, 21 hat D (o 1gw- 
O76) zönusıyops: xg06 avrovo — xacadAayevtod O& KUTOV TOLO TU- 
erorg — 0 dé Önuos exepove. H. tilgt das erste ds und setzt ei- 
nen Punkt nach tvgtoco, während das zweite, aus « eingedrungen, 
zu streichen ist. — 11, 26 schreibt H., mir vollkommen unverständ- 
lich, ofteves zapayevdpevor Eviavrov ÖAov Ovvsrvoav ÖyAov Ixavov. 
Gewonnen ist das aus einer Combination von D und d 


12 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


OLTLYES HaPRYEVouEVOoL Eviavrov oAov contigit vero eis annum totum 
Ovvsyvdnoav oyAov ıxavov commiscere ecclesiam 


Richtig ist, daß beide, D und d, interpoliert sind, und es kann auch 
aus ihnen das Ursprüngliche combiniert werden. Man muß sich aber 
dabei nach einer Richtschnur umsehen, und die wird durch die ver- 
wandten Zeugen gegeben. Bestätigt wird der Anfang von D durch 
Thom. mg. (cum venissent autem) und den Perpinianus, einen la- 
teinischen Text des 13. Jahrhunderts mit vielen alten Lesarten, (cum 
autem venissent), der in d vorauszusetzende Schluß — denn commis- 
cere ecclesiam, verderbt aus commisceri ecclesiae ist der vorherge- 
henden, aus « interpolierten, Zeile angepaßt — wiederum durch den 
Perp. (conmiscuerunt se eclesie, nicht ecclesia, wie H. angiebt). 
Darnach wird man oftives xagayevéusvor (oder xagayevdpsvor dt) 
Eviavrdv ÖAov ij éxxdnote ouvsqvonoay als ursprüngliche Lesart 
von ß vorauszusetzen haben. 


Oefters besorgt H. das Geschäft der Textmischung von & und 
ß selber. Z.B. 3, 5 6 dt dreviang Eneiyev adtoig (a : 6 Ob dmeiygev 
euros D o de arevsıoaa avroo fi. ille autem contemplatus est 
eos). 19, 20 5 Adyog rod Hsod eviozvoev, xal 4 niorisg tod PEod 
nbEavs (a: 5 Adyog tod xvplov (tod xvolov 6 Adyog) nikavev xal 
toyvev; D d (mit falscher Wortstellung) evıoyvaev xaı 4 aıorıs tov 
deov nvéave, so auch Psch., aber mit der richtigen Wortstellung. 24, 
27 tov dt Tlatdov elacev Ev rnorası did Sgovorsdav HEAwv Te 
z&0ıv naradEodaı tots Tovdatotg 6 DHALE xarédAcaerv 
tov ITaükAov dedsu&vov. Hier fehlt Dd. Die Philoxeniana hat 
a (dEAmv — dedeuevov) im Text, dafür die andere Lesart am Rande. 
Nach Tischendorf wird sie durch 137 bestätigt. H. setzt freilich im 
Apparat M zu beiden Lesarten. Nach den oben mitgeteilten Beobach- 
tungen wird man ein Versehen dabei annehmen dürfen. 


Da das Eindringen des «-Textes in D an so vielen Stellen noch 
deutlich wahrzunehmen ist, so wird man überall, wo D= a ist, 
andere Zeugen aber, die sonst mit D zusammengehen, einen abwei- 
chenden Text haben, soweit nicht andere Gründe dagegen sprechen, 
den andern Zeugen ein größeres Gewicht beilegen müssen. H. ist 
auch in solchen Fällen vielfach mit D gegangen, ohne sich um die 
Abweichungen zu kümmern, z. B. 4, 15. 7, 1. 14, 5. 22. 18, 9. 


Freilich ist diese Wertschätzung keineswegs mit starrer Conse- 
quenz durchgeführt. Es können dagegen Fälle angeführt werden, 
wo H. mit Recht D zu Gunsten anderer Zeugen von ß verläßt, wie 
14, 18. 15, 1. 6. 24, ja gelegentlich begnügt er sich mit einem ein- 
zigen Zeugen, wie 4, 3 mit fl. (éxedrycay adrovs) oder 21, 31 mit 


Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. 18 


Thom. c. ast. (längerer Zusatz). Es ist gewiß nicht das eklektische 
Verfahren an sich, was zu tadeln ist; im Gegenteil, es wird durch 
die Natur der Zeugen gefordert. Aber die Auswahl muß mit einer 
inneren Consequenz erfolgen. 

Diese Consequenz vermißt man auch da, wo D nicht erhalten 
ist. Erweiterungen wie der Zusatz des Gig. 24, 5 oder am Rande 
der Philoxeniana 24, 10. 25, 3. 26, 1, die durchaus dem Charakter 
des ß8-Textes entsprechen, sind nicht aufgenommen. Ks ist nicht 
etwa geschehen, weil die äußere Bezeugung H. nicht stark genug 
erschienen wäre, denn 25, 21 wird für den Text ganz allein gig., 
25, 25 Thom. mg. angeführt. Daß bei 24, 10 und 25, 3 innere 
Gründe ausschlaggebend gewesen sind, erfahren wir aus der Vorrede 
p. XII: der erste Zusatz, defensionem habere pro se, statum autem 
assumens divinum dixit, sei ohne Zweifel eine Ausschmückung, der 
zweite, illi qui votum fecerant se pro virili (facturos esse) ut in ma- 
nibus suis esset, eine Wiederholung aus 23, 12. Vom Standpunkte 
des originalen Textes aus wird man sich solche Gründe gern gefal- 
len lassen, aber wenn man diese und ähnliche Erwägungen auf den 
Text, den H. dem Verfasser der Apg. beilegt, anwenden wollte, wie 
viel würde dann von seinen Eigentümlichkeiten nachbleiben? Wenn 
aber innere Gründe den Ausschlag geben sollen, warum ist dann 
25, 25 nach Thom. der Zusatz dxovoag dt duporspov aufgenommen, 
24, 22 dxovoas dt tatra aus HLPM dagegen nicht? einer Gruppe, 
deren Bedeutung 24, 26 H.s Aufmerksamkeit erregt hat (zaviov 
oxmg Avon avrov HLPM, fort. legenda). 25, 16, wo die Gruppe 
durch Psch. Thom. c. ast. gig. verstärkt ist, ist aus ihr eis dnalsov 
zugesetzt, 22, 20, wo sie gleichfalls an den beiden syrischen Ueber- 
setzungen Unterstützung findet, ist ein entsprechender Zusatz, tf 
dvaıg£aeı, unberücksichtigt gelassen. 25, 24 geht H. ganz mit Thom., 
der hier durch die böhmische Uebersetzung und eine lateinische 
Handschrift unterstützt wird; 24, 24 dagegen wird er, obwohl gleich- 
falls durch die böhmische Uebersetzung bestätigt, verschmäht. U.s.w. 

So schwankt die Behandlung des Textes ohne Grundsatz und 
Methode hin und her. Sie steht in jeder Hinsicht hinter dem mehr 
skizzenhaften Entwurf von Blass zurück, der trotz aller Inconse- 
quenz im einzelnen doch einen scharfen und sicheren Blick für die 
eigentlichen Probleme beweist. 

Wenn die textkritische Aufgabe, den ß-Text, soweit möglich, 
wiederherzustellen, H. zu lösen nicht gelungen ist, so läßt sich füg- 
lich auch die These, daß dieser Text der allein echte sei, nicht 
diskutieren. Aber nicht unterlassen kann ich es, gegen die Darstel- 
kung, die in der Einleitung von dem Verlauf der Textgeschichte ge- 


14 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


geben wird, zu protestieren. Bis auf Clemens Alexandrinus und 
Origenes, so behauptet H., sei der ursprüngliche Text (8) allgemein 
anerkannt gewesen. Diese hätten den von griechischen Sophisten 
oder Grammatikern gefeilten Text («) zuerst angenommen. Dieser 
jüngere Text beruhe auf BNAC, von denen B am Ende des 5., N 
nicht vor dem 6. Jahrh. geschrieben sei. Alle andern Handschriften, 
Uebersetzungen, Citate — mit Ausnahme der der beiden genannten 
Väter — bezeugten mehr oder weniger den älteren Text. Zu der 
Zeit, als BRAC geschrieben wurden, habe der jüngere Text durch 
die Autorität des Clemens und Origenes das Uebergewicht über den 
immer mehr entarteten älteren Text gewonnen. 

Wie H. sich die Verschwörung des Clemens und Origenes gegen 
den älteren Text, wie die stille Wirkung ihrer Autorität auf dem 
Gebiete der handschriftlichen Ueberlieferuug denkt, vermag ich mir 
nicht vorzustellen. Es ist richtig, daß wir für B in vielen Fällen 
ältere Zeugen als für « haben. Aber es wäre doch ein wunder- 
liches Quiproquo, wollte man die älter bezeugte Lesart darum schon 
für thatsächlich älter halten. Wir sind über die Geschichte des 
Textes vor dem dritten Jahrhundert dürftig genug unterrichtet, aber 
wir haben ein völlig sicheres Zeugnis dafür, daß der Kampf zwischen 
« und ß älter ist als Clemens und Origenes, in dem Text des Ire- 
naeus. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß H. sich in den 
meisten Fällen um die wichtigen Zeugnisse dieses Kirchenvaters 
nicht gekümmert hat. Irenaeus bietet, wie Blass mit Recht be- 
hauptet, einen gemischten Text. Dagegen bemerkt H. p. XII, Blass 
habe seine Behauptung nicht bewiesen, und thut die ganze Sache in 
sechs nichtssagenden Zeilen ab. Als wenn es sich hier überhaupt um 
Beweise und nicht um klar zu Tage liegende Thatsachen handelte, 
die man doch dadurch nicht aus der Welt schafft, daß man die Au- 
gen vor ihnen schließt. 

Nicht im Sturmlauf, wie Blass und jetzt H. es versucht haben, 
lassen sich die Schwierigkeiten der sogen. occidentalischen Ueberlie- 
ferung nehmen. Dazu bedarf es langer und geduldiger Arbeit. Auch 
darf man nicht vergessen, daß sie sich keineswegs auf die beiden 
Schriften des sogen. Lucas beschränht, und daß man billigerweise 
einen Codex wie den des Beza nicht ohne Rücksicht auf den nah- 
verwandten Codex Claromontanus der paulinischen Briefe unter- 
suchen sollte. 

Die Anmerkungen zu dem Text der Apg. S. 228—256 geben 
dem von H. aufgestellten Texte keine Stütze. Die Anmerkungen 
zu dem Inhalt der Apg. S. 257—301, aus den acht Abhandlungen, Die 
Apostelgeschichte nach ihren Quellenschriften untersucht, in der 


Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. 15 


Ztschr. f. wiss. Th. 1895 und 1896, erwachsen, sowie die Zusammen- 
menstellung der ältesten außerkanonischen Nachrichten über die Ge- 
schichte der Apostel überlasse ich lieber anderen zur Beurteilung. 


Berlin, 8. October 1900. Peter Corssen. 


Seeberg, R., Lehrbuch der Dogmengeschichte. Zweite Hälfte: Die 
Dogmengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Erlangen 1899. Verlag 
von A. Deichert Nachf. XIV 472. Preis Mk. 8. 


Seebergs Dogmengeschichte hat mit dem zweiten Bande das 
Gebiet betreten, wo die Einheitlichkeit der christlichen Kirche und die 
vorwärtstreibende Kraft einer das antike Material sich einverleiben- 
den neuen religiösen Begriffs- und Systembildung aufhört, wo 
daher die. Dogmengeschichte über Ziel und Methode ihrer Darstel- 
lung unsicher zu werden pflegt. Das Zeitalter Augustins und des 
Chalcedonense hat zwar bereits die zwei Hauptgruppen, die orien- 
talische und die occidentalische, in ihrer Getrenntheit gezeigt, aber 
gleichwohl durfte hier der Fortbestand der gemeinsamen Reichs- 
kirche und die Gemeinsamkeit der dogmenbildenden Arbeit nicht 
übersehen werden. Insbesondere war hier der enge Zusammenhang 
zwischen einer immer noch producierenden Theologie und ihrem Er- 
gebnis in usuell recipierten oder officiell beschlossenen Dogmen noch 
vorhanden, der die Aufgabe der Dogmengeschichte mit der einer 
Geschichte der dies Dogma erzeugenden Theologie noch zusammen- 
fallen läßt und daher der Dogmengeschichte eine natürlich abgrenz- 
bare Aufgabe zuweist. Mit der Trennung der Reichskirche, der 
Sättigung der Kirche mit fertigen Dogmen und dem Erlöschen einer 
produktiven Theologie setzt der zweite Band ein und damit begin- 
nen auch sofort die Schwankungen. Die Geschichte der anatolischen 
Theologie fällt ohne weiteres unter den Tisch. Allerdings sind dort 
formell neue Dogmen von Belang nicht promulgiert worden, aber es 
hat doch hier ein Fortleben der christianisierten Antike stattgefun- 
den, das bis zum Untergang die Fortdauer der Culturwelt mitten in 
der Unkultur und Halbkultur bedeutete und das für die Geschichte 

der christlichen Ideen, sofern sie auf das Abendland von dort her- 
überwirkten und sofern sie an die slavische Ideenwelt übergiengen, 
sehr bedeutsam gewesen ist und in seinen Nachwirkungen bis heute 
ist. Mit der Bemerkung, daß die griechische Kirche kein Mittel- 
alter erlebt habe S.2, ist doch wenig gesagt, da ihr doch nur die 


16 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


charakteristischen Eigentümlichkeiten des westtlichen Mittelalters 
fehlten und eben deshalb ihre historische Bedeutung und Wirkung 
in einer andern Richtung liegen. Aber auch von dem sog. westlichen 
Mittelalter, das in Wahrheit eine bestimmte Culturform, die Welt- 
kultur der römischen Kirche und der ihr unterworfenen halbeivili- 
sierten romanisch-germanischen Völker, ist, kann nur mit sehr unsi- 
cherem Rechtstitel in der Dogmengeschichte gehandelt werden, wenn 
sie nichts anderes sein soll, als die Geschichte der Entstehung offi- 
zieller Dogmen. Das Mittelalter hat blutwenig Dogmen hervorge- 
bracht (S. 1), und so wird denn auch die Darstellung des Mittel- 
alters von Seeberg wenigstens prinzipiell unter den Gesichtspunkt 
gebracht (S. 3), daß sie nur die Vorbedingungen der tridentinischen 
und vatikanischen Dogmenfixierung sowie besonders diejenigen der 
Dogmenbildung in den Reformationskirchen darstellen solle. Obwohl 
nun aber das Mittelalter nur eine Vor- und Durchgangsstufe sein soll, 
wird doch um des Vaticanums willen die Geschichte seiner Ideenwelt 
bis auf die Gegenwart herabgeführt, während die protestantische 
Ideenwelt, der eigentliche Zielpunkt der mittelalterlichen Entwicke- 
lung nach Seebergs Darstellung, nur bis auf die Conkordienformel 
und die Canones von Dordrecht herab geschildert wird und die Ent- 
wickelung der in ihr liegenden Consequenzen außerhalb des Rahmens 
der Darstellung fällt. 

So gewinnt die Darstellung einerseits das Gesicht, als handle 
es sich um historische Einleitungen zu einer Ausgabe der Codices 
officieller Kirchendogmen, andererseits aber, indem diese Dogmen 
doch in den lebendigen Fluß der Ideengeschichte als deren Erzeug- 
nisse und Material eingetaucht werden, das zweite Gesicht einer 
Darstellung der Bewegung der christlichen Ideenwelt mit besonderer 
Hervorhebung ihrer gelegentlich und unvollständig erfolgenden kirch- 
lichen Fixierungen. Ja das Interesse der Darstellung ruht trotz der 
prinzipiellen Ablehnung ganz sichtlich bei dieser zweiten Auffassung 
des Gegenstandes. Die Dogmen erscheinen nirgends als der eigent- 
liche Kern und die Quintessenz der Ideengeschichte, sondern als 
durch allgemeine Zustände und Wendungen bedingte Fixierungen, 
die entstehen und vergehen und die vor allem erst dann recht ver- 
standen werden, wenn auch das berücksichtigt wird, was in ihnen 
nicht gesagt, als selbstverständlich vorausgesetzt wird oder neben 
ihnen als praktische Volksreligion lebt. 

Diese, übrigens auch in anderen Gesamtdarstellungen der Dog- 
mengeschichte wiederkehrenden, Unebenheiten zeigen, daß der ganze 
Begriff der Dogmengeschichte in eine bedenkliche Unsicherheit ge- 
rathen ist. Es geht ihm ähnlich wie dem der Kirchengeschichte, 


Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 17 


Beide sind durch die moderne historische und undogmatische Denk- 
weise gründlich verändert worden und diese Veränderungen machen 
alle Darstellungen schwankend. Nach dem alten dogmatischen Be- 
griff von Kirchengeschichte und Dogmengeschichte gab es in der 
Theorie ein ganz bestimmtes Subjekt, dessen Geschichte in beiden 
Disciplinen erzählt wurde. Es war für die Kirchengeschichte die 
wahre, normative, übernatürliche Kirche, die in der ältesten Christen- 
heit vollkommen rein in Lehre und Sakrament geblüht hatte, deren 
Verfall die Darstellung der beiden Katholicismen beschrieb, deren 
latente und relative Fortdauer unter den katholischen Trübungen 
durch Aufsuchung der im Katholicismus erhaltenen Wahrheitsele- 
mente erwiesen wurde und deren Wiederherstellung im Protestan- 
tismus triumphierend aufgezeigt wurde. Die Dogmengeschichte gieng 
den gleichen Gang. Sie zeigte die erste reine altkirchliche Ausbil- 
dung der Bibelwahrheiten zum unveräußerlichen Lehrgesetz, die Ent- 
stellung der reinen Lehre durch den Katholicismus und ihre Wie- 
derherstellung durch den Protestantismus. Diesen einfachen Zusam- 
menhang hat die neue historische Methode zerstört, die ein solches 
konstantes, einheitliches, übernatürliches Subjekt weder in der Kir- 
chen- noch in der Dogmengeschichte anerkennt oder es doch wenig- 
stens nur stillschweigend voraussetzt und nur gelegentlich hervor- 
hebt. Sie hat alles flüssig, beweglich und relativ gemacht und daher 
die großen kulturellen und institutionellen Zusammenhänge in den 
Vordergrund gestellt, auf denen die Einheitlichkeit der jeweiligen, 
ein bestimmtes Gebiet beherrschenden religiösen Gedankenbildungen 
beruht. Sie hat die sog. Neutestamentliche Geschichte und Theo- 
logie in Geschichte des Urchristentums und der ersten Fixirungen 
des noch frei beweglichen Messiasevangeliums verwandelt. Sie schil- 
dert dann den Proceß der Entstehung der großen Kirche des römi- 
schen Reiches oder des Katholicismus, der das Urchristentum in 
eine mit der Welt paciscierende Kirche verwandelt und auf dem 
Boden dieser Kirche und ihrer Antike und Christentum neu mischen- 
den Cultur die Dogmen der alten Reichskirche erzeugt. Daran 
schließen sich dann die Sonderdarstellung des byzantinischen Ka- 
tholicismus mit seiner besonderen historischen Mission für den Osten 
und für die Befruchtung des Westens und die des abendländischen Ka- 
tholicismus mit seinem Weltreich der Kirche und seiner kirchlich 
geleiteten Cultur. Neben beide aber tritt dann zuletzt eine neue 
eigentümliche und selbständige, durch den Katholicismus vorbreitete 
aber doch in vieler Hinsicht originale Entfaltung der christlichen 

Idee im Protestantismus, der ebenfalls seine eigene in sich zusam- 


menhängende Geschichte und seine besondere Entwickelung der 
GU. gel, Ans, 1901, Hr. 1. 2 


18 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


religiösen Gedankenwelt hat. Damit ist die Kirchengeschichte un- 
widerruflich zerteilt in die Geschichte einzelner kirchlicher Gebiete, 
deren Sonderart jedesmal in allgemeinen Verhältnissen und Institu- 
tionen liegt und die sämmtlich ihr relatives historisches Recht haben. 
Nicht minder aber ist die Dogmengeschichte von Rechts wegen zer- 
teilt in die Darstellungen der Gedankenentwickelungen der einzelnen 
Kirchen. Nur das Urchristentum und der Katholicismus der Reichs- 
kirche läßt eine einheitliche Darstellung zu, weshalb denn auch die 
ersten Bände der Kirchen- und Dogmengeschichten ein klares Ziel 
und eine natürliche Methode zu haben pflegen. Die weiteren Ent- 
wickelungen lassen sich bei einer historischen Detaildarstellung nur 
jede für sich gesondert im Zusammenhang des diese Kirchen be- 
herrschenden geistigen Lebens darstellen als eine Geschichte der 
byzantinischen, der katholischen und der protestantischen Theologie 
und der damit zusammenhängenden Dogmenbildung. Jede ist eine 
selbständige Größe und ein Zweck für sich und wird in falsches Licht 
gestellt, wenn sie nur als Voraussetzung von etwas anderem be- 
trachtet wird, wie denn in der That die Dogmengeschichten des 
Mittelalters und der Reformation sehr unbefriedigende Leistungen zu 
sein pflegen. Die Einheitlichkeit der älteren Gesamtdarstellungen 
ist mit den Voraussetzungen dieser Einheitlichkeit aufgehoben. So- 
ferne unter den neuen Verhältnissen Gesamtdarstellungen des Chri- 
stentums unternommen werden, sind sie zu einer Art Geschichtsphi- 
losophie des Christentums oder Philosophie über die Geschichte des 
Christentums geworden, wie das ja bereits das Wesen der bekannten 
Aufstellungen Ritschls in seinem Aufsatz »Ueber die Methode der 
alten Dogmengeschichte< und der zur Konfessionskunde umgewan- 
delten Symbolik ist. Reflexionen dieser Art durchziehen daher 
auch als Anmerkungen und Exkurse die neueren Dogmengeschich- 
ten, um ihnen die in der Gesamthaltung verlorene einheitliche Rich- 
tung durch andeutende und oft sehr interessante Randglossen zu 
ersetzen. 

Alle diese aus dem schwankenden Zustande der gegenwärtigen 
Theologie folgenden Unsicherheiten zeigen sich besonders deutlich 
bei Seebergs Lehrbuch, weil es bei seinem mehr kirchlich-gläubigen 
Standpunkte strenger als Harnack und Loofs die Aufgabe der 
Dogmengeschichte auf die Entstehungsgeschichte der wirklichen 
Dogmen beschränkt und dabei doch wie diese die Dogmen 
aus dem lebendigen Fluß des geistigen und kulturellen Lebens 
hervorgehen läßt. So zeigen sich die Uebelstände nicht bloß in 
der Anwendung und Abgrenzung des Stoffes, sondern in der Be- 
bandlung selbst. Katholicismus und Protestantismus sollen in ihrer 


Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 19 


Dogmenbildung dargestellt werden. Aber was soll nun hierbei wirk- 
lich dargestellt werden? Geist und Wesen beider Formationen des 
Christentums, die dann freilich, wie jetzt allgemein anerkannt ist, 
nicht ausschließlich aus den Dogmen, sondern vor allem aus der 
theologischen Arbeit, der praktisch geübten Ethik und dem kirch- 
lichen Volksleben erkannt werden müssen? Oder nur die Dogmen | 
für sich allein, höchstens mit einem Blick auf die sie erklärenden 
theologischen Vorstadien und allgemeinen Verhältnisse ? Das erstere 
ist eine überaus anziehende Aufgabe, die auch eigentlich Seeberg 
vorgeschwebt hat, aber die im Rahmen einer bloßen Entstehungsge- 
schichte der Dogmen nicht zu erledigen ist und die daher auch bei 
Seeberg beständig in die Geschichte der Theologie und des reli- 
giösen Lebens hinübergreift, um dann jedesmal durch Erinnerung 
an die viel beschränktere Aufgabe einer Dogmengeschichte irgendwo 
rasch abzubrechen. Das zweite aber ist dann, wenn man Wesen und 
Geschichte der Religion nicht in Dogmen und Bildung von Dogmen 
aufgehen läßt, eine sehr unbefriedigende und lückenhafte Aufgabe. 
Die Wichtigkeit der Dogmen, »gleichviel ob sie einem gefallen oder 
nicht gefallen« (S. 457), ist selbstverstandlich; aber die Funktion, 
die doctrina publica mit Lehrzwang geltend zu machen und damit 
die Continuität der Kirchenlehren aufrecht zu erhalten, wird doch 
nicht von ihnen allein, sondern auch von noch nicht promulgierten 
Ordenslehren, Schultheorieen, gewohnheitsmäßigen Ueberlieferungen 
ausgeübt, und es wäre daher auch auf diese mit Bezug zu nehmen. 
Und wenn vollends das historische Interesse der Erklärung das dogmati- 
sche an der Statuierung so sehr überwiegt, wie das bei Seeberg der 
Fall ist, da führt die historische Erklärung der Dogmen so tief in 
die Geschichte der Theologie und Religion hinein, daß die Beschrän- 
kung auf das mehr oder minder zufällig zum Dogma Gewordene nur 
mehr eine ganz willkürliche Zielsetzung ist. Ja, wenn es sich nicht 
um eine juristische Feststellung der trotz allen modernen Abfalls 
rechtsverbindlichen doctrina publica handelt, dann müßte insbeson- 
dere und vor allem auch die Geschichte der Auflösung und Zer- 
setzung der Dogmen dargestellt werden, wie sie von den letzten 
Jahrhunderten bewirkt worden ist. Das überraschende Auskunfts- 
mittel Harnacks, der im Protestantismus das Dogma überhaupt auf- 
hören läßt und mit der Theorie von den drei Ausgängen des Dogmas 
seiner Dogmengeschichte einen gewaltsamen Abschluß verleiht, hat 
sich Seeberg mit Recht nicht angeeignet. Am Anfang (S. IV) und 
am Schluß (S. 458) eröffnet er daher die Aussicht auf eine Dogmen- 
geschichte des Protestantismus als anzugliedernden letzten Teil. 
Aber doch hält er dann wieder eine bis auf das Vaticanum, die Con- 
2% 


20 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


cordienformel und die canones Dordraceni reichende Darstellung al- 
lein für Dogmengeschichte , weil jener Auffassung »das organisie- 
rende Prinzip der Dogmengeschichte d. h. die Zweckbeziehung zum 
werdenden Dogma fehlen würde« S. 458. Aber das ist eben die 
Frage, ob eine solche Zweckbeziehung eine Disziplin, wie die Dogmen- 
geschichte thatsächlich geworden ist, organisieren kann oder ob nicht 
das Versagen eines solchen Prinzips auf weite Strecken der Ge- 
schichte die Zweckmäßigkeit des Prinzips in Frage stellt; hat doch 
das Prinzip auch schon bei den Darstellungen des Mittelalters und 
der Reformatoren so sehr versagt, daß gerade die interessanten Par- 
tieen des Buches auf dem Gebiete der nicht unmittelbar zum Dogma 
verwerteten Theologie liegen. 

Der Austrag dieser Frage liegt auf einem anderen Gebiete als 
dem der Dogmengeschichte selbst. Es genügt zu zeigen, daß die 
thatsächlichen Leistungen der modernen Dogmengeschichte immer 
wieder auf prinzipielle Fragen hinweisen, die von der gegenwärtigen 
Theologie nicht entfernt zur Klarheit gebracht sind. Damit ist aber 
in keiner Weise gesagt, daß nicht diese thatsächlichen Leistungen, 
jede rein für sich genommen, bedeutende wissenschaftliche Fort- 
schritte darstellen. Das muß von dem Buche Seebergs in Bezug 
auf einzelne Leistungen unbedingt behauptet werden. Die vielen an- 
einander gereihten Einzeldarstellungen zeichnen sich großenteils durch 
Knappheit und Präcision, durch scharfsinnige Betonung des Wesentlichen 
und durch Belege mit trefienden Citaten in ungewöhnlicher Weise 
aus. In dieser Hinsicht hat er die Arbeit seiner Vorgänger wesentlich 
vervollkommnet. Ihm kommt die Kunst des Systematikers, jedesmal die 
Grundideen zu suchen und die richtigen Proportionen zwischen den 
Gedankenelementen herauszufühlen, in hervorragendem Maße zu Gute. 
Besonders aber diejenigen Partieen, in denen der Schwerpunkt sei- 
ner selbständigen Arbeit liegt, die Darstellungen der Theologie der 
großen Scholastiker, Luthers und Calvins sind so vortrefflich, daß 
man nur ihre Kürze und Gedrängtheit bedauert. 

Der eigene dogmatische Standpunkt Seebergs tritt sehr diskret 
zurück. Es ist eine wirklich unbefangene wissenschaftliche Arbeit. 
Soweit ihre Grundauffassung einer der großen bestehenden Rich- 
tungen zugewiesen werden kann, teilt sie diejenige, die Ritschl 
für diese Partieen der Dogmengeschichte ausgebildet hat. Die Un- 
terschiede bestehen lediglich in Nüancen. Mit den Vorzügen dieser 
Auffassung, ihrer Unabhängigkeit von der herkömmlichen Schablone 
und dem Dringen auf die charakteristischen Kerngedanken, verbindet 
sie auch ihre Schwächen, die einseitig dogmatische Betrach- 
tung des Mittelalters, dessen Größe, die Herstellung einer einheit- 


Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 21 


lichen kirchlich - wissenschaftlichen Cultur, gerade als Schwäche be- 
handelt und dessen asketisch-dualistischer Zug in seiner spezifischen 
Christlichkeit verkannt wird, sowie die ebenso einseitig dogmatische 
Verabsolutierung des Luthertums, dessen Vernunfthaß und Ableh- 
nung gegen social-kulturelle Gestaltung als ‚ein außerordentlicher 
Vorzug gerühmt und dessen doch sehr komplicierte, vom Pietismus 
wie von der autonomen Entwicklung des Staates und der Gesell- 
schaft sofort wieder aufgelöste Ethik als ein Definitivum gepriesen 
wird. Ebenso ist es eine von Ritschl übernommene sehr wunderliche 
Paradoxie, wenn die Berührungen Zwinglis mit dem aufstrebenden 
modernen Denken und die Versuche Calvins, eine autoritäre Ord- 
nung der Gemeinde nicht bloß im Dogma, sondern auch für prakti- 
sche Leistungen zu schaffen, als » mittelalterliche Schranke< bezeichnet 
werden. So ferne hierin wirklich Aehnlichkeiten mit dem Mittelalter 
vorliegen, sind sie lediglich in der Natur der Sache begründete Ana- 
logieen, denen das Luthertum sich nur zu seinem Schaden entzogen 
hat. Es ist nicht umsonst zu der von jedem Hauch philosophischen 
Geistes verlassenen und jeder socialen Leistung entbehrenden Lehr- 
kirche geworden. Ä 
Zu einzelnen Bemerkungen wäre selbstverständlich mannigfacher 
Anlaß. Ich möchte mich jedoch auf einen Hauptpunkt beschränken. 
Er betrifft einen für die gesamte katholische Theologie, Ethik und 
Cultur grundlegenden Begriff, der aber seine Wurzeln schon in den 
ältesten Berührungen von Evangelium und Welt hat und der dann wei- 
terhin für die Theologie der Reformatoren und dann für die Wie- 
derauflösung der kirchlichen Dogmatik und Cultur von größter Be- 
deutung geworden ist. Es ist der Begriff des sittlichen Naturge- 
setzes oder der lex naturae. Ich habe seiner Zeit die Bedeutung 
dieses Begriffes für Katholicismus und Reformatoren in meiner Schrift 
Vernunft und Offenbarung bei J. Gerhard und Melanchthon« 1890 
eingehend auseinandergesetzt, habe aber damit, so viel ich weiß, bis 
jetzt nur in den beiden Artikeln Gottschicks in der dritten Auflage 
der Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 
‚Gesetz, natürliches< und »Gesetz und Evangelium< ernstlichere Be- 
rücksichtigung gefunden. In meinen eigenen Artikeln der gleichen 
Encyklopädie über »Aufklärung«e und »Deismus« habe ich dann die 
Bedeutung des Begriffes für die Zersetzung und Umformung der 
Theologie gezeigt, womit zugleich Licht auf seine Bedeutung für die 
voraufliegende dogmatische Periode geworfen ist. Fast gleichzeitig 
mit meiner Schrift und unabhängig von ihr hat Dilthey in einem 
großen Aufsatze des Archivs für Philosophie 1892/93 über >das na- 
tarliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrh.« den glei- 


22 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


chen Begriff mit vollkommen übereinstimmenden Ergebnissen behan- 
delt. Beide Arbeiten hat Seeberg berücksichtigt, aber gerade ohne 
diesen wesentlichen Punkt dabei zu beachten. Und doch handelt es 
sich hierbei um einen Grund- und Stammbegriff der christlich-kirch- 
lichen Lehre, der nur freilich niemals direkt in einem Dogma zu 
Tage tritt, sondern zu den Voraussetzungen der dogmenbildenden 
Theologie und der Cultursysteme entwerfenden wie Gewissensfra- 
gen entscheidenden Ethik der Kirche gehört. Die Orientierung der 
Dogmengeschichte lediglich nach den in officiellen Dogmen kanoni- 
sierten Begriffen und die vollständige Zersetzung dieses Kosmo- 
logie, Ethik, Jurisprudenz, Gesellschaftslehre und Volkswirtschaft 
umfassenden Begriffes durch die moderne Ethik hat ihn der Auf- 
merksamkeit und dem Verständniß der modernen Dogmenhistoriker 
entrückt, und auch die protestantischen Darsteller der Geschichte der 
christlichen Ethik haben ihn regelmäßig verkannt. Bei ihrem pro- 
testantischen Subjektivismus haben sie ihn hinter den der lex natu- 
rae doch nur ein- und untergeordneten Begriff des Gewissens zurück- 
gestellt, und bei ihrer einseitigen Achtsamkeit auf die rein innerlichen 
Gegensätze von Legalität und Gnade haben sie die umfassende kon- 
struktive Bedeutung dieses Begriffes für die Zusammenfassung der 
spezifisch christlichen und der kulturellen Elemente übersehen. Nur 
die katholischen Darsteller (man vergleiche den Artikel »Gesetz« von 
Wirthmüller im kath. Kirchenlexikon? von Wetzer und Welte, Lehm- 
kuhl, Theol. moralis I 39—139, Ottiger, Theol. fundamentalis I 
37—147) und der Katholik Jodl in seiner Geschichte der Ethik haben 
ihn richtig gewiirdigt. 

In Wirklichkeit spielt dieser Begriff die gleiche Rolle wie der 
so viel verhandelte Logosbegriff. Auch er ist ein Erzeugnis der 
stoisch-eklektischen Popularphilosophie und bereits von der helleni- 
stischen Theologie mit den moralischen Bestandteilen der Thora 
identificiert worden. Dieser Bahn folgt auch Paulus, um die Ana- 
logie des heidnischen sittlichen Bewußtseins mit der Forderung des 
Evangeliums zu zeigen und die ewig giiltigen Bestandteile des Ge- 
setzes von dem vergänglichen zeremonialgesetzlichen zu trennen. Die 
paulinischen Stellen Rom. 2, 14 ff. sind daher von nicht geringerer 
Bedeutung geworden als die berühmten Logosstellen des vierten 
Evangeliums. Die ältesten christlichen Theologen haben diese Ab- 
sicht lediglich fortgesetzt, indem sie das sittliche Naturgesetz mit 
dem Gesetz des Moses ausdrücklich identificirten und dadurch einer- 
seits das spezifisch Jüdische abschüttelten, andererseits den Anschluß 
des christlichen Gesetzes an die antike Moral vollzogen. So haben 
Justin (vgl. Luthardt, Gesch. d. Ethik I 169), Clemens (ib. 114), 


Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 28 


Irenäus (ib. 154), Tertullian (ib. 156), Lactantius (ib. 169), Hiero- 
nymus (ib. 182) und Ambrosius gelehrt, Ambrosius bereits mit 
Heranziehung der juristischen Lehre vom Naturrecht an die lex na- 
turae (ib. 179). Freilich ist in dieser Gleichung von den voraugu- 
stinischen Theologen wesentlich die Uebereinstimmung in den pri- 
vaten und individuellen Bezügen der Moral, besonders in den kon- 
templativ-asketischen Elementen, betont worden. Augustin, an dem 
die Protestanten in der Regel nur den berühmten Gegensatz von 
Gesetz und Gnade zu beachten pflegen und der durch seine Ver- 
dammung der nicht - christlichen Menschheit den Rationalisten und 
Culturfreunden die Geltung jenes Begriffes geradezu aufgehoben zu 
haben scheint, hat gleichwohl in anderen Zusammenhängen ihn und 
seine Gleichung mit dem Urstandsgesetz, dem mosaischen Moral- 
gesetz und partiell dem christlichen Gesetz aufs stärkste betont 
(Stellen bei Jodi I 377 f.) und insbesondere im Anschluß an Cicero 
und die Juristen die Ordnungen des Staates, der Familie, der Ge- 
sellschaft an ihn angeknüpft. Diese stellen mit ihrem relativen Ge- 
rechtigkeitsgehalt den in der sündigen Welt übrig gebliebenen und 
gegen sie reagirendem Rest des ordo naturalis dar und bedürfen 
nur der Ergänzung aus dem der Kirche voll offenbarten Naturgesetz 
sowie aus dem besonderen christlichen Gesetz (Stellen bei Reuter, 
August. Studien 135—150, bes. 139, 382 f.). Charakteristisch ist, daß 
Augustin diese Gedanken überall da betont, wo ihm die Idee der Har- 
monie und Gesetzmäßigkeit des Universums vorschwebt oder wo ihn der 
Gegensatz gegen den im Donatismus erhaltenen Rest urchristlicher 
Weltfeindschaft zur Bildung positiver Theorieen nötigt. Von ihm 
ist dieser Gedankenkomplex auf die mittelalterlichen Theologen über- 
gegangen, die ihn zwar noch nicht als wesentliche Basis des Beweises 
für die Vernünftigkeit des Christentums benutzten, da sie für diesen 
Zweck noch die Gleichung der aristotelisch- neuplatonischen Meta- 
physik mit der kirchlichen Gotteslehre zur Verfügung hatten, die 
aber doch die ganze weltliche Ethik in Staat, Gesellschaft, Recht 
und Wirtschaft von hier aus mit dem mosaisch - christlichen Gesetz 
in innere Verbindung brachten und die spezifisch kirchliche Ethik 
an diesen Begriff anlehnten. Ueber diesen Zusammenhang hat die 
von Seeberg erwähnte, aber nicht in ihrer Tragweite gewürdigte 
Schrift M. Maurenbrechers »Thomas von Aquino’s Stellung zum Wirt- 
schaftsleben seiner Zeit« höchst interessantes Licht verbreitet. Frei- 
lich hätte auch Maurenbrecher noch deutlicher zeigen müssen, wie 
der all das leistende Begriff der lex naturae mit der antik -christ- 
lichen Tradition zusammenhängt und wie seine Identifizierung mit 
der lex Mosis und der lex Christi die christlich - theologische Recht- 


24 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


fertigung aller dieser Lehren ermöglicht. Er hätte dann auch deut- 
licher gesehen, daß die Umformung der aristotelischen Politik zu 
einer bloßen Wirtschaftslehre doch zugleich auch in der unpolitischen 
Natur des stoisch-ciceronianischen und vor allem des christlichen Geistes 
begründet ist und noch einen besonderen Anlaß in der augustinischen 
Zuspitzung der lex naturae zu einer Lehre von den aus der vernünf- 
tigen Harmonie des Universums folgenden vernünftigen Zwecken des in- 
dividuellen Lebens, seien sie irdische oder himmlische, besessen hat. 
Er hätte sich dann auch weniger gewundert, daß die aus diesen Prin- 
zipien ebensosehr wie aus der Rücksicht auf die thatsächlichen Ver- 
hältnisse erwachsende Betonung des Berufes Thomas in so große 
Nähe zu Luther bringt. Sie stammt bei beiden aus der lex natu- 
rae und hat nur bei Luther das Gegengewicht der asketischen prae- 
cepta und consilia verloren. Denn jener Begriff hat bei den Refor- 
matoren womöglich eine noch höhere Bedeutung als bei den Schola- 
stikern. Als nämlich die Reformatoren jede Verbindung der Schrift- 
wahrheit mit einer spekulativen Metaphysik abbrachen, wurde die 
Gleichung von Urstandsgesetz, lex naturae, lex Mosis, lex Christi 
das einzige Mittel einer Beziehung auf außerchristliche und vor- 
christliche entgegenkommende Analogieen und blieb sie das Funda- 
ment der Ethik, die Staat, Recht und Gesellschaft nach wie vor aus 
dem natürlichen Gesetz ableitete und ihnen dadurch eine indirekte 
göttliche Autorität wahrte, selbst aber hierzu nicht wie der Katho- 
licismus höhere asketische Gebote hinzufügte, sondern nur die rechte 
religiöse Herzensverfassung, aus der heraus das Handeln nach der 
christlich ‘d. h. vollkommen verstandenen lex naturae von einer bloßen 
justitia civilis und externa disciplina zu einer interior et spiritualis 
justitia wird. (Vgl. die Belege in meinem bereits angeführten Buch). 

Die Bedeutung dieser Combination ist in erster Linie die Lö- 
sung eines fundamentalen Problems des Christentums. Das alte 
Christentum ist gegen Staat und Cultur bekanntlich gänzlich indiffe- 
rent oder sogar feindselig. Die Festsetzung in der Welt und die 
Ausbildung eines kirchlichen Gemeinwesens und einer kirchlichen 
Moral nötigt zu einem positiven Anschluß an die gegebenen Ord- 
nungen, und das geschieht eben in der Identificirung von lex natu- 
rae und mosaisch - christlichem Gesetz. Hierbei kann die Trübung 
des natürlichen Gesetzes und seine Correktur aus der Offenbarung 
zusammen mit der prinzipiellen Einheit beider betont werden, kann 
der Unterschied der natürlichen, schwachen und der übernatür- 
lichen eingegossenen Kräfte zur Gesetzeserfüllung hinreichend hervor- 
gehoben werden ohne Aufhebung ihrer Aufeinanderbeziehung und 
kann der ursprüngliche transscendent-asketische Charakter der christ- 


Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 25 


lichen Moral in besonderen, durch Christus zum natürlichen Gesetz 
noch hinzugefügten Geboten der praecepta evangelica und kirch- 
licher Leistungen gewahrt werden zugleich mit einer Anpassung der 
Durchschnittsmoral an die weltlichen Culturforderungen. Auch noch 
der Protestantismus hat diese Gleichung in diesem Sinne benützt 
und darauf seine Ethik begründet, wenn er sie auch noch mehr ver- 
einheitlicht und verinnerlicht hat zu einer von Glaube und Liebe 
beseelten innerweltlichen, an die Ordnungen des Naturgesetzes ge- 
gebundenen Moral. Diese Gleichung also erst hat das Christentum 
zu einem Cultursystem gemacht und ihm eine wissenschaftliche Be- 
gründung dieses Cultursystems ermöglicht. . Sie ist daher für die 
Geschichte des Christentums noch wichtiger als die so viel behan- 
delten Ausgleichungen zwischen dem christlichen Gottesgedanken und 
der metaphysischen Spekulation. Aber auch ihre engere Bedeutung 
für die Dogmengeschichte liegt auf der Hand. Sie hat den gesetz- 
lichen Charakter des Katholicismus vollenden helfen und seinen Aus- 
bau als eines Rechtssystems ermöglicht, das die Rechte zwischen 
Kirche und Welt, zwischen Gott und Mensch festsetzt. Und wenn 
die ganze Dogmatik des Protestantismus bei Melanchthon und wenig- 
stens großenteils bei Calvin von dem Begriff einer moralisch-gesetz- 
lich regierenden Gottheit bedingt ist, so äußert sich auch hierin der 
Einfluß dieser Gleichung. Nicht bloß die theoretische Prinzipienlehre 
über das Verhältnis von Vernunft und Oftenbarung und die prakti- 
sche Bekehrungslehre vom Uebergang des natürlichen zum geist- 
lichen Menschen, sondern das ganze Dogma von Bekehrung, Recht- 
fertigung, Versöhnung, Satisfaktion und Heiligung stehen unter dem 
entscheidenden Einfluß dieser Gleichung. 
Das Ganze bedürfte dringend einer dogmengeschichtlichen, theo- 
logische, juristische, nationalökonomische und philosophische Kennt- 
nisse vereinigenden Monographie, die freilich von der üblichen Scha- 
blone der Auffassung der christlichen Ethik sich gründlich befreien 
und wie bei den metaphysischen Bestandteilen so auch bei den ethi- 
schen die Notwendigkeit der Ergänzung des Christentums aus dem 
antiken Culturerbe ebenso unumwunden anerkennen als sie die Art 
der thatsächlich geschehenen Ergänzung unbefangen aufdecken müsste. 
Doch liegen die Grundzüge bereits deutlich genug zu Tage. Auch hat 
Seeberg, der die Abhandlung Diltheys und Gierke’s >Althusius« vor 
sich gehabt hat, der Sache mehr Aufmerksamkeit geschenkt als 
sonst in Dogmengeschichten üblich ist. Aber wie unvollständig sind 
die Angaben, wie schwankend und verworren ist die Auffassung! Von 
der Anbahnung der Gleichung in der alten Kirche ist nur bei Ori- 
genes die Rede (1 112), aber ohne Verfolgung der Consequenzen, 


26 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


und dann wird noch in einer kleinen Anmerkung (II 155)') von den 
Apologeten als den Vätern dieser Idee gesprochen, deren Beitrag 
aber nur in der Idee des Gewissens als Gottesstimme bestehen soll. 
Einmal heißt das Begriffsgefüge »die alte kirchliche Lehre vom Pri- 
mat des Naturrechtes<, die von der Kirche zur Kritik des ihr ent- 
gegenstehenden weltlichen Rechtes aufgenommen worden sein soll 
(155), gewöhnlich aber wird es als »mittelalterlicher Gedanke« (330), 
oder gar als »Lehre des ausgehenden Mittelalters« bezeichnet (286), 
wenn es nicht geradezu als Theorie der Nominalisten erscheint (179), 
die Bibellehre und Vernunftrecht in Beziehung gesetzt und dabei die 
Schwankungen des Verhältnisses von Vernunftrecht und positivem Recht, 
die auf politischem Gebiet stattfanden, auf das Verhältnis zwischen 
Vernunft und Bibelautorität übertragen, ja in diesem Conflikt die 
von Luther so tiefsinnig iibertroffene spezifisch katholische Lehre 
von einer rein positiven Rechtsautorität der Bibel geschaffen haben 
sollen! Es scheint in der That Seebergs eigentliche Meinung zu 
sein, daß die Identificirung von lex naturae und lex divina ein Er- 
zeugnis des späten Mittelalters sei. Er scheint das Hervortreten 
der Gleichung von der Notwendigkeit abzuleiten, daß das germanische 
positive Recht mit dem antiken von der Kirche mitgeführten Natur- 
recht ausgeglichen werde, und die so verursachte Betonung des 
Naturrechts scheint ihm dann zu einer ähnlichen Annäherung auch des 
positiv kirchlichen Rechtes an das Naturrecht geführt zu haben 
(154 f. und 178 f.)!), woraus er dann die socialrevolutionären Bewe- 
gungen des späten Mittelalters als Hauptwirkung ableitet (167). 
Allein alles das sind ja doch nur Nüancen innerhalb des längst von 
der Kirche geschaffenen Begrifisgefiiges, dessen Bedeutung ja nur 
die ist, christliche und kulturelle Ethik zur Einheit zu bringen, und 
das durch die Unterscheidung von schlechthin evidenten Grundprin- 
zipien und erst in der Anwendung auf die Wirklichkeit zu ziehen- 
den Folgerungen Vernunftrecht und positives Recht sehr wohl in Ein- 
klang gebracht, außerdem von Anfang an neben dem in lex natu- 
rae und Dekalog enthaltenen Gesetz noch besondere, partikulare 
aus der göttlichen Allmacht fließende positiv - kirchliche Gesetze ge- 
lehrt hat. Den Gedanken, den die frommen Revolutionäre des Spät- 
Mittelalters aus Anlässen der allgemeinen wirtschaftlichen Lage 
kommunistisch gewendet haben, hat Augustin (Reuter, Aug. St. 139) 
und Thomas (Maurenbrecher 104—117) höchst konservativ gewendet, 
geradeso wie ihn ja auch Luther nach Seebergs eigenem Zeugnis (230 

1) Hier scheint im Index unter Naturrecht ein Fehler zu sein. Dort ist 


S. 157 f. angegeben, wo sich jedoch nichts findet. Dagegen ist 8. 177f. aller- 
dings mit ihm beschäftigt, Es ist also wohl 157 und 177 verwechselt. 


Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 27 


und 260) konservativ verwertet hat. Nur die genaue Ausarbeitung 
stammt aus dem späten Mittelalter d. h. vom heiligen Thomas, aber 
Motive und Sinn der Gleichung sind uralt und immer dieselben. 
Daß es so sei, zeigt daher auch gelegentlich Seebergs eigene Dar- 
stellung. Ganz beiläufig wird einmal auf den großen Vermittler des 
Altertums und des Mittelalters, auf Isidorus, hingewiesen (156), 
ebenso auf die hochwichtige Verwertung des Begriffes im kanoni- 
schen Recht S. 36, was dann freilich später noch einmal mit größe- 
rem Nachdruck wiederholt werden muß (156). Dagegen ist freilich 
die dominirende Bedeutung des Begriffsgefiiges bei Abälard trotz 
Reuter (Religiöse Aufklärung im Mittelalter I 198, 318), der es aller- 
dings ebenfalls total mißverstanden hat, nicht hervorgehoben, so 
treffend sonst auch die führende Stellung dieses Mannes gezeichnet 
ist. Aber gerade der Versuch dieses Mannes, eine selbständige 
christliche Ethik auf Grund der Gleichung von lex naturae und lex 
revelata aufzurichten, hat die eingehende mittelalterliche Bearbeitung 
des Begrifisgefüges eröffnet. Beruht doch sein ganzer »Rationalis- 
mus« nur auf der Hervorhebung des antiken Kupfers, mit dem die 
Kirche das christliche Gold hatte legiren müssen, um ihm Härte und 
Weltbeständigkeit zu geben. 
Noch an einem besonderen Punkt hätte die Beachtung der mit 
dieser Gleichung verbundenen Probleme fruchtbare Dienste leisten 
können, bei der Darstellung des Verhältnisses zwischen Luther und 
Melanchthon und der damit gegebenen Darstellung der lutherischen 
Dogmen und Dogmatik. Hier weist freilich Seeberg mit einer kur- 
zen Notiz auf die Benutzung des Begriffes der lex naturae bei Me- 
lanchthon hin (341), aber von der entscheidenden Gleichung von lex 
naturae, Dekalog, lex Christi, römischem Recht und socialer Ordnung 
ist nicht die Rede, sowenig wie von der Funktion dieser Gleichung 
für das Ganze seiner theologisch-philosophischen Tätigkeit. Andrer- 
seits wird die Adoptirung dieser Gleichung bei Luther ausdrücklich 
anerkannt (S. 226, 230 f.) und ihr mit Recht der Sinn beigelegt, daß 
dadurch der ewige Gehalt des ATlichen Gesetzes im Gegensatz zum 
bloß jüdisch-temporären festgesetzt werden soll (230), daß das 
Gesetz die Bekehrungsreue wirken soll mit den Vorstufen in der 
äußern Disziplin und der noch natürlichen Gesetzesangst (232 und 
235), und daß das natürliche Gesetz die natürlichen sittlichen Ordnun- 
gen in Staat, Gesellschaft und Beruf darbietet, die somit aus dem 
mit dem Dekalog identischen und im positiven Recht nur ausgebildeten 
Naturgesetz fließen und auch für den Wiedergeborenen göttliche 
Ordnungen bleiben (260, 263). Dagegen stehen dann aber ganz un- 
vermittelt entgegengesetzte Aeußerungen, daß Luther die vom aus- 


28 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


gehenden Mittelalter angenommene Gleichung des Naturrechtes und 
des göttlichen Rechtes der Schrift geleugnet und dadurch die Posi- 
vität der Offenbarung behauptet habe (286), und die Ausführungen 
über die ursprüngliche Bußlehre Luthers, die das Gesetz lediglich 
aus der Offenbarung erkennen und die Buße daher aus Glaube und 
Liebe beginnen läßt (220 f., 233 ff). Die erste dieser Aeußerungen 
zeigt, wie irrig, trotz aller einzelnen Bemerkungen, das Wesen der 
Gleichung aufgefaßt ist; die zwei von Seeberg als Beleg angeführten 
Predigtstellen handeln gar nicht von der lex naturae und der lex 
divina, sondern von der aristotelisch - thomistischen Philosophie und 
den Zweifeln der Vernunft an der Bibelautorität. Die zweite Reihe 
von Aeulerungen weist darauf hin, daß die Adoptirung der Glei- 
chung bei Luther nicht ursprünglich und wesentlich ist, sondern erst 
später in ihrer bewußten Bedeutung auftritt, wie denn auch später 
die wachsende Anerkennung der vom Naturrecht gegebenen Gesell- 
schaftsordnung gegen die Täufer und Schwärmer betont wird (327). 
Das weist alles auf bedeutsame Zusammenhänge hin, die Seeberg 
nicht geklärt hat. In Wirklichkeit liegen die Dinge meines Er- 
achtens so: Luther hat mit seinem vom Nominalismus begründeten 
und von seiner religiösen Empfindung vollendeten Vernunfthaß am 
Anfang alle natürliche Gotteserkenntnis, natürliche Gesetzeserkennt- 
nis und natürliche Gesetzesleistung bestritten. Er hat insbesondere 
einen Gesetzesbegriff ausgebildet, der das Gesetz allein aus der Offen- 
barung als Forderung der freien und vollen Gottesliebe versteht und 
der seine tödtliche, zwangsmäßige Form betont, in beiden Fällen 
also dem rationalen Gesetzesbegriff entgegengesetzt ist. Daher for- 
dert seine ursprüngliche Bußlehre im engsten Zusammenhang mit 
dem strengsten Determinismus der Gnade den Anfang der Gesetzes- 
erkenntnis aus dem Glauben und aus der Liebe zu Gott d.h. aus 
einem Wunder der Gnade am erbsündigen Menschen, der dadurch 
erst das Gesetz in seinem spiritualen und wirklichen Sinne der For- 
derung der vollen freien Gottesliebe erkennt und erst hierdurch zur 
Contrition gelangt, in der ihn dann das Evangelium tröstet. Dem 
entspricht auch, daß Luthers ursprüngliche Ethik keine Rücksicht 
nimmt auf Gesetz und Naturrecht, sondern den Wiedergeborenen 
alles Gegebene mit suveränster Freiheit behandeln läßt, sofern er 
ja überall nur die Ehre Gottes und die Liebe zu den miterlösten 
Brüdern fördern will und dabei ausschließlich sich selbst mit der 
inneren Notwendigkeit der Freiheit Gesetz ist. Dieser Standpunkt 
ließ sich aber nach allen Seiten nicht festhalten. Der Determinis- 
mus enthielt fatale Consequenzen, der christliche Glaube bedurfte 
einer Vorbereitung und eines Anknüpfungspunktes im natürlichen 


Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 29 


Menschen, die Buße der vollen Gesetzeserkenntnis eine Anbahnung 
in der natürlichen Disziplin und Reue, die Ethik der wiederge- 
borenen Freiheit eines Schutzes gegen Schwärmerei und Phantastik 
wie einer Begründung des Anschlusses an die gegebenen Ordnungen. 
Alles das leistet bei richtiger Behandlung die Gleichung von lex 
naturae und lex revelationis, die nicht eine Wiedererweckung schola- 
stischer Metaphysik bedeutete, sondern nur eine nüchterne und vor- 
sichtige Anknüpfung im natürlichen sittlichen Bewußtsein und einen 
Schutz der gegebenen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Und 
so wurden diese letzteren auf die zweite Tafel d. h. auf die mit dem 
noch bestehenden Naturrecht identischen Bestandteile des Dekalogs zu- 
rückgeführt. Hier setzte Melanchthon ein und hierfür gewann er 
Luther, der diese scholastischen Begriffe nie prinzipiell beseitigt hatte. 
So wurden die älteren großartigen, aber auch überidealistischen Con- 
zeptionen Luthers abgeplattet und entstand die Vorherrschaft des Ge- 
setzes im Gottesbegriff, die Coordination von lex und evangelium, 
die beherrschende Bedeutung der Satisfaktion, die rein forensische 
Fassung der Justification und die bloße Addierung der Sanctification 
in den bona opera, die melanchthonische Encyklopädie und Univer- 
tätsreform, die Ethik und Cultur des lutherischen Territorialstaates 
mit der custodia utriusque tabulae, die dem Fürsten als membrum 
praecipuum der Gemeinde zufiel und das von der Kirche mit den 
motus spiritualis zu durchdringende Naturrecht des Staates und der 
Gesellschaft aufrecht zu erhalten hatte. Es ist kein Zweifel, daß all 
das eine Herabstimmung der lutherisehen Gedanken darstellt. Aber 
man darf auch nicht vergessen, daß die lutherische Ethik das Pro- 
blem der christlichen Ethik nicht löste sondern stellte, und daß ihr 
streng und einseitig religiöser Charakter mit der Zurseitestellung von 
Wissenschaft, Kunst und Politik einer positiven Ergänzung nach der 
weltlichen Seite hin bedurfte. Wenn sie bei Melanchthon und dem 
Luthertum so kümmerlich ausfiel, so liegt das teils an den inneren 
Schwierigkeiten der Sache, teils an der in Deutschland fortbestehen- 
den mittelalterlichen kirchlichen Gebundenheit der weltlichen Cultur. 
Die wirklichen Probleme der reformatorischen Ethik und damit des 
reformatorischen Christentums hat erst die neuere nachorthodoxe 
Entwicklung des Protestantismus aufgedeckt. 
; Alles das soll die Verdienste der in ihrer Weise vortrefflichen 
— übrigens doch erst durch die großen dogmengeschichtlichen Werke 
der Vorgänger ermöglichten — Darstellung Seebergs durchaus nicht 
ern mälern. Es soll nur zeigen — und damit fasse ich die Aus- 
gen des ersten Teils meiner Anzeige mit denen des zweiten 
sammen —, daß wir nunmehr für längere Zeit eine dogmenge- 


80 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


schichtliche Gesamtdarstellung nicht mehr zu wünschen brauchen, um 
so dringender dagegen eingehende Monographieen sowohl über ein- 
zelne Persönlichkeiten als besonders über einzelne Begriffsgruppen. 
Liegen ja doch die Vorzüge von Seebergs Darstellung in den Par- 
tieen, wo er selbst monographisch gearbeitet hat. Daher scheide ich 
von dem Werke mit dem Wunsche, es möchten ihm noch zahlreiche 
Monographieen der Art folgen, wie der Herr Verfasser solche be- 
reits in Aussicht gestellt hat. 


Heidelberg, 5. Juni 1900. Ernst Troeltsch. 


Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 
London 1900. Kgypt Exploration Fund. 373 Seiten, 18 Tafeln. 


Den zu Weihnachten 1900 ausgegebenen fälligen Band des 
Egypt Exploration Fund, Graeco-roman branch, hier anzuzeigen, fühle 
ich eine gewisse Verpflichtung, obwol eine Publication dieser Serie 
und vollends ein Buch dieser Verfasser keine Empfehlung mehr 
nötig hat. Mich hat die Continuität veranlaßt, es genau zu lesen: 
daraus kann ich denn auch anderen erzählen, die je nach ihrem In- 
teresse mehr oder weniger von ihm befriedigt sein werden als von 
den beiden Bänden über Oxyrynchos. 

Die litterarischen Papyri treten nämlich fast ganz zurück. Ein 
par Fetzen der Ilias und Odyssee, die wie gewönlich nichts von Be- 
lang lehren, weil sie aus der Kaiserzeit stammen, und daher ein 
Facsimile kaum verdient hatten. Ein gar zu zerstörtes Stückchen 
einer Erläuterung von Aristoteles Topik, ein durch seine vielen Cor- 
recturen instructiver Fetzen von Demosthenes dritter Philippica, ein 
Stückchen aus dem ersten Buche Euklid mit schlechtem Text, das 
bringt keinen positiven Gewinn '). Wertvoll ist nur ein Blatt eines 
Buches. Es stammt aus dem Roman des Chariton und entscheidet 
über dessen Zeit gegen Rohde, da es noch dem zweiten Jahrhundert 
angehört. Der Roman ist also der älteste, den wir vollständig be- 
sitzen und gehört mit dem etwas jüngeren des Longus noch der 
blühenden zweiten Sophistik an. Denn in das erste Jahrhundert 
möchte ich wenigstens mit Chariton nicht hinaufgehn. Der Schrei- 
ber im Bureau des Rechtsanwalts Athenogenes von Aphrodisias hat 

1) Unter den par registrierten Bruchstücken erscheint außer einem theolo- 
gisch-philosophischen Tractate (337) eine Spruchsammlung mit dem Anfang 6 


Blog Boazts, dem Anfange von Hippokrates Aphorismen. Aber das ist von roher 
Hand auf die Rückseite eines Papyrus geschrieben. 


Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 81 


also den Erfolg gehabt, daß seine »Liebesgeschichte< (so nennt er 
sie) bis in ein Dorf des Fayum wol noch bei seinen Lebzeiten ge- 
drungen ist. Er hat seiner Erzählung gleich mit der Ueberschrift 
einen historischen Hintergrund gegeben, die sicilische Expedition der 
Athener; er hat die Handlung zum Teil nach Asien geführt, also 
auf den Boden seiner Heimat, und in die Perserzeit, die wenn auch 
nebelhaft, doch noch im Gedächtnis seiner Landsleute lag. Hero- 
dotos Thukydides und Xenophon sind für ihn Voraussetzung, ganz 
wie für die pedérac der damaligen Rhetorik. Die Kyropaedie mit 
Araspes und Pantheia und Herodot und der damals durchaus noch 
nicht verschollene Ktesias lieferten auch für die Abenteuer und die 
Erotik classische Vorbilder. Das rückt eben die erotischen Erzäh- 
lungen der Griechen in einen Zusammenhang, den Rohde immer 
verkannt hat: die Historiographie ist für einen wesentlichen Teil 
der späten Romane genau so maßgebend wie die von Rohde richtig 
gewürdigte Geographie, am letzten Ende Ilias ebenso wie Odys- 
see. Die richtige Chronologie auch der erhaltenen Romane stimmt 
dazu. Ich habe die Sache seit dem Ninosroman als ausgemacht be- 
trachtet und behandelt. Der Roman mit mythischen Personen, wie 
Metiochos und Parthenope, schlägt vollends die Brücke zu den Aoyo- 
yodpoı, die die wzornre: einst abgelöst hatten. Homer, Pherekydes, 
Antikleides . . . Diktys: das ist eine kenntliche Reihe. Wenn im 
Apolloniosroman König Antiochos auftritt, der seine Tochter liebt, 
so ist jetzt die syrische Geschichte nur noch in Namen, nicht in 
- Motiven kenntlich, aber die Entwickelung ist analog gewesen. 
König Antiochos, der seine Stiefmutter liebt, erscheint uns in einer 
ganz romanhaft erotischen Erzählung auch innerhalb dessen was wir 
Geschichte nennen *). 


1) Da Wilcken (Arch. Pap. F. I 258) Stellung gegen die Ansicht von Haupt 
und Klebs nimmt, die den Apolloniusroman nicht als eine Uebersetzung gelten las- 
sen, so will ich mich kurz zur Sache äußern. Gewiß sind sehr viele der für die 
Originalität angeführten Gründe so nichtig wie die, mit denen immer wieder die 
ungeheuerliche Behauptung gestützt wird, der lateinische Diktys wäre Original. 
Allein man kann das sehr gut zugeben, daß die Bearbeiter von beiden Romanen 
keine Uebersetzer sind, in dem Sinne wie Caelius Aurelianus oder Marius Victo- 
rinus übersetzen. Darum bleiben sie doch noch weit abhängiger von griechi- 
schen Büchern als Apuleius in seinen Metamorphosen: sie bearbeiten ein be- 
simmtes Buch, oder wenn sie etwas eingelegt haben sollten, so sind das wieder 
Entlehnungen. Der Apolloniusroman ist in den Motiven so verwüstet, daß er 
eine lange Geschichte erlebt haben muß: da ist unmöglich zu sagen, worin der 
einzelne Bearbeiter tätig gewesen ist; der Lateiner ist eben der letzte einer 
ie a i. dem griechischen Apollonius keine Spur ist, wird den nicht Wun- 
der elende In u as Verlorene einigermaßen schätzen kann. Und dadurch, daß 

inische Roman lediglich weil er sich erhalten hatte im Occidente 


82 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


Es hat natürlich bedeutendes Interesse, daß wir ein Stück Cha- 
riton in einer fast gleichzeitigen Ausgabe, und zwar einem sorgfäl- 
tigen Buche, an dem das Riesenformat, 57 Zeilen, bei sehr schmaler 
Columne, auffällt, zu lesen bekommen. Gegenüber unserer einzigen 
Handschrift, dem berufenen Florentinus kleinsten Formates und 
minutiöser Schrift, stellt es sich freilich so, daß auf den zwei Teub- 
nerseiten (72, 73 Hercher) mindestens 13 unzweifelhafte Verbesse- 
rungen ans Licht kommen. Dazu treten die an sich zweifelhaften, 
z. B. Wechsel im Tempusgebrauch, und als wirklicher Fehler des 
. neuen Textes bleibt kaum etwas unzweifelhaftes'). Trotzdem ist 
die Abweichung nicht der Art, daß sie uns verhinderte, unsern Text 
als den des Chariton zu bezeichnen. Es steht nicht wesentlich an- 
ders, als ich es für den Oeconomicus des Xenophon an dem Blatte 
aus Oxyrynchos gezeigt habe. Natürlich aber ist es notwendig, sich 
die bedingte Glaubwürdigkeit aller solcher Texte immer gegenwärtig 
zu halten, die der Sicherung durch die Grammatik dauernd ent- 
behrt haben. Die Statistiker kann man nicht oft genug an die Un- 
sicherheit ihres Fundamentes und die Buchstabengläubigen an die 
Tatsache erinnern, daß die Erschließung neuen Materiales nicht nur 
die Berechtigung der Conjectur an sich, sondern die Conjecturen 
eines Reiske direct gar nicht selten bestätigt“). Nun ist es zwar 
schade, daß es ein so untergeordnetes Machwerk wie diesen Roman 
angeht, aber allgemein instructiv ist es doch, daß Wilcken eben im 
Archiv für Papyrusforschung beträchtlichere Reste einer andern 
Charitonhandschrift aus einem Palimpseste etwa des siebenten Jahr- 
hunderts veröffentlicht hat. Er kommt zu dem Ergebnis, daß der 
Florentinus eine in vielem trügende Redaction böte, der Thebanus 
auch. Das fällt nun hin, da für zwei Seiten durch ein so gut wie 
authentisches Document der Florentinus gerechtfertigt ist. Allein 
die Forderung an Einheit des Textes, die Wilcken aufstellt, war 
überhaupt zu hoch.: Die Masse von Zusätzen, Auslassungen, Aende- 


eine ungeheure Nachkommenschaft gezeugt hat, gewinnt er für das Altertum kein 
bischen höhere Bedeutung. 


1) desvdy ldhv für dervdy Biéxwv, wie die Herausgeber auf eine schwache Spur 
hin setzen, kann man nicht billigen; wenn für rös deoxdene des Florentinus der 
Eigenname Mı®gıddrn: im Papyrus erscheint, so wird die Regel für jenen stim- 
men: ich statuiere lieber eine Ausnahme. Bemerkenswert ist, daß der Papyrus 
und der Thebanus die Helden Xaidıpdn nennen. Wir haben gar keine Veran- 
lassung die Verdoppelung des R von Chariton zu verlangen. 

2) Der Thebanus bestätigt drei Conjecturen von Hercher, eine sehr kühne 


von Reiske, mehrfach zeigt eine neue Lesart, daß das Falsche erkannt, das Rich- 
tige verfehlt war. 


Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 33 


rungen der Wortstellung, Wechsel von Synonymen ist keine graduell 
von dem verschieden was zwischen dem Florentinus und dem Fayum- 
papyrus obwaltet, und zwar muß gehörige Ueberlegung den Floren- 
tinus tatsächlich über den Thebanus stellen. Und das ist nicht im 
entferntesten etwas neues oder seltsames. Man muß nur Umschau 
halten; ich erinnere an die beiden Schriften Philons, die in dem 
Pariser Papyrus vorliegen, das bisher allein veröffentlichte Blatt des 
Strabonpalimpsestes, die Antiquitates des Josephus, die ersten zwan- 
zig ethischen Schriften Plutarchs, zu schweigen von den berüchtigten 
Differenzen in der Apostelgeschichte oder der dritten philippischen 
Rede des Demosthenes; auf meinem Tische liegen grade mehrere 
hippokratische Schriften, an denen ich sehr viel stärkere Differenzen 
aufzeige. 

Wilcken hat freilich auf zwei Stellen hin, wo die Abweichung 
etwas tiefer geht, von einer doppelten Recension geredet; allein 
es handelt sich beide Male nur um Auslassungen') und da- 
durch bewirkte Aenderungen. Und selbst wenn hier und da eine 
kleine Partie überarbeitet wäre, dürfte man so weit nicht schließen ; 
so etwas ist selbst in einem pseudoplatonischen (modernste Per- 
versität sagt natürlich platonischen) Dialoge vorgekommen ?). Ich 
würde an sich geneigt sein, in solcher Unterhaltungslitteratur an 

1) In der einen Stelle, Kol. VI 23—27 = Char. VIII 6, 11, ist der Theba- 
nus sicher verwirrt; nimmt man aus ihm die Bestätigung für Reiskes xadi/wyv 
und beseitigt Kallıgönv lieber als den Casus zu ändern, so ist an der Fassung - 
in F nichts zu tadeln. Ebensowenig verdient die Stelle IV 3—10 den Vorzug 
vor F VIII 5, 15. Daß der Vater, der sich vorher eingeschlossen hatte, sein Kind 
erst sehen kann, nachdem er wieder herausgekommen ist, sagt sich der Leser 
selbst: es steht ja unmittelbar vorher eine abschließende Sentenz des Autors. Da 
aber in dem Briefe, den der Leser kennt und dessen Eingang eben recapituliert 
ist, die Aufforderung steht, den Knaben einmal zur Mutter in die Ferne zu 
schicken, so ist angemessen was F hat »Und als er das Kind sah, nahm er es 
auf den Arm (streiche x« vor znlag) und sagte: du wirst auch einmal fortgehn ; 
Mutter befiehlt es jac. Dagegen T. @eacapevov dt td nuıdiov roy aarégau A- 
Hövra (?) xeocHPev absae nal »x0t wor wereg, elaev, N urjtne; &xiwpsv xedg 
abtive ob piv dnelevon tenvov ebruyüg. Hier ist anstößig, daß das Kind den 
Vater ‘kommen’ sieht: wo, woher? Anstößig, daß man annehmen muß, der Va- 
ter erklärte das Kind gleich zur Mutter zu schicken; anstößig endlich die Frage 
des Kindes, das von der Mutter schon sehr lange getrennt war. Ist man so ver- 
anlaßt hier einen Zusatz anzuerkennen, so wird man über die Scene kurz vorher 
bei der Verlesung des Briefes kaum anders urteilen, obwol der erste Eindruck 
für T spricht. Da Chariton den Brief vorher ganz mitgeteilt hatte, war es nur 
verständig, wenn er die Ueberschrift hier nicht als solche wiederholte. Sehr 
vieles muß Wilcken selbst auch hier aus F nehmen: die an sich nicht üble aber 
billige Wendung »yalgeıve rag dvvapar cot duefevyuévos halte ich also für Zu- 
satz, zumal sie den Zusammenhang, das Spiel mit &dsey&rns, unterbricht. 

2) Alkib. I 133° in unsern Handschriften und bei Stobaeus und Eusebius. 
Gött, gel. Anz. 1901. Nr, 1. 3 


84 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


sehr viel stärkere Umformungen zu glauben. Der christliche Ro- 
man, der uns in den clementinischen Homilien und Recognitionen 
vorliegt, ist ein fast beängstigendes Exempel; die Acta Pauli und 
Petri auch. Hier im Chariton sind es doch nur stilistische Varianten, 
nicht etwa eine Epitome, wie wir sie allerdings von Xenophon von 
Ephesos und Petron besitzen, auch nicht eine Interpolation, wie sie 
neben Doppelfassungen in einigen Reden des Dio auftritt: all dies 
ist nur die Verwilderung ungeschützter Texte. Daß wir in diese 
Geschichte der Textüberlieferung hineinsehen, ist freilich ein noch 
viel wertvollerer Ertrag, den die Reste antiker Bücher liefern, als 
die einzelnen Verbesserungen. 

Ein einziges neues Litteraturdenkmal bieten die Herausgeber 
dieses Mal, und das ist nicht der Rest eines Buches, sondern eine 
ungelenke private Abschrift, sugar von zwei sich abwechselnden 
Händen, und es ist ein Gedicht schwerlich älter als die Abschrift, 
Ende des 2. Jahrhunderts. Die Herausgeber nennen es lyrisch und 
sein Versmaß logaoedisch, suchen dafür bei Pindar und gar Sappho 
die Vorbilder. Sehen wir von den Logaoeden ab, die wir füglich 
als eine seiner schlechtesten Erfindungen mit dem 19. Jahrhundert 
begraben können, so ist auch die Lyrik hier nicht angebracht : diese 
Erzählung ist nicht für musikalischen Vortrag bestimmt. Aber die 
Nomenclatur macht in dieser Zeit nichts mehr aus. Das Versmaß 
sei zunächst nach den eigentlich falschen zweisylbigen Füßen der 
Rhetorik bezeichnet, drei Anapaeste (oder Spondeen) und ein Iam- 
bus. Gemeint hat man das damals als einen Dimeter anapaesticus 
catalecticus in disyllabon. Daran ist gar kein Zweifel, denn in dem 
umfänglichsten Beispiel, das wir besaßen, im Tragodopodagra des 
Lukian 87—111, tritt daneben der dimeter catalecticus in syllabam, 
der Paroemiacus. Außerdem besitzen wir auf dem attischen Steine 
CIA III Add. 171a zwei Gedichte eines Diophantos, dessen erstes 
auf einen vollständigen Dimeter ausgeht. Ich halte natürlich die 
Conjectur nicht mehr für zulässig, mit der ich einst (bei Kaibel Rhein. 
Mus. 34, 211) diese Anomalie beseitigen wollte. Zu derselben Vers- 
gattung gehören die beiden Hymnen des Philostratos an Thetis und 
Echo in dem Heroicus, die aber nicht gelegentlich erledigt werden 
können. Eine höchst merkwürdige Fortbildung ist das Versmaß, in : 
dem der bereits quantitierende Taufhymnus der Amherst-Papyri ge- 
halten ist '): das sind paroemiaci miuri: aber auf der vorletzten be- 

1) Vgl. Harnack Berl. Sitz. Ber. 1900, 986 dvol druaoı unaerı Accder, ein 
auch quantitierend richtiges Beispiel zu geben, waoly 6’ sbayyelıfe Aéyov, ein 
nur accentuiert richtiges, ’Inooös 6 nadmv éxl rovroıg ein nicht miures, d.h. 


durch Versehen zugelassenes . &&awerpor petoveor hat auch das Tragodopodagra. 
Zu den welovgos von Oxyrynchos habe ich Herm. 34, 218 einen Hymnus des Gno- 


Fayum towns and their Papyri.by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 35 


tont, so daß dort auch eine lange Sylbe ausnahmsweise eintreten 
kann. Anapaeste sind neben den Sotadeen und Hemiamben in der 
Kaiserzeit die eigentlich volkstümlichen Maaße gewesen, und die Ex- 
perimente werden dann nach der damaligen Metrik angestellt. Aber 
as ist ein zu weites Feld. Der Inhalt des neuen Gedichtes zeigt 
zuerst das Gebet eines Menschen an irgend einen Gott. Darauf tut 
sich irgend ein Tor auf, er kommt in eine unbetretene Gegend, wo 
eine Masse Leichen liegen. Mit dem Hare einer Leiche befestigt er 
Köder an eine Angelrute und wirft sie in die Tiefe des Meeres, 
fängt aber nichts. Er geht am Strande weiter; da ist ein Schind- 
anger mit Gekreuzigten, Gepfählten u. dgl. Jetzt betet er an eine 
Göttin und scheint Antwort zu halten. Ich enthalte mich jeder wei- 
teren Vermutung, und ergänzen mag ich um so weniger, als kein 
Facsimile gegeben ist. Die Sprache will erhaben sein, mischt aber 
Vulgarismen mit altpoetischen Wörtern '). 

Mindestens halb der Litteratur gehört ein Brief des Ha- 
drian an (19), geschrieben an Pius im Angesichte des Todes. 
Er ist hier als Schreibübung zweimal hinter einander von 
einer Hand geschrieben, leider so zerrissen, daß man den Wortlaut 
nicht herstellen kann. So etwas konnte man gewiß erfinden; 
allein so gut wie die Verschen, animula vagula blandula, konnte 


stikers Valentinus gestellt. Aus Sotadeen besteht die Thaleia des Arius. Ana- 
paeste, Monometer meist, finden sich in Orakeln, die Porphyrios weg) tar éx 
Aoylay giiocopias giebt, bei Synesius (der neben den damals lebendigen For- 
men auch Imitationen, wie die in den Mélanges Weil erläuterten sapphischen 
Phalaeceen anwendet), und lange vorher als Spottverse der Alexandriner erwähnt 
sie Philon adv. Flaccum 537 M. Das Leben sah eben ganz anders aus als der 
Classicismus es malt; die Philologie hat nur zu lange die Wolken des Classicis- 
mus für den Leib der Göttin genommen. In den Imitationen der alten Formen 
steckt freilich nur Scheinleben. 
1) Als Probe 13 = 40 sovrov tad’ éxevyouévou zöre: da hat man gleich 
ein Flickwort. 
20 d&yavig yap Ensıro..... nv nee 

danedov yEuov alvoudgwy vexgar, 

nelexıfoutvov oravpovusvov. 

Avyea copata & ... af Gneode yijs 

FEtQAYNOKXONNMEVA XECCHATWS 

25 Erspoı nalıy éoxodomopéevor, 
éxoguavro tedxaie mixeds rvzn¢. 
TIowal 8’ éydloy péleov vexoady 
| Havarov redxoy dorepyavaukvaı. 

23 schämt man sich nicht zu ergänzen ; aber ef«®” hätte Crusius nicht vorschla- 
gen sollen; Leichen sitzen nicht. Auch sein Gedanke, daß die Hölle der Schau- 
platz wäre, ist unglücklich. Dort hat man das Totschlagen nicht mehr nötig; 
den gepeinigten Seelen aber wäre der Tod willkommen. 


3% 


86 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


Hadrian an seinen Sohn Pius einen Brief schreiben, der seine Seelen- 
stärke zeigen sollte, und der pietätvolle Sohn konnte ihn ver- 
öffentlichen. Mich dünkt, es steckt seine Pose, seine Falschheit, aber 
auch seine Größe darin, wie er hat sterben können und wollen. 
Schriftstücke des populären Kaisers finden sich ja auch in dem 
Uebungsbuche zum Uebersetzen, das den Namen Dositheus trägt. 

Von den Urkunden ist eine kleine Anzahl aus ptolemaeischer 
Zeit, ohne besondere Bedeutung; die wichtigste (22), in römischer 
Copie erhalten, ist leider so zerrissen daß sich der wichtige Inhalt 
nicht feststellen läßt. Es war ein Gesetz über Ehe und Scheidung, 
wie die Herausgeber meinen: mir scheint es nur auf Scheidung zu 
gehen. Besonders bemerkenswert ist die Beteiligung von Cultbeamten. 
lsoodVraı und Hsouopdiexes; aber der Sinn ist leider nicht zu er- 
raten). Unter den römischen Stücken sei zuerst ein Erlaß des 
Alexander Severus genannt, der den Städten des ganzen Reiches 
die Steuer des orepavos erläßt, wortreich und gedunsen, wie die 
einst so sachlich schreibende Kanzlei in dieser Verfallzeit zu stili- 
sieren beginnt 7). Die erhaltene Copie ist so gedankenlos angefer- 
tigt, daß die sonst der Conjectur sehr abgeneigten Herausgeber zu 
den gewaltsamsten Mitteln gegriffen haben, ohne die es gewiß nicht 
abgeht; allmählich wird man aber wol zum Ziele gelangen ?). Ein 
Erlaß des Praefecten M. Petronius Mamertinus (20) aus dem J. 134 
verordnet die allgemeine Einführung der Quittung, wie es scheint 
auch schriftliche Erklärung, Zahlung leisten zu wollen‘). Es sind dann 

1) 27 könnte sich die Schwierigkeit auch so heben, daß von der Verpflich- 
tung gegen die geschiedene Frau die Rede wäre, bis zu dem Termin, wo das 
Kind seine Mutter ernähren könnte. 

2) 14 ist eine Quittung der woaxrogeg über einen Beitrag zu einem oréqavos 
für Numenios, einen dezromparopvicé aus der Zeit Euergetes II: so brachte man 
damals die ‘freiwilligen Beiträge’ zu einem Ehrengeschenk für einen Vorgesetzten, 
auf, eine Form der Erpressung, die von den römischen Statthaltern auch ange- 
wandt ward. Augustus hat ibnen das Handwerk gelegt. 

3) Sicher heilen kann ich nur einen Satz 6—8 obd’ &v éuélinoa xul ei te (so 
kann man, denk’ ich, auch lesen, dx Gr. H. was sie zu vielen Aenderungen 
veranlaßt hat)... é« tijg ... ovvreisiag narıbv hpellero, nal dxdoa ... dpnplopeda 
... 0nd tay ndiswv, Exe (etn P) xal raüra dveivaı. 9 kann in dem was sicher 
verschrieben mir als er«vappasıv erscheint, nur éravaegégery stecken. 14 zwingt 
der Sinn ovyopwv in od Pdgwv Enrijceory dAl& owpeocuvnı zu ändern. 15 ist am 
Ende ein Wort verloschen, also wol lieber  axivrov [xeareiv] genudtorv. 1 hat 
gewiß nicht in der Copie, aber in der Vorlage wol gestanden drjiwory roınoacheaı 
elxavıv. 4 hinter Teacavdy nal Mäoxov ... uwusioher Zusllov dv nal xeds 
calla thy xooulosory (ronda ynv nooaıenosıv P) Lücke, in der etwa stand 
<dıa navrög Beßovisvucı fnAhasıv>. Dann tijv<d’> ody bya yrdaunv noLodueı. 

4) Erst dann ist eine pagrveda neol Tüv pi) xoocremevoy (xeoersp. Gr. H.) 
vorhanden, 


Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 87 


natürlich wieder überwiegend Geschäftspapiere, Steuerquittungen oder 
sonstige mit den Steuern zusammenhängende Documente da, auch 
eine um der Herkunft aus dem Fayum willen für die wenigen Sach- 
verständigen interessante Sammlung von Ostraka. Da ich die Sachen 
nicht beherrsche, verweise ich nur auf einige wichtige Ausführungen 
der Herausgeber. Zu 33 über owuarıouds gegen Wilcken, mit dem 
Eingeständnis, daß noch unerklärte Stellen bleiben. Zu 36, einem 
merkwürdigen Stücke, über Monopole: hier handelt es sich um die 
Fabrication und den Handel mit Ziegeln. Zu 67 über die 9’ xa v 
Steuer (die 3°/,) und einen im innern Fayum befremdlichen Ca- 
ravanenzoll Ausevog Méugems. Einzelne Steuern kommen vielfach 
zur Sprache. Zu 48 wird als Bestätigung für Wilckens feine Dar- 
legungen gezeigt, daß Nervas Tod (27. Jan.) am 25. April im Fayum 
noch nicht bekannt war. Zu 81 wird die schwierige und wichtige 
Frage, was die Önudaroı ysmpyol waren, besprochen; Material dafür 
findet sich auch sonst, aber wie es scheint, noch nicht genügendes. 
87 und 88 erscheint oixog als Bezeichnung für die Casse einer juri- 
stischen Person, oder auch die ‘Schatulle’ einer fürstlichen. Ein Phi- 
losoph Julius Asklepiades hat ein Landgut im Dorfe Euemeria der 
Stadt Alexandreia vermacht, für die durch Vermittelung einer Bank 
der éxi rév Orsuudtınv mooxsysıgıouevos die Einkünfte in Empfang 
nimmt. Das Grundstück gehört nun dem oixog xddswmg ’Alskav- 
desiov. 88 heißt ein xAnogos olxov addemsg Bacrdioons IIvoAsunlov 
Néov Awovioov, d. h. er hat, ehe er arsinoitisch ward, der Königin 
(d. h. der regierenden), vorher dem Auletes gehört. 23. 23° sind 
Listen von Beamten, hinter denen ihre Besitzungen mit Wertan- 
gabe stehn: sie stellten wol so zu sagen ihre Caution dar. 108 
sind zwei Schweinehändler auf dem Wege zwischen zwei Dörfern des 
s. w. Fayum ausgeraubt: das passiert unter Marcus. 105 ist ein 
lateinischer Papyrus; Verzeichnisse von Schuldnern und Depositen- 
gläubigern einer Militärcasse. 

Mein persönliches Interesse gilt mehr den privaten Documenten, 
namentlich den Briefen. Von diesen stammt eine sehr große Zahl 
aus einem Funde von Euemeria, und es wird das Kleine nun durch 
den Zusammenhang interessant. Da war ein gewissen Lucius Bel- 
lienus 1) Gemellus, ausgedienter Legionar, der in mehreren Dörfern 


1) Bellienus verlangt die Sprache, und wenn er selbst alle seine Briefe in 
dem Stolze auf sein Bürgerrecht mit den ganzen tria nomina beginnt und Bei- 
invog schreibt, so mag er das i auch im Reden unterdrückt haben; aber 110 
hat er einem gebildeten Schreiber dictiert, und da erscheint BeAlınvog, wie gegen 
die Abschrift die Photographie lehrt, die von diesem Stücke aus palaeographi- 
schem Interesse gegeben ist. Z. 15 ist nicht Aovo-, sondern worıodrno«y zu er- 


88 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


und in der Kreisstadt Besitzungen erworben hatte, und mit seinem 
Sohne Sabinus, seinem Verwandten Epagathus u. a. unter Trajan 
eine recht intensive Wirtschaft treibt. Der würdige Herr beherrscht 
die Sprache und Schrift nicht besonders, aber seine Sache versteht 
er und bringt die Seinen ordentlich auf den Schwung. Er schreibt 
die entsetzliche Orthographie ossıw:, wenn er seinem Sohne schreibt, 
sonst sagt er “Exayd@o (so zu betonen) r@ (d’m Epagatho suo. Wo 
man o oder ® zu setzen hat, und ähnliche Schrecknisse der histori- 
schen Orthographie sind ihm nie klar geworden, auch gehorcht die 
Feder nicht, und so fehlen oft Buchstaben. Auch in seiner Familie 
ist die Bildung wol nur bei seinem Sohne Sabinus auf anständiger 
Höhe. Man muß die Briefe schon selbst lesen, um an der Form 
und dem Inhalte Spaß zu haben; eigentlich merkwürdiges ist kaum 
darin. 102 ist eine Rechnung über Lohn an freie Arbeiter, Männer, 
Jünglinge und Knaben, die nach ihrer Leistung verschieden bezahlt 
werden : ein par zagdEvoı werden daneben beim Schwingen (Aıxvi£sıv) 
von Weizen verwandt. Die Arbeit der Masse ist rıvdassıv, und das 
Resultat wird in oxvelöss gesammelt. Auf einer andern Farm sind 
Knaben beim d:addyey rd zröum beschäftigt. Die Zeit ist 19 Tybi 
bis 2 Mechir, nur am 20 Tybi ist frei, war also Fest. Gemeint 
kann wol nur die Olivenernte sein: Bellienus ist wesentlich Oelbauer: 
die fiel also im Jahre 103 in den Januar. 91 ist ein Contract von 
ihm mit einer Arbeiterin, die in einer Oelpresse beschäftigt werden 
soll, sehr genau; aber eine feste Bestimmung über den Lohn hat 
der alte Fuchs nicht aufgenommen: der richtete sich nach den Con- 
juncturen. 111 schreibt er sehr böse an Epagathos wévmopat oon 
ueydins‘ anddscag yvpldın Ova axd rod oxvduod rs od0d, Exar 
év ri xdun egyarine xvivn Cena. ‘Hoaxdidag 6 ÖvnAdıns ta altioue 
xegLeninde Aéyoy ate ov elonyas nebo ta yvoldın éldou. Das sei 
eine Probe seines Stiles und seiner Schrift. 117 ist ein neuer Stra- 
tege ernannt, sofort avisiert Gemellus seinen Sohn aldv ov daén, 
néuoa abr shag dor. a xal sxPddiv, ext yolav adbtod Eymuor. 


gänzen. Der erste Satz ist unklar ausgedrückt, da Gemellus sicu an den Brief 
halt, den er vor sich hat, und Nebenbestimmungen parataktisch trifft. Epaga- 
thus hatte gefragt, wo er bei der kommenden Ueberschwemmung mit den Schafen 
hinsollte und was mit einer Scheune (rapevov) zu machen wäre. Er soll aus 
dieser den Unrat (xdéxgov; das ist nicht Dung) hinausschaffen, das und das tun, 
in Hinblick auf das kommende Wasser, dann kommt die Hauptsache, »damit da 
die Schafe zu liegen kommen.< Wo? In dem zu einem xaraßdAnıov gemachten ra- 
peiov. In dem lateinischen Bellienus ist der Laut, den man 7 schrieb, ohne Zwei- 
fel e gewesen: trotzdem verklingt das i davor, wie in tapeiov, dyela, Aoyeiv (119) 
für Aoyıeiy: so bat es Gemellus doch wol gemeint, nicht ein Aoyeiv erfunden. 


Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 89 


Auch zu den Harpokratesfest, das der neue Stratege feiern will, 
wird Diverses bestellt. 114 erfahren wir, daß auch an den Isien 
viele Personen, vor allen die Strategen, Geschenke von ihm er- 
halten. An den Festtagen seiner Familie ist er splendid; zu den 
Saturnalien läßt er 12 Hühner kaufen (die zieht er also nicht), zum 
Geburtstage einer Dame der Familie bestellt er Fische und eine Art 
von Weizenmehl (119), ebenso zu den rsrgaxooor« des Kleinen ...., 
"Sohnes der Gemella. Das ist der 40. nicht 400. Tag; seine Feier 
bezeugt Censorin 11, aber es brauchte keines weiteren Zeugnisses: 
wie weit ist denn Mariae Lichtmeß von Weihnachten? Seinen Sohn 
schilt er gemütlich aus, un ov Anorjang roy &xrıvayudv cov steht 
hinter einer Fischbestellung für den Geburtstag Gemellas (114), éxré- 
abov rd dsetgoy Eiva dufgıuvos ns 117, 21. Das ist keine verständliche 
Rede, soll doch aber wol heißen ‘schüttle das und das ab, damit du ohne 
Sorgen bist’ und ‘schwatze keinen Unsinn in betreff deines Abschüt- 
telns, d. h. mach keine Widerrede, als könntest du die Sorge nicht 
abschiitteln’. Mit dem rıvaoasıv der Oliven hat dieser seltsame Ge- 
brauch des Wortes nichts zu tun. Es giebt hier noch manche Nüsse 
zu knacken; aber nicht leicht wird man mit dem fertig, was den 
Herausgebern widerstanden hat. 

Ein Par Kleinigkeiten meine ich hie und da fördern zu können; 
dabei werden noch etliche Stücke bezeichnet werden. 12 ist die Be- 
schwerde eines Mannes, noch aus dem Ende des 2. Jahrh. v. Chr., 
der durchgeprügelt und seines Rockes beraubt worden ist. Z. 20 
elf odrws wet Evöduards uloı weoı]t[wo]dEvros Ind tHv pyvwmotuor. 
Seinen Rock muß er bei einer Kneipwirtin auslösen, bei der ihn die 
Räuber rods dowreiav versetzt hatten: das ist nicht incontinently, 
sondern sie haben sich dafür mit ihr oder bei ihr der dowrei« er- 
geben, und ihre Beute war die Bezahlung. Das Local der Dame, 
die den bezeichnenden, übrigens interessanten, Namen MéAc führt, 
wird man damals dowreiov genannt haben; zu Herodots Zeiten sagte 
man Hßnzrorov: auffallender Weise war die Sprache gröber ge- 
worden. 24, 20 &yodpn did... vouoypdapov EnaxoAovdoüvrog Juodw- 
gov (für den Dativ, wie sehr oft) txnocrov pauevov un eldevaı 
yoduuare. Da muß statt vanoerov mindestens gemeint sein Umtg 
ebrov. Den lateinischen Genetiv Aıßeoaiıs würde ich nicht ver- 
treiben. 89 ist ein Schuldschein augusteischer Zeit, datirt unter 
Anwendung noch des griechischen Monats neben dem aegyptischen 
(was noch hundert Jahre später vorkommt) nach der xgarnoug Kat- 
ocpos. Z. 11 erwartet man nach der Formel neben xagcyejua nur 
dic xıpds ; gelesen ist an der zerstörten Stelle ...ns. Das gelie- 
hene Saatkorn soll uérem rerdprw zurückerstattet werden. Das be- 


40 Gött. gel. Anz. 1901. Nr, 1. 


deutet, wie feststeht, daß mit dem Maaße der Viertel- Artabe ge- 
messen werden soll. Warum? doch wol, weil die kleineren Nomi- 
nale reichlicheres Maß gaben. In der folgenden Nummer 90 ist ein 
wétooy Evösxdusroov vorgesehen: das ist ein Maß, das ein pwéreov 
mehr als die eigentliche Artabe enthält: die Zinsen, so zu sagen, 
für das geliehene Korn werden auf diese Weise gezahlt. 96 nimmt 
man Anstoß daran, daß ein Gymnasiarch unmündig ist: ohne Grund, 
denn es handelt sich bei dem Amte um die Spenden, die für die 
Ehre gezahlt werden, In Asien z.B. ist so etwas gewöhnlich. 116 
suchen die Hrsgr einen Fischnamen, haben ihn aber mit gegovg 
eigentlich gelesen: gaygovs. 124 bekommt jemand Vorhaltungen 
und Drohungen, falls er seine Mutter weiter schlecht behandelt, u 
yee ÜnoAaßns tiv unregav cov xegl tovrwv [r]oeusıv. Das giebt 
keinen Sinn: es war [n]oeueiv. 138 in der Anfrage an das Orakel, 
xvpior Aidoxoveor, N xgeiveraı avrov aneAdiv tg addey ist noivere 
gemeint; zs 3 fated entspricht der Wortbedeutung nicht, und man 
will damals doch eine praktische Directive von dem Gotte. 
Sprachlich könnte man Dank Gemellus eine ungeheure Zahl von 
Belegen für Verderbnisse der Aussprache und Grammatik häufen, 
und es zeigen sich jetzt nicht selten bedenkliche Symptome, daß die 
Sprachgeschichte durch hastige Benutzung plebejischer Urkunden 
mehr verwirrt als aufgeklärt werden soll. Wie Barbaren oder Leute 
ohne Schulbildung die Sprache handhaben, das ist gewiß für die 
lebendige Aussprache nicht zu verachten, aber man soll doch nie 
vergessen, wer so redet; bei dem Schreiben ist vollends nicht zu 
vergessen, daß die Leute Buchstaben auslassen und vertauschen: die 
Vasenaufschriften und die ungelenken Steinschriften der alten Zeit 
und vollends diese flüchtigen Papiere dürfen wahrhaftig nicht auf 
eine Stufe gerückt werden mit der athenischen Kanzlei oder der 
monumentalen Schrift. Wenn man immer wieder hört, daß in 
Aegypten a zu &, ot zu v schon im zweiten Jahrhundert v. Chr. ge- 
worden wäre, in Athen erst drei Jahrhunderte später, so ist dabei dem 
verschiedenen Beweismateriale nicht Rechnung getragen. In Athen 
schrieben im wesentlichen Griechen, in Aegypten dringt in der sin- 
kenden Ptolemaeerzeit der hellenisirte Barbar empor, und wenn wir 
hier diesen hören, aus Athen die Steinschrift haben, so erscheint 
eine trügliche Differenz. Wenn Aristophanes von Byzanz Formen 
wie éAcBooey chalkidisch genannt hat, so ist das bekanntlich auf 
Lykophron von Chalkis gemünzt gewesen, der &sy&&ooav in die Poesie 
aufgenommen hatte. Daß die Form aus Chalkis oder aus Boeotien 
verbreitet wäre, ist damit nicht wirklich behauptet und man wird 
es schwer glauben, zumal die römische Kanzlei zur Zeit des Aristo- 


Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D, Hogarth. 41 


phanes so schreibt. In Tanagra hat man um 500 oe und ae für oc 
und ac geschrieben, ebenso transcribirt das Lateinische: aber zu 
einer Zeit, wo man in Boeotien schon y und e sprach. Boeotien 
hat phonetische Orthographie, von der sich Spuren in dem benach- 
barten Phokis finden. Dagegen die Bergstämme des Parnassos und die 
Aetoler, die das Schreiben erst ausgiebiger üben, als die ionische 
Schrift internationale Geltung hat, haben diese festgehalten: ich sehe 
keine Möglichkeit, zu wissen, wie sie aussprachen. Um so weniger 
kann ich glauben, daß die heutige Aussprache von ov und a, die einst 
allgemein plebejisch war, von den Boeotern stammte. Gegen diese 
Gedanken Kretschmers hat Thumb bereits Verwahrung eingelegt. 
Aber auch bei ihm finde ich die Frage nicht aufgeworfen, die mir 
von fundamentaler Bedeutung scheint: was lehrte die Schule? Wann 
hat der Schulmeister, der Redner, der Schauspieler begonnen dem 
Lautwandel zu folgen? Soll sich etwa die attieistische Reaction der 
augusteischen Zeit, die das bereits aufgegebene stumme ı der Schrift 
wieder zufügte, der Einwirkung auf die Aussprache enthalten haben? 
Es ist eher merkwürdig, daß sie jenes ı als stumm anerkannte. Sein 
Verstummen, zuerst hinter n, beginnt in Asien, bei den loniern und 
dann den Aeolern, schon seit dem 6. Jahrhundert. Die Aussprache 
des v als y ist durch die ionische, dann die attische Schriftsprache 
dem andern Hellas aufgedrängt: oder hätte um 400 irgend eine 
andere Mundart diese erste Etappe des Itacismus bereits erreicht 
gehabt ? Die Asiaten haben das h ganz früh aufgegeben; die 
ionische Schrift vertrieb es aus den meisten Alphabeten: dadurch ist 
allmählich auch die Sprache ionisirt. Auf solche Dinge wie das 
ionische xed Eros Ep Eros (auch hier wieder vertreten) ég tone 
soll man doch keinen Wert legen, denn sprachlich sind das ja In- 
laute, und da ist die Aspiration der Consonanten nur vereinzelt auch 
in Ionien aufgegeben worden. Aber für das daovvaıv trat die Schule 
ein: das zeigt ja unsere Grammatik noch in der spätesten Zeit. Der 
Ungebildete weiß wenigstens, daß es fein ist zu aspiriren, und er 
macht es dann falsch, schon in Athen im 5. Jahrhundert. Aber der 
grammatisch gebildete hat das sauer gelernt: daher die Transscrip- 
tionen der Lateiner und Kopten. Wir haben hier wieder ein hüb- 
sches Beispiel: 38 schreibt ein Römer: der setzt den Asper und eine 
Art Apostroph: das besagt, er hat bei dem Grammatiker Griechisch 
theoretisch gelernt. Gemellus hat gewiß kein Gefühl für die Quan- 
tität eines Vocales gehabt; das ist ein Symptom der beginnenden 
Verwilderung: aber von der griechischen Sprache darf man erst 
sagen, daß sie diesen Zustand erreicht hat, wenn die Messung der 


42 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


Verskunst oder der Kunstprosa den Accent statt der Quantität be- 
rücksichtigt. 

So will ich denn von den gemeinen Vertauschungen der Vocale 
schweigen, nur daß e und i überhaupt sich sehr nahe standen, sei 
z. B. an dvreovußoAov 73. T4 gezeigt, und daß der Conjunctiv éxodd 
u. dgl. wieder öfter eintritt, sei notirt: die Aussprache ist mir jetzt 
zweifelhaft; zu i ist y meiner Ansicht nach überhaupt im Altertum 
nicht geworden; für ihre Verwechselung hat schon das classische 
Attisch Belege. Hinter s hat man wie heute das @ nicht spiran- 
tisch sprechen können, aber daher auch @ statt x geschrieben. So er- 
scheint hier überwiegend Mvo@ns und Derivate: das ist doch nichts 
als udorns, das daneben vorkommt. Von Eigennamen hebe ich den 
weiblichen /TroAAxgoög hervor, so entstanden: /TroAsuatos, ITroAAäg 
Feminin, /TroAAdgıov, IItoAAagoüs, das eigentlich /7TroAAxo& lauten 
sollte. Auffällig war mir, vermutlich durch meine Schuld, od vor 
Vocalen (außer Gemellus auch der Geprügelte 12). siödrog für das 
Femininum 91, halte ich für unbeabsichtigten Schreibfehler, ebenso 
den scheinbaren Ionismus &ovong 22. ävoxvos 130 ist dagegen be- 
absichtigt und begreiflich. uxög 127 durfte nicht beseitigt werden‘): 
das hat zu allen Zeiten bestanden, schon bei Aristophanes ist eine 
Mixa. 126 nehmen die Herausgeber die Auslassung eines Augmentes 
an, und es mag sein: dann hat der Schreiber aber einen Buchstaben, ' 
den er sicherlich sprach, vergessen; er kann auch meuyev für weupeı 
geschrieben haben. Der Wortgebrauch liefert immer etwas für den 
künftigen Thesaurus; da sind Fremdwörter, das semitische uaydaAov 
für das Haus der Gensdarmen ist fest recipiert ; ovge oder weıgı, 
Bedevxodia sind unverständlich; das halblateinische roioeAAov nach 
bisellium. Das alles leistet sich Gemellus. Derselbe verwendet ox«- 
gytoov und dißdAnteov für die Action des oxéarew und diBodety, 
obwol es die Bezahlung dafür bedeuten sollte: was er mit Evdauy 
meint, weiß ich nicht. Wenn ihm &os so viel wie éxa@¢ ist, so ist 
das auch seine Sache. Daß er statt des gewöhnlichen Aoızdv für 
ceterum xegıoodv sagt?), ist eher auch wirkliches Griechisch, sicher- 
lich dıxgavigsıv, mit dem dixgavov, der furca, bearbeiten. 

Doch die Papyri sind dieses Mal, wie schon der Titel zeigt, 
nicht die Hauptsache in dem Bande. Von den 18 Tafeln gehören 
ihnen nur 3, und ich würde nicht mehr verlangen (nur statt des 


1) Ebenda war die Schreibung tiafvecy, yaupds, && Acdßnre nicht zu ändern: 
das ist eben geschrieben wie man sprach. Der Name in dı@ Karoırov ist unver- 
ständlich. 

2) Vgl. auch 127 xoly 4 cs wegaıbregov Eyyıpran xoreiy, etwas ‘weiteres’. 
In Form und Verwendung neu. 


Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 48 


Homer die Anapaeste). Daneben erscheinen eine Anzahl Abbil- 
dungen von ptolemaeischer und römischer Thonwaare, die noch eine 
Behandlung von Specialisten nötig hat; ein vollkommen erhaltener 
Pflug und anderes Handwerkzeug, auch Riemen und Flechtwerk, 
alles übrigens ohne Schönheit und ohne Eigentümlichkeit; ferner 
Pläne von zwei Heiligtümern, an denen mir das wichtigste ist, daß 
sie ungriechisch sind, und das mir weitaus Belehrendste, Photogra- 
phieen von einigen Ruinen, namentlich zwei Trümmerstätten, nie- 
drigen Hügeln in der Wüste, die die Dörfer bergen und nun die 
Papyri geliefert haben; endlich eine Karte des Fayum. Das sind 
Illustrationen zu den eingehenden Abhandlungen über die Geographie 
des Arsinoitischen Gaues und die Grabungen nach Papyri, die von den 
Herausgebern vorgenommen sind, wobei aber ein Rückblick auf die frü- 
heren dortigen Entdeckungen gegeben wird. Ich fühle mich durchaus 
incompetent, aber meine Freude über diese Darlegungen ist besonders 
warm. Es ist schon so erfreulich zu lesen; nüchterne Sachlichkeit 
erzielt hier mit wenigen Worten eine große Anschaulichkeit. Der 
Stil hat Ethos, und dies Ethos imponirt. Weit von den Objecten 
entfernt ist man so sehr leicht in Versuchung die Papyri nur als 
tote Documente anzusehen, als Schutt, aus dem man Vocabeln oder 
Formen oder Informationen über dies und das holt. Nun wird man 
‘schon durch die Karte veranlaßt, sich bei Theadelphia und Phila- 
delphia etwas concretes zu denken; schließlich fragt man, wo hatte 
Gemellus seine Oelpresse, wie sah sie aus. Und mag auch das Bild 
ohne Zweifel erst die Grundlinien zeigen, man bekommt doch über- 
haupt erst hier ein Bild von dem was das Fayum durch die Könige 
der zwölften Dynastie und dann durch Philadelphos geworden ist, 
und wie es dann seit dem Elend des ausgehenden dritten Jahrh. 
nach Chr. verfallen ist um hoffentlich jetzt erneuter Blüte entgegen- 
zugehen. Für die auf die Bodenformation und das Nivellement ge- 
gründeten Fundamente der Schilderung verweisen die Herausgeber auf 
eine Arbeit des Majors H. Brown; für die aegyptische Zeit sind die 
Entdeckungen und Forschungen von Flinders Petrie in Illahun und 
Hawara maßgebend. Es zeigt. sich daß die altaegyptischen Deich- 
und Canalbauten nur einen kleinen höhergelegenen Teil der Tief- 
ebne, die jetzt Fayum heißt, aus dem See zu Land gemacht haben ; 
es war die Umgebung der Hauptstadt des Krokodilgottes, der immer 
unter wechselnden Namen Herr des Gaues geblieben ist. Aber durch- 
gegriffen hat erst Philadelphos im letzten Jahrzehnt seiner Regie- 
rung: er hat die Stadt der Arsinoiten, die Häfen, die Kolonisten- 
dörfer geschaffen, die nur zum allergeringsten Teile eine aegyptische 
Vergangenheit und dann auch aegyptische Namen hatten. Seine 


dé Gott, gel, Anz. 1901. Nr. 1. 


Leistung muß in der Tat imponiren, und sie hat vorgehalten, wenn 
auch wol allmählich das Wasser wich, also die Wüste vorrückte, bis 
der Staat zusammenbrach, ohne dessen energische Fürsorge ein sol- 
ches Werk nicht gehalten werden kann. So haben denn wol gegen 
300 die Einwohner die stattliche Ansiedelung Zoxvomadéov vijoog 
(Dime) verlassen, so rasch, daß ihre Papiere unberührt gelegen 
haben, bis leider ungeschickte Räuber sie aufgesammelt haben. Es 
folgt hieraus, daß abgesehen von vereinzelten Puncten, namentlich 
im Süden auf der Höhe, nur die griechisch- römische Periode hier 
Reste hinterlassen hat, weil nur in ihr Leben in dem arsinoitischen 
Gaue gewesen ist. Daher hat auch das Christentum hier so wenig 
zu bedeuten. Von den Dörfern erfährt man das meiste durch den 
Abschnitt über die Ausgrabungen. Diese hatten ja freilich nur die 
Papyri im Auge, und es war eine sehr berechtigte, aber immerhin 
eine Abweichung von diesem Ziele, wenn die Freilegung eines Heilig- 
tumes vorgenommen ward. Auch die Gräber haben sie untersucht; 
der Ertrag ist hier ziemlich gering gewesen. Wir verlieren vielleicht 
wenig daran, daß wir keinen Plan einer Dorfanlage oder eines Hauses 
und Gehöftes erhalten, obwol ich nun auch danach verlange; die 
Ortskenner werden das Typische wol leicht angeben können, und 
darum sei gebeten (also z. B. Dorfstrasse oder regellose Gehöfte, 
Dorfplatz, Thing, oder nicht, Einfriedigung des Einzelgehöftes, Um- 
fang der Anlage). Das sieht man ja, daß die Dörfer sehr unan- 
sehnlich aussahen: die Kirche fehlte aber dem Bilde nicht, denn wol 
jedes Dorf hat seinen Tempel, zwar schwerlich von vorn herein, 
aber wol noch in ptolemaeischer Zeit erhalten. Der Inhaber war nicht 
der Eponym des Ortes, obwol die #eol adsAyor oder die pıAddsApos 
oder Karanos oder Bakchos sich dazu eigneten, sondern es wird der 
aegyptische Krokodilgott, also der alte Herr des Bodens, in irgend 
einer Namensform verehrt. Es ist sehr zu beherzigen, daß die An- 
siedler gar keine religiösen Bedürfnisse in ihrer Gemeinschaft gehabt 
haben können, und daß sich diese auch nicht eingestellt haben; es 
dauerte nur das Aegyptische, man findet wol fast ausschließlich 
Aegyptische Feste'). Die Kreisstadt hat natürlich mehr Culte, vor 
allem den der Könige und dann der Kaiser und des Reiches gehabt. 
Es ist das für die Stellung der hellenistischen Zeit zur Religion sehr 
wichtig. Die Leute sitzen auf dem neuen Boden: natürlich huldigen 
sie den Gewalten, die in ihm seit Ewigkeit mächtig sind, und sie 
unterwerfen sich der Form der Verehrung, die für diese Gewalten 
gilt. Das aegyptisirt sie nicht innerlich; die homerischen Götter 
waren dann aber doch Mythologie für sie. Aber wenn denen, die 
1) Die Saturnalien feierte man, aber sie hatten keine religiöse Bedeutung. 


Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 45 


in der Lage waren höhere Bildung zu suchen, die Philosophie eine 
individuelle Religion verlieh, so mußte die Masse der Bauern in eine 
rein materielle Existenz geraten, wie sie denn aus diesen Papieren 
zu uns redet. Das Christentum hat diesen Kreisen nicht eine neue, 
sondern überhaupt erst Religion wieder gebracht. Es wird uns 
schwer von der Sinnesart, die aus den Papyri römischer Zeit spricht, 
den Uebergang zu Athanasius und Palladius zu finden. Doch eine 
Arbeit über die Art der Arsinoiten zu leben und zu denken wird 
erst zu schreiben sein, und dazu wie .zu allem bedürfen wir die Er- 
schließung der ptolemaeischen Papyri, die von den Hrgbrn in Teb- 
tunis, am Südrande des Fayum, in Masse entdeckt sind — und wer 
weiß, welche Schätze sie nun schon wieder gehoben haben. 

Wenn man erfährt, daß so viel bereits über der Erde ist und 
seine Entzifferung dadurch aufgehalten wird, daß die Finder nach 
neuem graben, so scheint die Papyrologie dem Jäger des Kallimachos 
zu gleichen, der aus Freude an der Jagd das erlegte Wild liegen 
läßt, und man möchte wünschen, daß in dem Entdecken eine Pause 
einträte. Aber das geht doch nicht an, nicht bloß, weil die Menschen- 
natur nun einmal Schätze, von denen sie weiß, nicht ruhen lassen 
kann, sondern weil die Gefahr des Unterganges und der Verzette- 
lung durch Raubbau zu groß ist. Davon überzeugt die Erzählung 
von den früheren Entdeckungen durch die Araber und Händler 
völlig. In dieser Notlage giebt es, da die zerstörende Cultur sich 
doch nicht hemmen läßt, kein Mittel, als daß die Zahl der befähigten 
Arbeiter, sowol der Entdecker wie der Leser, zunimmt. Monopoli- 
siren läßt sich auch das Entdecken nicht, aber wol organisiren und 
auf die Sachverständigen beschränken ; auch sollte, so weit irgend 
möglich, das Verzetteln der Papyri, durch das sie nach der Ent- 
deckung wieder verschwinden, verbindert werden. Das ist ein er- 
strebenswertes Ziel. Welch ein Glück es gewesen ist, daß erst 
Flinders Petrie, dann Grenfell und Hunt, zu denen nun Hogarth ge- 
treten ist, das Ausgraben selbst in die Hand genommen haben, das 
wird durch dieses Buch ganz deutlich: sie haben sich selbst ein 
verdientes Denkmal gesetzt. 

Ein besonderer Abschnitt aus der Feder von J. Grafton Milne 
ist den Münzen gewidmet, namentlich einem Schatze von über 4000 
Stück aus Bakchias. Sie gestatten über die sehr ungleichmäßigen 
Emissionen der Alexandrinischen Münze von Claudius bis Marcus 
sichere Schlüsse zu machen. Hinzutreten einige Bleistücke mit 
Münzbild und Inschrift, die wieder als Scheidemünze von localer 
Geltung erklärt werden. 

Westend 6. Januar 1901. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. 





46 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


Die Jacobsbriider von Kunz Kistener herausgegeben von Karl Euling. 
(= Germanistische Abhandlungen begrüudet von Karl Weinhold herausgegeben 
von Friedrich Vogt, XVI. Heft). Breslau, M. & H. Marcus. 1899. VIII u. 
130 S. Preis Mk. 5.—. 


Wir haben eine Edition vor uns, die dem Texte eines spätmhd. 
Gedichtes ungewöhnliche Sorgfalt zuwendet, in der Einleitung die 
Frage nach der Heimat und der Entstehungszeit des Gedichtes zur 
zuverlassigen Entscheidung bringt, den Autor urkundlich festlegt 
und über den Stoff seines Werkchens aus guter Belesenheit bei- 
bringt, was wir verlangen können. 

Wenn ich gleichwohl an dem ganzen keine reine Freude habe, 
so rührt das wahrlich nicht daher, daß der Herausgeber mir ein seit 
Jahren bereitgelegtes Fündlein vorweggenommen hat: denn er hat 
sich der Priorität vor der Oeffentlichkeit durch seine liebevolle Be- 
schäftigung mit dem Gedichte vollauf würdig erwiesen. Es sind viel- 
mehr allgemeinere Betrachtungen über den Zustand unserer Disci- 
plin, die mich wehmütig stimmen. Der Wagemut zu größern Edi- 
tionsaufgaben scheint immer mehr zu schwinden. Ich rede nicht 
davon, daß wir vorläufig keine Aussicht haben, die uns s. Z. ver- 
sprochenen kritischen Texte des Freidank, des Tristan, des Wigalois 
von der erwarteten oder einer andern Seite zu bekommen — da 
können wir uns zur Not noch ein paar Jahrzehnte behelfen. Aber 
daß von einem der wichtigsten unter den Epigonen, von Rudolf von 
Ems, drei Werke dauernd ungedruckt bleiben, daß uns die Ausgabe 
des »Wilhelm von Oesterreich« jahrzehntelang vorenthalten wird, 
daß sich kein geeigneter Herausgeber für den »Friedrich von Schwa- 
ben< findet, daß wir für kulturgeschichtlich interessante Litteratur- 
produkte des 14. Jahrhunderts zwar brauchbare und z. Tl. vortreff- 
liche Prolegomena, aber nicht die Ausgaben selbst erhalten, das er- 
füllt mich mit aufrichtiger Sorge. Demgegenüber werden wir mit 
»Neudrucken< z. Tl. recht gleichgiltiger und für die wenigen Inter- 
essenten ohnedies genügend zugänglicher Werke des 16. bis 18. Jahr- 
hunderts wahrhaft überschüttet, und hier dürfen sich als Heraus- 
geber in eine Reihe mit den gewissenhaftesten Philologen getrost 
Leute stellen, denen die allernotwendigste Vorbedingung, die sprach- 
liche Bildung fehlt. 

Und weiter: während an Schönaich und Uz, an Goethe und 
Uhland die Editionstechnik neue Aufgaben löst und auch einen 
schwierigen Apparat geschickt zu bewältigen weiß, scheint die vor- 
nehme Kunst der Lachmann und Haupt den Herausgebern mittel- 


Die Jacobsbrüder von Kunz Kistener hrsg. von Karl Euling. 47 


hochdeutscher Texte keines ernsthaften Studiums mehr wert zu sein: 
daß ein kritischer Apparat etwas anderes ist als eine Sammlung 
von Kollationen, daß man nicht das Recht hat, eine Edition zum 
Zusammenscharren von Lesefrüchten zu benutzen, die mit dem Texte 
gr. Teils nur in recht lockerem Zusammenhang stehn, dafür scheint 
unsern jüngern Mitarbeitern das Gefühl mehr und mehr abhanden 
zu kommen. Ich hatte kürzlich Anlaß, über die Verrohung der Edi- 
tionstechnik Klage zu führen (Anz. f. d. Alt. XXV 366), und ich 
kann auch Euling von dem Vorwurf nicht frei sprechen, seinen Ap- 
parat und den Notizenschwall, den er zwischen die Lesarten gesteckt 
hat und der ja eine ganz hübsche Belesenheit erweist, ohne rechte 
Erwägung ihres Zweckes — und Wertes auf einen ungebührlichen 
Umfang gebracht zu haben. Wohin soll es denn kommen, wenn 
wir jetzt für die kritische Ausgabe eines Gedichtes von wenig über 
1200 Versen, dessen sämtliche (3) Textzeugen im Drucke bequem 
zugänglich waren, 5 Mark bezahlen müssen? Es gibt doch an hun- 
dert Dichtungen ähnlichen Umfangs, die einer kritischen Behandlung 
gleich oder mehr würdig wären. 

Die »Jacobsbriider< des Kunz Kistener hat Goedeke 1855 in 
einem Privatdruck den Brüdern Grimm gewidmet. Diesem Abdruck 
der Wolfenbüttler Hs. (A) ließ er 1856 in seinem »Pamphilus Gengen- 
bach« die Textbearbeitung des rührigen Basler Buchdruckers (B) 
folgen und wiederholte in den Anmerkungen S. 640—658 fast zwei 
Drittel des Kistener; dazu kam dann 1872 ein Frankfurter Frag- 
ment (C) mit 93 Versen (Germ. XVII). Nun ist die Ueberlieferung in 
A so mangelhaft und bleibt der echte Wortlaut vielfach so unsicher, 
daß wir auf die Lesarten von B gewiß nicht verzichten können — daß 
sie aber so umständlich (man darf getrost sagen: nach Art einer 
Kollation) mitgeteilt zu werden verdienten, kann ich nicht zugeben. 
Und dabei ist die Form dieser Kollation noch so wenig überlegt, 
daß man trotz aller Umständlichkeit über den Wortlaut doch viel- 
fach in Zweifel sein kann. Die Anwendung der | ist dem Verf. 
fremd, ebenso das bequeme (!): wo immer seine Lesung im gering- 
sten von Goedeke abweicht, heißt es: »nicht ... wie bei Goedeke 
zu lesen< o. ä& Und über dieser Wortklauberei vergißt der Heraus- 
geber nicht selten wichtigeres: so fehlt zu V.72, wo der brave Goe- 
deke sich zweimal um eines Buchstabens willen (!) rügen lassen 
muß, die la. seit] seite A — wobei ich übrigens auch der Textände- 
rung E.’s nicht zustimme. 

Einen Text des 14. Jhs. aus später Ueberlieferung wieder in 
sein ursprüngliches Gewand einkleiden, ist immer ein heikles Ding, 
und selten wird man es Allen recht machen. Im allgemeinen kann 


48 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


man das maßvolle Verfahren Eulings billigen, der ähnlich zu Werke 
gegangen ist, wie ich in meiner Ausgabe des »Peter von Staufen- 
berg<. Manches freilich in den Aenderungen versteh ich nicht, am 
wenigsten V. 55f. elichet: ziehet für /lühet: züuhet A. Auch die For- 
men suone, suones (‘filii, filio’) sowie die weitgehende Neigung für 
proklitisches und enklitisches Zusammenrücken der Wörter (z.B. 
duf f. do uff V. 79, bim f. by ime 338, sbest 562, dazt 629, darme 724 
usw.) muß ich tadeln. Und warum setzt E. V.19 die ganz selbst- 
verständliche Besserung Vogts nicht in den Text? warum läßt er 
V. 672 ingnote stehn, obwohl er selbst auf das V. 718 bewahrte ige- 
note hinweist ? 

Im Einzelnen ließe sich wohl allerlei bekritteln, so besonders 
hinsichtlich der Interpunction. V. 17 muß es natürlich heißen: sante 
Jacop und (nüt) die welt. Die meisten Schwierigkeiten (und nicht 
alle sind beseitigt) schafft die richtige Abgrenzung der Reden: 
Kistener hat das Bestreben, seine Erzählung durch unvermittelte 
Einführung der Sprechenden zu beleben, und gestaltet den Dialog 
oft gesucht lebendig. — Zum Ganzen muß doch bekannt werden, daß 
Euling die nicht sonderlich bequeme Aufgabe, diesen Text für die 
litterarhistorische Einreihung und Würdigung herzurichten, gut ge- 
lungen ist. Es ist ihm wohl zu gönnen, daß er die Früchte dieser 
vorbereitenden Arbeit in der Einleitung selbst gepflückt hat. Und 
wenn er den »>Fall Kistener<, der uns übrigen nicht eben besonders 
aufregt, mit einer Umständlichkeit vorführt (>Stand der Frage« 
S. 1—12!), als ob es sich um die Quellen des Parzival oder um die 
Entstehungsgeschichte des Faust handle, wenn wir auch von den 
angeblichen Entlehnungen und Reminiscenzen besonders aus Konrad 
von Würzburg wieder ein gut Teil unbedenklich streichen und zu 
andern ein kräftiges Fragezeichen machen, wenn es uns auch bei 
den Ausführungen über die Sprache, wo Karl Schröders Glossar 
zu den Straßburger Chroniken als Specialautorität citiert wird (es 
ist die schwächste Leistung des verdienten niederdeutschen Gelehrten), 
im Ohre summt: »Schier dreißig Jahre bist du alt< — jedenfalls 
werden die Resultate dieser Einleitung als gesichert gelten müssen: 
das Gedicht, über dessen Heimat und Alter Goedeke und Bartsch 
merkwürdig schief geurteilt hatten, ist im Elsaß um 1350 ent- 
standen und erweist sich wie in seinem Wortschatz so in seiner 
stilistischen Physiognomie durchaus als einen der Spätlinge der el- 
sässischen, speciell der Straßburger »höfischen« Litteratur; ja schon 
die Stoffwahl scheint das Werkchen diesem landschaftlichen Kreise 
aufs engste anzuschließen. 

Freilich hat E. aus dieser elsässischen Litteratur fast nur die 


Die Jacobsbrüder von Kunz Kistener hrsg. von Karl Euling. 49 


großen Werke und bekannten Namen herangezogen : Gottfried von 
Straßburg und Konrad von Würzburg, den Rappoltsteiner Parzival, 
Peter von Staufenberg und die Dichtungen des Hans von Bühl. Eine 
Durchmusterung von Lassbergs Liedersaal und von der Hagens Ge- 
samtabenteuer hätte ihm eine ganze Reihe von kleinern Gedichten 
elsässischer Herkunft ergeben, von denen insbesondere die poetischen 
Novellen des Gesamtabenteuers zum Vergleich einluden: eine der um- 
fangreichsten ist der unserm Werkchen etwa gleichzeitige oder doch 
nur wenig ältere »Busant< (Nr. XVI). 

Auf dem Boden und in der Zeit, wohin der Herausgeber die 
»Jacobsbriider< mit überzeugender Sicherheit stellt, nehmen wir 
dann auch den persönlichen Nachweis für den Verfasser entgegen: 
S. 28f. bringt E. urkundliche Belege für den Straßburger winruffer 
Cantze Kistener aus den Jahren 1355 bis 1372. Mir waren beide Zeug- 
nisse seit längerer Zeit bekannt, denn auch die Ordnung der Wein- 
rufer und Weinmesser von 1355, die E. aus dem jüngst erschienenen 
V. Bande des Straßburger Urkundenbuches citiert, ist bereits 1889 
in Bruckers Straßburger Zunft und Polizeiordnungen S. 519 ff. 
ediert worden, und hätte Euling die dort (S. 518—591) in langer 
Reihe gedruckten Weinordnungen des 14. und 15. Jhs. gelesen, so 
würde er sich über die Aufgaben der ‘Weinrufer’ besser unterrichtet 
zeigen'). Ich halte. die Wahrscheinlichkeit, daß der Weinrufer Cunz 
Kistener der Verfasser der »Jacobsbrüder« ist, für eine so große, als 
sie nur irgend bei einem derartigen Urkundenbeleg möglich ist, und 
finde die entsprechende Reserve<, mit der E. diesen Fund aus- 
drücklich vorbringt, durchaus überflüssig. 

Das Gewerbe der cistarii oder kistenere?), das sich erst spät von 
den zimberlüten (carpentarıi = huszimberlüte und wagenere) losge- 
löst hat, ist in Straßburg auch nach dem J. 1332, wo es unter den 
nüwen antwerken erscheint (E. s. 17), lange Zeit nicht sehr stark ge- 
wesen. Der frühste Vertreter, den ich kenne, ist ein ‘Henricus ci- 
starius’, der am 1. Apr. 1266 der Domfabrik sein Haus in der Kurde- 
wenergasse schenkte (Kraus, Kunst und Altertum in Elsaß -Loth- 
ringen I 357). Dann folgen die E. (s. 17) bekannten Belege für 
Wernher den kistener 1313 = Wernherum dietum Kistener 1321, 
gleichfalls in der Korduangasse wohnhaft, bei dem sich der Gewerbs- 
name zum Familiennamen umbildet. Ihn möcht ich für den Vater 
des Weinrufers und Dichters Cüntze Kistener halten, eher als den 


1) Auch über die Behandlung der Aussätzigen in Straßburg ist bei Brucker 
allerlei zu finden. 
2) Die Bezeichnung kommt so nnd als kistelare auch anderwärts vor, 2.B. 
in Würzburg und Zürich. 
Gött. gel. Ans, 1901. Nr. 1. 4 


50 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


1332 auftretenden Dietrich Kystener (E. s. 29). Die Gasse, aus der 
die Familie hervorgegangen ist, beherbergte im J. 1587 nicht we- 
niger als 12 Schreiner (Seyboth, Das alte Straßburg S. 159 ff.: ‘Kor- 
duangasse’), und das scheint durch Jahrhunderte hindurch so ge- 
wesen zu sein: auch die vielen Brände (z. B. a. 1280. 1298. 1343. 
1400) finden dadurch ihre beste Erklärung. 

Cunze Kistener, der es im J. 1372 erleben mußte, daß sein er- 
wachsener Sohn wegen eines gemeinen Verbrechens schimpflich ver- 
stümmelt und aus der Stadt verbannt ward’), mag im Anfang der 
50er Jahre das Werkchen verfaßt haben, das vielleicht sein Debüt 
war und seine einzige litterarische Leistung blieb. Hatte der Straß- 
burger Zunftmeister etwa einen Gönner oder gar Auftraggeber, wie 
die Goldschmiede Wisse und Colin, die im J. 1336 den Rappolt- 
steiner Parzival zu Ende brachten? Man muß immer im Auge be- 
halten, daß sich auch die anspruchslose Kunst Kisteners noch als 
Nachfolgerin des höfischen Romans und der höfischen Novelle fühlt. 
E., der das ganz richtig sieht, hätte die Worte, mit denen der Autor 
den Charakter seiner Dichtung ankündigt, nicht mit Stillschweigen 
übergehen sollen: v. 7. 8 das ich ez han geseit den lüten umbe ein 
hübescheit d.h. etwa ‘als gebildete, feinere lectiire’. Auch im 
14. Jh. war es in erster Linie noch der Adel, der litterarische Be- 
stellungen machte: ganz ähnlich wie solche bei bildenden Künstlern. 
Schon die Herren aus dem Baseler Stadtadel und Domcapitel, welche 
den Konrad von Würzburg zur Abfassung von Legenden, vielleicht 
ihrer Schutzpatrone anregten,, betrachteten das nicht viel anders, als 
wenn sie etwa Bilder oder Statuen der Heiligen in Auftrag gegeben 
hätten. Die Frage nach einem solchen Mäcen ist also auch bei 
Kistener nicht unberechtigt. 

Ich habe schon vor dem Erscheinen von Eulings Buch in den 
GGN. 1899 phil.-hist. Cl. S. 70 angedeutet, daß ich den Gönner 
Kisteners zu kennen glaube, und will es hier näher ausführen, 
warum ich den Grafen Hugo von Hohenberg-Haigerloch 
dafür halte. Die beiden Helden des Gedichtes sind ein bairischer 
Graf Jakob, der Sohn Graf Adams, und der schwäbische Ritter Hug 
von Heigerloch. Nun hat die Situation, in der wir diesen und seine 
verarmten Eltern kennen lernen, freilich gar keine Aehnlichkeit mit 


1) Hierzu verweist E. (der die Litteratur oft etwas gewaltsam herbeizieht) 
s. 28 auf Schmoller, der Q-F. XI20 »von dem Treiben der Jeunesse dorde jener 
Tage« handelt: aber der Weinruferssohn ist kein Junker — und ein nächtlicher 
Einbruchsdiebstahl [daß es sich dabei namentlich auch um Geld handelte, sieht 
man aus E.’s Citate nicht!) doch etwas anderes als das Abdecken von Krambuden 
und das Durchprügeln von Scharwächtern. 


Die Jacobsbrüder von Kunz Kistener hrsg. von Karl Euling. 51 


der angesehenen und einfluGreichen Stellung der mit dem habs- 
burgischen Königshause verschwägerten schwäbischen Dynastenfamilie, 
— aber man beachte folgendes. Eben um jene Zeit, in die ich mit 
Euling das Gedicht Kisteners setze, um die Mitte des 14. Jahrhun- 
derts hatte Graf Hugo zum zweiten Male das Amt des kaiserlichen 
Landvogts im Elsaß inne, und die Hohenburger Grafen erscheinen in 
den elsässischen Geschichtsquellen regelmäßig unter dem Namen ‘von 
Heyerloch’: es genügt hier auf Closener (DStChr. 8, 58. 62) und 
Königshofen (ebenda 454. 457) zu verweisen. Der Straßburger Zunft- 
genosse, der zu jener Zeit eine ‘*höfische Erzählung’ ausgehn ließ, in der 
die einzige nach Herkunft und Familie genau bezeichnete Persönlichkeit 
sich in Vor- und Zunamen mit dem elsässischen Landvogt von (1336 
—1338 und wieder) 1350—1353 Oct. deckte, kann diese Namenwahl 
unmöglich durch reinen Zufall getroffen haben: daß er dabei an den 
vornehmen Zeit- und Landsgenossen dachte, ist ganz selbstverständ- 
lich, — daß er den Namen aus der Quelle übernommen habe, wird 
schwerlich jemand für wahrscheinlich halten. Aus der Quelle muß 
hingegen die eigenartige Situationsschilderung v. 689 ff. übernommen 
sein: wie Hugo nach Schwaben heimkehrend die verarmten Eltern 
draußen vor der Stadt bei einer Wäscherin aufsuchen muß. Ich will 
hier nicht verschweigen, daß es neben dem Herrengeschlecht der 
Hohenberg - Haigerlocher Grafen auch eine Ministerialenfamilie ‘von 
Haigerloch’ gab und daß auch in dieser der Name Hugo bezeugt ist 
(vgl. L. Schmid, Monumenta Hohenbergica I 11: Hdgo de Heigerlo 
a. 1225). Die höchst merkwürdige Tatsache, daß ein elsässischer 
Dichter den Helden einer Aussatzgeschichte, der durch unschuldiges 
Blut geheilt wird, mit dem Namen des damaligen kaiserlichen Land- 
vogtes belegte, wird damit nicht erklärt. Da der Hugo von Heiger- 
loch der ‘Jacobsbrüder’ als ein Bild edler Ritterlichkeit, ein Muster 
der Freundestreue wie der Kindesliebe erscheint, so ist der Gedanke 
ganz ausgeschlossen, daß Kistener dem Grafen mit jener Aussatzge- 
schichte etwas anhängen wollte. Und doch — mußte nicht einen 
Menschen jener Tage, der die abscheuliche Krankheit oft mit Wider- 
willen zu beobachten Gelegenheit fand, ein Grausen ankommen, wenn 
er sich oder seinen Namensvetter so als Aussätzigen geschildert fand’? 
Dieses Bedenken würde schwinden, wenn etwa in der Familie der 
Grafen von Hohenberg eine Kunde lebte, die von einem der Vor- 
fahren ein ähnliches Schicksal und eine ähnliche Heilung berichtete: 
eine Tradition, die dem Einfall Kisteners das abgeschmackte und 
widerwärtige nehmen würde. Und die Möglichkeit, daß eine der- 
artige Familiensage existierte, ist allerdings gegeben: handelt es sich 
doch um eben jenes Grafenhaus, zu welchem die bekannte Hypothese 
4* 


62 Gött. gel. Ans. 1901. Nr. 1. 


von L. Schmid den Dichter des »Armen Heinrich« in ein Lehensver- 
hältnis bringen will. Und diese Hypothese, so wenig fest sie be- 
gründet ist, kann vorläufig noch immer die Concurrenz mit ander- 
weitigen Vermutungen aushalten. Vielleicht erhält sie eben von un- 
serer Seite her eine Stütze. 

Ich habe oben die Meinung ausgesprochen, daß Kistener seine 
Dichtung bei Lebzeiten des Grafen Hugo von Hohenberg-Haigerloch 
verfaßt habe, aber ich bin mir bewußt, daß ich das nicht bewiesen 
habe und nicht einmal zu eindrucksvoller Wahrscheinlichkeit erheben 
kann. Daß er bei der Benennung des einen Jacobsbruders als ‘Hugo 
von Heigerloch’ den elsässischen Landvogt im Auge hatte, wird nie- 
mand bestreiten wollen: die Art seiner persönlichen Beziehungen zu 
ihm und vollends seine Kundschaft von einer hohenbergischen Fa- 
milientradition bleiben in Dunkel gehüllt. 


Marburg i. H. den 10. März 1900. Edward Schröder. 


Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling, utgifna af Kong). 
Vitterhets-Historie- och Antiquitets-Akademien. Förra afdel- 
ningen 1.—3. bandet. Senare afdelningen 1.—9. bandet. Stockholm 1888—1900. 


Die Herausgeber von Acten zur neueren Geschichte werden sich 
wol immer von zwei sehr verschiedenen Grundsätzen der Bearbei- 
tung leiten lassen. Der eine wird Schriftstücke, die nach for- 
malen Kennzeichen zusammengehören — z. B. Briefe, Denkschriften, 
Protocolle, die von denselben Verfassern ausgehen oder an dieselbe 
Adresse gerichtet sind — möglichst vollständig sammeln und nach 
demselben Gesichtspunkt herausgeben, nach dem man eine mittel- 
alterliche Kaiserurkunde oder eine römische Inschrift herausgiebt, 
weil es eben eine Kaiserurkunde oder eine Inschrift ist. Der andre 
wird nicht von den schriftlichen Zeugnissen, sondern von der Wirk- 
lichkeit des historischen Verlaufs ausgehen: die Acten, welche die- 
sen Verlauf in all’ seinen Einzelheiten und in der Zusammenfügung 
des Einzelnen zum Ganzen darlegen, wird er aufsuchen und zusam- 
menstellen, unbekümmert darum, ob sie nach formalen Merkmalen 
zusammengehören oder nicht. Bei dem ersten Verfahren ist es ver- 
hältnismäßig leicht, innerhalb des Arbeitsplanes etwas Vollständiges 
zu bieten, — nur daß das, was geboten wird, die geschichtlichen 
Vorgänge in der Regel sehr einseitig beleuchten und dem In- 
halte nach oft sehr bunt ausfallen wird. Bei dem zweiten Verfahren 


Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling 58 


wird eine erschöpfende Quellensammlung erstrebt, — nur daß hierbei 
die Aufgaben des Acteneditors und des Geschichtsforschers vermischt 
werden, und jeder Mangel in der Auffassung der objectiven Vor- 
gänge, ob sie etwa oberflächlich ist oder in’s Grenzenlose sich ver- 
liert, auf die Editionsarbeit zurückwirken muß. 

Bei den Vorzügen und Nachteilen beider Methoden werden sie 
wol beide in den Actenausgaben der Zukunft ihr Recht behaupten, 
und oft werden diejenigen Arbeiten als besonders glücklich erschei- 
nen, in denen eine Vermittelung zwischen den Extremen gesucht 
wird. Das Quellenwerk, über welches hier zu berichten ist, gehört 
zu denjenigen, in welchen das erstgenannte Verfahren in strikter 
Observanz befolgt ist —, nicht freilich, ohne daß die Schriftstiicke 
selber nach ihrer Natur und dem Zustand, in dem sie gefunden wur- 
den, dazu einluden. | | 

Im dritten und vierten Jahrzehnt des siebzehnten Jahrhunderts 
gab es zwei Staatsmänner, welche durch die riesenhafte Thätigkeit, 
die sie in der Leitung der innern und äußern Politik ihres Landes 
entfalteten, alle anderen übertrafen: es waren Richelieu in Frank- 
reich und Oxenstierna in Schweden. Selbstverständlich muß sich also 
in den Schriften, die von ıhnen aus- und bei ihnen eingingen, die 
Geschichte ihrer Zeit in reicherem Maße abspiegeln als in irgend 
einer andern Correspondenz. Während aber Richelieu mit Vorliebe 
diktirte oder seine Gedanken in kurzen mündlichen Anweisungen hin- 
warf und weder Zeit noch Neigung zu ausgiebigem privatem Brief- 
wechsel fand, schrieb Oxenstierna, besonders so lange Gustav Adolf 
lebte, mit eigner Hand eine Unzahl von Concepten in innern und 
äußern Regierungssachen, führte eigenhändig Protocoll bei Friedens- 
congressen mit Dänemark und Polen, nahm die ganze Correspondenz 
mit auswärtigen Agenten auf sich und fand daneben noch Zeit zu 
eingehendem Briefwechsel mit seinem König, mit hervorragenden 
Generalen und Staatsmännern sowol Schwedens wie des Auslandes. 
Und die aus dieser Thätigkeit hervorgegangene Schriftenmasse ist 
zum großen Teil auch äußerlich beisammen geblieben. Gleich an- 
dern Staatsmännern seiner Zeit sammelte Oxenstierna einen ansehn- 
lichen Teil seiner eignen Concepte, sowie der an ihn gerichteten 
Briefe nebst Abschriften anderer politischer Acten als einen Fami- 
lienschatz, der dann, nachdem er zwei Jahrhunderte lang vererbt, 
auch vielfach geschmälert war, im Jahr 1848 vom schwedischen 
Reichsarchiv erworben wurde. Es war eine Sammlung, die förmlich 
einlud zur Ergänzung aus den Beständen der schwedischen und aus- 
wärtigen Archive und zur Aufnahme unter die Publikationen, durch 
welche schwedische Gelehrte und wissenschaftliche Anstalten der Ge- 


54 Gott, gel. Ang. 1901. Nr. 1. 


schichte des 16. und 17. Jahrhunderts so grofe Dienste erwiesen 
haben. Durch das Zusammenwirken der Stockholmer Vitterhets- 
Academie, welche die Herausgabe übernahm, eines Privatmannes, der 
die Geldmittel gewährte, verschiedener Gelehrter, die unter dem 
Vorgang des hochverdienten C. G. Styffe sich der Bearbeitung der 
einzelnen Teile unterzogen, ist demgemäß auch das vorliegende, 
noch unvollendete, aber doch schon auf zwölf Bände gediehene Werk 
entstanden. Im ersten Teil enthält es die von Oxenstierna ausge- 
gangenen Schriftstücke und Briefe (letztere bisjetzt bis Ende 1627), 
im zweiten die an ihn gerichteten Schreiben, zunächst vom König 
Gustav Adolf, dann von Staatsmännern und Gesandten, wie Hugo 
Grotius, von Feldherrn und Offizieren, wie de la Gardie, Bernhard 
von Weimar u. a. Die Schriftstücke werden unverkürzt mitgeteilt, 
die eigne Arbeit der Herausgeber liegt vornehmlich in dem Streben 
nach Vollständigkeit der zusammengehörigen Stücke!), in correcter 
Wiedergabe der Texte *), in Feststellung des Datums und der Autor- 
schaft, der Fundorte und etwaigen Drucke der einzelnen Stücke °). 
Ein Begriff vom Werte der Sammlung läßt sich am ehesten geben, 
wenn man prüft, welchen Gewinn man für die genauere Feststellung 
bestimmter Vorgänge aus ihr ziehen kann. 

Das Interesse des Forschers wird sich hierbei vor allem der 
Person Gustav Adolfs zuwenden. Gegenüber der Masse der sich 
unmittelbar um ihn sammelnden Ereignisse greife ich die Frage 
heraus: was lernen wir Neues über die Entstehung des Entschlusses 
zum deutschen Krieg ? 

Bekanntlich ist dieser Entschluß zuerst aus dem schwedisch-pol- 
nischen Krieg hervorgegangen, aus dem Bestreben Gustav Adolfs, 
diesen Krieg mit den großen Gegensätzen zwischen dem Haus Oester- 


1) Von Briefen Oxenstiernas hatte Styffe im Jahr 1896 schon 2000 Stück 
außerhalb Schwedens gesammelt. (I 2 Vorr. S. 2.) 

2) Manchmal ist die Sorgfalt übertrieben. Wenn z. B. beim Abdruck chiff- 
rierter Stellen in Gustav Adolfs Briefen (z. B. II 1 S. 829 fg.) die nichtssagen- 
den Ziffern und hinter jeder Ziffer in Klammern der entsprechende Buchstabe 
abgedruckt werden, so heißt das den Leser unnützer Weise quälen. — Sinn- 
störende Fehler, die mir aufgestoßen sind, lassen sich meist leicht corrigieren 
(so ist z. B. in dem Stück I 2 n. 423 S. 788 Z.18 v. u. der Nachsatz »sd vero« 
fälschlich durch einen Punkt, 8.740 Z.17 v. u. der beigeordnete Satz »sique ce- 
terorum foederatorum quis« sogar durch Punkt und Absatz von dem Vordersatz 
getrennt), scheinen auch das Maß des Zulässigen nicht zu überschreiten. 

3) Weiter geht der Herausgeber des kürzlich erschienenen dritten Bandes 
von Oxenstiernas Briefen (Sam. Clason), indem er über die mit den gedruckten 
Stücken inhaltlich zusammenhängenden, nach dem Plan der Edition aber nicht 
aufzunehmenden Acten Nachweise giebt. 


Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 65 


reich und seinen protestantischen Widersachern im Westen, beson- 
ders im Reich, zu verflechten. In ihren Grundzügen machen sich 
solche Absichten schon in den ersten Jahren des Königs geltend; 
aber mit bestimmten Vorschlägen, wie er den Krieg von Polen nach 
Deutschland tragen möchte, um hier zugunsten der protestantischen 
Stände einzugreifen, tritt er erst im Jahr 1623 hervor, um dann 
von derartigen Vorschlägen und Verhandlungen nicht mehr abzu- 
lassen, bis der wirkliche Einbruch im Jahr 1630 erfolgt. Gleich für 
jene ersten Vorschläge nun ist die neue Sammlung von Wert. Sie 
sind niedergelegt in einer Instruction des Königs für Rutgers vom 
17. August 1623 und einer zweiten für Gustav Horn vom 10. October 
desselben Jahres, beide bestimmt für Verhandlungen mit Prinz Moriz 
und den Generalstaaten. Allerdings wurden diese Actenstücke schon 
einmal von Schybergson veröffentlicht; aber da die Zeitschrift, in 
welcher er sie mitteilte (Bridrag till kaennedom af Finlands natur 
och folk, 1881) nicht zu den verbreiteten gehört, so sind sie erst 
durch den Wiederabdruck in den Schriften Oxenstiernas (I 2 S. 583, 
591) allgemein zugänglich gemacht. 

Seinen Grundgedanken nach ging der damals vorgelegte Plan 
auf einen doppelten Angriff: gegen die Herzlande des Königreichs 
Polen einerseits, und gegen Schlesien und die übrigen böhmischen 
Lande des Kaisers anderseits. Den ersten Angriff nahm Gustav 
Adolf auf sich, den zweiten dachte er einem aus den Beisteuern der 
Staaten, deutscher Fürsten und anderer Gegner des Hauses Oester- 
reich aufzubringenden Heere zu. Auf Verlangen war er auch bereit, 
dieses zweite Heer selber aufzustellen und zu führen, wenn man ihm 
alle dazu nötigen Geldmittel verschaffen wollte, wie er denn auch — so 
scheint es wenigstens!) — für seinen Krieg gegen Polen Subsidien 
in Anspruch nahm. Als unmittelbarer Zweck des doppelten Krieges 
wird aufgestellt: Schutz der Republik der Niederlande und Aufhe- 
bung der von den protestantischen Ständen in Deutschland erlittenen 


1) In der Instruction für Rutgers wird dieser Anspruch mit klaren Worten 
erhoben. (S. 584 unten, ‘postquam igitur’ etc. und ‘etst entm’.) In der Denk- 
schrift für Horn heißt es dagegen von dem gegen Polen bestimmten Heer (S. 594 
n. 12): 83 its omnibus (copiis) fuerit sumptibus s. r. Mts de armis ceterisque 
necessariis abunde prospectum; und an einer andern Stelle (S. 596 n. 19): exer- 
citus uterque, et is qui sumptibus regiis colligitur (gegen Polen), et qui pe- 
cunia ordinum conscribetur (gegen Schlesien). — Vielleicht hängt der Unterschied 
damit zusammen, daß der König, als er im October die Denkschrift für Horn 
abfassen ließ, nicht mehr, wie im August, auf die Heere von Halberstadt und 
Maasfeld, als verwendbar gegen Schlesien, rechnete und deshalb, da ein ganz 
neues Heer für diesen Zweck aufzubringen war (vgl. S. 595 n. 15), die Ansprüche 
für sein eignes Heer nicht mehr ausdrücklich geltend machte. 


56 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


Verluste, besonders also Rückführung des vertriebenen Pfalzgrafen 
in seine Erblande und seine Kur; in weiterer Aussicht steht es, daß 
»die Kräfte der Katholiken geschwächt, und sie vielleicht aus vielen 
Reichen und Fürstentümern vertrieben werden können< (S. 585, Abs. 
exitum horum constliorum). 

Wenn man nun fragt, welche besonderen Antriebe, abgesehen 
von der allgemeinen politischen Lage’), den Schwedenkönig be- 
stimmten, gerade damals mit seinen Vorschlägen herauszukommen» 
so gewinnt man aus den neuen Quellen keinen Aufschluß. Aus äl- 
teren Publikationen wissen wir nur, daß des Königs Schwager, Pfalz- 
graf Johann Casimir, der sich damals in Deutschland aufhielt, ihm 
die schlimme Lage der protestantischen Stände vorgestellt, daß fer- 
ner Camerarius ihn um schriftliche Verwendung bei den Kurfürsten 
ersucht hatte, und daß Rutgers mit seinen Aufträgen zunächst an 
Camerarius gewiesen wurde, um mit dessen Rat und Beistand weiter 
vorzugehen ?). Von Wichtigkeit ist hier vor allem das Verhältnis 
Gustav Adolfs zu Camerarius, dem Manne, der an dem kleinen Hof 
des vertriebenen Friedrichs V. die Geschäfte der auswärtigen Politik 
leitete: allem Anscheine nach ist das Einvernehmen mit ihm damals, 
wie in der Folgezeit, für die Aufstellung und Ausführung der auf 
Deutschland gerichteten Entwürfe des schwedischen Königs von Be- 
deutung gewesen. Hinsichtlich des Anfanges dieses Einvernehmens 
nun wußte man bisher, daß Camerarius seit 1623 einen Jahresgehalt 
von Gustav Adolf empfing, für den er, unterstützt durch die Berichte 
anderweitiger bezahlter Correspondenten, regelmäßige Nachrichten 
über die Vorkommnisse in den europäischen Staaten von Polen bis 
nach Italien und Spanien einsandte ®). Die neue Sammlung belehrt 


1) Sie ist vornehmlich dadurch bezeichnet, daß Gustav Adolf seit der Erobe- 
rung Rigas eine viel stärkere Stellung im Kreis der Ostseemächte gewonnen 
hatte, und daß anderseits die Macht des Kaisers und seiner Verbündeten vom 
Süden Deutschlands sich nunmebr auch gegen den Norden auszubreiten begann. 

2) Gustav Adolf an Johann Casimir, 1623 Aug. 16. (Gustaf Adolfs Skrifter 
S. 359.) Oxenstierna an Camerarius, Sept. 16. (Moser, patriot. Archiv V S. 29. 
In der neuen Publikation I 2 S. 588.) Dazu Eingang der Instruction für 
Rutgers. 

8) Im Jahr 1628 erhielt er 400 R.Thaler als Gehalt und 200 R.Thaler zur 
Bezahlung seiner italienischen und polnischen Correspondenten. (Oxenstierna an 
Camerar., Juni 17, Sept. 16. Moser V 8. 25, 29. Oxenstiernas Skrifter I 2 
8. 571, 588.) Im Jahr 1624 und 1625 beträgt der Gehalt 600, der Zuschuß für 
die Correspondenten 800 R.Thaler (Oxenst. 1624 Sept. 28, Oct. 31. 1625 Nov. 
20. Moser V S. 57, 68/9, VI 8. 68.) — Neben Camerarius bot Rusdorf seine 
Dienste als Correspondent an, welche Oxenstierna am 4. Oct. 1624 annahm. 
(Skrifter I 2 S. 7. Vgl. Rusdorf an Oxenst., 1624 Dez. 20. Mém. de Rusdorf I 


Rikskansleren Axe) Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 87 


uns, daß die schwedische Bestallung viel älter ist: bereits im Ja- 
nuar 1620 ist dem Camerarius die Jahrespension >gleichsam asse- 
curiert<, im Juli 1620 eröffnet Oxenstierna die Correspondenz mit 
ihm, und fürs Jahr 1621 finde ich den ersten Beleg für die Zah- 
lung des Gehaltes'). — Also die Vorschläge, mit denen Gustav 
Adolf im Herbst 1623 hervortrat, sind neben andern Motiven auch 
aus seinen um drei Jahre zurückreichenden, ununterbrochenen Be- 
ziehungen zu der pfälzischen Regierung zu erklären. 

Das Scheitern dieser ersten Vorschläge hielt Gustav Adolf nicht 
ab, ein Jahr später, im September 1624, mit verwandten, aber noch 
kühner entworfenen Plänen hervorzutreten. Es war die Zeit, da 
der Eintritt Englands in eine kriegerische, zunächst gegen den Kai- 
ser und die Liga gerichtete Politik alle Feinde des Hauses Oestreich 
und seiner Verbündeten mit neuem Mut erfüllte, und die Blicke der- 
jenigen, die für ein großes Unternehmen gegen diese Mächte einen 
Führer suchten, sich wie von selber auf den schwedischen König 
richteten. Von zwei Seiten sah sich denn auch Gustav Adolf zur 
Führerschaft eines derartigen Unternehmens eingeladen: vom Prin- 
zen von Wales und Friedrich V., deren Beauftragter Jakob Spens 
am 13. August ?) bei ihm eintraf, und von Kurbrandenburg, dessen 
Gesandter Christian von Bellin sich im folgenden Monat einfand. 
Ueber die Anträge der Gesandten und die Antworten des Königs 
sind wir vornehmlich durch mehrere Schreiben Oxenstiernas an Ca- 
merarius — sie fallen in die Zeit vom 3. September bis 18. Dezem- 
ber — und die nur bruchstücksweise bekannte Relation Bellins vom 
23. October °) unterrichtet. Da in diesen Schriftsücken über die ge- 
wechselten Vorschläge und Entschließungen eben nur berichtet wird, 
so kommt daneben einer von Gustav Adolf dem Spens übergebenen 
Denkschrift, als dem directen Ausdruck der Entschließungen des 
Königs, hervorragende Bedeutung zu. Diese aber wurde zuerst in 
einer von Spens gefertigten englischen Uebersetzung von Gardiner 
(Camden Society 1875. Miscellany vol. VII S. 85) veröffentlicht ; 


S. 6.) — Ein anderer Correspondent in Deutschland war der brandenburgische 
Rat Bellin, und zwar schon »lange« vor Herbst 1624 (Schybergson, Underhand- 
lingerna om en evangelisk allians 1624/25 (Helsingfors 1880) S. 42 Anm. 12.) — 
In den Niederlanden zog Heinsius einen schwedischen Gehalt. (Oxenst. an Rut- 
gers, 1623 Oct. 19. Skrifter I 2 S. 594.) 

1) Camerarius an den Pfgr. Joh. Casimir, 1620 Jan. 18 (1 2 S. 373 Anm.) 
Oxenstierna an Rutgers, Juli 25. (S. 387.) (Derselbe an Camerarius, 1622 Juli 
13. (S. 471/2.) 

2) Rusdorf, 1624 Sept. 28. (Mon. pietatis n. 26 S. 331.) 

8) Mitteilungen daraus bei Schybergson, evangel. allians S. 43 fg. 


58 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


jetzt, in unserer Sammlung, erscheint sie nach Oxenstiernas lateini- 
schem Concept '). 

Drei Fragen drängen sich dem Inhalt dieser Actenstücke gegen- 
über auf: 1. wie entstanden und worauf zielten die Anträge des 
Prinzen von Wales und des pfälzischen Kurfürsten? 2. wie ist es 
mit dem brandenburgischen Antrag bewandt? 3. wie sind die Ent- 
schließungen Gustav Adolfs auf jene Anträge zu verstehen ? 

Im allgemeinen ist die erste Frage leicht zu beantworten. Prinz 
Karl, unzufrieden mit seines Vaters schwankendem Vorgehen, eröff- 
nete sich den Einwirkungen der pfälzischen Diplomaten, und so kam 
es, daß er und Friedrich V. jenem Gesandten Spens, den Jakob mit 
unbestimmter gehaltenen Vorschlägen an den König Gustav Adolf 
schickte, im eignen Namen besondere, natürlich tief geheime Auf- 
träge mitgaben. Der König wurde kraft dieser Aufträge eingeladen, 
den Kaiser in Schlesien anzugreifen, und ihm dabei eine monatliche 
Beisteuer von 20000 Pfund Sterling versprochen ?). Man sieht gleich, 
daß hiermit dasjenige aufgegriffen wird, was Gustav Adolf selber 
ein Jahr vorher angeboten hatte; aber fragen muß man sofort, wo- 
her denn der Prinz, der keine Herrschaft besaß, und der Prätendent, 
der seine Lande verloren hatte, die zugesagten Subsidien nehmen 
wollten? Vielleicht liegt ein Hinweis auf die richtige Antwort in 
der genau bestimmten Summe von 20000 Pfund monatlich. Das war 
der Betrag, welchen Jakob I. in den Abmachungen, die er im April 
und Mai 1624 mit Mansfeld traf‘), diesem General auf sechs Mo- 


1) Das Concept geht noch von der Auffassung aus, daß des Königs Ent- 
schließungen dem Pr. Wales und Friedrich V. zur Annahme vorzulegen sind. 
Nach dem von Spens übersetzten Original soll König Jakob für dieselben ge- 
wonnen werden. 


2) Menstrua pecunia: Rusdorf an Camerarius, 1624 Oct. (Monumenta pie- 
tatis 8. 358 n. 30.) 20000 pfund st.: Rydfors, diplomatiska forbindelserna mel- 
lan Sverige och England 1624—30 (Upsala 1890) S. 20. Cronholm, Gustav Adolf 
V 18S. 848. 


8) Nach Gardiner (Hist. of England 1603—1642, V S. 223 A. 1) waren die 
Abmachungen niedergelegt in engagements von Mansfeld, 1624 April 28., und 
einer declaration Jakobs vom 5. Mai. Dem ersten Astenstück dürfte der bei 
Villermont II S. 230 abgedruckte undatierte Revers Mansfelds entsprechen. — 
Nach Rusdorf waren Jakobs Entschließungen niedergelegt in einer commission 
ou accord, und den accord erhielt Mansfeld mit des Königs Unterschrift, als er 
eben von London abgereist war und sich in Dover befand (Mém. I S. 289 fg., 
298.) Da Mansfeld am 5. Mai von London abreiste (a.a.0. S. 289), so stimmt 
das Datum, das Rusdorf für den accord giebt, mit demjenigen, welches Gardiner 
für die sog. declaration giebt. — Außerdem erwähnt Effiat, 1624 Oct. 6., noch 
ein dem Mansfeld von Jakob erteiltes Patent vom 27. April (a. St.?) 1624 (Siri V 


Rikskansleren Axe] Oxenstiernas skrifter och brefvezling. 59 


nate zugesagt hatte!), gegen die Verpflichtung, eine Armee von 
10000 Mann z. F. und 3000 z. Pf. aufzustellen, und unter der Be- 
dingung, daß Frankreich mit seinen Verbündeten Savoyen und Ve- 
nedig ihm die Mittel zur Aufstellung einer gleichen Streitmacht 
gewährten, wobei denn auch, mit Rücksicht auf das Zusammenwir- 
ken und die verschiedenen Zwecke Englands und Frankreichs, die 
Restitution einerseits Friedrichs V. anderseits des Veltlin als Mans- 
felds Aufgabe hingestellt wurde”). Nun waren diese Abmachungen 
ohne Befragung der Pfälzer und im Grunde auch gegen ihre Wün- 
sche getroffen ®).. Rusdorf, der Agent Friedrichs V. am englischen 
Hof, sah den Verhandlungen darüber, wenigstens anfangs, mit ent- 
schiedenem Mißtrauen gegen Mansfeld zu‘), und Camerarius, der 
Leiter der pfälzischen Politik, bewahrte dieses Mißtauen auch nach 
den geschlossenen Vereinbarungen: er gründete es auf Mansfelds 
Abhängigkeit von den unbekannten Zielen der französischen Politik 
und seine Untreue in der Verwaltung fremder Gelder’). Diese Un- 
gunst der Pfälzer hätte Mansfeld nun freilich tragen können; aber 
wie er von England nach Frankreich zog, um den König Ludwig 
nebst seinen Verbündeten für die ihnen zugedachten Leistungen zu 
gewinnen, scheint sich eine ähnliche Stimmung der Leiter der eng- 
lischen Politik bemächtigt zu haben, d. h. des aus dem Prinzen von 
Wales, dem Herzog von Buckingham und dem Staatssecretär Conway 
bestehenden Triumvirates, welches damals die Maßregeln einer krie- 
gerischen antiösterreichischen Politik allein erwog und entschied ®). 


S. 680.) Sollte dieses der von Rusdorf erwähnten, scheinbar mit dem accord 
identificierten commission entsprechen ? 

1) Nach Rusdorf (Mém. I S. 291) wäre die Höhe der Summe in dem schrift- 
lichen accord nicht angegeben gewesen, habe aber 20000 pfund st. durant six 
mois de suite betragen. Diese Ziffer wird in den weitern Verhandlungen und 
Acten über jeden Zweifel erhoben. 

2) Le recouvrement du Palatinat et de la Valtelline. (Revers bei Villermont 
II 230.) Recovery and recuperation of the Palatinate and the Valtelline. (Gar- 
diner V 223.) 

3) Beschwerden Rusdorfs darüber nach seinem Bericht 1624 Mai 6. (Mem. I 
S. 290.) 

4) Daß es sich gelegt habe, bemerkt er in dem Schreiben an Camerarius 
vom 6. Mai. (Mon. pietatis II n. 20.) Argwohn, daß Mansfeld als französischer 
Kundschafter diene, in dem Schreiben an dens. vom 25. April (n. 17.) 

5) So schreibt er 1624 Juni 4. an Rusdorf (Coll. Cam. 25): herus pecuniam 
dart Mansfeldio, antequam de mente et consiliis regis Galliae constaret, rem pers- 
culs plenam esse censet, — et hoc verum est. Nisi etiam illi in re rem pecunia- 
riam concernente fidi homines adiungantur, mox de tota pecuniae summa actum 
erit. — Vgl. seine Schreiben vom 21. Aug. und 8. Oct. bei Soltl S. 192, 194. 

6) Darüber Conways Aeußerung bei Rusdorf, mem. I 8. 425. Vgl. die Mit- 


60 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


Ein Vorgang im Monat August und September weist darauf hin. 
Damals schien es jenen Männern, als ob die Bewerbungen Mansfelds 
um französische Beisteuern nicht zum Ziel führen sollten, woraus 
sie den Schluß zogen, daß alsdann auch die englischen Zusagen hin- 
fällig seien'). Rasch bei der Hand, sprang darauf der pfälzische 
Gesandte mit dem Vorschlag ein, die dem Mansfeld versprochenen . 
Gelder seinem Kurfürsten zuzuwenden und für einen unter dessen 
Führung zu unternehmenden Kriegszug zu bestimmen; und so wirk- 
sam war dieser Vorschlag, daß Conway in den ersten Tagen des 
September dem Gesandten sagen konnte: »>wir (d. h. Wales, Buk- 
kingham und Conway) hoffen dem König die Zustimmung abzuge- 
winnen, daß die für die Ausführung von Mansfelds Auftrag be- 
stimmten Gelder alsbald verwandt werden, um ein Truppencorps auf- 
zustellen und nach Deutschland überzuführen, über welches die Ver- 
fügung eurem Herren zufällt *)<. 

Indeß kaum waren diese Worte gesprochen, als Nachrichten aus 
Frankreich eintrafen, welche sie, wie Conway alsbald bemerkte °), 
durchkreuzten. Die Verhandlungen Mansfelds gewannen nämlich eine 
günstigere Wendung und führten am 5. September zu einem aller- 
dings ziemlich formlosen Abkommen, infolge dessen für Mansfeld 
auch französische Monatsgelder im Betrag von 180000 Livres auf 
sechs Monate gesichert schienen). Als diese Entscheidung in Eng- 


teilung des Erzb. Canterbury, daß die Abmachung mit Mansfeld ohne Wissen 
des geh. Rates durch eine, höchstens zwei Personen (Buckingham und Conway) 
erwirkt sei. (Vosbergen, verbaal etc. in Werken van het Histor. Genootschap 
XS. 44.) 


1) que sa commission ira en fumée, sagt Conway am 10. Aug. 1624. (Rus- 
dorf I S. 334.) Unter commission versteht er den mit englischen Hülfsgeldern 
auszuführenden kriegerischen Auftrag. Vgl. S. 346: deniers destines pour Texécu- 
tion de la commission donnée au c. de Mansfeld. 


2) Rusdorf, 1624 Aug. 23., Sept. 8, 21. (Mem. I S. 335, 346, 364.) Vgl. 
Camerarius an Rusdorf, Aug. 21. (Söltl III S. 192.) 


8) In dem angef. Bericht Rusdorfs vom 8. Sept., S. 347. 


4) Die einzige schriftliche Verpflichtung, welche hierbei ausgefertigt wurde, 
war ein Revers Mansfelds vom 5. Sept., in dem er sich verpflichtete, gegen Mo- 
natssubsidien von 120000 Ecus (360000 L.), welche Frankreich, Venedig, Savoyen 
zu zahlen hatten, 10000 Mann z. F, und 3000 z. Pf. aufzustellen. (Goll, Die 
französische Heirat 'S. 88 n. 18. Valaresso, 1624 Oct. 4., bei Siri V 8. 679.) 
Daneben ging eine Vereinbarung zwischen der französischen Regierung und den 
Gesandten von Venedig und Savoyen über Zahlung und Verteilung der genannten 
Subsidien. (Siri S. 639, 668. Daß die Vereinbarung nicht in der Form einer 
schriftlichen Verpflichtung festgesetzt wurde, bestätigt Rusdorf, 1624 Oct. 8., 
Mém. I S. 874, und Valaresso, Oct. 4., a. a. 0.) Die auf Venedig und Savoyen 


Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 61 


land kund wurde, glaubte die Regierung Jakobs I. sich zur Erfül- 
lung ihres gegebenen Wortes verpflichtet. Mit Hülfe der seit Octo- 
ber eingehenden englischen!) und seit Dezember hinzukommenden 
französischeu ?) Teilzahlungen begann Mansfeld im October 1624 um- 
fassende Werbungen in Frankreich, in England und in der Umge- 
gend von Hamburg und Bremen. Der Plan, die für ihn bestimmten 
englischen Gelder andern Zwecken zuzuführen, schien also mißlungen 
zu sein. Aber es schien doch nur so. Denn schon am 14. oder 
kurz vor dem 14. September entwickelte Conway dem pfälzischen 
Agenten Rusdorf den Gedanken, daß es für England darauf an- 
komme, Frankreich in die Unterstützung Mansfelds zu verwickeln, 
um dann die eignen Hülfsgelder nach sechs, wenn nicht schon nach 
drei Monaten dem vorher bezeichneten Zwecke zuzuwenden —, einen 
Gedanken, den Rusdorf natürlich zu verfolgen beschloß °). 

Wenn man nun mit diesen Vorgängen die Daten der schwedi- 
schen Verhandlung vergleicht — daß Spens am 16. Juni abgefertigt 
wurde, nachdem Mansfeld am 5. Mai von England nach Frankreich 
gezogen war, daß Spens die geheimen Anträge an Gustav Adolf in 
der zweiten Hälfte des Monats August stellte, während in England 
die Zweifel, ob das Mansfeldische Unternehmen ins Leben treten 
werde, gerade auf den Höhepunkt gekommen waren, daß endlich, 
als die Nachrichten über die Verrichtungen des Spens in England 


geschobenen Summen wurden hinterher nicht erlegt (vgl. u. a. Lomenie an Ville- 
aux-Clercs, 1625 Jan. 4., bei Siri V S. 770, ferner die Aeußerungen Wakes 1624 
Aug., bei Roe, negotiations S. 675), sodaß nur die französische Quote von 180000 L. 
wirkliche Bedeutung gewann. Sie war auf sechs Monate bewilligt (u.a. Ludwigs 
Instr. für Ville-aux- Clercs, 1624 Nov. 27., Richelieu, lettres II S. 41). Als 
Zweck wurde ursprüglich aufgestellt: la recuperazione della liberta de’ Grigions 
e restituzione della Valtellina. (Vallaresso in dem angef. Bericht.) Wie dann die 
Politik Richelieus in trugvollen Wendungen bald diesen Zweck, bald den der 
Restitution des Pfalzgrafen, endlich den der Unterstützung der Staaten zum Ent- 
satz Bredas vorschob, ist hier nicht darzulegen. 

1) Erste Zahlung: Rusdorf, 1624 Oct. 16. (Mém. I S, 881.) Bis März 1625 
80000 Pfund st. gezahlt (a. a. O. S. 521.) 

2) Erste Zahlung von 1624 Dez. 24. (Rusdorf, Mém. I 8. 405.) Ueber wei- 
tere Zahlungen bis März 1625: Villermont II S. 288, 293. — Zugleich stellte 
Jakob einen neuen Auftrag an Mansfeld aus (Nov. 17.), nach dem er die in Eng- 
land geworbenen Truppen für die Wiedergewinnung der Pfalz, unter Vermeidung 
jeder Feindseligkeit gegen Spanien und die spanischen Niederlande zu verwenden 
hatte. (Rusdorf, Mém. I 8. 392.) 

8) Rusdorf an Friedrich V., 1624 Sept. 14. (Mém. I 8. 862.) Derselbe an 
Camerarius, Sept. 24., 28. (Mon. pietatis n. 25, 26.) Nur nebenbei will ich be- 

merken, daß der listenreiche Mansfeld gelegentlich auch selber dem Rusdorf eine 
derartige Vertröstung machte. (Rusdorf, 1624 Oct. 5. Mon. piet, n. 27 8, 383.) 


62 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


eintrafen, zwar Mansfeld mit seinen Werbungen voranschreiten konnte, 
auf die ihm bewilligten Gelder aber die Pfälzer und die Partei des 
Prinzen von Wales noch immer ihre begehrlichen Blicke richteten, 
so liegt die Vermutung nahe, daß die dem Mansfeld so abgeneigten 
Pfälzer, und auf ihren Antrieb der Prinz von Wales hinsichtlich der 
Mittel für die Ausführung ihrer Pläne auf dieselben Gelder rech- 
neten, welche man dem Grafen von Mansfeld in Aussicht gestellt 
hatte. 
Allerdings erheben sich gegen diese Vermutung gewichtige Be- 
denken. Von vornherein scheint ihr der Umstand zu widersprechen, 
daß ja nicht von einer Uebertragung der Mansfeldischen Subsidien 
auf Gustav Adolf, sondern auf den pfälzischen Kurfürsten die Rede 
ist. Nimmt man, um diesen Widerspruch zu heben, eine Fassung 
des Projectes an, nach welcher von den Hülfsgeldern ein Truppen- 
corps aufgestellt und unter Friedrichs Commando dem schwedischen 
König zugeführt werden sollte, so tritt alsbald eine andere Schwie- 
rigkeit hervor. Wenn man die Besprechungen zwischen Conway und 
Rusdorf genauer verfolgt, so bemerkt man, daß hier als die 
Aufgabe des dem Pfalzgrafen anzuvertrauenden Heeres nicht ein Zug 
nach Schlesien und die Verbindung mit Gustav Adolf, sondern ein 
Einbruch ins Westfälische zur gleichzeitigen Bedrohung Tillys und 
zur Deckung der Niederlande aufgestellt wird. Es war ein Gedanke, 
dessen Autorschaft Conway für sich in Anspruch nahm, und den er 
schon vor der Anknüpfung Jakobs mit Mansfeld gehegt haben 
wollte’), und immerhin kam er auch der pfälzischen Regierung so 
beachtenswert vor, daß Camerarius darüber kurz vor dem 12. Octo- 
ber mit Prinz Moriz eine Unterredung hielt ?). Offenbar, wenn die- 
ser Gedanke die Politik der Pfälzer und des Prinzen von Wales 
damals klar und stetig beherrschte, so kann bei den dem schwedi- 
schen König gemachten Vorschlägen an eine Uebertragung der Mans- 
feldischen Subsidien nicht gedacht sein. Indeß, so weit es sich um 
die pfälzische Politik handelt, ist nicht zu vergessen, daß sie we- 
der klar noch stetig, sondern ein verwegenes Glücksspiel mit allen 
sich darbietenden Gelegenheiten war. Wollen wir daher die wahren 
Absichten der Pfälzer erfassen , so müssen wir in deren Geschichte 
etwas weiter als bisher zurückgehen. 

Ein Mittelglied zwischen den Anerbietungen, die Gustav Adolf 


1) Rusdorf, Sept. 14 (Mém. I S. 359): avant que le c. de Mansfeld vint en 
Angleterre. Also vor dem 24. April 1624 (a.a. 0. 8.281). Als proposita a d. 
secretario Convayo bezeichnet auch Camerarius diese Vorschläge in dem Schrei- 
ben (s. folgende Anm.) vom 12. Oct. 

2) Camerarius an Rusdorf, 1624 Oct. 12. (Coll. Cam. 25. Vgl. Böltl III 196.) 


Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 63 


im August 1623 an die Generalstaaten richtete, und den Anträgen, 
mit denen im Herbst 1624 Spens und Bellin an ihn herantraten, 
bilden Besprechungen, welche Camerarius bei einer in den letzten 
Monaten des Jahrs 1623 vollführten Reise nach Schweden mit Gustav 
Adolf und Oxenstierna führte!). Sie bezogen sich auf den als un- 
vermeidlich *) angesehenen Neuausbruch des polnisch - schwedischen 
Krieges, und indem man nun abermals mit der Absicht dieses Krieges 
den Plan eines gegen Schlesien und Böhmen zu führenden Angriffes 
verband °), wurde zugleich — das war das Neue dabei — dem pfäl- 
zischen Kurfürsten eine unmittelbare Beteiligung zugedacht. Er 
selbst, meinte Gustav Adolf, sollte mit einem kleinen Heer an den 
Grenzen Schlesiens erscheinen *), um dann mit der schwedischen Ar- 
mee in Polen und dem, wie man weiter rechnete, gegen Ungarn los- 
brechenden Bethlen Gabor zusammenzuwirken °). Die Mittel für das 
dem Pfälzer zugedachte Unternehmen mußten natürlich durch fremde 
Beisteuern aufgebracht werden, und selbstverständlich war es, daß 
man dabei vor allem auf das Geld des englischen Königs rechnete ®). 
Als Zweck wurde, indem man wieder geradeswegs in die ausschwei- 
fenden Bahnen der früheren pfälzischen Politik einlenkte, die Rück- 
führung Friedrichs V. auf den böhmischen Thron aufgestellt. 


1) Er reiste vom Haag ab am 13. Sept. 1623, um Gustav Adolf als Paten 
für Friedrichs neugeborenen Sohn (Prinz Ludwig? geb. und gest. 1623, Häusser 
II 8.518 A.) zu erbitten, und traf im Haag wieder ein am 13. Dez. (an Rusdorf, 
1623 Sept. 12., Dez. 14. Coll. Cam. 25.) — Zu den Gegenständen, über welche 
unterhandelt wurde, gehörte auch die Frage des eventuellen Nachfolgers des 
Rutgers in der Stelle eines schwedischen Agenten bei den Generalstaaten. Nach 
Rutgers’ Tod erinnerte Camerarius den Oxenstierna an sein ibm in dieser Bezie- 
hung gegebnes Versprechen (an Oxenst., 1625 Dez. 5., 1626 April 9. Schy- 
bergson, Sveriges och Hollands diplomatiska förlindelser S. 517, 353.) 

2) nist pax cum rege Poloniae coit, quod tamen videtur &ddvaroy (an Rus- 
dorf, 1624 Jan. 13. Coll. Cam. 25). 

8) Camerarius an Rusdorf, 1625 April 2: propositum regis Sueciae versus 
Stlesiam ducends exercitum (wie es mit Spens und Bellin im Herbst 1624 verhan- 
delt wurde) miht tam dudum factum fuerat, cum ego fut apud illum regem (a.a.0.) 

4) Camerarius an Rusdorf, 1624 Febr. 24: (rex Sueciae), s¢ aliquando rex 
Bohemiue cum exiguo exercitu ad fines Silesiae pervenire posset, et fortuna ill 
contra regem Poloniae favorabilis foret, procul dubio regem Bohemiae vel in ipsam 
Bohemiam restituturus esset (a.a. QO.) 

6) Camerarius an Rusdorf, 1624 März 16: wenn das Parlament Friedrich V. 
15—20000 M. unterhielte, facslis . . recuperatio vel ipsius Bohemiae futura esset, 
Gabore ex una parte imperatori, rege Sueciae ex altera parte Polonis negotium fa- 
cessentibus (2.2. 0.) 

6) Derselbe an dens., 1624 Jan. 13: (rex Sueciae) ausurus esset restitutionem 
nostrs in Bohemiam .., si spem saltem aliquam videret melioris mentis in rege 
Angliae. Vgl. Söltl U} 8. 186, 


64 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


Sowie das neue Project vereinbart war, beeilte sich Camerarius, 
es durch den pfälzischen Agenten Rusdorf am englischen Hofe be- 
fürworten zu lassen. Ueber die hierbei beobachte Vorsicht schreibt 
er später (15. Dezember 1625) einmal an denselben Rusdorf: »der 
König von Böhmen konnte Dir keinen Auftrag über diese Dinge er- 
teilen, und auch meine Meinung war es nie, daß sie dem König 
Jakob von Dir vorgetragen werden sollten, sondern nur, daß die 
Ratgeber zeitig und vorsorglich unterrichtet würden, damit sie, falls 
die sehnlich erwünschte Aussicht zur Wiedergewinnung des König- 
reichs Böhmen sich böte, dieselbe nicht aus der Hand lieZen<. Die 
hier erwähnten Ratgeber waren, wie wir anderweitig erfahren !), die 
Vertrauten des Prinzen von Wales und natürlich auch der Prinz 
selber. 

Fassen wir nun die parallele Entwickelung dieses und des Mans- 
feldischen Unternehmens ins Auge, so ergiebt sich zunächst: das 
pfälzisch-schwedische Project war fertig, bevor Mansfeld mit seinen 
Anträgen an den König Jakob trat. Da nun diese letzteren englische 
Hülfsgelder erforderten, welche man dem erstern zuwenden wollte, 
so ist die oben erwähnte Mißgunst, welche die Pfälzer den Mans- 
feldischen - Wünschen entgegenbrachten, sehr begreiflich. Weiter: 
auch nachdem Jakob seine vorläufigen Vereinbarungen mit Mansfeld 
geschlossen hatte, hielt der Leiter der pfälzischen Politik an seinem 
Plane fest; schreibt doch Camerarius am 21. August 1624 an Rus- 
dorf: Gutes sei nur zu hoffen, wenn die Mansfeldischen Monatsgelder 
auf Friedrich V. übertragen würden, und dieser mit einem kleinen 
Heer sich Schlesien nähern könnte ?). Bei diesem Gegensatz und 
dem Verlangen nach Uebertragung der Mansfeldischen Hülfsgelder 
auf das schlesische Unternehmen ist es wiederum begreiflich, wes- 
halb die Pfälzer in der Zeit, da die Ausführung der Vereinbarung 
mit Mansfeld ungewiß wurde, so rücksichtslos für ihre Nichtaus- 
führung eintraten, und nicht minder nahe liegt es, daß, wenn 
Camerarius und Rusdorf im Verlauf dieser Verhandlungen auf die 
Conway’sche Absicht, den Krieg statt nach Schlesien nach Westfalen 
zu spielen, eingingen, dieses nur geschah, um, falls das eine Ziel 


1) Rydfors, de diplomatiska förbindelserna mellan Sverige och England 1624/30 
(Upsala 1890) S. 17, 18, wol nach Bellins Relation. — Nach einer Aeußerung 
des Camerarius (an Rusdorf, 1625 April 2: scit Bellinius non a nobis exortum 
negotium, sed cum ipse fuit (nicht: fut) in Suecia) fand sich übrigens Ende 1623 
zugleich mit ihm, und als Mitwisser der betreffenden Verhandlungen, auch Bellin 
am schwedischen Hofe, was denn fir die Entstehung der Gesandtschaft Bellins 
vom Herbst 1624 weitere Perspectiven eröffnet. 

2) Solel III 8. 192. 


Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 65 


nicht zu erreichen war, das andere nicht aus der Hand zu lassen’). 
Endlich: auch nachdem England sich wieder zur Erfüllung der dem 
Mansfeld gegebnen Zusagen gewandt hatte, setzte Camerarius noch 
immer sein ausschließliches Vertrauen auf den pfälzisch-schwedischen 
Plan, nur daß er jetzt dessen weitere Fassung annahm, die er durch 
Gustav Adolfs Resolutionen an Spens und Bellin erhalten hatte. 
Und wie sehr er auch jetzt noch für die Ausführung des Plans auf 
die Mansfeldischen Hülfsgelder und auf jene Vertröstung Conways, 
daß die englischen Zahlungen an Mansfeld ja in einigen Monaten 
eingestellt werden dürften, rechnete, ersieht man daraus, daß er das 
schwedische Unternehmen als eine Fortsetzung der Unterstützung 
des in spätestens sechs Monaten zu Ende gehenden Mansfeldischen 
Vorstoßes auffaßte ?). 

Nach alledem dürfte sich die geheime Werbung des Spens bei 
Gustav Adolf und die sich daran schließenden Verhandlungen, so 
weit die Absichten der Pfälzer maßgebend waren, folgendermaßen 
erklären: die Anträge des Gesandten fußten auf einer vorhergehen- 
den Verständigung zwischen Gustav Adolf und Camerarius, kraft 
deren Friedrich V. im Zusammenhang mit einem großen Krieg des 
Schwedenkönigs gegen Polen einen Angriff gegen Schlesien unter- 
nehmen, im Verfolg des Krieges sich der böhmischen Krone wieder 
bemächtigen und die Mittel dieses Unternehmens in erster Linie aus 
englischen Hülfsgeldern bestreiten sollte. Als eine Durchkreuzung 
dieser Absichten wurde es empfunden, daß Mansfeld nach jener Ver- 
ständigung und vor Spens’ Gesandtschaft für seine besondern Ent- 
würfe einen Anspruch auf die Casse Jakobs I. gewann. Man hoffte 
jedoch, als Spens seine Aufträge erhielt, und die an daran sich 
anschließenden Verhandlungen in Gang kamen, das Hindernis zu 
überwinden, indem man die für Mansfeld bestimmten Gelder alsbald 


1) In diesem Sinn spricht er am 29. November 1624 sogar den Wunsch aus, 
daß rex Bohemiae posstt tpse adesse in hoc bello Mansfeldico. Vgl. Söltl II 
8. 196. 

2) Rusdorf hatte des Camerarius Mitteilungen dahin verstanden, daß dem 
Mansfeld die Gelder zugunsten des neuen Unternehmens einfach entzogen wer- 
den sollten. Auf seine Einwendungen (1624 Oct. und Dez. 9, 12. Mon. pietatis 
n. 30, 31, 32) entgegnet Camerarius 1624 Dez. 30.: tecum sentio, promovendam 
prius Mansfeldii diversionem et continuationis loco tandem hunc novum modum 
proponendum esse. Sodann 1625 Jan. 23: über das praeclarum consilium regis 
Sweciae ist nicht vor Mansfelds Abreise aus England zu handeln. Aber cum comis- 
sio silts (Mansfeldio) a regibus Galliae et Angliae data tantum in sex menses 
concepta sit, de continuatione tempestive nobis cogitandum existimavs. (Coll. 
Cam. 25). 

Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 1, 5 


66 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


oder nach kurzem Genuß auf das pfälzisch-schwedische Unternehmen 
übertrüge. 

Wenn nun dieses die pfälzischen Absichten waren, so bleibt 
die Frage übrig, ob der Prinz von Wales, der seinen Namen bei 
Spens’ geheimer Werbung ja ebenfalls hergab, sie völlig teilte. 
Hierauf wird man in Ermangelung bestimmter Zeugnisse nur sagen 
können : es liegt kein Grund vor, einen Zwiespalt zwischen dem 
Prinzen und dem Pfalzgrafen anzunehmen. Wenn wir aber die 
Uebereinstimmung beider Männer voraussetzen dürfen und wenn die 
bisher ausgeführten Vermutungen sich bewähren, so wäre hiermit 
die erste der oben (S. 58) aufgestellten Fragen beantwortet. 

Schwieriger wird es sein, die zweite Frage, wie es kam, daß 
dem pfälzisch - englischen Beauftragten der brandenburgische Ge- 
sandte Bellin folgte, und welche Aufträge ihm eigentlich mitge- 
geben wurden, befriedigend zu lösen. Unzweifelhaft sind der Sen- 
dung Bellins in dem geheimen Rate des Kurfürsten Auseinander- 
setzungen zwischen den Tendenzen einer kaiserfreundlichen und einer 
kaiserfeindlichen Politik, von denen die letztere durch die Mehrheit, 
die erstere aber durch den mächtigsten Mann des Collegiums, den 
Grafen von Schwarzenberg '), vertreten wurden, vorausgegangen, un- 
zweifelhaft hat zeitweilig auch die kaiserfeindliche Richtung so voll- 
ständig gesiegt, daß Schwarzenberg selber sich fügte und die neuen 
Pläne, die man bei der Aussendung Bellins verfolgte, zu befördern 
versprach *). Schwieriger wird die Sache schon, wenn man nach den 
speziellen Anlässen der Absendung Bellins forscht. Seine Instruction 
— 9. August 1624 — fällt in die Zeit nach der Werbung eines 
französischen Agenten namens Marescot und vor dem Eintreffen des 
englischen Gesandten Anstruther, beide abgeschickt, um den bran- 
denburgischen Kurfürsten gleich andern protestantischen Fürsten und 
Ständen Norddeutschlands zum Widerstand gegen Kaiser und Liga 
anzutreiben. Ausdrücklich werden denn auch die Vorstellungen 
Marescots als Anlaß von Bellins Sendung in seiner Instruction be- 


1) In meiner deutschen Geschichte habe ich darauf hingewiesen, daß die 
katholische Gesinnung Schwarzenbergs sehr lau war (II S. 401; dazu jetzt 
das in viel spätere Zeit — 1630 Jan. 11 — gehörige gleichartige Zeugnis des 
Cölner Nuntius bei Kiewning, Nuntiaturberichte II S. 295 A. 5), und daß er in 
den Zeiten des Regensburger Fürstentags sich nichts weniger als kaiserfreund- 
lich zeigte (III S. 285 A. 2). Erste Zeugnisse für seine kaiserfreundliche Po- 
litik : von Gustav Adolf, 1628 Sept. 4. (Skrifter S. 362), von den Staaten, 1624 
Nov. (Aitzema I S. 466.) 


2) Schybergson, ev. allians S. 50 Anm. 23. 


Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 67 


zeichnet. Allein diese Instruction weist Bellin noch nicht an Schwe- 
den, sondern zunächst an den König von Dänemark !); ihr Inhalt ist 
allgemein gehalten, und allgemein, keine Verpflichtung in sich 
schließend, fiel auch der Bescheid aus, den Christian IV. erteilte. 
Bedeutsam wurde Bellins Gesandtschaft erst, als er nun weiter nach 
Schweden reiste. Fragt man aber, welche Instructionen er für seine 
Verhandlungen mit Gustav Adolf erhielt, und welchen Einfluß etwa 
die inzwischen (August/September?)) von Anstruther in Berlin vor- 
gebrachten Aufträge auf seine Instruction ausübten, so giebt die 
bisherige Forschung keine Antwort. Wir sind lediglich auf die Nach- 
richten über die in Stockholm von ihm geführten Verhandlungen ge- 
wiesen. Auf diese aber können wir nicht eingehen, ohne zugleich 
der dritten oben gestellten Frage näher zu treten, wie es nämlich 
mit den Entschließungen Gustav Adolfs auf die Anträge, welche 
erst der von England, dann der von Brandenburg kommende Gesandte 
ihm vortrugen, bewandt war. 

Den Ausgang für die bisherigen Entwürfe des schwedischen 
Königs bildete sein Verhältnis zu Polen; dieses aber war bestimmt 
durch einen Krieg, der noch unausgleichbar schien und nur seit dem 
Sommer 1622 durch kurz befristete Waffenstillstände unterbrochen 
war’). Der letzte Stillstand lief bis zum 1. Juni 1625 (a. St.), war 
jedoch mit dem Zusatz beschlossen, daß er, wenn nicht spätestens 
am vorausgehenden 31. März (a. St.) die Aufkündigung dem feind- 
lichen Feldherrn angezeigt werde, noch auf ein weiteres Jahr 
dauern solle. Diese Verlängerung nun war Gustav Adolf entschlos- 
sen, nicht zu bewilligen: er verlangte entweder definitiven Frieden 
oder auch einen dem Frieden nahe kommenden vieljährigen Waffen- 
stillstand, oder aber neuen Krieg. Da man umgekehrt auf polnischer 
Seite den Frieden, der ja nur durch Verzicht des Königs Sigis- 
mund auf die schwedische Krone und mindestens den besten Teil 
der von Schweden eroberten Ostseelande zu erkaufen war, verwarf, 
dagegen gerade die Verlängerung der kurzen Waffenstillstande drin- 
gend wünschte, so schien die Verständigung ausgeschlossen, und 


1) Opel II S. 64 Anm. 

2) Opel II 8. 66, 

3) Nach Oxenstierna (I 2 S. 572) liefen die beiden ersten Waffenstillstande 
vom 1. Juli 1622 — 1. Mai 1623, und von da bis zum ersten Juni 1624 (a. St.). 
Hieran schloß sich der dritte Waffenstillstand (gedruckt in acta et literae ab 
8. Maii a. 1624 usque 6. Nov. a. 1625 inter . . Sueciae et Poloniae senatores ac 
officiales commutatae. Ex mandato s.r. Mtis Sueciae. 8. a.) bis zum 1. Juni 
1625 (a. St.) 


5* 


68 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


Gustav Adolf machte sich für den Sommer 1625 auf neuen Krieg 
gefaßt. 

In diese Lage der Verhältnisse nun schien dem Könige der von 
Spens überbrachte Antrag vor allem deshalb zu passen, weil der 
vorgeschlagene Angriff gegen Schlesien sich mit dem Krieg gegen 
Polen, wie er es ja schon im vorhergehenden Jahr geplant hatte, 
verbinden ließ. Mit zwei Vorbehalten nahm er deshalb auch den 
Antrag an. Der erste lautete: der Anfang des Krieges muß in 
Polen gemacht werden, und erst nachdem Polens Kräfte gebrochen 
“sind, beginnt der weitere Angriff gegen Schlesien). Der zweite be- 
sagte: es müssen noch andere Mächte *) zur Unterstützung des Un- 
ternehmens gewonnen, und aufgrund eines festen Kriegsbündnisses 
Streitkräfte zu Land und zur See aufgebracht werden, die der Größe 
der Aufgabe entsprechen. 

Noch nicht lange war diese Entschließung gefaßt, als Bellin in 
Stockholm eintraf. Der brandenburgische Gesandte, mochte er nun 
aufgrund klarer Instructionen oder nach allgemeiner Kenntnis der 
Absichten seines Kurfürsten vorgehen, verwarf den polnisch-schlesi- 
schen Krieg. Was er verlangte, war Befreiung Norddeutschlands 
von den kaiserlich-ligistischen Streitkräften und Rückführung Friedrichs 
V., nicht auf den böhmischen Thron, sondern in seine pfälzischen 
Erblande und seine Kurwürde. Der Krieg, dessen Führung er Gu- 
stav Adolf antrug, sollte demgemäß an der Weserlinie beginnen und 
in der Pfalz enden, d.h. der schwedische König sollte die bisher 
festgehaltene Grundlage seiner Entwürfe, daß erst der Krieg mit 
Polen entschieden werden müsse, preis geben und sich, diesen Feind 
im Rücken lassend, mitten ins deutsche Reich hineinwagen. So groß 
diese Zumutung war, so erstaunlich erscheint die Geschwindigkeit, 
mit der Gustav Adolf sich bereit erklärte, den ersten Vorschlag fal- 
len zu lassen und diesen zweiten, weiter gehenden anzunehmen. 
Wol stellte er hohe Bedingungen — ein festes Bündnis, als dessen 
vornehmste Mitglieder Schweden, England und die protestantischen 
Reichsstände zu gewinnen waren, sollte geschlossen, und eine dem 


1) Oxenstierna, 1624 Sept. 3.: Aunc Aostem relinquere viribus infractis . ., 
a principtis prudentiae . . alienissimum est (I 2 S. 733). — Tentare si qua ra- 
tione . . fractis sllius (Poloni) cirsbus der (in Silesiam) . . liderum . . praestare 
queat (S. 789). 

2) A. a. O.: utque eius (belli) .. rationes .. cum ceteris communicet (S. 735). 
— Rex Bohemiae cum amicts suis quos interim sıbi studiose comparure debebit 
(S. 73940). Rex Bohemiae ac princeps Walliae ei, si induci possunt, ordines 
Beigii (S. 740). 


Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling.' 69 


schweren Krieg entsprechende Streitmacht zu Land und Wasser 
sollte aufgestellt werden —; aber nicht nur daß er unter diesen 
Bedingungen die Führung zu unternehmen bereit war, er wollte auch 
alle Vorbereitungen so rasch erledigt wissen, daß der Krieg im Früh- 
jahr 1625 losbrechen konnte. Das war ein Ungestüm, vor dem der 
Forscher doch die Frage stellen muß, ob und wie weit dem König 
seine Erklärungen ernsthaft gemeint waren. Eine Probe dafür ge- 
währt einerseits seine gleichzeitige Behandlung der polnischen An- 
gelegenheiten, anderseits die weitere Entwickelung seiner kriegeri- 
schen Pläne. 

Für beides bringt uns die neue Publikation hochwichtige Auf- 
schlüsse, und zwar zunächst für die polnischen Beziehungen nicht 
nur durch den Neudruck !) der damals von dem schwedischen Reichs- 
rat an die polnischen und litauischen Senatoren gerichteten, von 
Oxenstierna verfaßten Schreiben, sondern vor allem durch eine An- 
zahl höchst interessanter Briefe von Jakob de la Gardie (II 5 n. 
129 fg.) und einige neu veröffentlichte Schreiben Oxenstiernas (I 3). 
Nach diesen Zeugnissen stellt sich die Sache folgendermaßen. 

In einem Entwurf der Artikel des zu schließenden Bündnisses, 
welchen Gustav Adolf dem Bellin mitgab, heißt es an letzter Stelle: 
die Entschließung muß ungesäumt erfolgen, damit sich der König 
in seinen Verhandlungen mit Polen darnach richten könne; der Waf- 
fenstillstand mit Polen endet nämlich am 1. Juni?) (a. St.); seine 
Aufkündigung muß aber bereits am 31. März (a. St.) erfolgen. — 
Das will doch sagen: wenn das Bündnis und in seinem Gefolge der 
Krieg in Deutschland beschlossen wird, so will der König den Waf- 
fenstillstand mit Polen, entgegen seiner bisherigen Absicht, erhalten, 
wenn aber nicht, so will er ihn, entsprechend seiner bisherigen Ab- 
sicht, aufsagen. Nun wurden die Verhandlungen über das Kriegs- 
bündnis, in welche man zunächst England, Frankreich und die pro- 
testantischen Reichsstände zog, gegen Ende des Jahrs 1624 begon- 
nen). Noch fanden sie sich in ihren ersten Anfängen, als jedoch 


1) Zuerst in der S. 67 Anm. 8 citierten Schrift veröffentlicht. Vgl. darüber 
I 2 Vorr. 8. 15. 

2) Der kürzere Entwurf von Oxenstiernas Hand I 1 8.528. Die etwas aus- 
führlichere Fassung, welche dem Bellin mitgegeben wurde, bei Rusdorf, mém. I 
S. 439. 

8) Statt »au premier jour du mois« (8. 449 Z. 4) ist natürlich zu lesen »as 
pr. j. d. mois de Juin«, und statt »au premier jour de Mars« vielmehr »au der- 
ater jour d. M.« 

4) Spens fuhr am 13. Nov. von Göteborg wieder ab. (Oxenstierna, 1624 


70 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


plötzlich am 20. Febr. /2. März ein Schreiben des schwedischen 
Reichsrats an die polnischen und litauischen Senatoren abging mit 
der Erklärung, daß, wenn nicht am 1./11. Juni ihre und ihres Kö- 
nigs Gesandte mit genügender Vollmacht zur Unterhandlung eines 
definitiven Friedens in Riga erschienen, der Waffenstillstand als er- 
loschen betrachtet werden sollte’). Da an eine Erfüllung dieser 
Forderung nicht zu denken war — schon deshalb nicht, weil man 
von schwedischer Seite als genügende Vollmacht nur eine solche an- 
sah, in der Gustav Adolf den Titel eines Königs von Schweden er- 
hielt —, so war das Schreiben eine Aufkündigung des Waffenstill- 
standes und wurde als solche, sobald es zweckmäfig erschien, von 
schwedischer Seite auch geltend gemacht. Aber wie verhielt sich 
diese Aufkündigung zu den bedungenen Terminen ? Vertragsmäßig 
mußte sie am 31. März/10. April dem polnischen Feldherrn zur 
Kenntnis gebracht werden; in Wirklichkeit ging das Schreiben erst 
sieben Tage nach seiner Datierung ab, traf am 8./18. April in Riga 
ein und erforderte weiteren Zeitverlust, bis es an seinen Bestim- 
mungsort gelangen konnte. Der schwedische Statthalter in Livland 
geriet denn auch in Verzweiflung über diese Verspätung, er wagte 
die Andeutung, daß der gute Ruf von des Königs Vertragstreue 
Schaden leiden könne ?). 

Hält man nun diese Vorgänge mit den Verhandlungen über Bel- 
lins Anträge zusammen, so läßt sich allerdings die Verspätung mit 
großer Wahrscheinlichkeit erklären: im Hinblick auf den geplanten 
deutschen Krieg hatte man sich zur Wiedereröffnung des polnischen 
Krieges nicht zeitig genug entschließen können. Aber warum ent- 
schloß man sich plötzlich am 2. März dazu? 

Die Beantwortung dieser Frage muß von der bekannten That- 


Nov. 26. I 2 S. 767.) Bellin erhielt seine Instruktion zu Verhandlungen mit 
Friedrich V., England und Frankreich am 28. Nov. (Droysen, preuß. Politik III 1 
8. 88, 261 n. 83.) — An die prot. Reichsstände sandte Brandenburg die Räte 
Götz und Winterfeld. (Opel II S. 79 A. 2. Camerarius, 1625 Jan. 2, Febr. 28, 
bei Schybergson, Sveriges och Hollands etc. S. 126, 159. Rusdorf, mem. IS. 451.) 
Ueber Winterfelds Erfolge in Oberdeutschland berichtet Camerarius an Rusdorf 
1625 März 18: Wirtembergicus et ceteri Uniti prompti sunt ad accessionem, sed 
ex metu nondum hoc publice profitert audent. (Coll. Cam. 25.) — Nur nebenbei 
weise ich darauf hin, daß Brandenburg mittelst dieses Bündnisses auch den Be- 
sitz sämtlicher Jülicher Lande zu gewinnen suchte. (Rusdorf I S. 460 2.3 v.u., 
8. 511 2.2 v. u. —518.) 

1) In dem S. 67 Anm. 8 citierten Schriftchen. Jetzt auch Oxenstierna, 
Skrifter I 8 S. 88. 

2) De la Gardie an Oxenstierna, 1625 April 18. (II 5 n. 152 S. 824.)' 


Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 71 


sache ausgehen, daß um die Mitte des Januars 1625 Konig Chri- 
stian IV. von Dänemark unerwartet mit dem concurrirenden Aner- 
bieten eines Krieges in Deutschland hervortrat, daß er dabei an 
erster Stelle die Beisteuern Englands und der protestantischen Reichs- 
stände in Anspruch nahm, und sofort bei England wegen der gerin- 
geren Höhe seiner Forderungen, bei den niedersächsischen Fürsten 
wegen seiner nachbarschaftlichen Verbindungen größeren Anklang 
fand als der schwedische König. Dieser Zwischenfall hat, wie man 
weiß, den Beschluß Gustav Adolfs herbeigeführt, von dem Bellin’- 
schen Projecte zurückzutreten und sich wieder seinem polnischen Kriege 
zuzuwenden. Aber die Frage ist, ob schon am 2. März dieser Ent- 
schluß gefaßt sein, oder auch nur die dänischen Nachrichten, die ihn 
bewirkten, vorliegen konnten. Zweierlei wird man hierbei unter- 
scheiden müssen. Einmal, eine als maßgebend angesehene Auf- 
klärung über die dänischen Absichten erhielt Gustav Adolf erst am 
23. März durch ein Schreiben Christians IV., sowie ein zweites des 
englischen Gesandten Anstruther, und erst da erklärte sein Kanzler 
Oxenstierna den Entschluß, den Krieg in Deutschland dem dänischen 
König zu iiberlassen'). Das war ein Vorgang, welcher beinahe 
einen Monat nach jener Aufkündigung des polnischen Waffenstill- 
standes erfolgte und also die Aufkündigung selber nicht begründen 
kann. Indeß eine vorläufige Mitteilung über Dänemarks Entschlüsse 
hatte Gustav Adolf bereits am 11. Februar von einem französischen 
Agenten, Des Hayes, der von Kopenhagen nach Stockholm gekommen 
war, erhalten‘), und wenn man diese Mitteilung mit der neunzehn 
Tage später erfolgenden Absage an Polen vergleicht, so ist die An- 
nahme des ursächlichen Zusammenhangs unabweisbar : Gustav Adolf 
sah das deutsche Unternehmen ins ungewisse gerückt, da beeilte er 
sich, noch in letzter, eigentlich schon verspäteter Stunde die Mög- 
lichkeit des polnischen Krieges sich wieder zu eröffnen. 


1) P.S. zu Ox.’s Schreiben vom 23. März 1625. (Skrifter I 3 8.47. Zu 
der dortigen Anmerkung über Christians IV. Schreiben vom 4. März ist zu be- 
merken, daß dasselbe nach dem dänischen Original z. T. gedruckt ist bei Weibull, 
Gustaf II. Adolf och Christian IV. 1624/25, Universitätsprogramm von Lund zum 
8. Dez. 1894 8. 16 A. 1). 


2) Gustav Adolf von Dänemark, 1625 Febr. 11. (Moser V S. 101). Ueber 
den Inhalt von Des Hayes’ Mitteilungen : Oxenstierna an Götzen, Febr. 13. (Skrifter 
I 3 S.20). Dieselben Mitteilungen brachte gleichzeitig der zur Erkundigung 
über ein angebliches dänisch-polnisches Bündniß an Christian IV. geschickte Ga” 
briel Oxenstierna zurück. (Weibull, a.a.0. S. 14 Anm. 2. Oxenstierna an Came- 
rarius, Febr. 20. Skrifter I 3 S. 24). 


72 Gétt. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


Das Ergebniß ist also: Ende September 1624 nahm Gustav 
Adolf das Bellin’sche Project eines im Herzen Deutschlands zu füh- 
renden Krieges an; Anfang März 1625 hob er eine der wesentlich- 
sten Bedingungen für seine Ausführung , nämlich die Verlängerung 
des polnischen Waffenstillstandes, auf. Gewiß erklärt sich dieser 
eilige Rückzug teilweise daraus, daß die Aufkündigung des Waffen- 
stillstandes, wenn sie überhaupt erfolgen sollte, ohne Verzug ge- 
schehen mußte. Aber nach der Natur der Sache wird man doch 
noch ein weiteres Motiv annehmen müssen: im Sinne Gustav Adolfs 
bestand ein großer Unterschied zwischen dem ersten Plan eines 
Krieges, der in Polen beginnen und in Schlesien fortgesetzt werden 
sollte, und jenem andern Krieg, den er im Herzen Deutschlands zu 
führen hatte, ohne andere Deckung gegen Polen als die einjährige 
Verlängerung eines unzuverlassigen Waffenstillstandes. Den ersten 
Entwurf hatte er selber erdacht, der zweite war ihm aufgedrungen, 
und wenn sein feuriges Temperament, sein wachsendes Verlangen, 
mit den Waffen in die deutschen Wirren einzugreifen, ihm die ein- 
fache Ablehnung dieses zweiten Planes verboten, so wies ihn doch 
der Anblick der kaum überwindlichen militärischen Schwierigkeiten 
mit zwingender Kraft auf den ersten Plan zurück. — Die Richtig- 
keit dieser Annahme wird durch den weitern Gang der Verhand- 
lungen und kriegerischen Entwürfe bestätigt. 

Nicht viel will es sagen, wenn Gustav Adolf und sein Kanzler 
auch nach der Aufkündigung des polnischen Waffenstillstandes, am 
23. März, am 16., 19. und 26. April nochmals die Bereitwilligkeit 
zur Führung des Krieges in Deutschland erklärten, vorausgesetzt 
daß die von ihnen geforderten Truppencontingente von den betei- 
ligten Mächten ungeteilt gestellt und dem ungeteilten schwedischen 
Oberbefehl untergeben würden. Denn soviel wußten sie schon 
von der Aufnahme der dänischen Vorschläge in Deutschland und 
England, daß sie an die Verwirklichung dieser Voraussetzungen sel- 
ber nicht glauben konnten'). Um so bezeichnender ist die Auf- 
nahme, welche der zwischen niederländischen Staatsmännern und dem 
englischen Gesandten Carleton vereinbarte *) Plan einer Teilung der 


1) Aus demselben Grunde will es nicht viel besagen und erscheint fast als 
Prablerei, wenn Oxenstierna im grellen Widerspruch mit seinen vorausgehenden 
Erklärungen (S. 68 Anm. 1) am 19. April 1625 plötzlich befindet, daß die Aus- 
sichten auf neuen Krieg mit Polen parum consilia nostra turbabunt (13 S. 54). 

2) Carletons Bericht vom 15. März 1625 bei Schybergson, evang. allians 
Beil. n. 4. Vgl. Camerarius an Oxenstierna, März 14, 20. (Schybergson, Sveriges 
och Hollands diplomatiska förbindelser 8. 166, 170). 


Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 73 


erhofften Hülfstruppen zwischen Dänemark und Schweden bei Gustav 
Adolf fand. Sofort antwortete er darauf mit einem neuen Project 
und neuen Aufträgen zu dessen Beförderung an seine Agenten im 
Haag und in London!) Dänemark, so lauten die Grundgedanken, 
führt seine Armee nach Deutschland und der Pfalz, der schwedische 
König richtet seinen Stoß erst gegen Polen, dann gegen Schlesien. 
Ueber die Beisteuern, die für den letztern Krieg zu gewähren sind, 
und über den Plan des Krieges selber werden genaue Angaben ge- 
macht. Es könnte dabei scheinen, als ob das eigentliche Ziel des 
Krieges nur Schlesien und die kaiserlichen Erblande sein, Polen da- 
gegen nur als Durchzugsgebiet gestreift werden sollte, wird doch 
der Armee der Marsch durch Westpreußen und Posen lediglich von 
dem Gesichtspunkt dvs zweckmäßigsten Weges, der nach Schlesien ein- 
zuschlagen wäre, vorgezeichnet ?). Allein in den weitern Ausführungen 
erscheint die Erzwingung des Durchzuga daran geknüpft, daß man die 
Kraft Polens breche?), daß man Westpreußen und Posen zum Sitz 
des Krieges mache‘), daß man vor allem auch zunächst der festen 
Plätze von Westpreußen sich versichere®). Deutlich bricht hier der 
alte Gedanke durch: erst Polen niederwerfen, dann Schlesien an- 
greifen. 

Scheinbar ließ sich Gustav Adolf allerdings noch einmal auf den 
Plan des gegen Deutschland zu richtenden Angriffes zurückführen, 
als er im Mai 1625 von den Gesandten Dänemarks und Branden- 
burgs um seine Hülfe neuerdings bestürmt wurde. Unter der Vor- 
aussetzung der Teilung der Streitkräfte schlug er damals vier Wege 
vor, auf denen er und Christian IV. vorangehen könnten ®): der erste 
entsprach im wesentlichen der eben bezeichneten Richtung, also den 
auf einander folgenden Angriffen gegen Polen und Schlesien’), der 


1) Vgl. die Schreiben an Camerarius, Spens, Rusdorf und Rutgers, 1625 
April 26—30. (I 3 n. 38—42). 

2) ttinera quibus transitus nobis capiendus erit in Silesiam (S. 64). 

3) Poloniae potentia .. frangi potest multis modis etc. (S. 67 Z. 6 v. u.). 


4) sedem belli firmiter in Polonia (sc. maiori) ac regali Borussia collocars 
posse (8.66). Sedes belli quae et hutc regno .. et Silesiae .. suo situ respondeat 
(8. 67). 

5) 8. 68. 

6) Resolution an den dänischen Gesandten Thomaßon Sehestad, 1625 Mai 20 
(Weibull Anh. 8. 5. Lateinisch bei Moser V S. 199), an den kurbrandenburgischen 
Gesandten Götzen, Mai 20. (Skrifter I 3 8.90 Anm. Moser V S. 227). 


7) Statt Westpreußen—Posen heißt es Cassubien—Posen, daß dabei auch an 
Westpreußen gedacht ist, zeigt die Forderung der Occupation eines Hafens, 


74 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


dritte und der vierte aber führten an der Weser aufwärts gegen 
Hessen und die Pfalz, an der Elbe aufwärts gegen Böhmen, und 
falls die Verbündeten darauf beständen, erklärte sich Gustav Adolf, 
wenn auch nicht ohne nachdrückliche Bedenken !), bereit, sich mit 
Dänemark in diese beiden Wege zu teilen. Indeß daß diese Con- 
cession nur scheinbar war, erfuhr drei Monate später der niederlän- 
dische Gesandte Vosbergen, als Gustav Adolf im Gespräch mit ihm 
auf jene verschiedenen Wege zurückkam: für sich selber wollte er 
jetzt nur noch von dem ersten wissen, und mit all’ seinen Einwen- 
dungen, bis zu der Mahnung, sein gegebenes Wort nicht zurückzu- 
nehmen, vermochte der Gesandte ihn keine Spanne weit von dieser 
Erklärung abzubringen *). 

Dieselben Gegensätze — auf der einen Seite der feurige Eifer, 
der ihn antreibt, den Einladungen seiner Freunde zu folgen, und 
mitten ins deutsche Reich hineinzubrechen, auf der andern das 
Schwergewicht der Verhältnisse, das seine Kräfte ausschließlich ge- 
gen Polen wendet, — beherrscht noch auf weitere fünf Jahre die 
Politik Gustav Adolfs und bedingt ihren schwankenden Gang. Nur 
insofern tritt eine Aenderung ein, als ihm seit 1627 als nächstes 
Ziel eines nach dem Reich zu führenden Angriffes die von den ka- 
tholischen Waffen unterworfenen Ostseegebiete erscheinen. Wie nun 
aber in dem Fortgang solcher Entwürfe, immer noch unter schweren 
Rückschlägen und Schwankungen, doch allmählich die aufgetürmten 
Hindernisse weichen, und der Weg zu dem so lange und so heiß er- 
strebten Unternehmen frei wird, dafür bieten die für diese Zeit be- 
sonders inhaltsreichen Briefe Gustav Adolfs an Oxenstierna unschätz- 
bare Aufschliisse. Zum guten Teil sind sie allerdings schon die 
einen zerstreut gedruckt, die andern in geschichtlicher Darstellung 
benutzt, besonders von dem noch immer unentbehrlichen Geijer. 
Aber vollständig werden sie erst hier vorgelegt. Wie sie frei- 
lich bei den für die Zusammenstellung befolgten Grundsätzen über- 
all der Ergänzung aus andern Acten bedürfen, dafür nur noch ein 
Beispiel. 

Folgt man den Beziehungen Gustav Adolfs zur Stadt Stralsund, 
so stößt man in unserer Sammlung auf ein Schreiben, welches der 


unter dem, wie in den vorausgehenden Erklärungen, nur Danzig gemeint sein 
kann. 

1) Resolution an Götzen: non vidert e re. ., ut duo exercitus regit tam pro- 
pinquo itinere . . progrediantur (S. 93). 

2) Vosbergens Gesandtschaft in: Historisch Genootschap, Werken n. 9 S. 118 fg. 


Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 75 


König am 9. September 1628, also etwa zehn Wochen nach Verein- 
barung seines Bündnisses mit der Stadt und nach dem Einzug seines 
ersten Hülfscorps, erlassen hat. Aus diesem Schreiben erhellt die 
bedeutsame Thatsache, daß Gustav Adolf von der Stadt Stralsund 
die Anerkennung eines Schutzverhältnisses (patrocinium) zu erwirken 
sucht. Eine Bestätigung und zugleich die Erläuterung, daß unter 
diesem Schutz im Sinne des Königs eine >subiectio realis« zu ver- 
stehen war, gewinnen wir, wenn wir aus Geijer (III S. 149 A. 1) ein 
bruchstückweise mitgeteiltes Schreiben des Salvius vom 11. September 
heranziehen. Fragen wir aber, in welchem Zeitpunkt der Beziehun- 
gen Gustav Adolfs zu Stralsund dieser weit greifende Anspruch her- 
vorgebrochen ist, so müssen wir weiter zu Neuburs Werk über die 
Belagerung Stralsunds zurückgreifen, um zu erfahren, daß die Stadt, 
als sie auf die ersten Anregungen des Königs') am 30. Mai 1628 
dessen Beistand nachsuchte, sich bereits auf Gustav Adolfs Ansinnen, 
als Schutzherr der Stadt angenommen zu werden. gefaßt machte °). 
Der Gedanke selber wird uns noch deutlicher, wenn wir mit dem 
Text des am 3. ‘oder 5?) Juli 1628 zwischen Stadt und König ver- 
einbarten Bündnisses den vom schwedischen Gesandten zunächst vor- 
gelegten Entwurf?) vergleichen und hier bemerken, daß es nicht auf 
ein zeitlich beschränktes, sondern ein »ewig währendes« Bündniß ab- 
gesehen war. Also auf eine dauernde Unterwerfung Stralsunds war 
von vornherein die Absicht des Königs gerichtet. Der Größe des so 
gesteckten Zieles entsprach auch das Feuer, mit dem er das Unter- 
nehmen angriff. In einer in der neuen Sammlung gedruckten In- 
struction für Oxenstierna vom 14. August 1628 lesen wir‘), daß 
Gustav Adolf gleich nach dem ersten Hülfegesuch der Stadt den 
Entschluß faßte, nach Vereinbarung eines ihm genehmen Vertrags 
persönlich zum Entsatz heranzuziehen. Aus einem andern bei Geijer 
(II S. 149 A. 4) benutzten Schreiben vom 10. Juli ersehen wir, daß 


1) Sie gehen zurück auf das Schreiben des Äke Axelsson an den Stralsunder 
Bürger Joach. Rhodes vom 18. Februar 1628. (Geijer II] S. 146 Anm. 8). 


2) Neubur, Beitrag zur Geschichte des dreißigjähr. Kriegs (1772) Beil. n. 49 
S. 261. 


3) Neubur Beil. n. 58 S. 281. 


4) If 1 8.409. Auch erwähnt in Oxenstiernas Rede an die Stralsunder, am 
11. Sept. (I 1 8.533 Z. 7 v. u... — Wenn übrigens Gustav Adolf in derselben 
Instruction bemerkt, er habe sich bisher durchaus nicht zu einer Einmischung 
in die deutschen Wirren bewegen lassen wollen (S. 408 Z. 14 v. u.), so ist das 
nur einer von den vielen Beweisen, daß damals der Charakter des Glaubens- 
helden mit arger politischer Heuchelei verträglich war. 


76 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


er damals damit umging, neun Regimenter nach Stralsund zu führen, 
um den Entsatz zu bewirken und dann zu entscheiden »ob irgend 
eine größere Armada dressirt werden soll.< Es ist die bei allen 
vorausgehenden Entwürfen einer Invasion ins Reich oder in die kaiser- 
lichen Erblande wiederkehrende Absicht, vor alleın sich eines Ostsee- 
hafens, oder auch noch eines Nordseeplatzes dazu'), als des Aus- 
ganges für den Einbruch und der Zuflucht bei dem Rückzug, zu 
bemächtigen *). Aber auch diesmal sollte es mit der Ausführung 
nicht so rasch gehen. In den Weg trat dem König noch einmal die 
alte Nebenbuhlerschaft Dänemarks, die Eifersucht der Stadt Stral- 
sund auf ihre Freiheit, vornehmlich aber und Ausschlag gebend, der 
noch immer fortgehende Krieg mit Polen, — nur daß diese Durch- 
kreuzung seiner Pläne auch die letzte war. 

Vier Jahre nach Gustav Adolfs Tod leitete Oxenstierna in einer 
Rede an den Reichsrat *) den deutschen Krieg des Königs von einer 
»dispositio divinac ab, von einem >»impelus ingenti<. Wir sehen 
diesen dämonischen Drang sieben Jahre lang in seiner Seele arbeiten; 
sieben Jahre lang suchte er ihm in immer neuen Ansätzen vergeb- 
lich zu folgen, bis der sechsjährige Waffenstillstand mit Polen ihm 
die Bahn frei machte. 


1) Bremen, Wismar, Stettin, Danzig waren von ihm genannt. 

2) Auch in dem Vertrag mit Stralsund vom 8. oder 5. Juli (zugänglichster 
Druck bei Dumont V 2 S. 548) blickt diese Absicht durch. Vgl. Art. 8 (Even- 
tualität, daß der König mit einer Armee anzieht), 9 (Eventualität der Ueberwin- 
terung seiner Armee im Stralsunder Hafen), 10 (die Stadt offen für Durchzug 
und Rückzug). 


8) Geijer III S. 154 Anm. 2. 


Bonn, Dezember 1900. 
Moriz Ritter. 


de Waal, Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grotten von St. Peter. 77 


de Waal, A., Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grotten 
von St. Peter. Rom, Spithoever 1900. Fol. 96 8., 13 Lichtdrucktafeln, 
13 Textabbildungen. Mk. 20.—. 


Unter den Gaben, die den Besuchern des vorjährigen Congresses 
für christliche Archaeologie zu Ostern in Rom geboten wurden, 
waren die von unseren Landsleuten im Campo Santo neben der 
Peterskirche gestifteten unstreitig die wertvollsten. Der würdige 
Leiter dieses Instituts, Mgr. A. de Waal, hatte nicht nur im Verein 
mit dem Stabe jüngerer Gelehrten, der ihn im letzten Jahre umgab, 
eine Sammlung kleiner Aufsätze vorbereitet‘), sondern auch eine 
prächtige Sonderpublikation des Junius Bassus-Sarkophags, die allen 
Freunden frühchristlicher Kunst hoch willkommen sein muß. 

Der Sarkophag, den de Waal mit vollem Recht als das herr- 
lichste Werk der altchristlichen Skulptur bezeichnet, hat für die 
Kunstgeschichte noch einen erhöhten Wert, weil er fest datierbar ist. 
Bekannt ist das Monument seit dem April 1595. Als man damals 
Renovierungsarbeiten in der Confessio der Peterskirche vornahm, 
fand man den Sarkophag in unmittelbarer Nähe des Apostelgrabes, 
und er hat seinen Platz behalten. Daher ist er in der letzten Zeit 
fast unsichtbar gewesen, denn die Sacre Grotte unter dem Petersdom 
können nur besucht werden mit einer persönlichen Erlaubnis des 
Papstes. Um so größer ist das Verdienst des neuen Herausgebers, 
der jetzt getreue, auf mechanischem Wege hergestellte Abbildungen 
des Monuments allgemein zugänglich gemacht hat. Außer einer 
Doppeltafel, auf der die ganze Vorderseite des Sarkophags darge- 
stellt ist, bieten neun Tafeln die Einzelfelder mit einer Ausnahme *) 


1) STPQMATION APXAIOAOTIKON Mitteilungen dem zweiten internatio- 
nalen Congreß für christliche Archaeologie zu Rom gewidmet vom Collegium des 
deutschen Campo Santo. Rom 1900. — An erster Stelle enthält das Buch von 
der Hand de Waals die Studie »Andenken an die Romfahrt im Mittelalter« und 
dazu in Abbildung einige Proben solcher aus Blei hergestellter Andenken, die 
dem Museum des Campo Santo gehören. Außer zwei philologisch - historischen 
Abhandlungen (Baumstark, Die syrische Uebersetzung der apostolischen Kirchen- 
ordnung; Kirsch, Das Todesjahr der hl. Caecilia) bietet das Buch fünf weitre 
archaeologische Aufsätze: Kaufmann, Die ägyptischen Textilien des Muscums von 
Campo Santo; Stegensek, Ein langobardischer Altar in S. Maria del Priorato 
auf dem Aventin; Zettinger, Das Bild des Heilandes in 8. Prassede; Schnyder, 
Die Darstellungen des eucharistischen Kelches; Wiegand, Bemerkungen fiber das 
Bronzeportal der alten Paulsbasilika. 


2) Das Relief des Daniel in der Löwengrube ist nicht eigens abgebildet, 


78 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


in größerem Maasstabe und zwei weitre Tafeln geben die Schmal- 
seiten des Sarkophags wieder. Leider erlaubte sein Stand in einer 
Nische nicht, einen photographischen Apparat den Schmalseiten 
gegenüber aufzustellen, sondern deren Reliefs mußten schräg von 
vorne aufgenommen werden und in Folge dessen ist ihre hintre 
Hälfte gar nicht auf die Platte gekommen, die vordere stark ver- 
zeichnet worden. Es hätte sich deshalb, um das Bild des Sarko- 
phags zu ergänzen, verlohnt Zeichnungen der Schmalseiten als Text- 
illustrationen einzufügen und noch vorteilhafter wäre es gewesen, 
wenn man Abgüsse der Schmalseiten gemacht und von ihnen Photo- 
graphieen genommen hätte. Zwar sind die Schmalseiten, die keine 
specifisch christlichen Gegenstände darstellen, sondern Personifika- 
tionen der Jahreszeiten und Putten bei der Ernte des Kornes und 
Weines zeigen, weit weniger gut ausgeführt als die Vorderseite, aber 
gerade diese Verschiedenheit ist charakteristisch. Die Schmalseiten- 
reliefs stehen auf demselben niedrigen Niveau wie die große Masse 
der gleichzeitigen Skulpturen, während sich die Frontreliefs weit dar- 
über erheben und uns vergegenwärtigen, wie tüchtige Leistungen im 
Einzelfalle die Kunst um die Mitte des IV. Jhd. noch hervorzu- 
bringen vermochte. 

Schon durch die feine architektonische Gliederung zeichnet sich 
die Front des Bassus-Sarkophags vor allen anderen frühchristlichen 
Sarkophagen aus. Sie ist in zwei Stockwerke geteilt und oben so 
wie unten bilden je sechs völlig frei herausgearbeitete Säulen fünf 
Nischen. Im oberen Stockwerk haben die Nischen einen geradlinie- 
gen Abschluß durch den über die Säulen gelegten Architrav, die 
Nischen des unteren Stockwerks sind abwechselnd von einem Giebel- 
dach oder von einem Muschelgewölbe bedeckt. Die dritte und vierte 
Säule der oberen und unteren Reihe sind im Gegensatz zu den ein- 
fach geriffelten übrigen Säulen von Reblaub umsponnen, in dem 
Putten emporklettern, und durch diesen Schmuck werden die beiden 
Mittelnischen als die vornehmsten Plätze ausgezeichnet. Die untere 
enthält die Darstellung des Einzugs in Jerusalem, die obere zeigt 
Christus thronend mit dem personificierten Himmel unter seinen 
Füßen und mit den beiden Apostelfürsten zu seinen Seiten. So ist hier 


weil die Hauptfigur darin ergänzt ist. An die Stelle des nackten jugendlichen 

Daniel, der auf anderen frühchristlichen Sarkophagen in Rom erscheint und 

bei der Auffindung auch am Bassus-Sarkophag war, ist hier eine langbärtige voll» 
bekleidete Prophetengestalt gesetzt. Es ist wahrscheinlich, daß nicht eine zu- 
fällige Beschädigung Anlaß zur Ergänzung gegeben hat, sondern daß einer pria— 
den Zeit die nackte Danielsfigur anstüßig gewesen ist. 


de Waal, Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grotten von St. Peter. 79 


in der Mitte die irdische und himmlische Erhöhung des Herrn ver- 
einigt. Die übrigen Nischen des oberen Stockwerks bieten (von 
links nach rechts) das Opfer Isaaks, die Gefangennahme Petri, Chri- 
stus von Soldaten geführt und die Händewaschung des Pilatus, in 
den entsprechenden Nischen unten sehen wir die Speisung des 
kranken Hiob durch die Gattin, den Sündenfall, Daniel in der Löwen- 
grube, Paulus auf dem Wege zum Richtplatz. Als besondere Eigen- 
tümlichkeit hat der Sarkophag noch eine Reihe biblischer Szenen, in 
denen die handelnden Personen durch Lämmer ersetzt sind. Da- 
durch ward es möglich, diese Szenen, die einen mehr dekorativen 
Charakter erhalten haben, in den kleinen Zwickeln oberhalb der 
Nischen des Unterstocks unterzubringen. Gewählt sind für diese 
Darstellungen die Gesetzesübergabe auf dem Sinai, das Quellwunder 
Mose, die drei Jünglinge im Feuerofen, die Taufe Christi, die 
wunderbare Vermehrung der Brote, die Auferweckung des Lazarus. 

Um den Leser zum vollen Verständnis des Kunstwerks zu führen, 
entrollt de Waal in einem Eingangskapitel ein Bild der Zeit, in der 
der Sarkophag entstanden ist. Junius Bassus, dem der Sarkophag 
als Ruhestätte gedient hat, ist laut der Inschrift!) am 25. Aug. 359 
gestorben, im Alter von 42 Jahren 2 Monaten, just als er das Amt 
des Stadtpräfekten verwaltete und nachdem er kurz vor dem Tode 
das Sakrament der Taufe empfangen hatte. Der Name und die hohe 
Stellung des Mannes lassen vermuten, daß er der Sohn des Junius 
Bassus gewesen ist, der 317 die Würde eines Consuls bekleidete. 
Dieser ließ auf dem Esquilin eine Privatbasilika errichten, die später 
zu einer Kirche des hl. Andreas umgewandelt ward, aber ihren ur- 
sprünglichen profanen Schmuck zum größten Teil beibehielt, so daß 
davon noch Reste auf unsere Zeit gekommen sind ?). Sie zeugen 
davon, daß in der Familie der Bassi reiche Mittel für die Kunst 
aufgewandt wurden und ein guter Geschmack herrschte. 

Für die christliche Kunst war die Zeit, da Junius Bassus starb, 
trotz aller kirchlicher Wirren und Unruhen in Rom, die de Waal 
eingehender schildert, eine Periode der Schaffensfreude und des 
Emporblühens. Eine große Basilika nach der andern ward in Rom 
erbaut und alle wurden aufs prächtigste ausgeschmückt. Da die 
Bauherren z. T. die Kaiser selbst waren, darf man annehmen, daß 
für ihre Arbeiten die besten künstlerischen Kräfte herangezogen 


1) Jun. Bassus v. c. qui vixit annis XLII men. II in ipsa praefectura urbi 
neofitus iit ad deum VIII Kal. Sept. Eusebio et Ypatio Coss. 


2) Vgl. de Rossi, Bulletino di archaeol. crist. 1871 p. 48 ff. 


80 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


worden sind, und in erster Linie gilt dies für die vatikanische Ba- 
silika. Daran knüpft de Waal die Vermutung, daß die Bauhütte der 
Peterskirche auch den größten Teil der Sarkophage geliefert habe, 
die aus der nächsten Umgebung der Apostelgruft hervorgezogen 
worden sind, und daß durch die Herkunft aus jener Werkstatt sich 
die für jene Zeit außerordentliche Güte des Bassus-Sarkophages er- 
klare. Dieser Vermutung vermag ich nicht beizupflichten. Es ist 
mir sehr fraglich, ob wir unsere Vorstellungen von mittelalterlichen 
Bauhütten auf das IV. Jhd. übertragen dürfen; unzweifelhaft ist, 
daß der Bau einer frühchristlichen Basilika, die nur geringen Skulp- 
turenschmuck heischte, nicht Gelegenheit bot, Bildhauer lange zu be- 
schäftigen und auszubilden zu besondrer Tüchtigkeit. Die Sarko- 
phage, die dem vaticanischen Coemeterium entstammen, weichen zu- 
dem inhaltlich wie formell viel zu stark von einander ab, als daß 
sie ein und derselben Werkstatt zugeschrieben werden dürften; 
offenbar stammen sie aus verschiedenen Magazinen. Wie verbreitet 
die Sitte war, die Sarkophage fertig im Magazin zu kaufen, wird 
bewiesen durch die große Zahl von Exemplaren, an denen die Büsten 
der Verstorbenen nur abbozziert erscheinen, weil die Käufer es für 
überflüssig hielten oder weil die Zeit mangelte, um den nur roh an- 
gelegten Köpfen die betreffenden Porträtzüge geben zu lassen. Auch 
der Sarkophag des Junius Bassus scheint nicht auf Bestellung ge- 
macht zu sein, sonst würde daran das Bild des Verstorbenen mit der 
seinen hohen Rang kennzeichnenden Amtstracht schwerlich fehlen !). 
Da die Hinterbliebenen des Stadtpräfekten vermögend genug waren, 
in dem bestrenommierten Sarkophaggeschäft ihren Einkauf zu machen, 
und da sie Geschmack genug besaßen, das Beste auszuwählen, er- 
klärt es sich zur Genüge, daß dieser Sarkophag alle übrigen uns 
erhaltenen übertrifft. 

Ist die Annahme eines direkten Zusammenhangs des Bassus- 
Sarkophags mit dem Bau der Peterskirche zurückzuweisen, so hat 


1) Die Hypothese de Waals (p. 62), daß die Figur des Petrus zwischen den 
Schergen mit den Porträtzügen des Junius Bassus ausgestattet sei, ist unhaltbar. 
Der Kopf läßt sich nicht als »schöner Rémerkopf« bezeichnen, er ist in Anlehnung 
an griechische Philosopbenköpfe geschaffen. Der vornehme Herr des 4. Jahrh. 
hat sicher nicht solch langen krausen Bart getragen. Auch läßt sich kein Bei- 
spiel der frühchristlichen Zeit dafür beibringen, daß jemand sich als Petrus hat 
porträtieren lassen. De Waal zieht als Analogie die Susannafiguren heran, die 
zugleich die Verstorbenen darstellen, und man könnte auch an Noahdarstellungen 
mit Porträtzügen erinnern, aber diese Analogieen beweisen nichts. Es ist ein 
großer Unterschied, ob sich jemand jenen alttestamentiichen Personen, die einen 
halbmythologischen Charakter hatten, gleichsetzte oder dem Apostelfürsten. 


de Waal, Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grotten von St. Peter. 81 


doch de Waal vollkommen Recht mit der Behauptung, daß der Bas- 
sus-Sarkophag das prägnanteste Beispiel ist für den Einfluß, den die 
Kirchendekoration auf die Entwicklung der Sarkophagskulptur ge- 
übt hat. Die Apsiden pflegten in Mosaik die Majestas Domini zu 
tragen, die der Bildhauer für den Hauptplatz seines Werks über- 
nommen hat. Die Idee, Lämmer als Träger biblischer Handlungen 
zu verwenden, wurde ihm ebenfalls durch den Schmuck der Apsiden 
eingegeben, denn sehr oft steht unterhalb der Majestas Domini in 
einem Schmalstreifen das Lamm Gottes inmitten der von beiden 
Seiten zu ihm eilenden Lämmer, die die Gläubigen versinnbilden. 
Das II, III, IV. Cap. von de Waals Buch ist einer ausführlichen 
Besprechung der einzelnen biblischen Szenen gewidmet. Die rich- 
tige Deutung war für alle bereits gefunden, nur ein Detail ist bis- 
her immer falsch erklärt worden. In der Pilatusszene nämlich steht 
zwischen dem sitzenden Landpfleger und dem Diener, der Schale 
und Kanne zum Händewaschen bringt, ein Pfeiler, der eine Vase 
trägt. Sie ist weitbauchig mit stark eingezogenem Halse, dessen 
Mündung sich wieder schalenartig verbreitert. Fast alle Sarkophage: 
auf denen die Vorbereitung zu Pilatus’ Händewaschung vorgeführt 
wird, fügen dabei die Vase ein, die bald auf einem Pfeiler, bald auf 
einem Tische, bald auf einem Dreifuß steht und in der Form leicht 
variiert. Zumeist ist sie mit Henkeln ausgestattet, so daß sie als 
Amphore bezeichnet werden kann. De Waal sieht in dem Gerät 
einen Opferaltar und Feuerbehälter, der zur Ausstattung des Ge- 
richtslokals erforderlich sei, um dem Numen Imperatoris, in dessen 
Namen der Richter seines Amtes walte, Weihrauch zu verbrennen. 
Ein Zeugnis für diese Sitte ist mir aus dem Altertum nicht be- 
kannt. Die antiken Thymiaterien, von denen uns nicht wenige im 
Originale erhalten sind, noch mehr durch Bilder auf alten Monu- 
menten bekannt sind, haben niemals die Form der Vasen, wie sie 
in den Pilatusdarstellungen vorkommen. Auch begreift man schwer, 
weshalb die christlichen Künstler gerade ein so irrelevantes Aus- 
stattungsstück der Pilatusszene immer und immer wieder eingefügt 
haben sollten. Andere Interpreten haben die Vasen als Stimmurnen 
aufgefaßt, doch in den Gerichten der hohen Beamten gab es keine 
Stimmurne, weil es keine Geschworenen gab, die abzustimmen 
hatten). Die Assessoren, deren einer gewöhnlich neben Pilatus 
sitzt, waren nur zur Beratung des Richters da, der allein die Ent- 
scheidung fallte. Unbedingt nötig waren dagegen für das Gerichts- 


1) Vgl. Mommsen, Römisches Strafrecht p. 229 ff., 286, 447 ff. 
Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 6 


82 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


lokal auch in der spätesten Kaiserzeit noch die Wassergefässe, die 
dazu dienten, den Parteien ihre Redefrist zuzumessen!),,. An ihnen 
war eine Vorrichtung angebracht, den Inhalt in einem bestimmten 
Tempo auslaufen zu lassen, und sie wurden, um sichtbar zu sein, 
erhöht aufgestellt. Es lag nahe für die christlichen Künstler, diese 
Gefäße in die Pilatusszenen zu versetzen, um anzudeuten, woher 
der Diener das Wasser zur Handwaschung genommen hat. Eine 
Gewähr für die Richtigkeit dieser Erklärung erblicke ich darin, daß 
weder diejenigen Pilatusbilder, die des Dieners mit dem Waschgerat 
entbehren , noch irgend welche antike Darstellungen einer Gerichts- 
szene jenes auf einem Untersatz stehende Gefäß enthalten, weil 
dessen Anwesenheit eben nur für den Moment der Händewaschung 
bedeutungsvoll war. 

De Waal verfolgt in seiner Besprechung der biblischen Szenen 
abgesehen von der Erklärung des Gegenstandes stets eine doppelte 
Aufgabe. Einerseits zieht er die Paralleldarstellungen heran und 
stellt fest, welchen Platz das einzelne Relief in der Entwicklung des 
Typus einnimmt, andererseits untersucht er, welche Bedeutung die 
betreffende Szene als Grabschmuck hat. Dank seiner Vertrautheit 
mit dem frühchristlichen Vorstellungskreise findet er überall die 
eschatologische Beziehung heraus und in seinem VI. Capitel reiht 
er ohne Zwang die Gedanken, die in den einzelnen Reliefs ausge- 
sprochen sind, zu einer Kette aneinander, deren ganzen Inhalt das 
Glauben und Hoffen des Christen bildet. 

Das letzte Capitel mit der Ueberschrift »Profanes und Beson- 
deres« enthält eine kurze Erläuterung der Schmalseiten ?) und eine 
Reihe von Einzelbeobachtungen, die das genaue Studium des Sarko- 


1) Lydus schildert uns den Gebrauch der Vorrichtung in den Gerichtssitzungen 
des Praefectus Praetorio, de magistratibus II 14 (ed. Bonn. 180, 5) xal xdv@e- 
005 ds Asnavn tis SE doyvpov En) rolnodog koyvgkov xual aparne Inte tay rags 
Zungodtonovs Ölnag Ev tH dixaornelm leydvtwv xefuevog, II 16 (ed. Bonn. 181, 23) 
nal 6 tefmovg ev uéowm Tod a&xgoarnolov, éEnornusvov xara ufcov tod xavOceov, 
ual xgarie magaxeuevos, Öl ot wort wingotusvog 6 xavGagos Sdarog tocodroy 
E8idov naıpdv ro tig Ölung reouarı dp’ Door did tivog yvdpovog too Evövrog 
abr@ Sdarog denPoupévov 6 ubabog candidctrero. 


2) Das Fehlen einer vollständigen Abbildung der Schmalseiten erschwert die 
Beurteilung, ob alles richtig erklärt ist, zumal mir im Augenblick nicht einmal 
Garruccis Publikation zur Hand ist. Ein Fehler ist es jedenfalls, einen Putto, 
der eine Traube trägt, dem Repräsentanten des Sommers beizugesellen, er ge- 
hört vielmehr zu dem Vertreter des Herbstes. Der Blumenkranz, den er nach 
de Waals Augabe in der gesenkten Rechten trägt, ist vielleicht eine Schnur ge- 
trockneter Feigen. 


de Waal, Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grotten von St. Peter. 83 


phags ergeben hat. Die interessanteste betrifft das Schuhwerk. Es 
sind nämlich nicht weniger als fünf verschiedene Fußbekleidungen 
auf dem Sarkophag vertreten, die dem Leser durch eben so viele 
große Abbildungen veranschaulicht werden. Die Mannigfaltigkeit 
des Schuhwerks dient dazu, die verschiedenen Personen zu charak- 
terisieren. Ferner hat de Waal bemerkt, daß zwei der Soldaten 
auf der Tunica in der Nähe der rechten Hüfte ein besonderes Ab- 
zeichen in Blattform tragen, dessen Bedeutung noch zu ermitteln 
bleibt. Das Fehlen der Kopfbedeckung bei den Soldaten giebt 
schließlich dem Verfasser Veranlassung zu einem Excurs über die 
eigenartige cylinderförmige Mütze, die auf anderen Sarkophagen von 
Männern in Soldatencostüm getragen wird und als specifisch jüdi- 
sches Abzeichen gilt. Nur vier Szenen sind es, in denen diese be- 
mützten Figuren vorkommen: sie führen Christus vor Caiphas, sie 
bilden das Publikum bei einer Vorlesung, die als Gesetzverlesung 
durch Moses oder Esra gedeutet wird, sie schlürfen das von Moses 
aus dem Felsen geschlagene Wasser und sie treten außerdem noch 
auf in einer Darstellung, die fast immer mit dem Quellwunder ver- 
bunden ist. Die Darstellung zeigt einen dem Moses gleichenden 
Mann in eiliger Bewegung, der zurückgehalten wird durch zwei 
mit jenen Mützen bedeckte Männer. Man hat darin neuerdings die 
Bedrangung Mose durch die dürstenden Juden (Exod. 17, 2 ff.) zu 
sehen geglaubt, aber de Waal versucht de Rossis Deutung zu vertei- 
digen, nach der die Szene Petri Gefangennahme darstellen soll. 

Zu Gunsten der älteren Anschauung plaidoyiert de Waal in fol- 
gender Weise: Auf dem Bogen Konstantins sind bei der Darstellung 
seines Einzugs in Rom unter den Soldaten einige mit der cylinder- 
förmigen Kopfbedeckung, es muß also in Rom im IV. Jahrh., d. h. 
zur Entstehungszeit der Sarkophage, für gewisse militärische Korpo- 
rationen jene Mütze üblich gewesen sein. Daher liegt die Annahme 
nahe, daß in den fraglichen Sarkophagszenen die Männer, die den 
Entfliehenden festhalten, da sie außer der Mütze auch die Chla- 
mys und das Schwert haben, Soldaten oder städtische Miliz im 
Dienste des Praefectus Urbi sind. Der Grund, auf dem diese Be- 
weisführung aufgebaut ist, ist kein fester. Am Konstantinsbogen 
nämlich sind die Krieger, die in ihrer Ausstattung den Sarkophag- 
figuren gleichen, nicht auf dem Relief der dem Coelius zugewandten 
Schmalseite, das den Einzug des Kaisers in Rom darstellt, sondern 
sie finden sich auf der gegenüberliegenden Schmalseite, deren Relief 
bisher noch nicht gedeutet ist"). Auch hier sehen wir einen langen 


1) Abb. der Konstantinischen Reliefs vom Bogen bei Rossini, Gli archi 
trionfali. 


84 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


Zug, der sich von links nach rechts bewegt. An seiner Téte schrei- 
ten Soldaten mit Schild und Lanze sowie Signiferi, alle mit Helmen 
bedeckt. Ihnen folgen beladene Kamele und Pferde, geführt und 
begleitet von Soldaten, die jene cylinderförmige Mütze tragen, und 
ebensolche Soldaten umgeben den vierspännigen Wagen, der den Be- 
schluß des Zuges bildet. Dieser Wagen unterscheidet sich wesent- 
lich von dem, der auf dem Relief der anderen Schmalseite darge- 
stellt ist. 

Bei seinem Einzuge in Rom bedient sich Konstantin der sog. 
Thensa !), eines niedrigen vierrädrigen Wagens, der im Gegensatz 
zu dem alten Triumphwagen, dem Abkömmling des Streitwagens, 
vorn offen ist und hinten durch eine halbkreisformige Wand ge- 
schlossen ist, innerhalb deren ein Sitz angebracht ist. Die Thensa 
war ursprünglich der Wagen, in dem die Götterbilder bei feierlichen 
Aufzügen einhergefahren wurden, in der späteren Kaiserzeit war, 
wie die Notitia dignitatum?) lehrt, ein solcher Wagen auch eine 
Auszeichnung für die höchsten Reichsbeamten. Auf dem Relief der 
dem Forum zugekehrten Schmalseite sehen wir einen Wagen mit 
hohen Rädern, darauf ein hoher Wagenkasten ruht. Auf dem vor- 
deren Teil des Wagenkastens hat der Lenker seinen Platz, hinter 
ihm erhebt sich noch ein besonderer Sitz. Wagen gleicher Art 
pflegten auf Reisen benutzt zu werden, genaue Parallelen zu der 
Darstellung des Konstantinsbogens bieten uns ein profanes Marmor- 
relief aus Gallien?) und ein sehr bekanntes christliches Elfenbein- 
relief in Trier‘). Die Figur, die auf dem Marmorrelief den er- 
höhten Sitz inne hat, scheint ein Beamter zu sein, weil er einen 
Liktor neben sich hat, das christliche Relief zeigt auf dem Sitze 
zwei Bischöfe, die kostbare Reliquien von einer Reise heimbringen. 
Am Konstantinsbogen sitzt oben auf dem Wagen eine kleine Gestalt 
mit einem Globus auf der Linken und mit erhobener Rechten, die 
wohl ein jetzt abgebrochenes Szepter aufgestützt hat. Die Tracht 


1) Vgl. die rekonstruierte Thensa des neuen Capitolinischen Museums, Bul- 
letino della commissione municipale di archeol. V Taf. II. 


2) Die neue Ausgabe von Seeck ist mir nicht zur Hand. Notitia dignitatum 
ed. Böcking I p. 12. 


3) Abb. Daremberg et Saglio, Dictionnaire des antiquités Fig. 1197; s. v. 
carruca. 


4) Abb. Molinier, Histoire générale des arts appliqués a l’industrie, I. Jvoi- 
res p. 74; Westwood, Fictile ivories in the South-Kensington Museum p. 64; 
Aus’m Werth, Kunstdenkmäler des christ]. Mittelalters in den Rheinlanden Taf. 
-LVIII, 1; Kraus, Gesch. der christl. Kunst I. p. 501. Strzygowski', Orient und 
Rom p. 85. 


de Waal, Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grotten von St. Peter. 85 


der Figur ist dieselbe wie die ihrer Umgebung, auch ihr Haupt ist 
mit der eigentümlichen Mütze bedeckt. 

Die Reihenfolge der Reliefs am Konstantinsbogen ergiebt, daß 
die angedeutete Szene die erste oder die letzte sein muß. An sie 
stößt auf der der Via Appia zugewandten Langseite die Belagerung 
Susas und dieselbe Langseite zeigt auf ihrem zweiten Relief den 
Kampf am Ponte Molle, dem der Einzug in Rom auf der zweiten 
Schmalseite folgt. Zwei Szenen, die in Rom spielen, eine Rede des 
Kaisers von den Rostra aus und eine Geldverteilung durch den Kai- 
ser sind auf der dem Colosseum zugekehrten Langseite dargestellt. 
Da jedes der fünf Reliefs die Figur des Kaisers enthält, ist dasselbe 
auch für das erste Relief zu postulieren und dort können wir Kon- 
stantin nur in der kleinen knabenhaften Gestalt auf dem Wagen 
suchen. Eine passende Erklärung für seine merkwürdige Erschei- 
nung hier finde ich in einer Notiz des Eusebius über die Jugender- 
lebnisse des Kaisers. Er erzählt, daß sein Held im Uebergangsalter 
vom Knaben zum Jünglinge mit Diokletian Palaestina durchreist 
habe '). Die Sitte der Römer und speciell der Kaiser, in den Pro- 
vinzen die Nationaltracht anzulegen, wird uns mannigfach bezeugt ’*), 
es ist also sehr wohl möglich, daß Konstantin bei seiner Palaestina- 
fahrt das Kostüm der aus der dortigen Bevölkerung rekrutierten 
Truppen getragen hat. Daß christliche Künstler in Rom das Kostüm, 
das ihnen unser Relief des Bogens vor Augen führte zur Cha- 
rakteristik der jüdischen Krieger verwandt haben, wird noch 
sicherer als durch die Sarkophage durch einige Elfenbeinwerke des 
IV. Jahrh. erwiesen. Ein oft abgebildetes Elfenbeinkästchen des 
British Museum °) zeigt auf drei Seiten Soldaten in der betreffenden 
Tracht. Der eine führt den das Kreuz tragenden Christus zum 
Richtplatz, der zweite durchbohrt dem Gekreuzigten die Seite mit 
der Lanze, zwei andere sind als Wächter neben dem Grabe des 
Herrn bestellt und in derselben Situation treffen wir ganz gleiche 
Gestalten auf einer Diptychontafel des Museo Trivulzi‘). Diese 
Darstellungen geben uns die Gewißheit, daß auf der fraglichen Sar- 
kophagszene die bemützten Männer, die den Mann in der Tracht der 
heiligen Figuren anfassen, als jüdische Krieger anzusehen sind, daß 


1) Vita Constantini I 19: 7d S’&xoı xal naıdög En) roy veavlay daßas, 
zung tie weatns mag’atrois (d. b. den Mitkaisern des Vaters) A&ıodro, olov 
abröv nal Nusis Eyvopev rd IlaAnıorıvav dispzöusvov Edvos oby th neecfuréon 
trav Baoılkov. 

2) Vgl. Tacitus Histor. II 20, Fl. Vopiscus, Vita Aureliani 34. 

8) Garrucci, Storia dell’arte cristiana VI 446, Kraus a. a. O. p. 505 f. 

4) Abb. Garrucci a, a. O. 459. 1, Molinier a. a. O. Taf. VI. 


88 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


demnach die Szene nicht einen Moment aus den römischen Erleb- 
nissen des Petrus darstellen kann. 

De Waal hat im Schlußwort seines Buches ausgesprochen, daß 
ihm der vom ersten Congreß christlicher Archaeologen 1894 gefaßte 
Beschluß, ein Corpus der frühchristlichen Sarkophage zu schaflen — 
derselbe Beschluß ist von dem neuen Congreß wieder aufgenommen 
worden — verfrüht erschienen sei. Zuvor müsse das Studium zu 
einem gewissen Abschluß gekommen sein, wozu Monographieen wie 
die seinige beitragen würden. »Fänden, fährt er fort, einzelne un- 
serer Aufstellungen Widerspruch, so würde das nur die obige Be- 
merkung erhärten und bestätigen«e. Diese Bestätigung ist durch 
meine Beleuchtung der vermeintlichen Petrusszene wohl zur Genüge 
erbracht. Was das Corpus der frühchristlichen Sarkophage betrifft, 
so möchte ich noch einen Schritt weiter gehen als de Waal und es 
nicht nur als ein verfrühtes, sondern auch als ein überflüssiges Un- 
ternehmen erklären. Ich halte es für änßerst wünschenswert, daß 
als Fortsetzuug des Fickerschen Katalogs vom christlichen Museum 
im Lateran eine genaue Beschreibung aller übrigen frühchristlichen 
Sarkophagskulpturen gemacht wird und daß als Ergänzung hierzu 
an einer Centralstelle photographische Aufnahmen sämtlicher Stücke 
gesammelt werden, damit die Forscher das jeweilig für ihre Arbeiten 
erforderliche Material in Copieen von dort beziehen können. Eine 
den heutigen Ansprüchen genügende Publikation des gesamten Ma- 
terials würde mit großen Kosten verbunden sein und dieselben nicht 
lohnen, denn die meisten Bildtypen sind in sehr zahlreichen nur sehr 
wenig variierenden Repliken vertreten und die Arbeit der Skulpturen 
ist größtenteils recht geringwertig. Weder die ikonographische noch 
die kunstgeschichtliche Forschung würde daher von der teuren Publi- 
kation einen entsprechenden Nutzen haben. 


Hannover, Juli 1900. Hans Graeven. 


Briefe und Aktenstücke aus dem Nachlasse Stägemanns. I. 87 


Briefe und Aktenstiicke zur Geschichte Preußens unter Friedrich 
Wilhelm III. Vorzugsweise aus dem Nachlasse von F. A. Stä- 
gemann. Herausgegeben von Franz Rühl. Erster Band. Leipzig, Dun- 
cker und Humblot. 1899. LXVII und 423 Seiten. 10 Mark. 


Dieser Briefsammlung fehlt der Mittelpunkt. Während der 
Herausgeber den litterarischen Nachlaß Stägemanns bearbeitete, sind 
ihm andere Brief- und Aktensammlungen zu Gesicht gekommen, er 
hat aus allen einzelnes ausgewählt, anderes zurückbehalten, teils 
>um es zu einer Darstellung zu verwerten<, teils >um es zum Ge- 
genstand einer eigenen Abhandlung zu machen«, teils da er »es an- 
derweitig zu verwerten< beabsichtigt. Nach welchen Gesichtspunkten 
er die Auswahl vorgenommen hat, ist weder aus der Einleitung noch 
aus den Briefen selbst zu ersehen. Privatangelegenheiten, Unter- 
stützungsgesuche, Poetisches, Militärisches, Finanzielles, Politisches, 
Gleichgiltiges und Wichtiges, alles geht bunt durcheinander. 

Es sind im Ganzen 273 Stücke, etwa 90 aus den Jahren 1806 
—1811. Von diesen seien einige Briefe Adam Müllers aus dem 
Sommer 1809 hervorgehoben, in denen er Vorschläge für die Ein- 
richtung einer offizidsen Presse macht. Er getraut sich »1) öffent- 
lich und unter der Autorität des Staatsrates ein Regierungsblatt, 
2) anonym und unter der bloGen Connivenz desselbigen ein Volksblatt, 
mit anderen Worten eine Ministerial- und Oppositionszeitung zu- 
gleich zu schreiben<; die Regierung müsse »dem beschränkten Vor- 
witz der Unterthanen die wahren Gesichtspunkte ihres erhabenen 
Verfahrens entgegenstellen lassen<; es sei zweckmäßig, selbst eine 
Opposition zu fingieren, >die dann mit Kraft, Vorsicht und Ueber- 
legenheit des Urteils niedergeschlagen würde«. 

Etwa die Hälfte der Briefe stammt aus den Jahren 1812 und 
1813 und zwar zumeist aus Ostpreußen. Die wichtigeren davon sind 
bereits von Droysen verwertet und zum Teil abgedruckt worden. 
Nach der Meinung des Herausgebers, der sich bekanntlich die Ver- 
herrlichung Schöns zur Aufgabe gesetzt hat, tritt in diesen Briefen 
»die maßgebende Stellung Schöns bei der Erhebung der Provinz 
noch schärfer hervor als bisher, und es scheint auch der Mühe wert, 
zu bemerken, daß die Angaben in seiner Autobiographie lediglich 
bestätigt werden<. Einen Beweis dafür zu erbringen, versucht er 
nicht. Es ist auch nicht zu sehen, wie ein solcher geführt werden 
könnte, da gerade diese Briefe der historischen Kritik einen wesent- 
lichen Teil des Materials geliefert haben, mit dem die selbstgefällige 


88 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 


Darstellung Schöns widerlegt worden ist. Auch in den andere 
Briefen habe ich nichts gefunden, was diese Kritik irgendwie e 
schüttern könnte, wohl aber verschiedene Stellen, durch welche au 
neue Schöns unglückliche Neigung bekundet wird, seine Mitwirkur 
an der Reformgesetzgebung und den Anteil seiner Provinz an di 
Erhebung Preußens in übertreibender Weise darzustellen. 

Von den etwa 50 Briefen aus den Jahren 1814 und 1815 biet« 
die, welche sich auf die Teilung Sachsens beziehen, einiges Interess 

Nebenbei sei darauf hingewiesen, daß dem Bürgermeister v« 
Insterburg die »Grabesstille bei der Anwesenheit des Kaisers< au 
gefallen ist, weil die blitzartige Flucht Napoleons durch Ostpreußk 
nur von wenigen bemerkt worden ist und fast nirgends erwah 
wird; ferner auf ein Anstellungsgesuch Max von Schenkendorfs ur 
auf eine seltsame, gegen die Jahresfeier der Leipziger Schlacht gi 
richtete Verfügung der eben erst von Napoleons Herrsehaft befreit« 
großherzoglich hessischen Regierung. So findet sich hier und « 
einzelnes Interessante in dieser Sammlung, doch ist die Ausbeu 
nur gering; zu rühmen aber sind die sorgfältig gearbeiteten sac 
lichen und biographischen Erklärungen. 


Berlin. Paul Goldschmidt. 


‚Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in 


Februar 1901. Nr. 2. 


Hesychii Hierosolymitani interpretatiolesaiae prophetae nunc primum 
in lucem edita, prolegomenis, commentario critico, indice adaucta a Michaele 
Faulhaber ... accedit tabula phototypica. Friburgi Brisgoviae. Herder 
1900. XXXVI, 222 8. Preis 7 Mk. 


Der im XI. Jahrhundert geschriebene Pergamentcodex Vaticanus 
graecus 347 enthält in Doppelcolumne den Text der 16 Propheten; 
am Rande befinden sich bei Jeremias und Ezechiel Ausziige aus der 
landlaufigen Catene, beim Dodekapropheton, Isaias und Daniel da- 
gegen anonyme Scholien. Wer das beigegebene Lichtdruckfacsimile 
betrachtet, wird schwerlich der Ansicht des Herausgebers beipflichten, 
daß Text und Randnoten von derselben Hand stammen, und inwie- 
fern der Umstand, daß einzelne interlineare Notizen den Ductus der 
Randschrift zeigen, für jene Behauptung sprechen soll, ist mir un- 
verständlich. Es kommt aber wirklich viel weniger darauf an, als 
F. glaubt. Bei der Prüfung dieser Handschrift nun hat F. entdeckt, 
daß die Scholien zu den XII Propheten identisch sind mit dem, was 
die alte Catene des Chisianus R VIII 54 als Commentar des Jeru- 
salemer Presbyters Hesychios bezeichnet. Da nun die äußere An- 
lage, die exegetische Methode, sogar — wie F. im einzelnen belegt 
— die wörtliche Ausdrucksweise der Scholien zu Isaias die gleiche 
ist, wie die dieses Commentars zum Dodekapropheton, so ist der 
Schluß F.s durchaus gerechtfertigt, daß auch die Isaiasscholien ein 
Werk des Hesych seien. Es gehört aber fernerhin zu dem Commen- 
tar über die XII Propheten eine im Chisianus und anderweitig er- 
haltene, übrigens bei Migne gr. 93, 1339 ft. abgedruckte Vorrede, 
die für die Beurteilung des ganzen Werkes von grundlegendem 
Werte ist, die aber F. wie ich glaube mißverstanden hat, so daß es 
sich empfiehlt, zunächst den Thatbestand klarzulegen, und dann 
erst auf die Ausführungen des Herausgebers einzugehen. 

Die uns hier angehende Anfangspartie der Vorrede nebst der 
Ueberschrift lautet’): 


1) Die Kola zeigen rhythmische Cadenz, meist den Doppeldactylus. * zeigt 
Unregelmäßigkeiten an. 
Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 9. 7 


90 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


Hovyiov ngeoßvrepov ‘lego6oAvumv orıynodv Tüv ıß xoopytay 

xal ‘Hoatov xal Davina Eyov Ev napadesscı tag Tüv ÖvVoyepe- 

Orega@v Epumvelas. 
“Eot wiv doyaiov tovro tots Deopdeorg To 6xovdaouc, oryndov 
go ta noAld node thy THY pEhetmuevayv Oapivsıav tag o0g7- 
teiag éxtiPeoPar, otra toryaooty bE piv tov David xıdagi- 
Covta, tov [lagowmacriy Ot tag xagaBodds xal tov "ExxdAnova- 
Ory tag xoogyretag éxdEwevor ota avyygagetoay thy ent 
t@ Ioß PißAov' * obtm pequsPévra roig Oriyoıs ta Tüv kopdrov 
&ouara. * nAnv aAdd xal ci d&nootodixiy BißAov obtm tivl ovyyea- 
geioay etgwy ov uarnv Ev tais Övodcxe BiBhorg tev aeopytav 
xal adros yxodovdyoc, GAM’ éxedt xoAdd piv tav doagar 
N tav orliyov oapnviter Otaigecis Oddone: O& nal TÜV otty- 
wav thy adndowmv xov Osi rarrsıv tag nAsiovag Gore xal cov 
idiatny xal tov &yav Eriörnuova tevyijoa tw navros 7 pixgoy 7 
uEeya TOD TOvymatos yorjoıuov. dedmxdrog Ot xal nag’ dEiav Tod 
MVEVMATOS öneg Eorlv &yav advayxaiov tH pedetovte T00E- 
Onxa ovvronoyv Öonv tiv tav dndgav 7) tvysy doapav N aad 
dams cugipdAwmy EEnynowv, nagadels avriy rots Oriyoıs, * wore 
äue ti avayvooe éemidapéodar Ts yvooens. 
D. h. »es ist von Alters her Sitte, alttestamentliche Schriften (zag 
roopnteies) in Sinnzeilen abgesetzt vorzulegen, damit der andäch- 
tige Leser sie besser verstehen kann: das ist geschehen vom Vf. des 
Psalters, der Proverbien, des Ecclesiastes, des Buches von den Schick- 
salen des Job und des Canticum; und da ich sogar den »Apostolos« 
so herausgegeben sah, habe ich mich zu einer gleichen Behandlung 
der XII Propheten entschlossen. Und das ist keine vergebliche 
Mühe, da schon die bloße Zeilenabteilung viele dunklen Stellen klar 
macht und zugleich zeigt, wo man die meisten orıyuai &rogou!) 
setzen muß, so daß sowolil der Laie wie der Fachmann mehr oder 
weniger Nutzen davon hat. Außerdem hat aber der hl. Geist mir 
Unwürdigen das dem andächtigen Leser Notwendigste verliehen: 
so konnte ich denn eine knappe Erklärung aller irgendwie schwie- 
rigen Stellen beigeben und zwar habe ich sie neben die Zeilen ge- 
schrieben, so daß man gleich beim Lesen des Textes auch das Hilfs- 
mittel zum Verständnis bei der Hand hat« ?). 


1) Was das ist, weiß ich nicht. drögwv corrupt? 

2) Vergleiche die Psalmencatene Vat. Reg. 40 s. XIV. Der Codex enthält 
die Psalmen mit dem Hesychcommentar, dessen Erklärung jedesmal dem or/yog 
folgt; um diesen Text steht am Rande eine Catene. Die sehr verstümmeltes= 
Unterschrift f. 344% schließt mit den Worten: fa, dadce piv Povindg = 
[dvayvarcı ?] parudr, va etedon EE Erolnov nal tiv vodsov Ev ovvdper [e]dei— 


Hesychius Hierosolymitanus edidit Michael Faulhaber. 91 


Das Werk sah also etwa so aus: 
OPAZIZ ABAIOT 
a’ rade Adyes xverog 6 Bede tH « tH vonf 
"Wovpate 

B &xoty ixoven maga xvelov B vids mage xareds N) are 
naga viov* as ydag lony tiv 
BovANv advarctPerae 

y xal meguoyny sig ta Edvn y To evayyédiov’ wEQueyer yag 


éEancorerdev Adyov thy OWTigLov 
O avdornte xal dvaordipev & of rüs evoeBetag Endwral 
é En’ avtiy elo noAsuov € obv rovtos yap 6 Bede waga- 
TÄTTETOL 


Der Bibeltext war in Sinnzeilen (natürlich ohne Worttrennung 
und Lesezeichen) geschrieben, um das sofortige Verstehen zu er- 
leichtern, die Erklärung direkt daneben. Hesych kannte das Ver- 
fahren der Abteilung in Kola als altüberliefert bei den poetischen 
Büchern des A.T. Neu war ihm die Anwendung auf prosaische 
Bücher wie die Apostelgeschichte und die apostolischen Briefe, 
ein Unternehmen, das unsres Wissens zuerst der heutzutage immer 
noch zwischen Sein und Nichtsein schwankende Euthalius durchge- 
führt hat. Das gab dem Hesych den Mut, nun auch seinerseits die 
XII Propheten und — laut der Ueberschrift der Vorrede — Isaias 
und Daniel in gleicher Weise zu behandeln. Er bezeichnet seine 
Arbeit unzweideutig als Neuerung, gerade wie Hieronymus, der für 
die lateinische Bibel das Gleiche gethan hat: 

»nemo, cum prophetas versibus viderit esse descriptos (1. discriptos), 
metro eos aestimet apud Hebraeos ligari et aliquid simile habere de 
Psalmis vel operibus Salomonis; sed, quod in Demosthene et Tullio 
solet fieri, ut per cola scribantur et commata, qui utique prosa et 
non versibus conscripserunt, nos quoque utilitati legentium provi- 
dentes interpretationem nouam »0u0 scribendi genere distinzimus< 
(praef. in Isaiae translationem). 

Durch diese Verbindung mit einer in Kola geschriebenen Text- 
ausgabe erklärt sich von selbst die auffällig knappe und abgerissene 
Redeweise des Commentars. 

Nun existieren aber unter dem Namen des Hesych auch Inhalts- 
angaben der einzelnen Capitel der XII Propheten und des Isaias. 
F. hat es mit Recht befremdlich gefunden, daß in dem Prolog von 


cav Epumveiav tod Belov 'Hfovjgiov Önöre 6’ lows Helnosı wlarvrég[ws] dpevrf- 
oul ts thy krogovul[lvov v]& söglonn totro &v roig uerozloills]. Der Abdruck 
Migne 27,649 ff. giebt eine deutliche Darstellung von der Stichenteilung. 


7* 


92 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


ihnen gar keine Rede ist, und versucht sie deshalb, durch folgende 
Exegese darin doch zu finden (S. XIII): 

»prologo saepius allegato Hesychius Hierosolymitanus memoriae 
prodit libros Psalterii, Proverbiorum, Ecclesiastae, Job, Cantici Canti- 
corum, librum apostolicum iam antiquitus pericopis (oriyoıs) distinctos 
fuisse, duodecim autem libros prophetarum se ipsum, ut perspicuitati 
consuleret, per commata divisisse. hoc ergo sensu illud vocabulum 
oxynedy quod in titulo prologi occurrit, intellegendum est‘): textus 
prophetarum in plura pauciorave capitula dividitur capitulorumque 
summum argumentum compendiose indicatur<, dazu wird (als Beweis?) 
der eben genannte Hieronymusprolog citiert. »eiusmodi capitula 
Hesychii Hierosolymitani in prophetas minores publici iuris sunt 
Migne 93, 1345—1370 ...«. 

Nun, or/yoı sind Zeilen und keine Capitel’), orıynoov ist keine 
Ausgabe mit Capiteliiberschriften, sondern eine in Versen, Paula und 
Eustochius konnten nicht Gefahr laufen, die prophetischen Schriften 
für Poesie zu halten, wenn sie in Capitel geteilt, sondern nur wenn 
sie in Versen geschrieben waren. Nicht mit ‘uersus’, sondern mit 
‘capitulum’ übersetzt Hieronymus zegcxor7 Transl. Origenis hom. in 
Jerem. IV (t. V. p. 791° Vall.), Gregor von Nyssa teilt sein Werk 
aeol xatacxevig Avdomnov nicht in ercéyous, sondern in xepddaa 
(t. 1 p. 46°), um dem Bruder die Uebersicht zu erleichtern. Kurz, es 
kann gar keine Rede davon sein, daß die erhaltenen Capitelsum- 
marien in dem Prolog erwähnt seien. 

Aber es schreibt sie ja auch keine Handschrift dem Hesych zu! 
Daß sie in den Catenen hinter dem Prolog stehen, beweist ebenso- 
wenig, wie der Umstand, daß sie genauen und wörtlichen Anschluß 
an den Hesychcommentar zeigen. Dies weist nämlich F. sehr gründ- 
lich auf S. XIVf. nach, er erklärt sogar ‘tantum abest, ut glossae 
capitulis posteriores sint, ut etiam a capitulis supponantur’. So ist 
es auch: sie sind auf Grund des Hesychcommentars erst gearbeitet. 
F. meint S. XIV »glossae easdem textus sacri sectiones supponunt 
quae capitulis efficiuntur; in codice Vatic. gr. 347 initia capitulorum 
rubris coloribus signanture. Die Glossen würden selbst dann kaum 
etwas beweisen, wenn an den betreffenden Abschnitten neue Lemma- 
zahlen begönnen — wie es in F.s Ausgabe der Fall ist, wie es aber 
jeder Handschriftencopist ebenso selbständig hätte thun können. Die 
Hs. selbst beginnt neue Lemmazahlen nicht an den Capitelabschnit- 


1) Das Richtige konnte F. aus dem von ihm (p. XIV, 1) nur aus Migne ci- 
tierten R. Simon lettres critiques Basle 1699 S. 76 ff. lernen. 

2) Auch nicht ‘pericopae’ von der Größe der durch die Lemmazahlen im 
Text gebildeten Abschnitte, wie F. daneben anzunehmen scheint. 


Hesychius Hierosolymitanus ed. Michael Faulbaber. 98 


ten, sondern mit jeder neuen Seite (cf. S. VID. Daß der Bibeltext 
der Hs. jedoch die Capitelanfänge rot markiert, beweist nur, daß 
ihrem Copisten im XI Jahrh. die in den Summarien vorausgesetzte 
Einteilung in 88 Capitel bekannt war, was niemand wunder nehmen 
kann. Zudem sind in unserm Vaticanus Text und Randscholien von 
verschiedenen Händen und aus verschiedenen Zeiten, wie ich glaube. 
Es bleibt also zunächst für die Autorschaft des Hesych über die 
Capitula kein anderes Argument, als das federleichte, daß sie ‘inter 
omnes constat’ (S. XV). Dagegen fällt das Schweigen des Prologes 
über eine Capitelteilung und ihre Anonymität in den Hss. schwer 
ins Gewicht. Ihre Verbindung mit dem Hesychcommentar beruht, 
soweit wir sicher sehen können, nur darauf, daß sie auf Grund seiner 
Exegesen zusammengestellt sind. Wann diese Einteilung des Isaias 
in 88 Capitel entstanden ist, bleibt also noch aufs neue zu unter- 
suchen: der Verfasser des Prologs weiß noch nichts von ihr. 

Hesychs Isaiascommentar ist also nach dem vom Jahre 396 datier- 
ten Werke des Euthalius (s. jetzt v. Dobschütz in Herzogs R. E.? »Eu- 
thalius<) entstanden. Daß Hieronymus ihn nicht nennt, ist also ganz 
in der Ordnung. Die Anspielungen auf den Nestorianischen Streit 
hat F. S. XXIII gesammelt, und die andrerseits noch vorhandene 
Polemik gegen Ausplaudern der christlichen Arcana führt ihn zu 
dem richtigen Schlusse, daß die Glossen ‘probabilius quinto quam 
sexto saeculo’ geschrieben seien. F. hätte S. XXIII die chronologi- 
sche Untersuchung gar nicht so ängstlich auf den Commentar zu 
beschränken brauchen: das ‘neque mihi hoc loco de Hesychii tem- 
pore fusius agendum est’ ist unberechtigt, denn wenn die Lebenszeit 
des Hesych sich ermitteln läßt und mit dem aus den Glossen ge- 
fundenen Saeculum übereinstimmt, so ist das doch eine recht er- 
wünschte Bestätigung der hypothetischen Verfasserschaft des He- 
sych. Nun berichtet Theophanes von einem Jerusalemer Presbyter 
Hesych, der im Jahre 412, dem Todesjahr des Theophilus von 
Alexandria, five reis didacxadlarg (p.83, 6 de Boor) und im Jahre der 
Vermählung Valentinians III. mit Eudoxia (nach Socr. VII 44 a. 436 
nach Theoph. 433 p. 92, 16) starb; das Kloster des hl. Euthymius 
wird 428 von einem frommen Presbyter Hesych besucht (Cyrilli Scy- 
thopolitani vita S. Euthymii Migne 114 p. 629): so haben wir allen 
Grund, diesen — wie auch bisher meist geschehen — für den Ver- 
fasser unserer Commentare zu halten. 

Doch nun zu der Ausgabe selbst. F. hat jede Seite in zwei 
Columnen geteilt, links steht der Isaiastext mit Auslassung der 
nicht interpretierten und zum Verständnis des Zusammenhangs nicht 
nötigen Stellen, rechts der Hesychcommentar, beide werden regel- 


94 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


mäßig unterbrochen durch die Pseudohesychischen Summarien. Der 
Herausgeber hat nicht geringe Mühe auf die zweifelsohne recht wich- 
tige Frage verwendet, welcher Bibeltext seinem Commentar zu 
Grunde liege (S. XXV); die Norm, nach der er schließlich seine 
linke Columne gestaltet hat, ist folgende: Als fundamentum dient 
der Text des Alexandrinus A, mit dem Hesych öfter stimmt wie mit 
dem Vaticanus B; folgt die Glosse einem andern Wortlaut, so kommt 
dieser in den Text: seine Bezeugung steht dann nebst der Lesart 
von A unten am Rande. Ebendort sind regelmäßig alle hexaplarischen 
Zusätze Grabes (= A?) angemerkt, weil die Glossen sie nicht selten 
voraussetzen — in diesem Falle stehen sie natürlich im Text. Die 
Lesarten entnimmt F. der Tischendorfschen LXX-Ausgabe'): weiß er 
nichts von der Existenz der um vieles besseren, nun schon in zwei- 
ter Auflage erschienenen von Swete, aus der er u. a. auch den für 
ihn recht wichtigen codex Marchalianus Q hätte kennen lernen? 

Zunächst muß bemerkt werden, daß der Herausgeber keines- 
wegs einfach den Text von A zu Grunde legt, wie man nach p. XXVIII 
annehmen wird. Ohne daß die Glossen ihm die geringste Handhabe 
dazu bieten liest er 124 Ioga7A mit BSQ statt "TegovoaAnu A, 21 N ij 
mit BSQ statt 7 yi adrov A, 513 didos mit BQ statt dépayv AS, 69 
éxoveetée mit BSQ statt dxovenre A, 714 Ayeraı mit B statt ge: ASQ, 
71 u. 6. “Paoty statt 'Paaoowov A, 9ı xagadtav mit BQ statt raedAoy 
AS, 96 xaAsizae mit BSQ statt xadgoe: A, 911 Enavıorausvovs mit BS°Q 
statt &ravıoravouevovgs AS* u.s.f. Es ist Kleinkrämerei, Varianten wie 
210 eloeAdere >eloedBare BS, (217 weosive A weoeitar S!) 310 elxdy- 
teg> einavres A. yevviuare> yevyuaca ABS überhaupt anzumerken, 
zumal wenn anderweitig derartiges gar nicht beachtet wird, wie 3so, 
wo die Glosse mit BSQ ovvdesıv bezeugt, ovveory A im Apparat 
fehlt. Weglassung von orthographischen Kleinigkeiten und Conse- 
quenz in der Durchführung der Lesarten einer Hs. wären also zu- 
nächst sodann wünschenswert gewesen, daß der Verf. seine Aufgabe 
im Ganzen praktischer angefaßt hätte. 

Der Herausgeber war in der schwierigen Lage, zu seinen 
Glossen einen Text bieten zu müssen, um die Lemmata daranzu- 
hängen, weil sonst die knappen Worte des Commentars unverständ- 
lich gewesen wären. Durch das Verfahren F.s gewinnt nun der 
Leser den Eindruck, er habe links den so gut wie möglich herge- 
stellten Text des Hesych, während in Wahrheit die Glossen in der 
überwiegenden Mehrzahl der Fälle überhaupt nichts über den Text 
aussagen und nur hie und da einmal diese oder jene Variante be- 


1) Daher die falschen Angaben über B 3, S. 8 16, 8. 51. 


Hesychius Hierosolymitanus ed. Michael Faulbaber. 95 


zeugen. Es wäre also die Aufgabe des Herausgebers gewesen, die 
Fälle, an denen er wirklich den Text des Hesych herstellen konnte, 
deutlich zu kennzeichen, etwa durch Sperrdruck oder andere Typen, 
und an diesen, aber auch nur an diesen Stellen die von Hesych ab- 
weichenden Varianten am Rande aufzuführen. Im übrigen mußte ein 
beliebiger Text, am bequemsten der des Vaticanus abgedruckt wer- 
den, von dessen absoluter Bedeutungslosigkeit für Hesych der Leser 
zu unterrichten war. Von einer Vorliebe des Hesych für A kann 
gar keine Rede sein, und vollends die Beigabe der Lesarten Grabes 
am unteren Rande ist ebenso störend wie überflüssig. Um zu zei- 
gen, daß diese Anforderung keine übertrieben große ist, und der 
Leser mit geringer Mühe ein Bild von dem sicher durch Hesych 
Bezeugten hätte erhalten können, während er jetzt die Arbeit 
selbst machen muß, setze ich die Stellen aus cap. 1—10 hierher, 
an denen die Glossen beim Auseinandergehen der Hss. sich für 
eine Lesart mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit entscheiden ). 
lei lies nAYons xetoemsg xal aAndeiag S* nach (£) 7 wore dAndelas 
girons: xa dAndeias om ABQS? (Faulh.). les af mdAsıs tudy xvel- 
xavoroı A: om BSQ (Faulh. wohl mit Recht, weil die Glosse, die 
alles benachbarte erklärt, diesen Satz nicht bedenkt). 24 és AS*. 
(Faulh.) durch (sa) ovxerı bezeugt: om BS*Q. 217 dog ASQ (Faulh.) 
sicher durch (ua): ößgıs B. 32 xal doyvovra zu streichen mit S*, 
die jedes Glied erklärende Glosse überspringt die Worte: hab 
ABS»Q (Faulh.). 3ıs xal werd tdv doydvrov a&dtod mit S* zu strei- 
chen, die Glosse (8) kennt nur zesoßvreoo:; hab ABS**Q (Faulh.). 
320 ta wegıdeın xal tovg daxtvdiovg AQS" (Faulh.) bezeugt durch (x) 
(xa): om S*, rode daxrvilovs xal ra wegude&ia B. 323 PéQuoroa ABS"™Q 
(Faulh.): + xal za S*. der Zusatz ausgeschlossen durch (A). 324 
nösieg BSQ* (Faulh.) durch (Aa) gesichert: (@dtag AQ*. oyomıö S 
durch (4d) ausgeschlossen. 44 ’IegovaaAnu S*Q"s (Faulh.) gesichert 
durch (v8): om ABS?Q. xal nvevuarı xavosms BSQ (Faulh.) bezeugt 
durch (a): om A. 55 ist ofxd A* und dıegmeynv (2°) A durch (x) und 
(xa) ausgeschlossen. 512 lies tod feod S* nach (ıß) xocrjpata tov 
Se0v: xveiov AB (S'Q) (Faulh.). 514 xal 6 dyakklımusvos Ev ur 
nach 2’6’Q™ (Faulh.) gesichert durch (x): om ABSQ. 519 zoufaeı 
ABSQ (Faulh.) sicher durch (8) 6 »gıris: org 6 Bedg SA. 520 of 
zıdevres rd oxdros pag xal ro pag oxdrog ABQ (Faulh.) durch (y) (0) 
sicher: umgekehrt S. 5a: &avröv AQ (Faulh.) durch (s) & Eavrav 
bezeugt: adrayv BS. 526 adrovs B (Faulh.) vielleicht durchf(x«) xeAevee 
empfohlen : adrots ASQ*. 527 od meıvacovaıv odd? BSQ (Faulh.) durch 


1) Ich beschränke mich auf die Hss. ABSQ nach Swetes erster Ausgabe. 





96 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


(xy) sicher: om A. 529 ögyıöcıw B wahrscheinlicher wegen | 
nar vg dosBetag devovra: doumory AS*Q (Faulh.). mxageorrjxa 
dg oxduvor B besser wegen (Ae) touréors Aedvt@y Fyovow dx, 
E6vrov podvnua xal mapdarnua: x. ds oxduvog ASQ (Faul 
das Lemma (As) gehört hinter Agovtog, wie der Wortlaut der Gl 
zeigt. 580 ist der Zusatz von S eig tov odgavdv &vm xal durch ( 
wohl ausgeschlossen. 61s éxxéoy BSQ (Faulh.) sicher durch (i 
&xoraodij A. Ts vlog BSQ (Faulh.) sicher durch (y): ddedqds 
Tis abtdg A*BSQ (Faulh.) durch (£) sicher: avroig A*. Tis éxdcbae 
mit BS* statt éxdggeras AS*Q. Tis tav duo Baocdéoy BSQ (Fau 
durch (ty) &xdregog bezeugt: adr@v A. Tis wégog BS* gesicl 
durch (is): wégovg AS°Q (Faulh.). 719 xal Ev zavı) EvAm ASQ (Fau 
gesichert durch (x): om B. 720 18 uswodwuevp B sicher di 
(*B): zo peyddm xal (TB Q) weuedvoutvo ASQ (td weydio 
wepıodmuevo Faulh.). 730 ö gory AS*Q*: om B(Q™s) (Faulh.) 
(xy). 81 gdgrov A: om BSQ (Faulh.) und (a). 82 toy legge 
(Faulh.) sicher durch (2): om ABSQ 8 avrav Holmes 106 (Fat 
durch (m) sicher: adtod ABSQ. 8 Jleyvonte zdAıv ABSen 
(Faulh.) mit (ca): om S*. 81s péfog ABQ (Faulh.) mit (1): / 
86g S. 818 eis omweia ASQ: onusta B (Faulh.) mit (6). 819 + 
dxd cis vis povorvtas xal rods Eyyaorgıuddoug ASQ (Fat 
sicher durch (e) (s): umgekehrt B. dd A (Faulh.). mit (¢): é E 
9ı zie ABSQ (Faulh.) durch (a) sicher: more Qwe. 9 dmaırovv 
ABS**Q (Faulh.) nach (18): dusıdovvrov S*. 96 Bavuaorös — ala 
AS* (Faulh.) durch (cy) bis (xß) sicher: om BS*Q. #eög layugds 
loyugds A (Faulh.)nach (18). eiprjvnv 2° AS*Q (Faulh.): om BS* und 
Glosse (xd). 911 adrdv BS*Q (Faulh.) nach (6): abrovg AS*. 10s 
éxcoxonijg BSQ (Faulh.) durch (xd) sicher: éxtoxomijg A. 1010 doy&s E 
sicher durch (8) tag BaoıReiag: yugag ASQ (Faulh.). 1011 xal zoig &i 
Aowg abrijg ABSQ™ (Faulh.) nach (cy): om Q. 1012 adrod ABS*Q (Far 
nach (is): avray S*. 101 adrov BSQ (Faulh.) (xm): adrd A. 
of Bovvol xa) of devpol BSQ (Faulh.) nach (x): umgekehrt A. 
am Ende of éymdol AB (Faulh.) nach (1s): om SQ. 1054 lies 
asoovvtat of üymAol SQ nach (cf): om A, xal xeoodvrae dyndc 
(Faulh.). Das ist alles, was die ersten 37 Seiten der Ausgabe 
den Text lehren: diese Stellen hätten kenntlich gemacht und mit « 
oben beigegebenen Apparat versehen werden miissen, um dem Li 
ein richtiges Bild zu geben, alle andern Varianten konnten wegfal 
nur so weiß der Benutzer, worauf es ankommt, während er s 
beständig die LXX-Ausgabe neben sich haben muß. 

Ganz willkürliche Textänderung ist es, wenn F. 7s: mesty 
jungen Hes. gegen xoıstv ABSQ einsetzt. 5s ist das od yenpy 


Hesychius Hierosolymitanus ed. Michael Faulhaber. 97 


der Glosse (xy) kein genügender Grund, um od runPf gegen AB (sic)SQ 
od un rund zu schreiben. le ist odx for &v adrd ddoxAnola Q™* 
aus Aquila keineswegs durch die Glosse (1) bezeugt, denn diese 
(Tovreorıv trate nioav xAnyhy td tod Aanod tv "Iovdatwy dopm- 
ornua) gehört hinter otte tA ny} pdsypatvovea. Umzustellen sind 
auch S. 28 die Lemmata (c) und (€): (<) gehört hinter @averov, 
denn die dxgoßvorie, von der (=) redet sind die x«roıxoüvreg ev 
100g xal ond Paverov. Schwer ist die Entscheidung über die Lesart 
von 7s, doch dürfte F. mit der Auslassung von Japacxod Recht haben. 

Zum Text des Hesych ist wenig zu bemerken: er bietet dem 
Herausgeber nur geringe Schwierigkeiten. S. 10 &, (xd) tag Evro- 
Adg af obs lölovs olxovg xvßegväv exedevobyoav muß heißen ale. 
S. 12 «, (ve) wird hinter dem beginnenden x«l etwas fehlen oder 
dies selbst ist corrupt. S. 22 ca (18) lies & yde dyvosl ti caonl, 
tovrov thy yvaow (and) tig Bedrnrog xéxrntar. S. 23 wa, (Ic) xa- 
Atosı ta &dvn ta Alyintia, ineg wEQog rob Nethov xvevever* td 
zAEov yao avtotis naga toig ’Ivdois gégerar; statt adrots lies 
ebrod. Uebrigens fehlt die Stelle im Index s. v. Nilus, auch die 
Inder als Bewohner des Niloberlaufs mußten notiert werden. S. 49 
xé, (xB) wohl dxeg (en) adriv 6 dtéBodog Zonsıgev. S. 51 hat 
Hesych 16s statt wsdi« gelesen zaıdia nach der Glosse (uß) ra rexve. 
S. 53 war zu (4B) zu notieren Act. 26 44 S. 4 (4) xodow mug 
avrov tig mAdvyns naver xal tig Andıng dpioryoy: lies avrovs, e8 
ist von évy die Rede. S. 120 (we) zu Is 4028 ndvre ex’ dvdpate 
xchéoer and tijg moAAns ÖdEns bemerkt die Glosse: xal &g nwelg odx 
lopev ta dvduata;, durch die Aenderung ov wird das xavra erst ge- 
nügend hervorgehoben. Eigene Aenderungen des Herausgebers fin- 
den sich an 19 Stellen; meist sind sie durchaus berechtigt. Nur 
S.6 in der Glosse zu Is 217 xal tywdroeree xverog wdvog Ev tH NWERR 
éxetvy (up) xeéons EböNAov bxoxuatovens tig xoicems ist nicht mit 
F. xadvre zu lesen, sondern xtrioens: tbxoxvdara heißt ‘sich ducken’, 
nicht ‘ducken’. 5.11 heißt zu Is. 326 xal eis rw yay &dayısdnon die 
Glosse (ud) eis td yijtvoy xarenyzdijon podvnua. F. corrigiert xata- 
vırzdjon (von xataviccopa: = xaravicoucı, einem nur aus alexan- 
drinischen Dichtern belegten Verbum ?), warum nicht das nächst- 
liegende xateveydyjon? S. 59 A’ (8) wäre es vorsichtiger, das nicht 
augmentierte Plusquamperfectum &vdgövro der Hs. stehen zu lassen. 
Ebenso ist nichts zu ändern S. 129 v (9) rovrov yap avroy 
dpıv xal éxddeoev: Hesych liebt verschränkte Wortstellung bis zur 
Unerträglichkeit: F. stellt um ydpıv adrdv. S. 23 (xg) &Aoyov: lies 
&doAov. 

Bei den vielfachen Uebersetzungen hebräischer Eigennamen wäre 


98 Gött, gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


ein Hinweis auf Lagardes Onomastica sacra zu wünschen gewesen, 
ebenso der Nachweis, daß die topographischen Bemerkungen zu 79 
(S. 21) 339 (S. 104) 36: (S. 111, vgl. aber p. XXIII.) aus Eusebs 
Buch wegl tüv Tonıxav dvoperayv tüv Ev rij Fela yeapy stammen. 
Was über Rhinokorura zu 2717 (S. 82) gesagt wird, stammt eben 
daher, resp. aus des Hieronymus Quelle, der zu Amos 61: ff. be- 
merkt: »usque ad Rhinocoruram, inter quam et Pelusium rius Nili 
sine torrens de eremo ueniens mare ingreditur«. 

Nach den Worten der Vorrede S. IX dürfen wir vom Heraus- 
geber die Edition des Hesychcommentars zu den XII Propheten er- 
warten: möge er die in dieser Anzeige gemachten Ausstellungen als 
ein Zeichen aufrichtiger Teilnahme an seinen verdienstvollen Ar- 
beiten betrachten und sie bei neuen Editionen in Erwägung ziehen. 
Wie steht es denn mit dem Danielcommentar? Man ist zunächst 
versucht, die anonymen Glossen des codex Vat. 347 dafür zu halten; 
der Herausgeber würde sich Dank verdienen, wenn er mitteilte, ob 
und warum diese nicht von Hesych sein können. 


Bonn, September 1900. Hans Lietzmann. 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Hermannus Usener et Ludovicus 
Radermacher. Volumen prius. Lipsiae in aedibus B. G. Teubneri 1899. 
XLIV 438 S. Preis 6 M. 


Seit Jahrzehnten war es auch den Fernerstehenden bekannt, 
daß H. Usener eine Ausgabe der rhetorischen Schriften des Dionys 
von Halikarnaß vorbereite, eine Anzahl von Abhandlungen in Zeit- 
schriften und Universitatsprogrammen gab glänzende Proben von 
seiner sorgsamen und umsichtigen Sammlung des Stoffes und seiner 
eindringlichen und fruchtbaren Beschäftigung mit dem Rhetor, es 
erschien auch eine Sammlung der Reste der Bücher über die Nach- 
ahmung, und die Besucher der Kölner Philologenversammlung er- 
freute eine Ausgabe der unter Dionys’ Namen gehenden Rhetorik 
und erweckte in ihnen die Hoffnung, daß endlich die Ausgabe selbst 
kommen werde, aber es vergingen noch wieder fast vier Jahre, bis 
der erste Band erschien, in dessen Bearbeitung sich nun U. mit L. 
Radermacher geteilt hatte. Die Verzögerung war leider verur- 
sacht durch eine schwere Augenkrankheit Useners, die ihn über 
zwei Jahre am Arbeiten hinderte und ihn nötigte, den Druck zu 
unterbrechen, denn die erste Hälfte, Radermachers Werk, war schon 
Herbst 1896 im Druck vollendet. Nun ist seit dem Erscheinen des 
Bandes auch schon wieder geraume Zeit verstrichen , längst ist er 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 99 


in den Fachzeitschriften angezeigt und überall mit Freude und wohl- 
verdientem Lobe begrüßt worden, hier und da sind von ihm veran- 
laßte Beiträge zur Herstellung des Textes erschienen, unter den 
philologischen Lesern dieser Zeitschrift ist wohl keiner, der nicht 
schon an der saubern Ausgabe seine Freude gehabt hätte, das Werk 
hat schon die Meister gelobt — da brauche ich es hier nicht mehr, U. 
ist ohnehin über alles Lob erhaben, und Freund R., dem U. p. XXXV 
hohe Anerkennung spendet, dessen Konjekturen U. v. Wilamowitz 
meisterhaft nennt, wird gern auf weiteres Lob verzichten. So wird 
denn im folgenden viel mehr von dem die Rede sein, wo ich von 
den Herausgebern abweiche, als wo ich mit ihnen übereinstimme, 
ich wünsche nur, daß es mir gelingen möge, auch die Sache zu för- 
dern und die Zustimmung der Herausgeber zu finden, von denen U. 
das schöne Wort ausgesprochen hat: a nullo profecto libentius discas 
quam a discipulo. 

Die neue Ausgabe, in der Reihe der Gesamtausgaben nach der 
Sylburgischen und der Reiskischen die dritte, ist mehrfach eine 
editio princeps genannt worden, und mit Recht, es ist die erste, die 
sich auf der gesamten handschriftlichen Ueberlieferung aufbaut. 
Ueberraschungen allerdings erleben wir nicht, dazu ist die Ausgabe 
zu spät gekommen, die hatte vorweggenommen, den Rahm sozu- 
sagen abgeschöpft, Leon. Sadée in seiner äußerst sorgfältigen und 
ergebnisreichen Dissertation De Dionysii Halicarnassensis scriptis 
rhetoricis (Straßburg 1878), in der er über die beiden Haupthand- 
schriften berichtete und anführte, was aus ihnen für die Herstellung 
des Textes zu gewinnen sei; aus den übrigen Handschriften aber ist 
leider nicht viel zu holen gewesen. 

Ueber alle ihm bekannt gewordenen Hss. — es sind über 60 — 
sowie über die frühern Ausgaben giebt Usener in der Vorrede einen 
knappen, klaren Ueberblick. Mit deın größten Eifer ist er dem un- 
gedruckten wie gedruckten Material nachgegangen, ist es ihm doch 
gelungen, zwei Exemplare einer Aldina aufzustöbern, die den Anfang 
der Schrift über Thukydides enthält, aber niemals vollendet und 
herausgegeben ist (p. XXXII). Von den Handschriften kommen für 
die in unserm Bande enthaltenen Schriften besonders in betracht ein 
codex Florentinus bybliothecae Laurent. LIX 15 (F) und ein Am- 
brosianus D 119 (M). 

Für den Florentinus hat sich U. nicht mit einer Verglei- 
chung A. Kießlings begnügt, sondern um ganz sicher zu gehen, hat 
er sie von C. Dilthey revidieren lassen. Aber die Hs. ist vielfach 
korrigiert, und so müssen denn trotz der »denkbarsten Genauigkeit«, 
mit der Dilthey gearbeitet hat (Fleckeisens J. J. 1873, 154), hier und _ 


100 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


da Zweifel aufsteigen auf Grund der Angaben Sadées. Die Nach- 
träge, die er zu Useners Kollation p. 10 giebt, hat R. zum Teil 
berücksichtigt, aber leider nicht beachtet, oder doch anzugeben un- 
terlassen '), daß sich auch sonst mehrfach Diskrepanzen finden, z.B. 
grade an den zwei Stellen, die Sadee p. 40 bespricht, um den Kor- 
rektor von F (F*) der Interpolation zu bezichtigen : p. 64, 7 ff. rods 
dt ovuudyovz ... TE?) xal evegyeciars xetoaoda xarlysıv, Alla 
un talc dvdyxaıs und: rats Bias habe er aus tats Biase gemacht ras 
Bias, bei R. dagegen heißt es: tds Biag F', und 64, 17 habe er nach 
evdaipoviay in den Text re eingeschwärzt, wovon R. nichts sagt. 
Grade über die verschiedenen Hände, die die Hs. korrigiert haben, 
gehen die Angaben auseinander: nach Sadée waren es 2, eine dritte 
erkennt er nur in der Schrift über Deinarch an, während nach Dil- 
they auch in den übrigen Schriften manche Aenderungen von einer 
dritten Hd. herrühren ?), ein Widerspruch, den ich nicht lösen kann. 
Aber auch die beiden andern Hände lassen sich nicht leicht unter- 
scheiden, und doch ist die Sache von Wichtigkeit, denn F! ist der 
Schreiber selbst, der seine Schreibfehler verbessert, und deren sind 
nicht wenige, woher aber stammen die Lesarten von F?? U., der 
J. J. a.a.O. 163 Anm. 20 die Frage gestreift hatte, geht in der Vor- 
rede leider nicht darauf ein, Sadee handelt darüber p. 36 ff. und 
meint, sie stammten aus einer andern Hs., während ich seinerzeit 
(Rhein. Mus. 33, 363) vermutete, der Archetypos unserer Hss. habe 
mancherlei Korrekturen gehabt, F habe den ursprünglichen Text 


1) Zuweilen mag auch ein Versehen vorliegen, wie es bei der Zusammen- 
stellung und Ordnung eines großen Apparats trotz peinlichster Sorgfalt nur zu 
leicht vorkommt ; nach den Notizen, die ich mir einst aus Useners Kollationen 
machen durfte, giebt z. B. auch Dilthey 34,15 eine Rasur nach ye/ an (govg war 
doppelt geschrieben am Ende und am Anfang der Zeile), 37,11 bemerkt er, daß 
&x wohl von F! übergeschrieben, von 2 Hd. in é» verwandelt sei, wie er auch 
die Rasuren und Korrektur von »eıgaısi angiebt, ebenso 35, 18 é corr. F! in dz’, 
87,15 slacroy F!, 38,12 die Korrektur in xedregor, 39, 21 dv sxodryrovs, 99, 18 
Rasur hinter &loıövrwv (punct. del.), 100, 18 undels F, 108, 11 xegaxovoecfar F 
(nach Sadée p. 120 xagaxovec#ar, wonach man mit v wagaxgovecd«ı schreiben 
könnte). 

2) ye Hss. eövol® setzte H. Wolf ein, Radermacher sagt guid desit non con- 
stat, gewiß, aber vermuten darf man wohl Hegarelaus, 8. Is. 4,80 Hegamwedonres 
air’ 06x üßelkovres rots "Elinvas = Dion. 62,7 tH Hegansdsıv xeocnyorro ras 
zöltıs xual ro weldEeıv taig ebepyeoiaug uällov 7 tH BidfecPar toig Omloıg xar- 
€iy0V. 

3) Z.B. 35,4. 101,14. 17,16, wo man leicht öpoloynosıe vermuten könnte, 
‘nach 200, 21 ob@sls gortv, Sg 06x Öuoloynosıev;, aber nach Sadée p. 35 hat F! selbst 
geändert, und nötig wäre auch wohl, wie an der verglichenen Stelle, die Einsetzung 
., yon a». _ 


eo ® . 
e . . ©& . 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 101 


und die Korrektur, die 2. Hssklasse gewöhnlich nur die Korrektur, 

die aber nicht immer die richtige Lesart zu sein braucht, Sadée 

p. 39, bisweilen finden sich auch in einzelnen Abschriften beide Les- 

arten, z. B. 114, 19 unddv F! und’ &v F?M, undty dv BP, also stand 
a 


v 
im Archetypos und:v; 43, 17 rovrav trois FG rovrov MPB, rich- 


TOL 

tig ist tovrors, also stand im Archetypos rovron). Doch woher auch 
die Korrekturen von F? stammen mögen, der ist der charakteristische 
Unterschied zwischen denen von F? und F?*, daß bei F! die Kor- 
rektur die überlieferte Lesart bietet, das andre nur Schreibfehler 
ist !): also ist 18, 1 nur éxdecEouae überliefert, wenn es wirklich 
von F! geändert ist (Sad. p. 35), 13, 18 ist mit F’PG das einzig 
angemessene otras (nach Sad. p. 25 aus ovr@s geändert) zu schrei- 
ben, 41, 18 (= Lys. 32, 20) hat ray wiv fEagvos yevecheı keine 
Berechtigung, da F! c@ in ra geändert hat (Sad. p. 114). Vielleicht 
verdient auch in dem Isaiosstiick 119, 10 (= Is. 12, 9) 68, das nach 
Sad. p. 119 von F! herrührt, Aufnahme in den Text, mag auch das 
einfache éwevra das gewöhnliche sein. 300, 7 widersprechen sich die 
Angaben: &@yvaiovg F) ut videtur, &dnvaioıs F? nach R., dInvaloıs 
corr. F!, fust wy nach Sad. p. 36, das richtige ist Adnvaiov. Stand 
dies etwa im Text und wurde von F? geändert? Denn so oft F* 
das Richtige hat (Sad. p. 36 f.), es finden sich auch Lesarten, die man 
nur als Schlimmbesserungen bezeichnen kann, so 17, 10 Adkeog F! 
téemgo F?*) und die übrigen, 85, 1 auvsAßdvrss: ovv &Addvreg F? 
üdövres F?, 86, 17 n000%x0v tocaira : xgoorxovros atta ta F! 
2p007x0v abra ta F*, 114, 21 Evddunud ce: Evduunuarı F! évOvpnua 
F119, 3 bxodlxovg huäs : bxodunuas F! ünodixovs F? u. 6. Man 
muß deshalb auf der Hut sein und stets sorgfältig prüfen, ob F? 
das Richtige bietet. R. hat denn auch grade auf die ursprüngliche 
Schreibung seine Aufmerksamkeit gerichtet und sie zu Vermutungen 
benutzt, nicht immer mit einleuchtendem Erfolge, z. B. 10, 15 &£14- 
lactov tov idudtyy xal xacépevyov eis tiv xountixiy pedo. Da 
Fit .. iöior.v hat, vermutet er thy ldıörıv, verweist aber selbst 


1) Meine Vermutung éxopévey 34, 9 (== Lys. 32, 2) entbehrt also der äußern 
Stitse, wenn die Aenderung von F? ist (Sad.), aber Dilthey bemerkt eivas ab 
dia mane restitutum, und 17,7 ist xat &wegdegyos zu schreiben, wenn die Aende- 
rng von F* stammt (Sad. p. 35). 
eon wunderliches Versehen, nachdem so lange von der A¢ét¢ die Rede war, 
rea cite nor Altes richtig ist, bedarf keines Wortes. P. Corssens Erklärung 
vie ern (in dieser Zsch. 1899, 818) übergeht man am besten mit Schweigen; 

ur das Part, Aor. éx@elg so ganz übersehen konnte 


102 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


gleich auf 13, 9, und auch sonst wird ddıarng so gebraucht: 23, 1 
N tho oOvvdtcsme rtaHv dvoudtrav Ndovn wiuovuevns rdv ddıarm, 
414, 11 xgeirrova gory N xara tov (dvd@tyy nach Isokrates’ Vorgang 
4, 11 Enırıuücı tov Adyar Tois brig tove (datas Eyovaı. — 117, 
19 (= Isai. 12, 5) sucht R. mit Recht nach dem getilgten Wort, 
aber Exovaiwz ist ungeeignet, was der Redner schrieb weiß ich nicht, 
der Gedanke erfordert r«& ywevdn, vgl. Z. 3. 13 und gleich darauf 
vevön pagtveiav. Dagegen hätte R. 47, 23 (= Lys. 33, 6) von 
oteo7joda: KF! ausgehen und mit v &oregijodeı schreiben sollen statt 
mit F? MBP orsgeicde:, denn diese Form kennt Lysias nicht (s. Wo- 
chenschrift f. kl. Philol. 1898, 399). Beachtung verdient m. Er. auch 
16, 10 zenoineeı yao avtd toüro to anointov die Lesart von F! 
«brö, mag die Aenderung von F? (Sad.) oder F’ (Dilthey) herrühren, 
vgl. im folg. &v atta ro un Öoxeiv, und 10, 10 odx Exi tovt@ pdvoy 
Encıveiv adroy Äıov, wo avrov in F'G fehlt, könnte man versucht 
sein &ıogs zu schreiben, denn diese persönliche Konstruktion ist 
Dionys nicht fremd, 165, 21 7 Ac&tg . . todddy wiv Evexa Fave 
die, wenn nur nicht Auslassungen so häufig in F wären. Deshalb 
ziehe ich auch vor 17, 3 dtxaory te xal ExxAnsıaotij mit allen Hss. 
gegen F! zu schreiben, denn grade dies Wörtchen hat der Schreiber 
oft ausgelassen (z. B. 9,13, auch 26, 17 nach Sad. p. 35); auch scheint 
mir 30, 21 dé richtiger als 07) F!, vgl. 26, 20. 

Den Ambrosianus (M), den U. in den Anfang des 15. Jahr- 
hunderts setzt, hält der Präfekt der Ambrosiana Msgr. A. Ce- 
riani für etwas jünger, denn es ist ihm, wie er mir im Marz d. J. 
freundlichst auseinandersetzte, höchst wahrscheinlich, daß er von der 
Hand des bekannten Schreibers Johannes Rhosos aus Kreta (Gardt- 
hausen Gr. Paläogr. 326 f.) geschrieben sei und in die 2. Hälfte 
des Jahrhunderts gehöre. Sadee führt auch aus ihm sehr viele Les- 
arten an, die z.T. von U. u. R. benutzt sind, aber ich sah bald, daß 
doch öfter die Angaben nicht zusammen stimmen, und habe deshalb eine 
Anzahl von Stellen selbst nachgeprüft. Darnach hat M 49, 5 &ionyr- 
yato | 49, 6 tovg | 50, 1 &ereog M! corr. äoreng | 50, 13 dyes M! 
corr. tpets | 51, 20 0” | 52, 4 xauAög M! corr. xaddg ut videtur | 56, 7 
Övslv corr. ex Övoiv | 106, 18 od@év oe | 110, 8 gacly oy | 110, 10 
&oıxe | 116, 15 vlot | 117, 5 eovetag M! | 118, 14 adrn, wie die 
Vergleichung mit avroy ergiebt | 118, 17 aurüv | 120, 11 xaradır- 
ınoav | 120, 19 ddmvaioı | 131, 15 éxdrega | 132, 19 oF | 133, 1 
vsorego:cı M rubro, von derselben Hd. am Rand @eacvucyzov | 133, 
12 diexıvövvov | 133, 15 &ydgav corr. ex &ydeus | 134, 14 xeeopy- 
tegoe | 138, 1 in dAAnyopiag ist nach dem 2. a ein Buchstabe ra- 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 108 


diert, ¢ nicht in Rasur, rs ist übergeschrieben | 138, 20 d% | 142, 9 


T 

éxioxonxov | 142, 14 ovdo || uevev | 142, 15 wayerov | 148, 6 ddovijow 
| 149, 18 4} civ | 151, 13 rovigos, ws corr. ex es | 152 in dem Scho- 
lion 66 xgea, über ı eine Rasur, wie es scheint | 172, 3 & von Zysı 
in Rasur | 177,17 eionvevdusvov | 190, 12 einov | (fin. pag.) ra 
&Ada | 201, 13 xarmpdmucra | 202, 9 xara | 203, 7 xard | 203, 17 
etxdt@s | 205, 16 ndvn | 207, 4 slonxev | 207, 5 obtm müs | 209, 23 
Gpuovia | 210, 1 zapeyouaı | 211,7 reaydrnee | 212, 7 Zxov | 213, 11 
dxordAAnAov | 216, 18 psgoudva | 219, 23 fv | 228, 8 gv- | (fin. 
vers.) gpvosı | 232, 15 stozjxe | 232, 20 orozeta | 235, 2 xageyor 
| 237,2 &v &xaoroıg | 238, 7 re om. | 240, 12 bony | 243, 11 Ae- 
Eiv | 244, 10 xadvmoxgıvauevorg | 244, 12 ravens dé | 247, 3 devo’ 
od’ andiıne | 249, 25 To yee | 330, 8 wegl om. | 330, 14 ebpemy Te 
| 346, 15 otre | 349, 3 rate draddyorg | 349, 17 wAnGecer, das 2. &ı corr. 
ex n M! | 360,8 xaddienuoovyny | 361, 15 Enta xal elnooaern | 372, 2 
xcai om. | 378, 9 dedopevor | 394, 8 orn | 394, 16 wapayeodaı | 396, 
5 of om. | 398, 5 dnoAwäsxdg | 399, 25 EHegikeıw | 403, 17 Nör- 
Awotg | 418, 9 yvopnua. Schwierigkeiten macht es die Größe der 
Lücken genau zu bestimmen, die in der Schrift über Demosthenes 
so zahlreich sind; ich habe einige gemessen und unter Vergleichung 
der nächsten Zeilen festgestellt, daß 133, 5 nach ovugo 17—18, 
137, 19 6, 138, 1 14—15, 142, 17 7—10, 150, 16 9—10, 17 10—12, 
18 10—12, 19 20—22, 151,1 20—23. 171, 10 10—11, 177,5 9—10, 
188, 1 7,3 7,4 10—12, 203, 23 12—14 Buchstaben stehen können. 
Aber auch in unmittelbarer Nähe sind die Buchstaben nicht immer 
gleich groß, so daß ein gewisser Spielraum bleibt; übrigens ist die 
Sache nicht allzu wichtig, da den Lücken, wie sich z. B. aus der 
Schrift über Isokrates 80, 12 ff. ergiebt, ein sozusagen urkundlicher 
Wert nicht zukommt. 

Demselben Zweig der Ueberlieferung wie M gehören an ein 
Vaticanus Palatinus (P), ein Parisinus (B) und für die Schrift über 
Demosthenes ein Venetus, über den Usener p. XX fi. berichtet. 
Erinnert hat er sich seiner erst, als es zur Benutzung zu spät war; 
das ist für die Ausgabe höchst bedauerlich, denn hätte R. eine Kol- 
lation von V gehabt, so hätte er sich m. Er. sehr wahrscheinlich 
entschlossen, P und B ich will nicht sagen ganz beiseite zu lassen, 
aber doch den Apparat von ihren oft gradezu abscheulichen Schreib- 
fehlern zu entlasten, was vielleicht auch jetzt schon rätlich gewesen 
wäre !). Ein kurzer Hinweis in der Vorrede hätte vollauf genügt. 


1) Die Frage über den Wert von BP wird p. XXXVIf. doch etwas zu sum- 


102 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


gleich auf 13, 9, und auch sonst wird ¢édvmrns so gebraucht: 23, 
N tig ovvdécsms Tüv dvoudtmy dort) pwimovpévng roy idcarn 
414, 11 xgsirrova gory N) xar& tov tédt@tyy nach Isokrates’ Vorgaı 
4, 11 énitipdor trav Adyav roig bnte tovs (dımrag éyover. — 11 
19 (= Isai. 12, 5) sucht R. mit Recht nach dem getilgten Woı 
aber éxovoims ist ungeeignet; was der Redner schrieb weiß ich nich 
der Gedanke erfordert r& Yevdn, vgl. Z. 3. 13 und gleich dara 
vevön uoprvgiav. Dagegen hätte R. 47, 23 (= Lys. 33, 6) ve 
orepjodeı F! ausgehen und mit v &orepjod«ı schreiben sollen sta 
mit F? MBP orsgeicda:, denn diese Form kennt Lysias nicht (s. W 
chenschrift f. kl. Philol. 1898, 399). Beachtung verdient m. Er. auc 
16, 10 xsnoiman yag avid Toüro to anointov die Lesart von ] 
avrd, mag die Aenderung von F? (Sad.) oder F! (Dilthey) herrühre 
vgl. im folg. gy adr@ rq un doxetv, und 10,10 06x él rovro wd 
Encıveiv aördv Übıov, wo avrov in F'G fehlt, könnte man versucl 
sein &&ıog zu schreiben, denn diese persönliche Konstruktion ji 
Dionys nicht fremd, 165, 21 n A&dıs . . noAAüv wiv Evexa Havudße 
d&ie, wenn nur nicht Auslassungen so häufig in F wären. Desha 
ziehe ich auch vor 17, 3 duxaory re xul ExxAnsıootii mit allen He 
gegen F' zu schreiben, denn grade dies Wörtchen hat der Schreib 
oft ausgelassen (z. B. 9, 13, auch 26, 17 nach Sad. p.35); auch schei 
mir 30, 21 dé richtiger als ö7) F', vgl. 26, 20. 

Den Ambrosianus (M), den U. in den Anfang des 15. Jah 
hunderts setzt, hält der Präfekt der Ambrosiana Msgr. A. C 
riani für etwas jünger, denn es ist ihm, wie er mir im März d. 
freundlichst auseinandersetzte, höchst wahrscheinlich, daß er von dı 
Hand des bekannten Schreibers Johannes Rhosos aus Kreta (Gard 
hausen Gr. Paläogr. 326 f.) geschrieben sei und in die 2. Hälfi 
des Jahrhunderts gehöre. Sadee führt auch aus ihm sehr viele Le 
arten an, die z.T. von U. u. R. benutzt sind, aber ich sah bald, du 
doch öfter die Angaben nicht zusammen stimmen, und habe deshalb eft 
Anzahl von Stellen selbst nachgepriift. Darnach hat M 49, 5 s 
yato | 49, 6 tovs | 50, 1 &oreog M! corr. korewmg | 50, 13 dpa | 
corr. tpetg | 51, 20 0 | 52, 4 x«Aög M! corr. xaddg ut videtur | SO 
Övelv corr. ex Övoiv | 106, 18 obdEV oe | 110, 8 gacly dy | 110 
Eouxe | 116, 15 viot | 117, 5 &&ovaiag M! | 118, 14 aden, wie. 
Vergleichung mit adroy ergiebt | 118, 17 aurüv | 120, 11 
ınoev | 120, 19 ddmvaioı | 131, 15 &xdrega | 132, 19 be | 1 
vsoreporcı M rubro, von derselben Hd. am Rand @eacvpdzou ls | 
12 diaxıvövvov | 133, 15 éydeay corr. ex éxfeag | 134, 14 
tegot | 138, 1 in dAAnyopias ist nach dem 2. « ein Bu 








Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 108 
diert, ¢ nicht in Rasur, re ist übergeschrieben | 138, 20 ö2 | 142, 9 


t 

éxloxoxov | 142, 14 oddo || ever | 142, 15 mdyerov | 148, 6 ddovijow 
1149, 18 9 civ | 151, 13 xovrigas, wg corr. ex eg | 152 in dem Scho- 
lion 86 zgıe, über ı eine Rasur, wie es scheint | 172, 3 e von éye 
in Rasur | 177,17 eögnvevduevov | 190, 12 etxav | (fin. pag.) z& 
Hla | 201, 13 xarapPduara | 202, 9 xard | 203, 7 xar& | 203, 17 
dixdrong | 205, 16 ndvn | 207, 4 elonxer | 207, 5 obtm mag | 209, 23 
äpuovia | 210, 1 xagézyoucs | 211,7 toagdryta | 212, 7 éxov | 213, 11 
dxardddndov | 216, 18 gegoueva | 219, 23 iv | 228, 8 gv- | (fin. 
vers.) puoer | 232, 15 süpijxe | 232, 20 orogsta | 235, 2 magezov 
237,2 éy éxderoug | 238, 7 z& om. | 240, 12 dom | 243,11 Ad- 
iv | 244, 10 xaPumoxervapevorg | 244, 12 raveng d¢| 247, 3 devg’ 
Wündlıne | 249, 25 tH yde | 330, 8 xegl om. | 330, 14 ebpedy re 
1346, 15 ofre | 349,3 rate draddyorg | 349, 17 wAndeieı, das 2. e corr. 
en M!| 360,8 xaAdconuoovyyy | 361, 15 éxra xal elxooueri | 372, 2 
wl om. | 378, 9 dedowévor | 394, 8 Zorn | 394, 16 nagazéodu | 396, 
5 of om. | 398, 5 dmodmdends | 399,25 2Bepikeiw | 403, 17 Hdy- 
Ang | 418, 9 yrdenua. Schwierfgkeiten macht es die Größe der 
Lücken genau zu bestimmen, ie in der Schrift über Demosthenes 
zahlreich sind; ich habe eifige gemessen und unter Vergleichung 
der nächsten Zeilen festgestellt, daß 133, 5 nach ovupo 17—18, 
137, 19 6, 138, 1 14—15, 242, 17 7—10, 150, 16 9—10, 17 10—12, 
18 10—12, 19 20—22, pi, 1 20-23. 171, 10 10—11, 177,5 9—10, 
188,1 7,3 7,4 10—1% 203, 23 12—14 Buchstaben stehen können. 
Aber auch in unmittgfbarer Nähe sind die Buchstaben nicht immer 
dich groß, so daß’ein gewisser Spielraum bleibt; übrigens ist die 
Sache nicht allzyAvichtig, da den Lücken, wie sich z. B. aus der 
Schrift über Isskrates 80, 12 ff ergiebt, ein sozusagen urkundlicher 

Wert nicht kommt. 
Demsellgn Zweig der Ueberlieferung wie M gehören an ein 
Vaticanus Rylatinus (P), ein Parisinus (B) und für die Schrift über 
mosthens ein Venetus, über den Usener p. XX ff. berichtet. 
uert ‘at er sich seiner erst, als es zur Benutzung zu spät war; 
ks ist f. (ie Ausgabe höchst bedauerlich, denn hätte R. eine Kol- 
‘\ V gehabt, so hätte er sich m. Er. sehr wahrscheinlich 
en, P und B ich will nicht sagen ganz beiseite zu lassen, 
den Apparat von ihren oft gradezu abscheulichen Schreib- 
fy entlasten, was vielleicht auch jetzt schon rätlich gewesen 
Ein kurzer Hinweis in der Vorrede hätte vollauf genügt. 














e Frage über den Wert von BP wird p. XXXVIf. doch etwas su sum- 


104 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


Der Venetus muß unbedingt verglichen werden, hier und da hat er 
vielleicht allein das Richtige erhalten; so hat er z.B., wie mir ein 
gelegentlicher Einblick zeigte, 150, 17 zagıdvr« und in der folgen- 
den Zeile &x&Asvoev, das ebenso gut ist wie éxglevev, 151, 5 Todrov. 
Die Lücken in diesem Lysiasstück sind meist kleiner als in M an- 
gegeben ; das Scholion zu 152, 1 fehlt, nicht die zu 168, 10. 178, 13. 

Die Aufgabe der Recensio nun ist im allgemeinen einfach, 
die Schrift über Deinarch ist nur in F,‘die Abhandlungen über De- 
mosthenes und Thukydides und der Brief an Ammaios nur inM und 
seiner Sippe enthalten, nur die Schrift über die alten Redner findet 
sich in beiden Hss.-Klassen. Hier hat R. p. XXXVII f. mit Recht 
F höhere Autorität zuerkannt, denn so flüchtig der Schreiber schrieb, 
er schrieb ab was er vorfand (Rhein. Mus. 33, 363), vgl. z.B. zu 
15, 2 den Apparat, und gegen den Vorwurf der Interpolation ver- 
teidigt ihn R. gegen Sadée mit bestem Erfolg. Sadee stützte sich 
besonders auf 63, 15 épois éev dvdowziv[elıs tod 68 mAovrov F, 
während die andere Klasse nach éq’ oig eine Lücke hat. Unfraglich 
ist von F auszugehen, ob aber Useners und Radermachers Aenderung 
dp’ olg slow dvdpmnıva, oxovda’, so wunderschön sie ausgesonnen 
ist, das Richtige getroffen hat, läßt sich bezweifeln, denn oxovdat 
éxt (statt weol) erscheint anstößig, es mißfällt die Umschreibung statt 


marisch abgemacht: für B, für den R. 2 Stellen anführt, will ich die Sache da- 
hin gestellt sein lassen, obwohl ich vor allem gegen die Richtigkeit der Her- 
stellung von 186,4 schwere Bedenken hege (250, 21 stimmt V mit MP), was aber 
U. für P geltend macht: accidtt ut genuinam scripturam servet, veluti Bößlog non 
semel in uno tllo relictum est ist doch allzu dürftig. In der Schrift über die 
alten Redner (die andern habe ich nicht darauf geprüft) bat P allein das Rich- 
tige 82,4 rav rüg xélews und 109,7 ov, 83,8 Tuäg mit Bmg und 89, 7 weds ply 
&u& mit B®, aber steht wirklich so in P? Ich muß offen gestehen, daß ich es 
bezweifle; an allen Stellen steht in der Stereotypausgabe die richtige Lesart, so 
daß wie 82,4 (Rhein. Mus. 33, 342) auch an den andern Stelleg ein ausdrück- 
liches Zeugnis nicht vorliegen wird (R. hat öfter Schlüsse ex silantio gemacht, 
wie Angaben wie doxf 102,7, urxem 109,19 zeigen). Aber selbst. wenn P hier 
allein das Richtige haben sollte, so ist seine Autorität nicht groß genug, daß 
man darauf Konjekturen gründen und in den Text setzen darf, wie U. thut, der 
275, 16 auf Grund von P ay dxofdy in den Text dijxov@ev setzt, WShrend mit 
Sauppe d7) nach &v MB zu schreiben war, oder 408, 5 perolws wag ve;’mutet, weil 
P durch Dittographie uergiog Fag hat. Warum denn nicht 277,1 mit P gedos- 
xovvtov? Viel besser als mit P steht es übrigeus auch nicht mit B; ich halte 
es für verkehrt, auf einen so offenbaren Schreibfehler hin wie rodro ¥ 182, 16 
auch nur fragend rove) sd vorzuschlagen oder ebenda Z. 22 auf Grund von xal 
&v adv, vgl. 181,20 &v] &v B, oder 247,9 auf seine Autorität hin 01,06 ye xal 
deiy zu schreiben, was meines Wissens ganz unerhört ist. 


gen, 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 105 


oxovddfey (vgl. 149, 8) und &av ist doch wohl nichts anderes als 
av. Ich stelle deshalb zur Erwägung, ob nicht éq’ oig dv ävdownoı 
qyatomor, tov te wAovrov zu Schreiben ist, wie ich mir mit Benutzung 
der Vermutung von H. Wolf vor langem angemerkt hatte. Natür- 
lich läßt sich an einigen Stellen nicht entscheiden , welche Lesart 
den Vorzug verdient, da beide gleich gut sind, wie 46,5. 59,1; 
nichts einzuwenden ist auch glaub ich gegen oynudt@y 72,1, vgl. 
73, 21, sonst aber wüßte ich nicht, daß F noch irgendwo den Vor- 
zug verdiente '), denn 19, 10 f. tavryy uevroı (wEv HN) Sadée) xga- 
tiornv te aoetiy xual yapaxıngızaordınv tig Avsiov Astkens Eymye 
tideuaı verlangte xecfouct, das F hat, doch wohl den Zusatz von 
sivaı. Dagegen finden sich einige Stellen, an denen R. M hätte fol- 
gen sollen, z. B. 21, 20 of Adyot, 27,5 ueyaila xal cepa (vgl. Z. 4 
uıxga xal xagddof« und 58,5 To wéya xal oeuvdyv), 27, 7 ovpBor- 
Aeutix@y te xal navnyvorx@y, vgl. 26, 22, 28, 8 tiv nAcsovekiav tod 
avrdixov, Ss. R. praef. p. XXXVII, 31,1 xal rd Fog xal 1rd nadog 
nach dem iiblichen Schema (z. B. Syrian I 57), wie es die folgende 
Ausführung 8. 21 bestätigt, vielleicht auch 31, 4 ägıorog elxaoriyes 6 
vo, nach Thuk. I 138; 36, 2 ay pddvora dei tots bx’ olxetav 
zooosuebouevors, nach Useners schöner Emendation, aber es war 
mit MBP tate zu schreiben, da zxgoouudfeoda. nur aktivisch ge- 
braucht wird u. a. 

Verwickelt ist allerdings die Recensio der Schrift über Lysias, 
die von dem Corpus losgelöst noch in einer Reihe von Hss. über- 
liefert ist, als deren Vertreter U. eine Wolfenbiittler (G) herange- 
zogen hat. Dieser Zweig der Ueberlieferung, der vielfach F nahe 
steht (s. vor allem 15, 2, Usener J. J. a.a. O. 152 f.), ist unstreitig 
nicht frei von Interpolationen, hat aber doch im einzelnen viel Rich- 
tiges, dem auch R. die Aufnahme nicht versagt hat, man vgl. nur 
21, 10. 23, 14. 25, 22. 27, 3. 30, 16. 32, 13. 33, 7. 38, 17. 19. 40, 2. 
10. 43, 11. 44,1 u.s.w. Richtig ist meines Erachtens auch 38, 10 
ixéceve in Verbindung mit nvrıßöisı, 39, 7 adrov, das ebenso nötig 
ist wie 12, Radermachers ägrı ist falsch, denn es ist lange Zeit seit 
Diodotos’ Tode vergangen und Kapitalien, die auf Seezins ausgelie- 
hen waren, pflegte man doch nicht auf lange Zeit auszuthun, 43, 4 
ist &BovAsto die bei Lysias übliche Form, 44, 4 ist émaoxer richtig, 
wenn man nicht eine Lücke annehmen will, s. die Bemerkung zu der 
Stelle (Lys. 32, 25) im Anhang der Rauchensteinschen Ausgabe. 51, 
13 verstehe ich nicht tig td wArjder negıyevijocre:, da man owrnol« 


1) Abgesehen von Quisquilien, wie 60,17, wo R. ohne Grund £orıv schreibt ; 
daß er 67,8 dagegen pi» für vielleicht richtig hält, verstehe ich nicht. 
Goth, gel. Anz. 1901. Nr. 2. 8 


106 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


unmöglich ergänzen kann, G hat richtig ri, und ebenso wenig kann 
ich 30, 14 navrös udAıora todro magexedevonpny aoxstvy td WEROS er- 
klären, es war mit G und Krüger wagaxedevoniuny (av) zu schreiben, 
vgl. 10, 1. 61, 8. 24, 16 schreibt R. reür« yap ei piv tr Övr Av- 
olac Eyoawe, dıxalos av énitiurioems a&cotro mit der Aldine, FMBP 
haben é&odre:, aber es scheint !) der Fall der Nichtwirklichkeit vor- 
zuliegen, also 7&ovro und davon find ich eine Spur in a@&otro in 
G. — Aber es bleibt bei G immer der Verdacht der Interpolation, 
die offenkundig 9, 5 vorliegt, wo v nach G gelesen wird ray éncye- 
voutvoyv ov noAlois rıcı xarddiner *) baxegBodAyjyv, &r’ Ev anaoas tats 
ldenıs tev Adyar ual wa NM ot ti ye taig gavdotarag evdoxtpar, 
denn ob te ye tate pavkordraıs wäre nur möglich nach &v zoddatls 
oder ä., vgl. 166, 7. In FMBP fehlt evdox:udy und statt &r’ steht 
ott’, R. schreibt otre xoAAois und nimmt hinter Adywy eine Lücke 
an, die er AA’ Ev rıcı xal momtevder ergänzt, aber der Gegensatz 
klingt nach dem vorhergehenden schwächlich und ist auch nicht üb- 
lich. Der Gedanke, scheint mir, ist klar: Lysias ließ nur wenigen 
die Möglichkeit ihn zu übertreffen und auch nicht in allen Arten der 
Rede, also ovd’ Ev andsaıs taig ldenıs tHv Adywv, aber vor dem fol- 
genden stehe ich ratlos, man könnte ja denken ‘und nicht eben den 
bedeutendsten’, aber es steht grade das Gegenteil da, deshalb ist 
auch mir der Ausfall einiger Worte nicht unwahrscheinlich, aber 
nicht ein Gegensatz, sondern eine Begründung ist nötig. 

Zum apparatus criticus gehören die Citate. Sie sind sorg- 
fältig verzeichnet, auszusetzen habe ich nur, daß R. ein paar Mal 
Maxim. Plan. oder Ioh. Sikel. anführt, wo auf ihre Quelle Syrian zu 
verweisen war, so 11, 4 Syr. I 10, 12, 12, 18 Syr. I 11, 23 und Syr. 
I 14, 3 statt W VII 880, 9 S. 127 u. 202°). R. brauchte auch loh. 
Sik. 57, 9 gar nicht zu erwähnen, denn auch dies ist aus Syr. ausge- 
schrieben und xal rag oxAngas!) rav Svupwvav geht allein auf Ioh. 
zurück, der auch in dem Fragment bei Syr. I 28 außer anderm hin- 
ter werapogä interpoliert hat un oxAno& (Deutsche Litteraturz. 1893, 
969); zu 130, 1—2 hätte noch einmal auf W VII 1049 verwiesen 
werden sollen, denn es liegt ein wörtliches Citat vor, zu 114, 18 auf 


1) Es scheint, sage ich, mit gutem Bedacht, denn recht geheuer ist mir die 
Sache nicht, ich halte es auch für möglich, daß duxedag 6n—dEıioüraı zu lesen ist. 

2) Dionys hat in dieser Verbindung immer das Compositum, wie schon Isokr. 
16, 34, der sonst (4,5. 110. 6, 105. 12,76) wie Dem. (3, 25. 23, 207) das einfache 
Verbum gebraucht. 

3) Uebrigens hat Syrian év me arm yapanıriomv. 

4) Ioh. hat ta oxdnoc, denn er sagt ta otpqpora. 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 107 


das yevog ‘Ioatov z. E.; 427, 12 fehlt der Hinweis auf das gleich- 
lautende Scholion zu Thuk. — Nichts zu thun mit der Schrift über 
Demosthenes hat die S. 127 angeführte Stelle W VII 96, 3 oder 
Pseudosyrian (Phoibammon, Rhein. Mus. 51, 50) 1 99, 18 6 Jıovvoros 
— roeig elvar yapaxıjods pyo, tov loyvov dv pwéooy Töv Köodr, 
vgl. Sadée p. 26. 

Wichtiger aber als die Stellen, an denen Dionys citiert wird, 
sind seine eignen Citate. Beide Herausgeber verzeichnen sie sorg- 
faltig') und geben die abweichenden Lesarten an, aber während 
Usener mit peinlicher Genauigkeit alle Abweichungen erwähnt ’), 
scheint sich R. im allgemeinen mit einer Auswahl begnügt zu haben. 
Um das erste beste Beispiel herauszugreifen, so fehlt zu der De- 
mosthenesstelle 109 außer anderm die Angabe, daß 17 2 Auußdvov 
hat wie MBP, und in andern ist es nicht besser 5), wie ich nach 
sorgfältiger Prüfung leider festellen muß*®). Diese Halbheit kann ich 
nicht billigen, hier heißt es alles geben oder — gar nichts, denn 
dann greift jeder, der sich für diese Fragen interessiert, zu dem 
Schriftsteller selbst, während er jetzt leicht glaubt, das gesamte Ma- 
terial vor sich zu haben. — Der bessern Uebersichtlichkeit wegen 
hätte es sich vielleicht empfohlen , die abweichenden Lesarten zu- 
sammenzustellen und vom eigentlichen Apparat zu sondern’). 


1) Anzuführen war noch zu 63,8 Is. Phil. 118, 64, 9 geht eher auf de pace 
37 f., 65,21 auf Areop. 20, 67, 14 auf Archid. 8. Zu 162,17 war zu erwähnen 
Isokr. 15, 65, zu 815, 19 Dein. I 43, 425, 12 geoßevaıs hat Thuk. I 73, 837, 
18—20 steht wörtlich ad Pomp. 773,10 ff, zu 282, 20 vgl. de comp. 8. — Da- 
gegen ist zu 68, 20 das Citat zu streichen. 

2) 348, 16 fehlt cj Ilelonovrioo 8. 

8) 221,20 in der Herodotstelle ist dg&re unverständlich, aber Herodot hat 
hoärs, also ist wohl &upäre zu schreiben. 

4) Anführen will ich doch noch, daß in der Phaidrosstelle 140, 14 ff. die 
zweite Hd. des Clarkianus (B) am Rande fast alle Lesarten aus Dionys verzeich- 
net (15 réyatdv 16 &yovor, xd ad om., Eaveng (écvty B) 18 doodeisav, Inıdv- 
play, doch wohl aus einer Dionyshs. heraus ? — In den Isokratescitaten brauch- 
ten die Lesarten von E nicht mehr angeführt zu werden, da E (durch das Mittel- 
glied 4) aus I’ stammt, Drerup de cod. Isocr. auct. 26 ff. 

5) Verdienstlich ist es, daß auch die Anspielungen notiert werden, doch 
bleibt hier noch einiges zu thun, 138,7 Eur. fr. 488 N, 189,7 Plat. Phaidr. 
2884, 250,5 Philod. rhet. II 94 Sudh., 358,19 Arist. rhet. HI 14 1415 a 12. 22, 
418, 19 Thuk. VII 14, Reminiscenzen am häufigsten an Demosth., so 12,19 c@ 
avy nöboow dsoxobyti—dqeoravar 9, 29, 138, 10 ottm anaıös und’ dvalsdntog 
18, 120, 247, 1 u6vov ob Yarııv dyıdvva 1, 2 (an Pomp. 755,8 vom Eigenlob 
5,4), vielleicht 396, 16 18, 204; ßaoxavov nal aanondes (411,20) stellt er 18, 108 
zusammen, fdoxavov nogäyue sagt er 18, 317 in Verbindung mit oıeiv, das dar- 
nach auch wohl bei Dionys einzusetzen ist. 

8 * 


108 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


Ich bleibe gleich bei diesen Citaten noch einen Augenblick 
stehen. Wie sind sie zu edieren? Ich denke einfach so, wie sie 
Dionys gelesen hat. Der Herausgeber des Dionys hat also die 
Schäden, die die Texte im Laufe der Jahrhunderte bis Dionys er- 
litten haben, ruhig zu belassen und nicht etwa aus der selbständigen 
Ueberlieferung zu verbessern. Und so ist es auch bei den Stücken 
zu halten, die in selbständiger Ueberlieferung nicht erhalten sind, 
der Herausgeber hat sie so drucken zu lassen, wie sie Dionys aller 
Wahrscheinlichkeit nach las, kann er dazu beitragen, den ursprüng- 
lichen Text des Schriftstellers herzustellen, so hat er das unter dem 
Text zu vermerken. Nach diesem Gesichtspunkt verfahren auch 
unsere Herausgeber, R. allerdings führt ihn erst im Verlauf der Ar- 
beit strenger durch; so schreibt er anfangs durchweg © ävöges dıxa- 
orac — nach dem Sprachgebrauch der Redner!) — £zeaıdr statt 
éxel, xooPvupet statt ngodvun, 102,11 (bei Isaios) EßBovAdunv statt 
nßovAdunv und druckt doch bei Lys. 34, 7 nßovAndn, 43,4 ABovisro, 
36, 10 ylvovraı — viol (aber bei Dion. selbst 63,11 yıyvöusde 17 
yiyveodaı gegen FM) 103,;5 viois und nimmt selbst an awsdvoero 
150,1 keinen Anstoß. Allerdings läßt sich nicht immer sicher fest- 
stellen, was Dion. gelesen hat. Einfach liegt die Sache, wenn die- 
selbe Stelle zweimal ohne Variante angeführt wird, z.B. aus Thuk. 
Ill 82, 3 av vr Enıysıondeov megıreyvioce 374,4 und 128,20, wie 
in den Hss. des Thuk. Hier kann über die Lesart kein Zweifel 
herrschen. Wenn also in der Besprechung der Stelle 374, 20 trav 
t’ éniyecorjoemy Emiteyvijoc steht, so ist das einer der gewöhnlichen 
Assimilationsfehler, und daran ändert auch nichts, daß es 375,4 9 
0 éxitéyvyotg heißt, gleichgültig, wie der Fehler entstanden ist, ob 
in der Erinnerung an das obige éacreyvijoee oder ob sich der Schrei- 
ber hier in der Abkürzung verlesen kat. M. Er. ist an beiden Stel- 
len xegıreyvnoıs herzustellen, wie schon Sylburg urteilte, aber so 
oft auch die Herausgeber grade Präpositionen verändern, hier sind 
sie Sylb. nicht gefolgt, vermutlich weil &xıreygvnoıs ein griechisches 
und von Thukydides gebrauchtes Wort ist, wäre ich will einmal sa- 
gen zagareyvnoıs verschrieben, so würden sie wohl gebessert haben. 
Wird aber eine Stelle nur einmal angeführt oder mehrfach, aber mit 
verschiedenen Lesarten an den verschiedenen Stellen, so ist die Ent- 
scheidung schwierig und man wird öfter verschiedener Meinung sein 
können. So würde ich z.B. aufnehmen 79,16 &xAsEcı 80, 11 ra tev 
veotég@y (wie vorher ta tay ngeoßvregwv) 82, 5 Tüv stato tis 


1) In der Schrift über Deinarch 311, 15 heißt es nur lege & &vöges ’Adnvaioı, 
mit Unrecht, wie jetzt ein Blick in Formans Index zeigt. 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 109 


eloerjvng 82,14 Eıevas (nicht éeivor, das gar nicht so gebraucht 
wird; wie oft ist ¢évae und eivaı verwechselt, z.B. 38,17) 84,5 &dv, 
wohl auch 89, 20 og (= 91,19) 98, 14 xegoeevxdeno« (mit Buermann) 
153, 24 éxavijAdouey aus M wie Dem. 155,14 ds xal Övoudkenv dx- 
vicar (dv Ev vuiv) (vgl. bei Dem. A, mit dem Dion. am meisten 
stimmt) 193,1 ndewg elxocev tuty av Außövres 198,1 dxovnzi 200, 7 
xacaynpretofe (Tov)öl, huaeryxevar Ööbere 223,1 N 67 Tiuiwrden 
eivaı voutterca (Hön Tumwrdınv 7) MBP) 245,11 adore und! ... 
dadıov sivaı (mit Sylburg, denn bei 7 ist unde fehlerhaft) 351, 13 
tis betegatag 407,12 Zonuov (wie auch einige Thukydideshss. haben), 
auch wohl 34, 3 éxae’ aurovg plAoıg (vgl. 35,7 plAoıs Ta xaQdypara 
erıtoenovres, wenn auch Lysias zoig plAoıs schrieb). Fraglich ist, 
ob Dionys in dem freieren Citat 55,7 xal moAırıxöv, ebenso ob er 
221,7 xal xogooextijoavto schrieb und 183, 3 roVroıs, es steht nur 
in P, B hat es am Rande, M hat eine Lücke von 6 Buchstaben; 
aber es fehlt Z. 9 und in M sind öfter Lücken, ohne daß etwas 
fehlt, so 201, 2. 215,12. Unverständlich ist 193, 19, wo es éxipa- 
vEeoregov (xoret tov) Eyovra heißen muß, wie 395, 8 duveépes und 
416,17 7, das U. aus ef M eis P gemacht hat. 

Damit bin ich denn schon zur Emendatio gelangt. Unter 
sorgfältiger Benutzung ') ihrer Vorgänger haben beide Herausgeber 


1) Contecturarum semper primos auctores indicare studusmus kann Us. p. XLI 
mit Recht sagen, aber wie es so geht, auf dem langen Wege von der Durch- 
arbeitung und Excerpierung der Litteratur bis zur Drucklegung und Korrektur 
schleichen sich trotz aller Sorgfalt leicht wieder Versehen ein, die der Recensent 
mühelos bessern kann, so 24, 15 öusig corr. Francken (comm. Lys. 221) 26, 12 
xoloıw Blass (Att. Bereds.! I 393, Anm. 2) 28, 2 aörög schon bei Sylburg 42, 2 
xal eig add. Scaliger 44, 21 waga Sylb. (mit Unrecht, vgl. Anhang zu Lys. 32, 27) 
46, 17 xiotrmy 48,3 wegl Reiske 50,3 odre obofe schob schon Sauppe ein (der 
Zusatz rg nwolıreiag ist hinter odod« störend und auch nicht unbedingt nötig, 
vgl. Plat. Menex. 2384; übrigens ist Marklands ofte xlovrm ebenso gut, s. Eu- 
polis 117,5 K. Plut. Perikl. 9, erwägenswert scheint mir auch Sluiters ézode- 
nöwevog) 51,11 égotor Sluiter 54,17 xvegudrara H. Wolf (73, 1 zöroıg habe ich 
bei Sylb. nicht gefunden) 97,3 corr. Reiske 105,7 slo«ysı und 180,4 roörov 
Bodl. mg. 113,7 roöro 114,19 wooodger 118,8 &ravrag Sylburg 116, 20 eloayayov 
Schömann 120,18 an aörois dachte schon Reiske, der aber «trol mit Recht 
verteidigt, 142,6 @oa» Schneidewin 142,18 dAiAnyool« Sadée 143, 1 post Sylbur- 
gium 149, 14 loyv6» ist als Lesart des Paris. bei Becker notiert 182,4 & Idéroy 
Reiske 203, 1 Vliet post Reiskium 205, 4 hiatum detexit Sylburg, wieauch 211,11; 
er vermutete auch schon 206,4 £nloövres 210,21 duoravaı und 215,18 abray 
Reiske 244, 17 oyjuare <ra> Sadée 251,2 nach Blass 252,11 évfore trav Sadée 
275,19 eloıv Morellus 278,5 xal—Nexavogae und 8 7 del. Reiske 299,9 odd% 
derselbe 306, 6 ag Zucker 312,6 Kngyıooyürrog Sylburg, der auch 320,9 die 
Lücke fühlte 321,3 tod ta Anolo» Reiske 346, 16 Kruegerus post Reiskium 353, 1 


110 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


überall einen lesbaren Text herzustellen gesucht, beide sich gegen- 
seitig unterstützend und fördernd mit schönen Emendationen, be- 
sonders zur Herstellung der Schrift über die alten Redner hat U. 
viel beigetragen, s. z.B. 22,22 uiuovwevns 25, 14 of Adyoe 30,15 
éy rois 112,13 wedayloy u.s.w. Natürlich finden sich auch einige 
Vermutungen, die weniger einleuchten, z.B. heißt es von Lysias 8, 9 
Össrelssev adırddı moAıtevöusvos Ev sbrogla noAAjj xal were tis 
Svupopäs tig xatacyovons ’Adnvalovg Ev Linedia, wo R. nach U. 
schreibt xal (madevöusvog mage Tiola re xal Nixie): ich will gar 
nichts davon sagen, wie bedenklich es ist Nikias hier einzusetzen 
(Spengel artium script. 38), die Ergänzung ist so wie so unmöglich, 
erst kommt doch das zadevecdu, dann das noAırevecdu,, und so 
gut duerédsosy xoditevduevog zu dem folgenden paßt, so wenig 
stimmt dazu dser. mardevdwevog. Bei Pseudoplut. 8354 xdxer die- 
ueıve wardevdpevog naga Tile xal Nixia tolg Zvpaxovaloıg xtyoa- 
wevds 7’ olxtav xat xArjoov tuyav énoditevoaro Ewg urd. ist soweit 
alles in Ordnung. Der Ausfall eines Adjektivs nach zoAA7j ist nicht 
wahrscheinlich (Sadée p. 197), auch wohl nicht eines Substantivs wie 
zegiovaie, 80 daß xal am besten mit v gestrichen wird; die Partikel 
ist ja oft eingeschwärzt, 47,11 ö2 xai F 98,2 xal dıxalos F 56, 1 
xat del. Corais. Ein ähnlicher Fall liegt 91,9 vor: % re pdg ae- 
olodog Exummvveroı xul . . . XEga tod dixavixod tedxov xal N ovv- 


éecd7} und 6 &rne Sylburg, der auch 358, 7 droxempdusvov vorschlug 360,4 
distinguebant <ante Kruegerum> 360, 19 die Lücke vermutete schon Reiske 362,1 
Övouarıxög Krüger 377,3 suppl. Sadaeus 433, 12 sah Krüger schon das Richtige 
436, 7 dpleo®aı Poppo. — Anschließen will ich gleich die Berichtigung der paar 
Druckfehler und Versehen, die mir aufgestoßen sind: im Text 51,10 Kolon statt 
Fragezeichen 81,22 diarideohe 142, 14 xevémory 183,1 Fragezeichen statt Punkt 
213,4 edevßuo» und im Apparat zu 16,22 Matthaei, wie dieser erst neulich als 
Dieb entlarvte Gelehrte auch sonst des einen t beraubt ist, wie Gomperz 186 
damit beschenkt; 73 Philod. I 83,10 muß vor fyouey 11 gestrichen werden 93, 6 
l. Idyou rıvav 95,16 obve év taig 98,4 ungenau und am besten zu streichen, 
denn 596 (100, 10) haben alle Hss. und 100, 18 nicht bloß P! undelg (Sadée 121) 
102,3 Sera ye ohne ody Dobree 110,15 1. ex iudicio de Dem. 113, 23 war vor 
Blass Reiske zu nennen, der und’ ay wg schrieb, 122,14 führt die Angabe über 
Nevoixedrns irre, so heißt er m. W. nur Plut. Kim. 19, wenn es derselbe ist 
136, 8 d&vadxeotégany 141,19 1d adrod 144, 14 roıaüra 159, 12 1. 5] xad D, 186 
zu Z. 11 1. 2478 200,9 odn £orıv, obx forey 214,14 Evveßnoav 224, 22 hinter 
zgovota« fehlt D XI 15 226, 10 fehlt roig plAoıs 231,21 ist es grade umgekehrt, 
Sylb. schrieb dmournperiouöv mit der Bemerkung: tn exemplari est drnournuen- 
xnav: minus apte 236,15 zegıleındusvov nagalsınöusvov 237,11 p. 589, 247,2 
-magévtervoy, 271,19 od 300 fehlt 9 vor tmogdpevog 13 Bodleiano 16 p. 310, 
316,20 rob devagzetov 366,17 ngosbayaydusvor 426,13 +d vor wmeadvrog zu 
streichen. 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 111 


Deoıg Exer te vow xotntexov xtd., wo der symmetrische Bau der Pe- 
riode es mir rätlicher erscheinen läßt mit H. Wolf «ai zu streichen 
(vgl. 344, 2. 70,9. 58,21) als mit R. eine Lücke anzunehmen !). 
Einige Vermutungen Useners hat R. in den kritischen Apparat 
verwiesen und mit Recht, aber bei Usenerschen Konjekturen ergiebt 
natürlich eine nähere Erwägung stets einen Gewinn. Ich nehme die 
erste beste Stelle. Dionys will die lysianische Beweisführung dar- 
legen und beginnt (30, 20) &e&oum dt dnd Tüv xalovusvov evréy- 
vov mi6temv, Spricht aber eben nur von diesen &vrsyvor zioreıs, 
ohne der äreyvor mit einem Wort zu gedenken; deshalb vermutet 
U. dexéoopar 6: za rüv xrA., entschieden unglücklich, denn es müßte 
dexesPyoouce heißen (170,17. 327,17. 27. 328, 24. 336,20 u.s. w.) 
und Ady wäre auch wohl nötig, aber die Konjektur weist doch hin 
auf die Schwierigkeit, die wirklich vorliegt; sie zu lösen giebt es 
m. Er. nur einen Weg, man muß eine Lücke ansetzen, wie schon 
Spengel Artt. script. 159 Anm. erkannte, und zwar ist die einzig 
mögliche Stelle hinter dem Abschluß der Besprechung des künst- 
lichen Beweises, also hinter &wı&nreiv xaga Avoiov 32,1, und sieht 
man genauer zu, so weist hier auch der Zusammenhang auf eine 
Lücke hin. Es kommt nämlich 1d dvaxspaiuımrındv tev Ontévrav 
wEgos, von dem vorher gar nicht die Rede war, ganz unerwartet zur 
Sprache; das wird viel klarer, nimmt man einen Ausfall an etwa des 
Inhalts: Was den unkünstlichen Beweis angeht, so versteht er es 


1) Schwierigkeiten macht xal auch sonst noch: 56, 20 7d re cages Exelvn (der 
Sprache des Lysias) maperinoıov Eyeı nal 1d Evaoyss, Bin TE gore nal nıdann. 
xual orgoyydin dt obx Eorıv interpungiert R. richtiger vor orgoyyvAn, zieht xed 
zu dem vorhergehendeu und ergänzt zeéxovee (vgl. noch 95,1), aber ebenso gut 
möglich ist ndsi«, vgl. 135,9, vielleicht aber ist auch xa) zu streichen, Zosimos 
wenigstens, der die Stelle ausschreibt (Westerm. Bıoye. 257,21) hat nur caer tij 
Aékee nézyonrar xal Aınj nal mıdavj, oreoyyvin d’ 06x Eorıv. Aehnlich ist auch 
171, 23 f. radra (nagıoa u.s.w.) dd rüs doyüs Ews tEdevttis xdxd@: nal roowal di nel 
peraBolal nal momıllaı oynuarov, & nepune Adery roy tis dıavolag xdxo0v, obda- 
pod. Auch hier verdient R. Zustimmung, daß er xa) abgesondert hat, aber sei- 
nem xexvxlwxe kann ich keinen Geschmack abgewinnen, der Satz ist ohne Ver- 
bum viel nachdrücklicher, xdx4o erscheint mir durchaus angemessen und ent- 
spricht im folg. oöd«uoö, xal wird darum auch hier zu streichen sein, wie es R. 
225,12 nach B gestrichen hat. — Zur Bildung eines Perfekts benutzt R. xe 
auch 23, 23, wo xaragıduei “al überliefert ist, aber das Perf. ist hier un- 
passend, und da Marklands xaragıBusiraı wider den Sprachgebrauch ist (R. im 
Rhein. Mus. 50, 475), so wird auch hier xa zu streichen sein. — Dagegen 
nehme ich 170,11 aorzsg xal Baoleds 6 ueyas an xal keinen Anstoß, mag es 
auch in der Isokratesstelle fehlen, es ist das bekannte xal des Vergleichs, das 
man setzen oder weglassen kann. Anderseits will es Vliet 165, 22 ef tg Kin 
mit Unrecht einsetzen, vgl. z.B. Plato Euthyphr. 164, Krüger im Ind. s. &AAos. 


112 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. - 


die Zeugenaussagen u.s. w. vortrefllich und klar zu rekapitulieren 
(évaxepadcovv). — Mit Unrecht nimmt U. Anstoß an 47,2 (= 
Lys. 33,3) dvdgdg dyatod xal noAltov noAAod dklov, er vermutet 
statt xoAdod nmdAswg, aber xodAdod hat Lys. bei &ıos, das er absolut 
nicht gebraucht, auch 10,3. 15,1, es müßte auch rig mdAsmg heißen. 
— Auch 237,17 ist Useners ovdé yag unnötig, das argumentum ex 
contrario wird häufig durch ov ydg dn eingeleitet, s. Gebauer de 
arg. ex contr. form. p. 91 und bei Dionys selbst 241,17. Aber R. 
hat durch die Interpunktion den Bau der Periode verschleiert, xAc- 
oraı uty xal Eoypdpmv natdes entspricht Adyav df 238, 1, durfte 
also nicht durch einen Punkt davon getrennt werden, und hat man 
das richtige Zeichen gesetzt, so sieht man sofort, daß mit B &g« zu 
schreiben ist, wie 241, 22, Gebauer a.a.O. 323 '). 

Die Interpunktion läßt überhaupt einiges zu wünschen 
übrig. Ich will gar nicht davon reden, daß öfter Zusammengehöriges 
durch die stärkste Interpunktion auseinandergerissen wird, wie Lys: 
c. 2 Schluß und 3 Anfang, aber man sehe Sätze wie 234, 16 ff., wo 
die zwei von evguoxe abhängigen Glieder gy te tats wetaBodats (22) 
und 6 re 07 (235, 1), und in dem nächsten Satz die korrespondie- 
renden Sätze dxdre uty — dadre d& durch Punkte getrennt sind. 
Durch solche Zeichensetzung wird das Verständnis erschwert statt 
erleichtert. Ich füge noch ein paar Beispiele an: 304, 9 gehört 
hinter éx@éo%a: ein Kolon, die folgenden Glieder (11. 16) werden 
am besten durch Kommata getrennt ?), gradeso wie 306, 24 ein Kolon, 
307,5 ein Kolon oder ein Komma stehen sollte. 318, 9 würde ich inter- 
pungieren ‘Axohoyla aAnyav (Ede O° Enıysygdpdaı ‘Anodoyia bBgews) 
und ähnlich mußte 161,5 der Satz 1d ydp dxgußts — dxocs?) in 
Parenthese gesetzt werden, da ot d& zoAırıxo/ den vorhergehenden 
Gliedern in Z. 2f. entspricht. Gradezu unverständlich ist der An- 
fang der Schrift über Deinarch bei R., man schließe 297, 13—14 
zavrav — 6ntogıxnv in Klammern ein und setze darnach ein Komma 
oder meinetwegen ein Kolon, und alles ist in Ordnung *), wenn auch 
der Satz nicht zum besten geraten ist. Von Radermachers Vor- 


1) Umgekehrt ist 182,5 die Fragepartikel dee erforderlich, wie 235,21. In 
&v ist &o@ verschrieben Plut. mor. 777> cf ody Ede Akysıv roy Ilavalnıov; ef 
piv fs 7) Barov  Iodvdevuns — — Gopevog &v oe xeocedebauny nal ovvijy: 
éxel 6’ vldg uty Alpttlov Tlaviov — — obn &ea oor diadégopen ; 

2) Z. 18 genügt es wohl wore in ag ye zu verändern. 

3) Hier ist mir das zweite öyAneäs diaridnoı sehr verdächtig; wollte Dionys 
ein Verbum setzen, konnte er z.B. &voyAlsiv (397,20) nehmen; &xooteémery rag 
&xods ist schr gewöhnlich, z.B. 171, 11. 398, 13. 

4) Nur daß vielleicht mit Reiske &vayxaıdrarov zu schreiben ist, 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 113 


schlägen verdirbt eivaı statt ofua: den Gedanken und @smgay statt 
dt Öe@v ist überflüssig und mit Rücksicht auf d9@v Z. 6 unwahr- 
scheinlich !). 

Doch es ist an der Zeit, auf Radermachers Gestaltung des Tex- 
tes selbst einzugehen. R. besitzt bekanntlich neben großer Belesen- 
heit und sicherer Kenntnis des Sprachgebrauchs hervorragenden 
Scharfsinn und außerordentliche Leichtigkeit im Konjicieren ; diese 
Eigenschaften sind denn auch dem Text des Dionys sehr zu statten 
gekommen, indem er eine große Anzahl von Stellen aufs glücklichste 
geheilt hat, um nur ein paar hervorzuheben 14, 13 ye Aevxüs 18,9 
xan’ long ydéeug 68, 21 Taxıvöuvo 82, 9 xal goedu 100, 10 ro getilgt 
151,6 udarıya Tiovg 177,23 dymyov *) u.8. w. Aber des Menschen 
Stärke ist auch seine Schwäche, R. tastet öfter die Ueberlieferung 
ohne genügenden Grund an. Z.B. 72,19 ueugerus tijg xevdrnrog 
tavtnsg xal Tod Yogrıxodö schreibt er 7’ adrijg, was ich nicht ver- 
stehe, während tavrng recht gut paßt: die xevdrns, von der hier die 
Rede ist. — 74,18 dvrisıtar yag IN addy xdvradda streicht er 
mit Unrecht yée, Dionys leitet seine Bemerkungen zu einem Citat 
oft mit yég ein, vgl. auf derselben Seite 9. 14 oder 375, 25. — 
96, 22 billige ich die Aenderung von Sdov in olov, aber x«l durfte 
R. nicht in x«r« ändern, réde kann nur auf das folgende gehen, zu 
dem Gebrauch von wéoog vgl. 106, 22; hält man aber x«i, so ist es 
am einfachsten mit MBP 21 gyo¢ zu schreiben. — 133,12 in dem 
Fragm. des Thrasymachos ist es üble Gleichmacherei, wenn R. & 
roAkum yevéotor xal did nıvddvov in xal xvddvm ändert, sagt doch 
Thuk. ähnlich dia pdBov eivaı VI 34. 59, Herod. dv? fovytng sivaı 
I 206, u. 4.m. — 149,15 nimmt R. hinter $nAorov eine Lücke an, 
weil auch zu sagen wäre cuinam £mAmrds, aber das Wort wird von 
Dionys öfter absolut gebraucht, so 398,15. 418,1. — 158,14 row 
6nTogıxod yEvovg tod ueraklv tüv äxgmv éxarégov schreibt R. &xare- 
ewv; daran ist Sadée schuld, der sich p. 225 mit dem Ausdruck ab- 
müht, natürlich hängt trav &xowv von werafv ab, zur Erklärung vgl. 
de comp. 147,1 eire xara rim orégnow TÜV dxewy éxatégas, eite 


1) Auch 423,5—8 (= 361, 22 ff.) xal abröv—Alynraı sind wohl in Klammern 
einzuschließen, es ist eine nebensächliche Bemerkung, für die auch später keine 
Beispiele beigebracht werden, dann braucht man darnach kein Part. einzuschieben. 
Dionys schachtelt gern ein, das stärkste Beispiel ist 435, 4 ff. 

2) Dagegen scheint R. im folgenden das Richtige verfehlt zu haben, denn 
dr) ra» wird durch den Nachsatz 7 mov röre dxegqeées te nal deıvbv zofuu Tv 
nl ro» éxetvov Ady geschützt, wozu hier ein Gegensatz verlangt wird, 
av drdodrwy ist zudem ein müßiger Zusatz. Schrieb Dionys vielleicht éx) tay 
yoanıar ? 


114 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


xata ulEıv und 6 xal év Adyoıs 5 wéoos Exategov tüv a&xewy isov 
dpeoınaev. — 168,4 haben die Bücher &x ra@v dvoiv, R. schreibt 
&x toty Övoiv, aber dvotv ist gegen Dionys’ Sprachgebrauch, 8. Sa- 
dee p. 65 n., es mußte also bei ray Öveiv v bleiben. — 179, 23 xal 
EX avto IN ro&yoner to wépog und nunmehr wende ich mich u.s. w., 
warum also rod? für 62}? aber stärker interpungieren würde ich vor 
wot. — 192,1 wird vetpat todg xagxovg geschützt durch das un- 
mittelbar vorhergehende £Evsıusv aur«. — Unverständlich ist mir, 
warum R. 206, 7 &xaydeis in dneydeis geändert hat, das gar nicht 
zu xoAsuovg paßt, denn dazu kann man es doch nur beziehen. — 
236,7 giebt Dionys auf die aufgestellten Fragen die Antwort olopaı 
uty otras, xal Ödkev Enısıxij xegl tov &Ada@v éyo. R. schreibt statt 
dessen olouaı piv ovv, d&g und verweist auf 107,19, aber die Stelle 
ist grundverschieden, dort der Abschluß einer Erörterung, hier die 
Antwort auf eine Frage, wo gewöhnlich keine Partikel oder yap, 
niemals ovy steht. Für oörws kann ich kein Beispiel beibringen, 
aber wenn Dem. 8, 18 sagt 2y& piv oiucı tovro, warum soll nicht 
Dionys jenes gestattet sein? — 237,5 ei dx tig dg’ Evog rovrav dEıim- 
Oe tov yapaxınoa oxomeiv Schlägt R. &p' vor, aber Dem. 2, 27 sagt 
er’ avtayv tev Egyov xoivavras und Thuk. III 38,4 ta uellovsa 
Eoya dad tay sv elxdvrmy oxoxodytes Os Övvara yiyvsodaı. — Den 
Abschluß seiner Erörterung über den Vortrag Demosthenischer Re- 
den beginnt Dionys 247, 6 ovx Zvssuv dddyou Emov wuz Eyovra 
xrd., R. hätte keinen Fragesatz herstellen sollen durch die Aende- 
rung ovxoty gory, Evearıv ist außerdem gesichert durch raür« éve- 
or 246, 22. — Zu Zypape 249,19 vgl. 260, 12, woran U. keinen 
Anstoß genommen hat. — 117,6 (= Isai. 12,4) ist viel herum ge- 
ändert, Reiske schob &uoö hinter bua ein, Sauppe zur nach rip, 
R. schreibt guot ydg ovGelg av, aber dadurch wird &uoö, das über- 
dies in dem vorhergehenden Satze unentbehrlich ist, viel zu stark 
betont. Es läßt sich am Ende doch die Ueberlieferung halten, vgl. 
Dem. 18, 10 ei uty fore we torcodtorv, oloy ovtos Jruäto — pdt ga- 
yyy dvaoynode. — 316, 11 ändert R. aurös in avrovs, aber 6 Agyav 
erfordert kein Objekt und das Part. a» steht nach meinem Gefühl 
so zu nackt. R. hat sich wohl daran gestoßen, daß es im folg. &r- 
teou£vog!) zoAAdxıs aurög heißt, aber der Fehler steckt vielmehr 
hier, man muß mit Reiske ag avrog schreiben. 


1) Dies Part. gehört natürlich zu xal &v (dois xal Ev Snpoctorg dyacır, wie 
iv Guacw Zinraousvog Eoyoıs &yaßois Archäol. IX 33,2. Ich führe dies nur an, 
weil R. 122,2 déracty ixavyy év toig évaywviorg Sedwxdta loyors nicht versteht, 
das ist aber nur ein etwas gespreizter Ausdruck für éénraopevoy ixavas bv trois 
!vayavloıs Adyots. 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 115 


Damit habe ich schon eine Stelle behandelt, wo R. durch eigne 
Vermutung zu bessern sucht, während das Richtige schon gefunden 
war; das ist noch öfter der Fall: so verdient 10,8, wo er &gunvel« 
einsetzt, Sadées Adtıs den Vorzug, vgl. 14,10, Epunvei«x gebraucht 
Dionys in weiterm Sinne 9,11. 13, 11. — 41,23 vermutet er unwahr- 
scheinlich öxwg yodyeıs statt des technischen öroı toépere. — Statt 
170, 2 Sylburgs orgoyyvA@regov aufzunehmen, will er zxovety statt 
eineiv schreiben, während Dionys in solchen Fällen den Aor. ge- 
braucht, 8.168, 4. 18. 169,7. — 176, 24 eirs tüv daıudvov avevnarı 
evro ändert er in adröv, wogegen die Stellung spricht, deshalb war 
es richtiger mit Sadée ra dauudvav zu schreiben, oder noch besser 
(ta) tav. Auch die Lücke vor eire Axoıs ist unnötig. — 185,19 
ist dvrixsıraı infolge des vorhergehenden zagaveos: in xagdxettar 
verderbt (Sadée p. 233), R. aber schreibt dvrınagaxeıraı, was ich mich 
nicht erinnere bei Dionys gelesen zu haben, so oft er auch dvrına- 
oarıdevaı gebraucht. — 224, 3 änderte Sylburg das unverständliche 
dınıg&oens in rpouıg£sens, R. zieht alpgéosmg vor. — 241,9 raüre 
yao Evvondsin kv, el tug ein xouıdi; oxards 7) Övaegıs setzte Reiske 
un hinter el ein, vgl. 94,7, R. verwandelt unwahrscheinlich ein in 
die Negation. — 300, 1 mißbraucht er den harmlosen Schreibfehler 
Öıereisxev dazu mitten in der Erzählung das Perf. diarereicxev 
zu schreiben statt mit v dıerdAssev; die Fleckeisens J.J. 1895, 245 
beigebrachten Stellen sind wesentlich anders, z. B. Isokr. 15, 128 
zen Steatnydy ügıorov voulkev, obx ef tig pia rum tnAınoürdv 
te xatogdtwmoerv Honxeg Avoavdgos, dAR Borg éxt noAlöv xal 
xavrodanay xal dvoxdiov noayudtav deda¢ del nodırwv xal voüv 
Eysvtmg Oraretéhexev, 8xeg Tıiuoden ovußeßnaxev oder Dem. 
18,203 ovx Av tad®? wg fouxe rols ’Admvaloıs xeérge odd’ dvix 
od Euquta, odd AOvyysy namore thy nod ovdels ex navrög 
tov xodvou xeioar — GA’ dyavıfoucvn nepl xowreloy xal tips xal 
ÖdEns xıvövvevovsa navıa tov al@va dOearertédexe oder — 
doch die Stellen, übrigens alle aus Reden, sind zu lang, als daß 
ich sie ausschreiben möchte, was R. selbst daraus anführt, genügt 
nicht zur Beurteilung, ich kann nur sagen, daß es bei keiner ein- 
zigen so liegt, daß das Perf. einfach mitten zwischen Aor. stünde, es 
bezeichnet überall den Zustand der Vollendung der Handlung in der 
Gegenwart. — 307, 7 hat F wevérmoay Ev roig Ösıvdgyoıs, ein ge- 
wöhnlicher Assimilationsfehler, wofür v &v rots Asıvapyov hat, wie 
Dionys auch sonst sagt (306, 16. 23), R. schreibt lieber &v rote de- 
vopysiois. — 303, 18 dcovg zbgioxouev nosoßvregovg tovrov Tod 
Eeyorros tovs Yegousvovg Eis aurdv Adyovs hätte es genügt mit 
Reiske tovg zu streichen, vgl. 314, 10 of .. xgsoBuregoe Tg dxwis 


116 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


avrod pepduevor Yevdeniygapoı elo adrdy Adyor ; hier tilgt allerdings 
R. eis aurdv, aber die beiden Stellen stützen sich gegenseitig. Dazu 
kommt, daß Adyovs geradezu unentbehrlich ist. Im folgenden war 
dann das korrupte &v rolg odoivng mit Sylburg in &v rots yyneloıg 
zu ändern, in eldvora: steckt wohl ei tg Hıjosraı. — Mit Sylburg 
war auch 305, 4 Zorı wév zu schreiben, mit Sadée 308, 4 &v ebecoxowwto 
u. dgl. m. 

Auch sonst hat R. Besserungen seiner Vorgänger mit Unrecht 
verschmäht, ja öfter gar nicht erwähnt. So 9,23 Sadées ravryy 
(civ) doerhy, vgl. 12,2; 13,3 Marklands N udAıara i} ovdevds Arrov, 
denn mag auch 7) udAıor« quam maxime heißen, so kann es doch 
unmöglich in einem Atemzug mit oddevdg nrrov verbunden werden; 
26,1 Sylburgs ye, denn daß xal — de so weit auseinander gerissen 
werden können, ist erst zu beweisen. — 48, 14 wundert es mich, 
daß R., der doch sonst mutig viele Lücken ausfüllt!), Baiters treff- 
liche Konjektur zig yag ovx av (dyavaxınias)ev do@v nicht der Er- 
wähnung für wert hält; auch war 318, 17 Meursius’ sehr wahr- 
scheinliche Ergänzung (/Tpög ’Avrıpyavyv) xegl tod txxov zu erwäh- 
nen. — 98, 20 lautete der Titel der Rede ündo Depevixov pl, 
wie Bekker richtig schrieb, 312, 11 »egol trav ‘Aonadsimy. — 146,7 
hätte Sylburgs éye Aufnahme verdient, 158,5 Reiskes «ör«, wie 
Usener 273, 12 geändert hat. — 160,15 nimmt R. eine Lücke an, be- 
achtet man aber den Schluß des Kapitels, der auf den Anfang zu- 
rückweist, so ist es sehr wahrscheinlich, daß zu lesen ist tov yage- 
ution poédvora drodsyouaı‘ el ÖE vis pw’ EZooıro thy alréav, wie schon 
Reiske vorschlug, vgl. auch 123, 21. — So unsicher sonst die Her- 
stellung von 210, 12 ist, Sylburgs wzdatéme ist richtig, ebenso wie 
244, 1 tig bxoxgloems 7) xexdounxe, &s ist Dittographie. Aehnlich 
scheint mir og auch 212, 21 raparinpauası tüv dvoudtoy ovx 
dvayaaloıs oo mods thy Üroxeıuevnv Öıdvorav yoouevag aus der 
vorhergehenden Silbe entstanden zu sein, vgl. 215, 20. — 230, 2 er- 
klärt R. &v alg scil. dinynoscıv und ähnlich urteilte schon Reiske, 
aber so bedenklich es ist einem so trefflichen Kenner des Sprach- 
gebrauchs zu widersprechen, ich sehe keine Möglichkeit, wie sich 
aig über das dazwischen stehende wioreıs hinweg auf dınyresıs be- 
ziehen kann, es ist nur eine Assimilation an das vorhergehende 
éyoveug und mit Sylburg in ois zu verbessern, entsprechend dem 
ols Z. 7. — .235, 14 war Krügers sehr ansprechende Vermutung 


1) Falsch 184,19 éxrvjoaro El copia, denn dvoue xrächeı sagt man nicht, 
außerdem ist die Ergänzung zu groß, die Lücke in M faßt nach Sadée p. 219 11—12 
Buchstaben, XXI bei R. scheint ein Druckfehler zu sein, ich habe mir seinerzeit 
aus Useners Apparat 11 notiert, also ist wohl zu schreiben éfozev, 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 117 


uaetvootvra wenigstens zu erwähnen. — In dem Bruchstück des 
Philochoros 302 oben, über das U. v. Wilamowitz Herm. 34, 624 zu 
vergleichen ist, läßt sich die eine Schwierigkeit am besten heben, 
wenn man hinter ré dyum — mit Reiske, wie ich nachträglich sehe 
— thy Eisvdegiav einschiebt, s. Diod. XX 46; anstatt des falschen 
Baotdeds ist vermutlich ‘4vrıydvov zu schreiben. — 304, 4 läßt sich 
dvodgioroy nicht verteidigen, es ist nicht von der ganzen Gattung 
die Rede, daß überhaupt der Charakter schwer zu bestimmen ist, 
sondern von dem einzelnen Deinarch, also dvodgiotos, wie schon 
Sadée und vor ihm Reiske vermutet haben !). 

Ein paar mal dagegen hat R. fremde Vermutungen in den Text 
gesetzt, wo die Ueberlieferung zu halten war, z.B. ist in der schwie- 
rigen, auch von R. nicht geheilten Stelle 12,5 nicht mit Recht mit 
Taylor «xaıgoAoyiag statt dxvpoAoyiag geschrieben, denn davon ist 
hier überhaupt keine Rede, während inc. 3 des längern auseinander 
gesetzt ist, ein besondrer Vorzug des Lysias sei seine dıa tay x v- 
gtav re xal xowdy Astıs. Unnötig ist auch in dem Lysiasfragm. *) 


1) Inutili coniecturarum mole adnotationem onerare noluimus heißt es p. LXI, 
aber die Auswahl ist doch immerhin subjektiv; ich hoffe im vorstehenden meh- 
rere zu Ehren gebracht zu haben, die R. gar nicht erwähnt. Dagegen hätte er 
andre fortlassen können, so 70, 22 Sylburgs rot xal Auzfjocı, die auf Mißver- 
ständnis beruht, denn von Isokrates’ tropischem Ausdruck sagt Dion. 56, 20 
aenparaı ovuuerems, dagegen von den Gorgianischen Figuren, den Anti- 
thesen, Parisosen u. dgl. 58,2 Aunei nollaxnıs nv Alinv nataoxevi}y TEOOLOTE- 
pevog tais &xocis. 

2) = fr. 75 Sch. Dies treffliche Stück lysianischer Erzählungskunst hat 
durch die Ungunst der Ueberlieferung besonders schwer gelitten, es enthält 6 
größere Lücken, deren Ergänzung durch bloße Vermutung unmöglich ist. Nun 
hat es aber I. Bekker in einem Kommentar des Iohannes Sikeliotes zu Hermo- 
genes zeol edpfoewg entdeckt und daraus die Lücken vervollständigt. R. ver- 
weist diese Lesarten zum größten Teil in den Apparat, er scheint ihnen nicht 
zu trauen, und in der That 19 ddenjdn Tasıv abrdy dl xdpov, das Bekker und 
Scheibe anstandslos aufgenommen haben, kann Lys. nicht geschrieben haben, 
aber tilgt man aérdv, so sehe ich nicht, was noch Anstoß erregen könnte. Und 
warum sollten die Lesarten nicht auf Ueberlieferung beruhen ? Mag Ioh. selbst 
das Stück Dionys entlehnt, mag er einen ältern Mittelsmann benutzt haben, in 
beiden Fällen kann doch die Hs. des Dionys unversehrt gewesen sein. Kleine 
Fehler stecken allerdings fast überall: 15 ist nicht bloß wore einzusetzen, son- 
dern mit Scheibe &0®’ dr’, dann aber ist natürlich im folg. 6a» unmöglich, doch 
scheint mir eldev angemessener als Radermachers xar&luße, und zuletzt ist mit 
Cobet ofxefov rleras zu lesen; dAlNloıs aber, das Ioh. Z. 17 hat, möchte ich 
nicht mit R. in &AA7jloıv Ändern, denn diese Form ist m. W. den Rednern fremd. 
Es wäre übrigens erwünscht, wenn jemand in die Schrift des Joh. (Par. 2922, 
Walz Rhet. Gr. VI p. VIII) gelegentlich Einblick nehmen wollte. 

Mit dieser Stelle korrespondiert offenbar c. 12 Anfang, wo auch eine sechsfache 


118 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


150, 13 dxaddayele mit Scheibe in diaAdayels geändert, denn drai- 
Adtteodaı giebt einen guten Sinn, es ist so viel wie mavsodaı tijs 
dtapoeas, diaxgivsche:, vgl. Plat. Euthyphr. 7°, wo allerdings Hir- 
schig mit alles nivellierender Kritik diaAdayetwev verlangt. 

Doch die Schriften des Dionys sind schlecht überliefert und 
Aenderungen sind vielfach nötig, es fragt sich nur, welche? Wie 
könnte je ein Herausgeber auf allseitige Zustimmung rechnen! So 
muß ich denn auch R. öfter widersprechen, wie mißlich es auch ist, 
es ist ja dteyvio Boneg Oxıauaysiv xurnyogoüvre, doch es ist ein- 
mal Sitte im kritischen Apparat keine Gründe anzugeben. Ich hebe 
ein paar Beispiele heraus: 45, 14 ergänzt R. die offenkundige Lücke 
mit Krüger rowürds ts 6 dvro gory, Ev dt toto énidecxtexois, 
macht dann aber zu 20 auf die entstehende Schwierigkeit aufmerk- 
sam, die ihn nötigt 7) Anuoo®evng zu tilgen, was sehr unwahrschein- 
lich ist, denn der Vergleich mit Demosthenes mußte Dionys näher 
liegen als mit Isokrates. R. macht aber selbst einen besseren Vor- 
schlag, nur daß ich vorziehe &v 02 toig xavynyverxots TE xal ovp- 
BovAsvrıxoig zu schreiben, weil Dionys gleich darauf zavnyvgıxds 
sagt; im folg. ist dann natürlich, mit Matthäi, wagadetypata zu 
ändern. — 65, 20 braucht man keine Interpolation anzunehmen, 
Dionys giebt wie öfter den Inhalt recht frei an, nur muß es wohl 
heißen tiv ra&ıv Acwetv. — 95, 6 heißt es von Lysias’ Sprache: 
hdovn re xal yapırı noAATj xeyontar, R. vermutet scharfsinnig xexo- 
eyyytar, nur paßt dies Verbum besser zu Personen, wie de vett. 
cens. 435,4 Hypereides ovveosı moAATj xeyopniynraı oder 434,9 von 
Aischines ; deshalb habe ich an xexgaraı gedacht, s. ebenda 432, 2 
eben von Lysias peta xexgauevns tijg xara tiv yapıv doris, de 
Isocr. 56, 20. — 225,5 sagt Dionys von einer Demosthenesstelle ra 
ply Gade dvdpata advra evpavag TE ovyxertar xal NdEmg tH ovy- 
xslodaı opddga xal padaxdg adtayv etvar tas aopoviag; hier ist 
ovyxetofa. augenscheinlich falsch und unter Einwirkung des vorher- 
gehenden ovyxetay entstanden, R. schreibt ovvezets, aber die Ver- 
derbnis erklärt sich leichter, wenn ein Verbum dastand, zumal da 
es im folg. entsprechend heißt duornos Tag dopovlag xal reayzelas 
palvsodaı xovet, also ist unter Vgl. von 215,7, de comp. 165,5 
ouveégofa: zu lesen, denn ovvnleipda: liegt weiter ab. — 233, 21 
ändert R. mit Krüger worjrae in wovotto, aber Sadées zorjoacro ist 
wahrscheinlicher, es paßt besser zu &vreivag »angenommen jemand 


Lücke ist, in M später teils aus einer Demostheneshs. ergänzt, teils aus Ver- 
mutung, nur Z. 10 war nicht so leicht zu helfen. R. hat im Text die Lücke zu 
groß angesetzt, ich wüßte nicht, was anders fehlen sollte, als etwa aör/«« oder 
uévoy; das noch zu findende Wort muß yelroves yao entsprechen. 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 119 


hätte keine Rücksicht genommen«, wie es dvdoyoıro, xeovontecn, 
oroyaocıro heißt; auch läßt sich dsap@econ 224, 2 ebenso leicht in 
Öıapdeipuı ändern, wie mit Sylburg in diapdeigoı. — 237,11 hat M 
éxt... état, R. schlägt dmıondoereı vor, aber das kann doch nur 
heißen ‘sich hinreißen lassen’, der Gedanke aber fordert ‘sich täu- 
schen lassen’, wie schon Sylburg bemerkte, also &nıopaAnosraı, das 
freilich für die Lücke etwas zu groß erscheint. — 240,6 hat R. den 
Zusammenhang verkannt, er behält org&peiv bei und ändert Z. 10 évag- 
udzreıv in Evapudrrov, denn nicht das Hin- und Herwenden der 
Redeteile ist die Hauptsache, sondern die Einfügung von Versmaßen 
und Rhythmen in die politische Rede, also orgépmv — évagudrrery, 
eine Vermutung, die durch de comp. 207,5 évagpdtray Ensıgäro 
rovtoig tols tUxOLg TA non, oreépav va xal xdt@ ta dvduata be- 
stitigt wird. — 245, 18 Zneıra gyoly ob Eysıv (?) égety rade 
Gonxeg deva xal regan devav, Sums ddveetar addemy xatédoyoy xal 
tayslav Avaigecıv dvegecowv. Um eine festere Verbindung der beiden 
Sätze herzustellen ändert R. Zraıza in sit’ el xal, was mir unwahr- 
scheinlich ist, einfacher ist es doch mit Reiske gyoag zu schreiben, 
oder 6’ hinter dumg einzuschieben. Statt raysi«v schreibt R. mit 
Usener redefav , dem Sinn gemäß und paläographisch nicht weit ab- 
liegend, denn A und x sehen sich oft sehr ähnlich (wie Sadée 363, 5 
in M &yaylorov verlesen hat, aber es ist ein A, wie der Vergleich 
mit dem vorhergehenden &xönAdrar« lehrt), möglich aber erscheint 
es mir auch, daß Dionys teazetay schrieb. — 251,21 verteidigt 
Dionys die Pleonasmen des Demosthenes gegen einige Redelehrer, 
die nicht geprüft hätten, warum er elodsı mAsovaßeıv Ev rots adtote 
övduesıv. Hier macht adrots Schwierigkeiten, es kann schwerlich 
bedeuten rd «drd noäyue ÖmAovcı, wie es Z. 10 hieß (rd adtad on- 
pawvöusva sagt Tib. wegl oynu. VII 564 W, cay adv diver 
£yovra Theon I 190 W), aber in Radermachers Konjektur so@e 
nAsovdbeıv Evlore év toig Övduacıv verträgt sich &v/ore nicht mit 
eiodsı. Kann man nicht mit der einfachen Aenderung tozovrocg hel- 
fen? — 306, 10 will R. für das unhaltbare dgetiy Evdpysırv schrei- 
ben, das dem Gedanken angemessen ist, aber zu weit von der Ueber- 
lieferung abliegt; man könnte eher Sgav vermuten, vgl. 331, 15 
éxitgeyer tig Hoa tots Epyoıs abrav xal ydpıs, 307,15 yapıs xal 
@ea. — 310, 5 hätte R. nicht ovyyodpsıv aufnehmen sollen, sondern 
ovyyedwor, wie ebenfalls schon ein Gelehrter im Bodl. mg. vermutet 
hat, vgl. 303,13 &g&acdeı Adyovreg adrov Adyous ovyyedépey, nur 
daß hier &p&acdaı durch xeatov ersetzt ist. 

Zu thun bleibt noch viel für die Herstellung des Textes. Ein- 
dringliches Studium, das jetzt erst ermöglicht ist, wird noch manche 


120 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


Schäden aufspüren, die bis jetzt unbemerkt sind. So heißt es 13, 15 
von Lysias, man könne öfter meinen, er habe brauchbare Argumente 
übergangen, aber das thue er nicht aus Schwäche in der Erfindung, 
sondern weil er die Zeit bemesse, zgös Ov £&deı yevéofar rove Ad- 
yovs. Hier läßt sich ja yevéodou allenfalls verteidigen, aber zu 
yiyvsodaı paßte besser ayüves, s. Isai. bei Harp. s. diaueusronuevn 
nuega, durch eine geringfügige Aenderung (s. 35, 17 Agysodaı] ye- 
veodcı F) läßt sich der eigentliche Ausdruck herstellen, 408, 18, 
Arist. Staat d. Ath. p. 33, 30 ro Üölo]p Evyelovar, meöls 5 det Ae- 
yey tag Otxag. — 121,4 faßt Dionys die Unterschiede zwischen 
Lysias und Isaios zusammen, der eine trachte mehr nach der Wahr- 
heit, der andre nach der Kunst xal 5 wiv oroydleodar tod yaguév- 
toc, 6 dt tod deve. Ueber den Sinn kann kein Zweifel bestehen, 
aber konnte denn Dionys so sagen ? Strebte er nach Kürze wie Ta- 
citus, so müßte man sich wohl oder übel damit abfinden, aber wie 
Dionys schreibt, das zeigen andre Stellen: 166, 8 oroyafouevn yee 
tov cagpovs dhiymest woAkdxıg tov wergiov oder 57, 8 tod yAaupvgüg 
Akysıv oroydberaı widdov N rod dpsAös. Darnach wird es sich wohl 
empfehlen A&ysıv nach yagıevrog einzusetzen, der Ausfall eines Wor- 
tes gehört ja zu den häufigsten Fehlern. Wer diese Unterschiede, 
fährt Dionys fort, als klein und geringfügig übersehen wollte, der 
wäre nicht fähig sicher über sie zu urteilen, denn, so erwartet man, 
die Aehnlichkeiten werden ihn verwirren, aber das steht leider nicht 
da, sondern dAA& pao, indessen ja, was ich nicht verstehe. Wie zu 
helfen ist, weiß ich nicht, xgcr7¢ ist eine treffliche Besserung Krii- 
gers aus xgarijoa:, daraus ist also noch ae überschüssig, in dAdd 
wird ein Adj. stecken, ob etwa af moddai yap [al] duoudcnteg? — 
Wie selbst der größten Sorgfalt und Aufmerksamkeit Fehler ent- 
gehen zeigt 238, 19 7) öuoıa« napaiaußavovoa uerga xal dvdpords 
reraywe£vovs, man braucht nicht eben viel in Dionys’ Schriften ge- 
lesen zu haben, um zu wissen, daß allein megıAaußaveıv richtig ist, 
wie gleich auf der folgenden Seite Z. 6 eunsgiAaußavsıv steht. Zum 
Ueberfluß bemerke ich, daß das Richtige in der hier ausgeschriebe- 
nen Stelle de comp. 196, 16 erhalten ist. 

Ueber den von Usener bearbeiteten Teil kann ich mich glück- 
licherweise kurz fassen. Nach der Lektüre nur weniger Seiten fällt 
ein Unterschied zwischen den beiden Gelehrten in die Augen: wäh- 
rend R. jedes oo in tr verwandelt, läßt U. ruhig z.B. pAwoonuat- 
x6g neben yAwrrnuarıxds stehen und führt auch sonst keine Unifor- 
mität durch, ja er duldet Zvgaxdaseg bei Thuk. 406, 1 und woddAcxe 
bei Demosth. 417, 3, nur BvBdog wird streng durchgeführt und té- 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 121 


$nxev, allerdings mehrfach aus der besten Hs.!). U. hatte insofern 
einen Vorteil vor Radermacher, als die Schriften über Thukydides 
vortrefllich von K. W. Krüger bearbeitet waren, aber wie viel hat 
er trotzdem noch für die Säuberung des Textes zu thun gehabt. 
Natürlich sind nicht alle seine Vorschläge gleich einleuchtend, manch- 
mal steht es auch so, daß eine sichere Heilung überhaupt nicht 
möglich ist, an einigen Stellen wird man auch die Ueberlieferung 
halten können, nicht bloß, wo U. seine Vermutungen im Apparat 
vorträgt, z.B. 269, 19 (der enge Anschluß an den Inf. ist doch allzu 
häufig), 326, 4 (vgl. 349, 24), 332, 14 (vgl. 346, 15), 429, 18 (warum 
soll man denn das zutreffende und überdies seltne Wort ändern ? 
dvriustaratache. sagt Dion. Archaeol. III 25, 1), 433, 8 (ähnlich strich 
Krüger 136, 6 wowodcıv) ?), sondern auch wo er sie in den Text auf- 
genommen hat, so 327,4, wo er, wie schon Weil bemerkt hat, 
den Gedanken mißverstanden hat, x«i odd’ ovrog hängt von éxt- 
unioovrog ab und setzt ore roAu@uev fort, wie Z. 15 ravrag ÖN tag 
Enıtıunosis beweist. — 268,6 ist die Ueberlieferung AAdev eig re 
TahaAyyyy xal civ Borriciav, nur B! hat sis mv eig ce, U. schreibt 
eis tiy te, aber IlaAAnvn kann ohne Artikel stehen, vor Borriaie 
aber ist er gradeso unentbehrlich wie vor '4rrıx), U. hätte deshalb auch 
Herwerdens falsche Vermutung gar nicht erwähnen sollen. 363, 15 
dagegen xai ro éuBgrdic xal 1d devoy xal to Ypoßegdv klammert U. 
den Artikel vor gofegdy ein, denn er fehlt in dem Br. an Amm. 
425,6, dort aber ist er eher einzusetzen, gofegoy wird durch den 
Zusatz des Artikels von devydy geschieden, vgl. 23, 7 ovd? ro nıxgov 
N ro deıvov 7 To gopegdv. Verteidigen muß ich den Artikel auch 
noch an einer andern Stelle 434, 6 avıl tHyv owudrnov noäyua yive- 
tat, Wo U. avri omuarwv Schreibt; es heißt ja freilich in den allge- 
meinen Angaben zgayuer« avri owmudtav, aber hier ist von dem 
speciellen Fall die Rede, avri trav ewpcr@oy = anstatt der Personen, 
die eben erwähnt waren, nämlich Z.2 uexgı wey ody tovrmv To oxo 
tig Attewg ember tiv axolovdiav, og éxl NIEO0WTWV dUPOTEEWV xE- 
uevov. Dagegen scheint mir 363,7 16 rs mergdodar ... xal Eru 
zgo0dsyduevov te toy axgoatiy axovesoday xaraleinsıv der Artikel, 
den U. vor Zrı einsetzt, entbehrlich, denn abgesehen davon, daß die 


1) Ob man recht daran thut redeıxev überall zu ändern, vermag ich ‘nicht 
zu entscheiden, aber nicht billigen kann ich es, daß es R. in dem Bruchstück 
des Demetrios 298, 13 korrigieren will, in dem er Z. 19 sagıoravsıv unangefoch- 
ten läßt. 

2) 275,19 nimmt U. mit Recht eine Lücke an, nur hätte er nicht éxdedo- 
kevoı vorschlagen sollen, das paßt zu Aoyoı, nicht zu dymveg, sondern rereis- 
opévoe (303, 21. 313, 21) oder éxireredeouevos (277,7) oder signvraı (313, 3). 

Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 9 


122 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


Stelle auch 424, 19 gradeso überliefert ist, giebt es genug andre 
Stellen, wo bei der Verbindung durch rs—xel das 2. Mal der Ar- 
tikel fehlt; da R. erst kürzlich in dieser Zeitschrift (1899, 708 f.) 
darüber gehandelt hat, führe ich nur ein paar Beispiele aus 
Dionys an, 236, 21  ovrdgoury re xal misovaouds 266, 12 Tüv 
dvahvrırav TE nol usBodixay xal Tonıxöv, wonach 264, 13 zegt 
tis Avalvrınng xal petodixiis xeayparecag zu bessern ist, 136, 12 
ulyua Exerepmv TÜV yapaxıromv, rod te byndod xal loyvod?), 
303, 1 weol Tüv Adymv tev Te yvnoiov avrod xal un, 432, 10 
t6 te ueroyıxdv Övoua td wEevdvt@ay xal advtovoucorixdy 1d Nucv, 
wo die Apographa rd einsetzen?).. Ueberfliissig ist der Artikel 
auch 260, 15 yagızorarog ündvrov Adyov, wo ihn U. mit Syl- 
burg (wie 277, 3 nur Adyov zu ändern war), und Brief an Cn. Pomp. 
782, 8, wo er ihn mit Herwerden eingesetzt hat, vgl. 15, 4. 17, 16. 
29, 19. 334, 13, 335, 17. 417, 17, um nur ein paar Beispiele an- 
zuführen. Ausgefallen ist der Artikel ja oft genug, eingesetzt hat 
ihn U. auch 398, 21 tag — Önunyogias, ds dıedevro Kiemv al 
Aiddorog (tag) Ev ti rein BvBAw, doch kann man auch diese Stel- 
lenangabe als Bemerkung eines Lesers streichen. Daß aber U. 
336, 14 xara tas Spas als Glossem einklammert kann ich nicht bil- 
ligen; ist denn der Zusatz wirklich unnütz? liegt nicht in dem nach- 
drücklich ans Ende gestellten die Begründung? non lucidior facta 
est distributio eo quod secundum tempestates eam institut, um Krügers 
Worte zu gebrauchen. — 341, 12 Gore undtv deiv axd Tovrwv 
dornv moısiodeı schreibt U. un deiv, aber s. 358, 23 wore ovdiv 
Ost nel adtay éut vuvi Adyev, 130, 20 u. öfter odddy deoua. — 
365, 9 Av O° 7 negiogN) @peilun xaTeoxevaodaı un tovtov bx’ adtod 
tov todmov, dAAR xoıvörepov uäidov xal @peiuußrepov. Warum U. 
40° n meguoy? Spede piv ändert weiß ich nicht, vielleicht weil er 
ogpeiiun mit @pediuoregoy für unvereinbar hält; aber gegen seine 
Aenderung spricht mancherlei: daß ds sich auf das vorhergehende 
bezicht, ist ja nicht unerhört, aber konjicieren darf man es wohl nicht, 
was soll ferner wev? und wird das gradezu zu einer Wunschpartikel 
gewordene gee so gebraucht? feuorrev sagt Dionys in einem ähn- 


1) Also auch 762, 16 mit Herwerden rijg <r’> loyvüs “ul owns, nicht ris 
mit P. Die Verbindung re xal erinnert mich übrigens auch an 754, 2 zevads 
Eréem yovod nuparetels nosirrov TE nal zelowy edeloxerar, wo U. site xal an- 
dert; aber re «af ist ganz richtig, es heißt: durch die Vergleichung wird der 
größere und geringere Wert des Goldes gefunden, ähnlich wie Lys. 31,5 rovrosg 
usyala ra diagégovta Eorıv ed TE noarreıv tHY nodıv rivde nal dvenırndelas. 

2) Vielleicht gilt das gleiche auch von der Verbindung durch xal—xe) 371, 14 
nal cd rar nor xual rar Öllyay civ abrıv sxdinpey Eger. 


Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 123 


lichen Fall 431, 12; die Ueberlieferung dagegen giebt den guten 
Sinn: es wäre vorteilhaft, wenn. 

Zuweilen sähe ich gern eine andre Konjektur im Text als die 
von U. aufgenommne. So schreibt er 414, 10 &x tijg wodituxijs xal 
Suvvndovg rois xoddois anayyediag mit leichter Aenderung statt 
zoAAns unter Verweisung auf 143, 11 roıavrnv xaradapoy rv molı- 
tıxıv Ack, aber das Wort paßt hier nicht. Dionys will zeigen, daß 
Demosthenes ein Nachahmer des Thukydides sei und führt Beispiele 
an & wagd toy Gouxvdidov xarecxevactar yaguxtijon voy Ev ti Xoıvf 
xai ovvide dvadextmo tiv eaddayny éyovta, wie er am Schluß des 
Abschnittes 417, 10 sagt (noch deutlicher über Dem. 145, 6 ff.), das 
besagt aber nicht woditixy dnapyedia, sondern xo}, wie Krüger 
änderte; diese Besserung wird bestätigt durch 415, 5 xal ydg év- 
ravGa néniextor piv 7) didvora modvmAduas, Achexrat O° ex tig x01- 
vorntog eis thy dovvidn podow éxBeBnxdta, vgl. auch 372, 9. — 
426, 8 trifft rd ovvrowor statt 1d Onucıvduevov nicht den Gedanken, 
denn vom ovövrouov ist gar nicht die Rede, es mißfällt auch der 
Wechsel des Subjekts. Was der Sinn ist, ergiebt die Vergl. von 
423, 3, wie schon Krüger sah; die Herstellung ist natürlich un- 
sicher, nötig ist jedenfalls övoue, also vielleicht td onuavdusvov 
(sis Övoue ovvayav). — 435, 4 schiebt U. el yap ro od yarexds 
éviorevro ein und muß dann doppelt ändern zgocrediv in ng00Ed7- 
xev und oyruarıodtv in éoynpatioev, während sich doch nahezu von 
selbst ergiebt rd yag ... xgoorediv, wie natürlich längst, von 
Reiske, vermutet ist. Warum U. diesen Vorschlag nicht annahm, 
ist freilich klar, es ist der Subjektswechsel im folg., weshalb Reiske 
2.9 7 d& negeußoAn wollte, eine gewiß leichtere Aenderung als die 
zweifache Useners, aber zu zenoinxev Z. 11 läßt sich denken Thuky- 
dides, wie es 146, 13 ganz ähnlich heißt: oddity dy size aeolegyov 
n AtEıs oddE axoAıdv, El Toürov EEiveyxs tov todnov, näml. De- 
mosthenes. 

Aufnahme verdient hätte m. Er. Herwerdens wagaxadet 260, 19, 
wie Dion. stets das Präsens hat, Sylburgs onuactas 363, 12, wie es 
an der andern Stelle steht. 403, 1 hat Sadée dy &v tO weils 
&oriv 7 loyds emendiert &v t& ueAdovrı Eoriv, aber ist nicht weAAsıv 
&oriv aus wéddovre entstanden? es ist die Umschreibung des thuky- 
dideischen io Ev td dxdem % lozyvs 403, 14. 404, 15. — Unter den 
fremdartigen, veralteten und schwer verständlichen Wörtern des 
Thukydides wird 425, 10 6 &nıdoyıouös aufgeführt, das bei Thuk. 
nicht vorkommt; U. vermutet &xnAvrns unter Vergl. von Marcel- 
linus 52, aber da heißt es z& dt moınraig pede olov rd Enıkvykaı 
wal ro éxndvras, ist also hier nicht zu gebrauchen. Ich schlage vor 

9 * 


124 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


dvoAoyıouds zu lesen (Thuk. III 36, 4), ein immerhin seltnes Wort, 
von dem Pollux II 120 ausdrücklich zu bemerken für nötig erachtet, 
daß es Thuk. gebrauche. 

Zum Schluß noch eine Schwierigkeit. In der Disposition, die 
Dionys im Eingang des Briefes an Ammaios über die Eigentümlich- 
keiten im Ausdruck des Thukydides giebt, stellt er als ersten Punkt 
auf: Eml rig Exkoyis av Övouaımv tiv Tgonımv xal yAwrrnwatinhy 
xal d&xnoyarouevyny xal Eevnv Adkıv (422, 17), es finden sich dann 
aber c. 3 nur Belege für veraltete Wörter, dann nicht etwa rgo- 
mix, sondern roıntıx«, die vorher gar nicht erwähnt sind. Nun 
wäre ja die Veränderung von roonıx7v in zomtanv leicht genug, 
bedenklich macht nur, daß es auch 361, 5 überliefert ist, ebenso 
wie eg 409, 20 heißt tiv goacıv tiv yAmrrnuarınıv te xal &xnozat- 
auEvnv xal roonıxıv xıA. Halte ich aber 412, 8 tiv pAmoonuatixhy 
xal annoyampéevyny xal oma xal Eevnv Adtıv und 412, 26 rd 
xarayAmocov tijg Adkewo xal Edvoy xal xorntixdy dagegen und be- 
riicksichtige, daß Dionys 363, 10 unter den vier Eigenschaften, die 
gleichsam des Geschichtschreibers dgyava seien, an die erste Stelle 
tO zoımtıxov t&v Övouarov stellt, 11,10 von der wountixh xaraoxevn) 
des Thukydides spricht und 411, 9 fordert, des Geschichtschreibers 
Darstellung solle auch etwas Dichterisches haben, während er von 
dem tropischen Ausdruck, der ja in der That bei Thukydides nur 
sehr vereinzelt vorkommt, überhaupt gar nicht spricht, so sehe ich 
doch keinen andern Ausweg, als wenigstens an den zwei Stellen 
422, 18 und 361, 5 tgonxexhy in zomtaNv zu ändern, 409, 20 ist 
nicht unmittelbar von Thukydides die Rede und könnte deshalb eher 
verteidigt werden. 

Doch genug und übergenug von all diesen Einzelheiten! Möge 
U. Lust und Muße, Kraft und Gesundheit vergönnt sein neben sei- 
nen andern großen Arbeiten bald den zweiten Band fertig zu stellen! 


Berlin, W, November 1900. Karl Fuhr. 


Levi, La doctrine du sacrifice dans les Brähmanas. 125 


Leri, S., La doctrine du sacrifice dans les Brahmanas, (Biblio- 
théque de l’école des hautes études, sciences religieuses, XI vol.), Paris, Le- 
roux. 1898. 8°. 181 S. Preis 5.50 M. 


In diesem mir zur Besprechung angebotenen Werke hat der 
Verfasser einen ersten Versuch gemacht, dasselbe für die Brähma- 
nas zu unternehmen, was andere für die vedischen Hymnen versucht 
haben: aus ihnen und nur aus ihnen diejenigen theologischen Le- 
genden, Auslegungen und Speculationen über das Opfer zusammen- 
zustellen, die sich in mehreren Brähmanas zugleich, wenn auch zu- 
weilen in abweichender Redaction, vorfinden. Wenn sich eine Le- 
gende oder ein Deutungsversuch von rituellen Handlungen in meh- 
reren zu verschiedenen Schulen gehörigen Brahmanatexten zugleich 
findet, so zieht der Verf. die im Allgemeinen wohl richtige Folge- 
rung, daß man das Recht hat, die betreffende Lehre für die officielle 
Brahmanistische zu halten. Freilich darf, nach meiner Ansicht, diese 
Schlußfolgerung aur im Allgemeinen für richtig gelten, da es ja 
sehr wohl denkbar ist, daß zwei Schulen spontan und unabhängig 
von einander eine gleiche Erklärung, Lehre oder Deutung gefunden 
haben, ebenso wie umgekehrt eine einzige Schule eine von altersher 
überlieferte Legende sehr wohl allein bewahrt haben kann. Der 
Verf. hat seine Untersuchung weislich auf die gedruckten Texte be- 
schränkt 1), und auch so war seine Arbeit keine leichte. Nur ein 
verhältnismäßig kleiner Theil dieser Texte liegt in Uebersetzung vor 
und der Bearbeiter dieser oft spitzfindigen theologischen Speculationen 
hat nicht blos viele Schwierigkeiten exegetischer Art zu überwinden, 
sondern muß sich mit tüchtiger Energie und großer Ausdauer wapp- 
nen, um die nicht immer erquickliche Lectüre zu Ende zu führen. 
Die Einleitung (S. 3—12) enthält manche richtige Bemerkung. Tref- 
fend ist z.B. die S. 9 gemachte Aeußerung: »le sacrifice est une 
operation magique«, eine Bemerkung, die nach meiner Ansicht nicht 
nur für das Opfer der Brähmanaperiode, sondern auch für das 
ganze indische Opfer zutrifit. Mit Freuden bemerkt man, daß unter 
den S. 6 behandelten Perioden der vedischen Litteratur die »Sütra- 
periode< nicht mehr auftritt. 

Was mir in dieser Einleitung zu fehlen scheint, ist eine für den 
nicht Eingeweihten kaum zu entbehrende Würdigung und Kritik der 
in den Brähmanas enthaltenen Legenden, Erklärungen u. s.w. Es 


1) Das Taittiriya-Aranyaka hätte auch mit in Betracht kommen sollen. Sein 
Iohalt ist ja zum größten Teil den späteren Partieen des Satapatha analog. 


126 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


steht nämlich fest, daß nicht alles in unseren Brähmanas altererbt war, 
sondern unsere Theologen, die jede Thatsache, jede Kleinigkeit des 
Rituals zu erklären und zu motivieren bemüht waren, für ihre Er- 
klärung auch manche Legende, manche Deutung ad hoc ersonnen 
und aus den Fingern gesogen haben. Daß hierbei die Etymologie 
4 la Varro ein wichtiger Factor war, ist bekannt. Die Legende 
z.B. von der Entstehung der Heiligen (der rs:) beruht auf der Ety- 
mologie (rsuyah ... tapasärisan, Levi, p. 13); ebenso die Legende 
von der Entstehung des Pferdes (fud asvayat tato ’svah samabhavat, 
Levi, p. 155). Es wird sogar den Thatsachen Gewalt angethan, um 
eine Erklärung des Rituals zu suchen. Soll man wirklich glauben, 
daß in rebus profanis der Inder den linken Zugochsen zuerst, den 
rechten zuletzt anspannte (L. p. 86), daß er den linken Backenbart 
zuerst, den rechten zuletzt kämmte, daß er die Nägel zuerst der 
linken, dann der rechten Hand schnitt, daß er sich das linke Auge 
zuerst salbte? Die einmal vorgeschlagene Deutung wird durch Dick 
und Dünn angewendet, so z.B. bei der Erklärung der Thatsache, 
daß der zum Soma-Opfer geweihte Opferer (der diksita) die Fäuste 
ballen soll, daß er sich nicht mit der Hand kratzen soll (Levi, p. 104). 
Daß man zwei Arten von Legenden in den Brähmanas zu unter- 
scheiden hat, hat Oertel (The Jaiminiya Brähmana Version of the 
Dirghajihvi Legend, Actes de l’onzieme Congr. Intern. des Orienta- 
listes, Paris 1897, p. 235) richtig ausgeführt: erstens diejenigen Le- 
genden, die für »purely illustrative purposes« mitgetheilt werden, 
und zweitens die von Oertel als »exegetical legends< bezeichneten, 
welche der Autor eines Brahmana »by additions and alterations of 
his own makes completely suitable for his purpose«. Aus den hier 
gemachten Bemerkungen erhellt, daß nicht jede Ueberlieferung in 
unseren Brähmanas gleichen Werth hat, daß die Autoren ganz will- 
kürlich e re nata das Ueberlieferte geändert oder Neues ersonnen 
haben, und daß es gewagt erscheinen könnte, aus solchen Specula- 
tionen die leitenden Gedanken herauszuschilen. Wie leicht man 
irre geführt werden kann, beweist das folgende Beispiel. In einem 
Brahmana wird als Motiv für das Umgürten der Gattin des Yaja- 
mäna beim gewöhnlichen Opfer angegeben: »das was bei der Gattin 
unterhalb des Nabels ist, ist unrein; diesen Theil von ihr scheidet 
er also durch den Gürtel ab<. Dieses Motiv wird von Levi (p. 157) 
dazu verwerthet, den Haß der Priester gegen das Weib und die 
geringe Achtung, die ihm zuerkannt wurde, zu betonen. Auf eine 
solche Aeußerung ist aber nicht allzu viel Gewicht zu legen, denn 
wir sehen, daß sonst von dem Menschen im Allgemeinen dasselbe 
gesagt wird: ürdhvam vai purusasya nabhyai medhyam, avacinam 


Levi, La doctrine du sacrifice dans les Brähmanas. 127 


amedhyam, yan madhyatah samnahyati, medhyam caiväsyamedhyam ca 
vydvartayat: (Taitt. Samh. VI. 1. 3. 4, vgl. Maitr. Samh. II. 6. 7, 
pag. 69, 8). 

Wenn man also bemiiht ist den Sinn des Rituals zu finden, so 
scheint es mir, daß diese theologischen Erklärungen der alten Bräh- 
manas mit großer Vorsicht und stetiger Kritik gebraucht werden 
müssen. Denn nicht alles was diese Ausleger im Ritual gesucht haben, 
ist auch immer darin zu finden. Sehr oft ist das von ihnen angegebene 
Motiv falsch, in vielen Fällen auch läßt sich vorläufig noch nicht 
entscheiden, ob sie Recht hatten oder nicht, in vielen Fällen hatten 
sie Recht. Levis Buch ist somit für den, der die wirklichen, ur- 
sprünglichen Motive des Rituals sucht, von secundärer Bedeutung, 
wer aber darauf ausgeht, die altindische Religion zu erforschen, wird 
es mit Freuden begrüßen, weil es ihm die Kenntnis der Ideen einer 
wenig bearbeiteten Periode theils erschließt, theils in vorzüglicher 
Gruppierung vor Augen führt. Der Stoff ist mit großer Geschick- 
lichkeit verarbeitet. Den von Barth im Bulletin des Religions de 
l’Inde (Revue de l’histoire des religions, Tome XXXIX, pp. 29—32) 
gemachten allgemeinen Bemerkungen füge ich die folgenden, einigen 
Details betreffenden, hinzu. An der Uebersetzung der zahlreichen 
Stellen wird nur wenig auszusetzen sein; ahar ahah svahäkuryad a 
kästhat (S. 78) lautet in der Uebersetzung: »tous les jours on fait 
les offrandes aux Dieux y compris le bois ä brülere, deutlicher wäre 
gewesen: >si ce ne soit qu’un morceau de bois a brüler«, vgl. Taitt 
Ar. II. 10. 2: yad agnau juhoty api samidham, tad devayajüuh samlig- 
thate. Die Uebersetzung von tam proksya paryagnim kriva (S. 119): 
»ils l’aspergerent d’eau, la menérent autour du feuc ist ein Ver- 
sehen, statt: >»ils portérent autour d’elle un morceau de bois brü- 
lant<; daß nidhana (S. 149) nicht »prélude<, sondern »finale d’un 
saman< bedeutet, ist schon von Barth bemerkt. Ist in der Sata- 
patha-Stelle II. 5. 2. 20 (S. 156) antahsulya richtig übersetzt durch 
»avec une ‘piqire au coeur« ? In den zahlreichen langen Citaten sind 
mir nur wenig Druckfehler aufgefallen: brah statt bhah (S. 22); 
samstutäv statt samsutav (S. 37, no. 7); brahmaudam statt brahmau- 
danam (S. 63, no. 2); brütva statt bhütva (S. 93, no. 3); ya statt 
ye (S. 96, no. 1); aksitim statt äksitim (S. 109, no. 1); vittha statt 
vettha (ib.); trbhir statt tribhir (S. 131, no. 2); napasyan statt nd- 
pasyan (S. 148, no. 1). 

Breda, 4. Dec. 1899. W. Caland. 


QR 


128 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


Cornelius, H., Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Leipzig, 
B. G. Teubner 1897, XV und 445 3. Preis 10 Mk. 


Es ist ein gedankenreiches, eigenartiges und darum lesenswertes 
Buch, um welches Cornelius die deutsche Psychologie bereichert hat. 
Dieser Eindruck hat den Ref. während der ganzen anstrengenden 
Lectüre nicht verlassen, wie wesentlich auch seine eigenen Anschau- 
ungen von jenen der Standpunkt-Psychologie Cornelius’ abweichen. 

Was das Buch will, drückt der Autor im Vorworte (abweichend 
vom Titel) wie folgt aus: »Dieses Buch soll nicht eine nach dem 
heutigen Stande der Wissenschaft vollständige Aufzählung und Dar- 
stellung der Thatsachen des psychischen Lebens und der zur Erkla- 
rung derselben aufgestellten Theorien geben. Seine Aufgabe ist 
vielmehr diejenige einer erkenntnistheoretischen Grund- 
legung der Psychologie: die Begründung einer rein empiri- 
schen Theorie der psychischen Thatsachen unter Ausschluß aller 
metaphysischen Voraussetzungen<. Diese Aufgabe will der Autor 
durch eine vollständige und einfachste zusammenfassende Beschrei- 
bung lösen. — Erklärung, welche sich andere Psychologien zum 
weiteren Ziele setzen, ist für ihn (wie für Mach und Kirchhoff) nur 
‚Vereinfachung<« in der Beschreibung oder die Zusammenfassung von 
Thatsachen »>mit anderweitig bekannten Thatsachen unter gemein- 
schaftliche Gesichtspunkte<. Auch alle Feststellungen von Abhängig- 
keiten und psychischen Entwicklungen gehen in diesen weiten Be- 
griff Erklärung ein. 

Damit stellt sich Cornelius bewußt auf den bekannten Stand- 
punkt, daß die Aufstellung von Causalrelationen nicht zur erfah- 
rungsmäßigen Erklärung gehören, daß also die Causalität bereits 
hypothetische Annahme, natürliche Theorie, metaphysische Zuthat 
sei. Cornelius vermeidet denn auch mit auffälliger Consequenz bei 
seinen Beschreibungen die Worte »Ursache« und »Wirkung< und 
setzt überall, wo sonst Psychologen diese Bezeichnungen unbedenk- 
lich gebrauchen würden, »Bedingung< und »Bedingtes«. 

Hierzu sei dem Ref. eine Bemerkung gestattet. Wenn der Herr 
Autor die Causalität aus der grundlegenden Beschreibung des psy- 
chischen Befundes ausschaltet, so sollte er mit der Relation »Be- 
dingendes—Bedingtes« dasselbe thun. Es hieße der Begriffsbestimmung 
unerlaubte Gewalt anthun, aus der Relation Bedingendes—Bedingtes 
das Element des zureichenden Grundes, die Notwendigkeitsbeziehung 
hinausinterpretieren zu wollen. Diese Relation ist so gut außer- 
empirisch wie die causale; es liegt eben begrifflich mehr in ihr als 


Cornelius, Psychologie als Erfahrungswissenschaft. 129 


der Ausdruck zeitlicher Coexistenz oder Succession. Diese Schwie- 
rigkeit schafft sich Cornelius selbst mit seinem freilich sehr ach- 
tungswürdigen horror metaphysici. Für uns Anderen, die wir uns 
mit der Forderung bescheiden, ein Weltmodell der psychischen Welt 
mit Hilfe des kleinsten Maßes offen bekannter metaphysischer An- 
nahme darzustellen sind die Gefahren nicht größer als für Anti- 
metaphysiker, die in Wahrheit Kryptometaphysiker sind. 

Andrerseits müssen wir dem Herrn Autor Dank dafür wissen, 
daß er mit Entschiedenheit für den phänomenalen Dualismus ein- 
tritt, was ihn über alle ihm sonst verwandten Psychologen hinaus- 
hebt, welche die Doppelreilie der Erscheinungen durchaus nicht als 
empirisch gegeben finden wollen. Cornelius sagt ausdrücklich: > Die 
psychischen Erscheinungen sind zwar bis zu einem gewissen Grade 
wenigstens sicher abhängig von den physiologischen Vorgängen 
in der Nervensubstanz; aber sie sind mit denselben nicht iden- 
tisch uud die Beschreibung der einen ist nicht gleichbedeutend mit 
der Beschreibung der anderen<. So viel von der Einleitung. 

Das erste Capitel des Werkes beginnt mit der Ausführung, daß 
der Inhalt unseres Lebens das unmittelbar Gegebene sei. Jede Er- 
fahrungspsychologie habe vom Vorfinden auszugehen ; vorgefunden 
werden aber ausschließlich Bewußtseinsinhalte. Inhalt, Gegenstand, 
Objekt, Erscheinung, Phänomen des Bewußtseins ist dasselbe (p. 13 f.), 
Die weiters zum Befund zählenden elementaren Thatsachen des Be- 
wußtseinsverlaufes lassen sich nach dem Rückblick des Autors (p. 81) 
in folgender Weise zusammenfassen : »Die Unterscheidung größerer 
und geringerer Aehnlichkeiten unserer Bewußtseinsinhalte, die That- 
sachen der Berührungsassociation und das Uebungsgesetz, die Ab- 
straction, die verschiedenen Arten der Symbolik, die Genesis der 
Wahrnehmungsbegriffe und die darauf gegründete Prädication der 
Bewußtseinsinhalte; als die primitivste dieser letzteren Begriffsbil- 
dungen (?) hinwiederum trat uns diejenige entgegen, welche wir voll- 
ziehen, wo wir von Gefühlsbetonung unserer Erlebnisse sprechen, 
die ihrerseits in Combinationen mit den Thatsachen der Erinnerung 
zur Entstehung eines weiteren fundamentalen Phänomens, des Wun- 
sches oder Strebungsgefühles Anlaß gibt«. — Von den einzelnen Er- 
örterungen dieses Abschnittes scheinen dem Ref. die über das Ge- 
dächtnis und die Erinnerung, in der Cornelius den Begrift der 
Vorbereitung (im Gegensatze zum Eindruck) herausarbeitet, die ge- 
lungensten zu sein. Die hier bethätigte Gründlichkeit und Reinlich- 
keit der Gedankenentwicklung ist wahrhaft verdienstlich. Dabei 
hält sich Cornelius von der Neigung frei, eine eigene neue Termi- 


180 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


nologie!), die nur Eingeweihten nach längerem Studieren und Ueben 
verständlich zu sein pflegt, einzuführen und findet mit einigen Re- 
ceptionen üblicher Namen sein Auslangen. Statt »bewußte« und 
unbewußte« setzt Cornelius »beachtetec und »nicht beachtete« 
Theilinhalte, ohne damit die Existenz von unbewußt Psychischem 
(»dem Hintergrunde<, der nur als Beeinflussung bewußter Inhalte 
in die Erscheinung tritt) leugnen zu wollen. In der Associations- 
Lehre stellt Cornelius das Gesetz der Gewohnheit oder Uebung als 
Grundgesetz auf und erklärt es aus einem Wahrscheinlichkeits- 
Zuwachs, der durch die relative Oftmaligkeit derselben Reihenfolge 
von Theilinhalten in Complexen entstehen soll. Eine ausführliche 
Betrachtung widmet der Autor den Gestaltqualitäten, deren Be- 
stehen er (mit Meinong, Ehrenfels und Höfler) anerkennt und legt 
überzeugend dar, wie ein Complex von Theilinhalten neue Merk- 
male aufweise, die nicht durch bloße Summierung verstanden werden 
können. Die Ansicht, daß die Annahme von Gestaltqualitäten über- 
flüssig sei, weil in ihnen Aehnlichkeitsrelationen der Theilinhalte vor- 
lägen, weist er als Misverständnis ab. Den Schluß des Abschnittes 
bildet eine kurze Charakteristik der Gefühle und Willensphänomene. 

Gefühle sind nach Cornelius Prädikate (warum nicht Seiten?) 
unserer Erlebnisse und stellen die >Gestaltqualitäten unseres je- 
weiligen Gesammt-Bewuftseinsinhaltes« dar (p. 76). Zuin Willens- 
phänomen leitet die Betrachtung über: »Wenn ein gegenwärtig vor- 
gefundener Inhalt als ein mit oder im Gegensatz zu unserem Willen 
vorhandener bezeichnet wird, so ist damit nichts anderes (?) ausge- 
sagt, als daß wir beim Vorfinden dieses Inhaltes Lust oder Unlust 
empfinden< (p. 78). Im allgemeinen meine man indes, wo von Wol- 
len die Rede ist, den Wunsch, den gegenwärtigen annehmlichen oder 
unannehmlichen Zustand festzuhalten oder wegzuräumen«. Dieser 
Wunsch ist das primäre Phänomen, die Willenshandlung im engeren 
Sinne dagegen ein Erfahrungsproduct. 

Mit den soeben skizzierten Gedankengängen des ersten und 
wichtigsten Capitels ist der Standpunkt des Verfassers bereits deut- 
lich gegeben. 

Er macht es sich zum Axiom, ausschließlich das psychisch Vor- 
findliche, dem noch keinerlei theoretische Bearbeitung anhaftet, als 
Bausteine der Psychologie zu verwerten. So voraussetzungslos und 
methodisch unanfechtbar auch der »vorgefundene Inhalt« als Aus- 
gangspunkt auf den ersten Blick erscheinen mag, so erweist er sich 


1) Daß dem Buche ein Register fehlt, ist bei der großen Zahl definitorischer 
Feststellungen immerhin zu bedauern. 


Cornelius, Psychologie als Erfahrungswissenschaft. 181 


doch bei näherem Zusehen — wie ein früherer Kritiker!) treffend 
bemerkt hat — als ein Gebilde weitgehender Abstractionsarbeit, 
welches sich jedenfalls nicht mit dem einer naiven Erfahrung primär 
Gegebenen deckt. Von dem ausgesprochen gegenständlichen 
Charakter der meisten Erlebnisse des nichtreflectierenden Empiristen 
ist in diesen »vorfindlichen Inhalten< eben nichts zu finden. — Für 
Cornelius ist es ferner eine Principienfrage, daß er (p. 137) Inhalt, 
Gegenstand, Object und Erscheinung des Bewußtseins ausdrücklich 
identificiert. Der Ref. kann sich dieser Gleichsetzung nicht an- 
schließen und pflichtet vielmehr der (von Twardowski als unum- 
gänglich und bedeutsam erwiesenen) Unterscheidung von Inhalt und 
Gegenstand der Wahrnehmung bei. 

Wichtiger als derartige Bedenken scheint jedoch dem Ref. ein 
anderer Umstand: der erfahrungswidrige Intellectualismus in der 
ganzen Grundlegung. In den Lehren von der Association, von den 
beachteten Theilinhalten und von der Aufmerksamkeit ist keine Wür- 
digung des betheiligten Gefühlselementes zu bemerken. Der Begriff 
des Interesses bleibt außer Verwendung. Mit der Bezeichnung des 
Gefühles als Prädicat oder Gestaltqualität unserer Gesammt-Erleb- 
nisse ist die Rolle des Gefühles im Bewußtseinsverlaufe in intellec- 
tualisierender Weise verwischt, umsomehr als eine explicierte Unter- 
scheidung von actuellem Gefühl und Stimmung (welche das Seiten- 
stück zur Gegenüberstellung von »beachtetem Theilinhalt< und 
»Hintergrund« hätte bilden können) nicht verwertet wird’). 

Im Berichte über das zweite Capitel des Corneliusschen Werkes 
hönnen wir uns wesentlich kürzer fassen: Hier tritt die Aufstellung 
und Würdigung eines obersten Princips oder allgemeinen psycho- 
logischen Grundgesetzes in den Vordergrund, das der Verfasser 
als Einheitsprincip bezeichnet. Die Formulierung des gewiß hoch- 
wichtigen Oekonomie-Gesetzes durch Cornelius lautet: »Dieses Ge- 
setz können wir dahin aussprechen, daß sich in unserem psycholo- 
gischen Leben überall das Bestreben kundgibt, verschiedenartige Er- 
lebnisse nach ihren Aehnlichkeiten unter gemeinschaftliche Symbole 
zusammenzufassen, oder, was dasselbe sagt, überall so viel als mög- 
lich das Gemeinsame des Verschiedenartigen durch ein zusammen- 
fassendes Symbol zu bezeichnen. Solche Zusammenfassungen finden 


1) Ed. Martinak in der Zeitschrift f. d. öst. Gymnasium. Wien 1899, S. 352 f. 

2) In der objectiv gehaltenen Kritik dieses Werkes, welche Prof. W. Stern 
(Breslau) geliefert hat, wird weiters mit Recht bemerkt, daß die Vernachlässigung 
des Gefühles im System auch äußerlich hervortrete, indem nur ein Capitel und 
zwar das letzte dem »Fühlen und Wollene gewidmet erscheint. (Zeitschrift für 
Psych. u. Ph. der 8. 6, Leipzig 1899, 8. 181 ff.) 


182 Gott. gel, Anz, 1901. Nr. 2, 


sich nach Cornelius beispielsweise im Wiedererkennen (bei welchem 
das gegenwärtige Gedächtnisbild zum Symbol eines früheren Erleb- 
nisses wird), im Processe der Aehnlichkeitsassociation und in allen 
Fällen des Erklärens und Begreifens. Von früheren Psychologen 
und Naturforschern haben Berkeley, Kirchhoff, Mach (als Denk- 
Oekonomie) und Avenarius (als Denken nach dem kleinsten Kraft- 
maß) die Bedeutung des Einheitsprincipes gewürdigt. Herbarts 
Apperceptions- und Verschmelzungs-Theorien, Benekes Gesetz der 
Anziehung des Gleichartigen können wenigstens als Anläufe in die- 
ser Richtung gelten. Alle natürlichen und wissenschaftlichen Theo- 
rien überhaupt stellen nach Cornelius im Grunde nur praktische 
Anwendungen jenes obersten psychologischen Gesetzes dar. 

Von den sogenannten »natürlichen Theorien< bespricht Corne- 
lius die Bildung des Dingbegriffes, die Ueberzeugung einer objec- 
tiven Existenz und die Statuierung der Causalität mit besonderer 
Ausführlichkeit. Der Dingbegriff wird in einer hier nicht wiederzu- 
gebenden Weise mit Hilfe »des Mechanismus der Erwartung« ent- 
wickelt (p. 91 ff.). Die dingliche Existenz (nämlich das Dasein nicht 
gegenwärtig wahrgenommener Inhalte!) halt der Verfasser für »eine 
Abbreviatur, einen zusammenfassenden Ausdruck für die auf Grund 
früherer Erfahrungen thatsächlich gehegten, obzwar nicht einzeln 
jedesmal beurtheilten Erwartungen über die Möglichkeit der 
Wahrnehmung eines Inhaltes der betreffenden Art 
bei Erfüllung bestimmter Bedingungen« (p. 106). 

Im dritten Capitel beschäftigt sich der Autor mit der psycholo- 
gischen Analyse des Successiven, des Gleichzeitigen, der Vorberei- 
tung, der Gestaltqualitäten unanalysierter Inhalte, mit der Aufmerk- 
samkeit und den Wahrnehmungs-Kategorien, im vierten Capitel so- 
dann mit der Empfindung, dem Gedächtnis und der Phantasie. Das 
fünfte Capitel ist der Besprechung der »objectiven Welt« mit den 
bezüglichen Problemen des Dings an sich, des Innen und Außen, 
des objectiven Raumes und der objectiven Zeit gewidmet, woran sich 
noch kurze Betrachtungen über die psychophysischen Grundthat- 
sachen schließen. Von den hier entwickelten Meinungen dürften die 
Ablehnung des Nativismus bezüglich der Tiefenwahrnehmung und die 
Verwerfung der Lehre von den specifischen Sinnesenergien (wie dies 
schon Wundt gethan) das meiste Interesse beanspruchen. 

Zu den Anschauungen des Verfassers über das Ding und dessen 
Existenz seien dem Ref. einige Bemerkungen gestattet. Nach Cor- 
nelius ist weder das »Ding« überhaupt noch seine Existenz etwas 
primär Gegebenes, sondern ein Kunstproduct des erfahrungsmäßigen 
Denkens. Das Gleiche gilt für die Entgegenstellung von Subject 


Cornelius, Psychologie als Erfahrungswissenschaft. 188 


und Object, welche für die Mehrzahl der Psychologen (unter den 
neuesten auch fiir Jodl) eine grundlegende Voraussetzung aller Psy- 
chologie ist. Danach wäre also der ungelehrte Empirist zunächst 
im Ungewissen, ob Dinge und äußere Existenzen vorhanden seien 
oder nicht und müßte erst durch ziemlich verwickelte Erfahrungs- 
operationen zur Bildung dieser Begriffe gelangen, wenngleich auf 
‚natürlichem Wege«. Die »vorgefundenen Bewultseinsinhalte< aber 
mit ihrer skeptischen Färbung wären das ohne Abstractions- und 
Associationsfunction »unmittelbar Gegebene<. So scharfsinnig auch 
die Gedankenentwicklungen des Autors im Einzelnen befunden wer- 
den müssen — solche »Standpunkte<« erscheinen dem Ref. eben im 
Hinblick auf die Erfahrungs-Thatbestände einfach unannehmbar. 

Was das sechste Capitel des Werkes anlangt, so hat es die 
Erörterung von Wahrheit und Irrthum zum Hauptgegenstande, 
wobei eine fruchtbare Sonderung des psychischen Verhaltens beim 
Sprechenden und beim Hörenden zur Durchführung gelangt. Der 
größte Theil der hier angestellten Untersuchungen ist übrigens aus 
des Verfassers Schrift über die Existentialurtheile bereits bekannt. 
Den Schluß des Capitels bilden einige Abschnitte über die Induc- 
tion und das Causalgesetz, in denen eine trefiende Definition der ana- 
lytischen Urtheile, sowie der synthetischen Urtheile a priori ent- 
wickelt wird. Die »Naturnothwendigkeit< erweist Cornelius als einen 
Ausdruck logischer Nothwendigkeit, bedingt durch die empirische 
Begrifisbildung. Wie schwankend dagegen die Stellung des Verf. 
zur Frage des Determinismus oder Indeterminismus im Wollen ist, 
mag so manchen Leser überraschen. 

Im letzten Capitel endlich behandelt Cornelius das Fühlen und 
Wollen, den Wertbegriff, die Willenshandlung, das willkürliche Denken 
und Aufmerken, (welches für ihn eine Willenserscheinung ist) und in 
kurzen Andeutungen auch die moralischen Werturtheile, sowie den 
Schénheitsbegriff. Cornelius sagt hier in charakteristischer Weise: 
>Wir würden also hienach allgemein als moralisch positiv zu be- 
wertende Wollungen (und entsprechende Handlungen) diejenigen zu 
bezeichnen haben, deren Ziel nach dem Stande der jeweiligen Er- 
fahrungen des wollenden Individuums als das relativ wertvollste er- 
scheint, während als unmoralische Willensacte diejenigen betrachtet 
werden müßten, die auf von demselben Standpunkte aus als minder- 
wertig zu beurtheilende Ziele gerichtet sind<. Daraus fließt das 
Moralgesetz: »Handle so, daß dein Ziel nach allen dir zur Zeit zur 
Verfügung stehenden Kenntnissen als das positiv wertvollste unter 
allen Zielen erscheint« (411). Daß dieser das fremde Wohl und 
Wehe ignorierende Standpunkt mit jenem Kants verwandt ist, drückt 


134 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


der Verf. selbst aus: »Hier wie dort zeigt sich als moralisch das 
vernunftgemäße Wollen und Handeln im Gegensatz zum augenblick- 
lichen sinnlichen Eindruck« (p. 412) Da bei diesem Erz-Intellec- 
tualismus und Subjectivismus dem Verf. selbst bange zu werden 
scheint, fügt er beruhigend hinzu: »Der consequente Egoismus muß 
nothwendig zugleich Altruismus sein, weil sich als constante Wert- 
begriffe mit fortschreitender Entwicklung der Erkenntnis nur die- 
jenigen ergeben können, welche von individuellen Unterschieden un- 
abhängig, also für jedes Individuum giltig sind«. Vonirgend einem 
socialen Gesichtspunkt, vom Gefühl des ego und des alter, vom 
Leben und seinen Bedingungen ist in allen diesen Constructionen 
kein Sterbenswörtchen zu finden — so endet die Psychologie als 
Erfahrungswissenschaft! 

Wer jedoch das xa@ avréd vom xara ovußeßyxds zu sondern 
weiß, wird darüber nicht vergessen dürfen, welche Fülle von wert- 
vollen Anregungen die erkenntnistheoretische Seite der Psychologie 
dem Verf. zu danken hat. 


Wien, December 1899. Jos. Clem. Kreibig. 


Gramzow, 0., Friedrich Eduard Benekes Leben und Philosophie. 
Auf Grund neuer Quellen dargestellt. Bern, Steiger & Cie- 1899. VII u. 284 S. 
Preis 2,50 M. (Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte. Herausg. 
von Ludwig Stein. Band XIII). 


Die vorliegende Schrift ist ein Beitrag zum Verständnis und zur 
Würdigung eines Denkers, dessen Leben wegen fehlender Aner- 
kennung von Seiten seiner Zeitgenossen einen tragischen Charakter 
bekam. Beneke ist einer der interessantesten Vorgänger der mo- 
dernen Psychologie und empirisch-analytischen Philosophie; er steht 
daneben als einer der wenigen deutschen Philosophen der ersten 
Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in entscheidender Weise von der 
englischen Schule beeinflußt waren. Aus beiden Ursachen ist er dem 
Denken der Gegenwart ebenso sehr verwandt, wie er in seiner eigenen 
Zeit einsam und isoliert stehen mußte. 

Der Verfasser gibt, zum Teil auf der Grundlage eines bisher 
nicht benutzten Materials, eine interessante Darstellung von Benekes 
Leben und Persönlichkeit. Es lag eben auch (wie er in der Vorrede 
sagt) in seiner Absicht, in der Biographie ein Stück angewandter 
Psychologie zu geben, und dieser Teil des Buches ist nach meiner 
Meinung besser als der rein philosophische. Besonders hebe ich die 


Gramzow, Friedrich Eduard Benekes Leben und Philosophie. 186 


gute Charakteristik und Erklärung der Haltung Benekes den Zeit- 
bewegungen gegenüber hervor. Man hätte glauben können, daß Be- 
neke als der geübte Psychologe die Zeiten und die Menschen be- 
sonders gut verstanden hätte. Hier kommt aber der arge Unter- 
schied zwischen Theorie und Praxis hervor. Doch leistete sein psy- 
chologisches Beobachtungsvermögen (oder vielleicht richtiger: seine 
Beobachtungslust) ihm in seiner Jugend einen guten Dienst im Kampfe 
des Lebens. Er war als Freiwilliger in den Krieg 1815 gegangen, 
und daß er im Kampfe keine Furcht gefühlt hatte, erklärte er dar- 
aus, daß er immer sich selbst und seine Kameraden genau beob- 
achtete, um die Wirkungen der ungewöhnlichen Eindrücke kennen zu 
lernen. Der Eifer im Beobachten ließ ihn also in der Gefahr kalt- 
blütig sein. Es wäre interessant gewesen, hätte er uns eine Be- 
schreibung der beobachteten Wirkungen gegeben, damit wir sie mit 
Goethes und Anderer Beschreibungen vergleichen könnten. — In 
dieser Weise half ihm also die Psychologie doch in seiner Jugend. 
Aber später ließ sie ihn ohne Hilfe im praktischen Leben. Ebenso 
wenig wie er die ganze romantisch-spekulative Bewegung auf dem 
Gebiete der Philosophie verstehen konnte, ebenso wenig verstand er 
die Begebenheiten in 1848 und den folgenden Jahren. Er litt selbst 
unter der Reaktion; aber er verstand weder sie noch die Revolu- 
tion. Dr. Gramzow sagt mit Recht, daß, wenn er seine eigene Psy- 
chologie benutzt hätte, er den Begebenheiten und Zeitverhältnissen 
gegenüber nicht mit einem solchen Mangel von Verständnis gestanden 
haben würde. Jetzt nagte diese Isolierung, verbunden mit der 
Zurücksetzung, welche die herrschende spekulative Schule verur- 
sachte, und mit seiner — zum Theil durch Ueberanstrengung be- 
wirkten — Krankhaftigkeit, an seiner Lebenskraft. Sein rätselhaf- 
ter, noch unaufgeklärter Tod ist vielleicht durch die Muthlosigkeit, 
welche alle diese Ursachen bei dem hypochondrischen Manne hervor- 
gerufen haben, bewirkt geworden. 

Benekes Bestreben ging darauf aus, alle Philosophie auf Psy- 
chologie, und alle Psychologie wieder auf Erfahrung zu bauen. Er 
nannte sich selbst einen Schüler von Locke. Er stellt den richtigen 
methodologischen Grundsatz auf, daß die zusammengésetzteren Be- 
wußtseinszustände durch die einfacheren erklärt werden sollten. Das 
Material für die psychologische Analyse holte er teils aus unmittel- 
barer Selbstbeobachtung, teils aus Biographien und anderen Werken, 
in denen die Menschennatur sich darstellt. Seine Methode ist also 
teils subjektiv, teils soziologisch. Aber er legt sein Material für 
die einzelnen psychologischen Sätze nicht ausdrücklich vor, so daß 
man klar sehen könnte, welches das Verhältnis zwischen dem Ge- 


136 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


gebenen und dem daraus Geschlossenen sei. Er arbeitet außerdem 
mit verschiedenen Hypothesen, für die er keine nähere Begrün- 
dung gibt. 

Zur näheren Beleuchtung des Standpunkts Benekes vergleicht 
der Verf. ihn mit Hume, Herbart und Leibniz. Diese Vergleichun- 
gen sind gewiß das Werthvollste in dieser Darstellung der Philoso- 
phie Benekes, und es ist in ihnen eine bedeutende Arbeit von der 
Hand des Verfassers niedergelegt. 

An Leibniz erinnert Beneke durch die Art, in der er die Meta- 
physik und die Religion auf Psychologie gründet — nämlich durch 
Analogie. Unser eigenes Seelenleben fassen wir unmittelbar auf; 
das Materielle fassen wir dagegen nur mittelbar auf, und wir kön- 
nen es uns nur dadurch verständlich machen, daß wir es als ein 
Seelenleben in verschiedenen Abstufungen auffassen. Dieser Gedan- 
kengang, der zuerst bei Leibniz hervortritt und später namentlich 
von Lotze geltend gemacht ist, findet sich bei Beneke (zuerst in 
seiner Schrift über das Verhältnis zwischen Seele und Leib, später 
in seiner Religionsphilosophie) mit großer Klarheit. Er hat aber 
nicht das Bedürfnis, das bei Leibniz so stark hervortritt, die Kon- 
tinuität zwischen den verschiedenen Daseinsstufen festzuhalten. An- 
dererseits geht Beneke so weit in seiner Würdigung der Bedeutung 
der Psychologie, daß er meint, diese Wissenschaft könne eine Voll- 
kommenheit erreichen, der die Wissenschaft der materiellen Natur 
niemals fähig sein wird. Besonders meint Beneke, daß wir auf dem 
psychischem Gebiete eine klare Einsicht in das Kausalitätsverhältnis 
gewinnen können, während dieses Verhältnis nur hypothetisch auf 
dem materiellen Gebiete angewandt werden könne. Hier zeigt sich 
Beneke als Dogmatiker, und man sieht, daß ihm der Blick dafür 
fehlte, wie unvollkommen sowohl die Methode als das Material war, 
welche der Psychologie zum Gebote stehen. 

In dem Vergleiche zwischen Beneke einerseits, Hume und Her- 
bart andererseits, hebt der Verfasser, wie mir scheint, eine gewisse 
Unklarheit, die sich hier bei Beneke findet, nicht hinlänglich hervor. 
Hume und Herbart statuieren eine psychische Mechanik, und Beneke 
erklärt sich hierin mit ihnen einig. Er meint, daß das Produkt 
weder auf dem psychischen, noch auf dem materiellen Gebiete mehr 
als die Elemente enthält. Andererseits meint er, daß qualitative 
Aenderungen vorkommen, und sein Streben geht offenbar darauf aus, 
die Entwicklung des Seelenlebens als ein organisches Wachsthum 
aufzufassen. Die Empfindungen entstehen durch Wechselwirkung von 
Reiz und »Urvermögen< ; — kann es nun aber dargethan werden, 
daß die Empfindung nur enthält, was sich vorher im >»Urvermögen« 


Gramzow, Friedrich Eduard Benekes Leben und Philosophie. 187 


und im Reize fand? Beneke hat diese Frage gar nicht aufgeworfen. 
Ferner. Durch die Assimilation der Reize bilden sich neue »Ur- 
vermögen<; — aber kann man nun denken, daß diese neue Ver- 
mögen nicht mehr enthalten, als was sich in anderen Formen wäh- 
rend der Aufnahme der Reize und während der Assimilation fand? 
— Besonders im Gegensatz zu Herbart tritt der morphologische und 
deskriptive Carakter der Benekeschen Psychologie bestimmt hervor. 
Wie der Verfasser richtig bemerkt, werden bei Herbart die psychi- 
schen Elemente (die »Vorstellungen«) nicht geändert, wenn sie vom 
Bewußtsein zum Unbewußtsein, oder umgekehrt, übergehen. Bei 
Beneke dagegen sind die psychischen Elemente selbst Produkte noch 
einfacherer Elemente (Reize und »Urvermögen«), und sie ändern sich 
durch wiederholtes Zusammenwirken dieser Elemente. Hier ist also 
die Analogie mit der Mechanik (oder Atomistik) nicht festgehalten, 
wie bei Herbart. Benekes psychische Elemente sind den organischen 
Zellen, nicht den physischen Atomen analog. — Es wäre von Be- 
deutung für das Verständnis von Benekes Philosophie gewesen, wenn 
der Verfasser diesen Punkt, und in Verbindung damit das ganze 
Verhältnis Benekes der Naturwissenschaft gegenüber genauer unter- 
sucht hätte. 

Auf die speziellen psychologischen und pädagogischen Theorien 
Benekes geht der Verfasser nicht näher ein. Doch wäre es inter- 
essant gewesen, die Beiträge zur Theorie der Assoziation, der psy- 
chischen Relationen und der Verschiebungsprozesse, die sich in Be- 
nekes psychologischem Hauptwerke, den »Psychologischen Skizzen<, 
finden, genauer zu studieren. Ich habe in meinem philosophischen 
Seminar bemerkt, daß dieses Werk oft eine besondere Anziehung 
auf philosophische Studierende ausübt. — Auch die vielen gesunden 
Gedanken Benekes auf pädagogischem Gebiete verdienten eine aus- 
führlichere Darstellung. Mit Recht hebt der Verfasser hervor, daß 
Beneke eine Wechselwirkung zwischen Psychologie und Pädagogik 
forderte. Er meinte nicht, daß die Pädagogik nichts Anderes wäre, 
als angewandte Psychologie; die Psychologen hätten viel von den 
praktischen Pädagogen zu lernen. 

Ich habe nur noch eine kleine Notiz hinzuzufügen. Der Ver- 
fasser giebt interessante Aufschlüsse über Benekes Berührung mit 
englischen Forschern (Whewell, Herschel, Hamilton). Er hat über- 
sehen, daß Beneke sich auch mit John Stuart Mill in Verbindung 
gesetzt hat. Mill schreibt im Jahre 1844 an Bain: »Ich lese jetzt 
das Buch eines deutschen Professors, Namens Beneke, das er mir 
gesandt hat, nachdem er das meinige gelesen hat, und das mir vor- 
her von Austin und Herschel als mit dem Geiste meiner Theorie 

Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 2. 10 


138 ' Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


stimmend empfohlen war. Dies ist es auch, obwohl es mehr psy- 
chologisch ist, als es in meiner Absicht lag. Obgleich ich Vieles in 
seiner Psychologie ungesund finde, weil er das Prinzip der Asso- 
ziation nicht recht ergriffen hat (bisweilen ist er nahe daran) — 80 
giebt es doch Vieles darin von suggestiver Wirkung«. (Vergl. A. 
Bain: John Stuart Mill. London 1882. p. 79). 

Obgleich das Buch von Dr. Gramzow verschiedene pia desideria 
zurückläßt, ist es doch ein guter Beitrag zur Geschichte der Philo- 
sophie und zur besseren Würdigung eines gründlichen und edlen 
Denkers, dessen tragisches Schicksal bei weitem nicht die einzige 
Ursache davon ist, daß sich ihm die Aufmerksamkeit immer mehr 
zuwendet. Nicht nur als Vorgänger, sondern auch wegen des noch 
immer bedeutungsvollen und lehrreichen Inhalts seiner Werke ver- 
dient Beneke studiert zu werden. 


Kopenhagen. Harald Höffding. 





Harrisse, H., Découverte et Evolution cartographique de Terre- 
Neuve et des pays circonvoisins. 1497—1501—1769. Essais de géo- 
graphie historique et documentaire. Paris, H. Welter; London, Henry Stevens, 
Son and Stiles. MDCCCC. Gr. 4. LXXII + 420 pages; avec 26 planches 
hors texte et 162 extraits en facsimilés de cartes originales des XVIe et 
XVIIe siécles; la plupart inédites. Prix 75 fres. 

Seit einem vollen Menschenalter sehen wir Henry Harrisse un- 
ermiidlich thätig in Herbeischaffung und Verarbeitung versteckten 
Materials zur Geschichte der Geographie im Zeitalter der Entdeckun- 
gen und darüber hinaus. Sein Vaterland Amerika steht dabei im 
Vordergrund seines Interesses. Ausgehend von grundlegenden rein 
bibliographischen Werken und der Herausgabe seltener Dokumente, 
wie der Bibliotheca Americana Vetustissima (1866, Additions 1872), 
der Excerpta Colombiniana (1887) etc. hat er sich anfangs mehr zur 
Aufgabe gestellt, Leben und Thaten einzelner Entdecker in neues 
Licht zu setzen, vor allem diejenigen des Columbus, Cabot, Vater und 
Sohn, Cortereal etc. Im Jahre 1892 trat er dann mit einem monu- 
mentalen Werk allgemeinerer Natur, History of the Discovery of 
North-America, hervor, welche eine sehr wertvolle Cartographia 
Americana Vetustissima enthielt und bereits den Eintritt in eine 
neue Periode historischer Forschungen erkennen ließ, bei denen das 
vergleichende Kartenstudium den Angelpunkt bildet. 

Eine reife Frucht aus Jahre lang vorbereiteten und nun in glän- 
zender Weise zum Abschluß gebrachten Studien bietet uns der Ver— 


Harrisse, Découverte et Evolution cartographique de Terre-Neuve etc. 189 


fasser in diesem neuen Werke. Es ist bezeichnender Weise dem An- 
denken Humboldts, Peschels und J. G. Kohls gewidmet. Der Gegenstand 
betrifft scheinbar eine engbegrenzte Einzelfrage: Entdeckung und kar- 
tographische Entwicklung von Neufundland von Cabot bis Cook. Aber 
ganz abgesehen von der Weite der Gesichtspunkte und der erstaunlichen 
Belesenheit, sowie der Heranziehung der entlegensten Litteratur muß 
das Unternehmen an sich als ein bedeutender Schritt vorwärts auf 
einem noch viel zu oberflächlich behandelten Gebiet betrachtet wer- 
den, nämlich der Forschung nach den Quellen und der gegenseitigen 
Abhängigkeit kartographischer Produktionen jener ältern Zeit. Gewiß 
fehlt es nicht an einzelnen erfolgreichen Versuchen in dieser Hin- 
sicht. Nordenskiölds Periplus enthält ausgezeichnete Anfänge in be- 
sagter Richtung, in dem er den Norden Europas, die Küsten Asiens 
und Afrikas in großen Zügen und an der Hand zahlreicher im Bild 
wiedergegebener Belege nach der Entwicklung kartographischer Dar- 
stellungen an uns vorüber führt. Aber man muß Henry Harrisse 
durchaus recht geben, wenn er in der Einleitung meint, daß die 
Geographie »consideree comme science connexe de Vhistoire dowe étu- 
dice dorénavant, dans ses origines et ses developpements<. Er verlangt 
»la chronologie graphique des principales configurations; du cours 
des grands fleuves; de l’emplacement des villes importantes a toutes 
les époques, selon l’idée qu’en avaient concue les anciens géographes 
et comme les exposent leurs oeuvres««. 

Die Methode, die dem Verfasser hierbei vorschwebt, kann frei- 
lich erschöpfend von einem Einzelnen immer nur für ein kleines Ge- 
biet durchgeführt werden. Er will ein Beispiel dieses grundlegen- 
den Verfahrens geben und wählt dazu Neufundland und die um- 
gebenden Küsten. 

Wenn sich Harrisse bei manchen seiner großen Sammelwerke 
oft auf eine allseitig prüfende und kritisch beleuchtende Zusam- 
menstellung der wichtigsten Dokumente litterarischer oder karto- 
graphischer Natur beschränkte, so liegt, obwohl die Analyse des 
herbeigeschafften Materials naturgemäß auch diesmal den größten 
Teil des prächtig ausgestatteten Werkes ausmacht, doch dessen 
Hauptwert nicht hierin. Ref. erblickt ihn vielmehr in den Dar- 
legungen der nach Abschluß des Werkes geschriebenen, 70 Seiten 
umfassenden Einleitung, zu der wir freilich manche Kapitel im Haupt- 
text unmittelbar heranziehen müssen. 

Diese Introduction, überschrieben » Les Sources: les Anglais, les 
Portugais, les Frangais, les Espagnols, les Basques, les Hollandais et 
les Italiens<« bietet in klarster Darlegung und knappem, nie ermü- 
dendem Stil eine quellenmäßige Geschichte des Anteils, den alle die 


10* 


140 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


genannten Nationen an der Entdeckung und Aufschließung der nord- 
östlichen Küsten Amerikas haben. Doch treten weniger die Einzel- 
fahrten und deren Resultate, als die sie in Bewegung setzenden Mo- 
mente im Vaterland in den Vordergrund. Meisterhaft werden so- 
wohl die politisch-wirtschaftlichen Verhältnisse der sich an der Er- 
forschung beteiligenden Staaten, als besonders der Auf- und Niedergang 
aller der Hafenstädte oder Küstenstriche geschildert, von denen Ex- 
peditionen ausgehen oder die sich in den Aufgaben ablösen. 

Dabei fallen neue Schlaglichter auf die Entwicklung hydrogra- 
phischer oder nautischer Institute in England, Spanien, Portugal, 
Frankreich, den Niederlanden und auf die Zeiten, in denen hier oder 
dort Seekarten von maßgebendem Wert und Einfluß entstanden oder 
deren Herstellung in ganzen Schulen gepflegt wurde; die einzelnen 
Autoren finden dabei eine gründliche Würdigung. 

Indem der Verfasser es sich aber zum Ziel setzt möglichst 
sämmtliche Darstellungen seines Forschungsgebietes im XVI. und 
XVII. Jahrhundert in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und Beein- 
flussung einer Prüfung zu junterziehen, wird das Werk zu einem 
hochwichtigen Beitrag auch der binnenländischen Kartographie, ins- 
besondere während der deutschen Renaissance. 

Der Ausgangspunkt ist für Harrisse die Annahme, daß, entgegen 
einer sehr verbreiteten Meinung, sich die Seefahrer des XVten Jahr- 
hunderts sehr bald überzeugt hätten — Christoph Columbus nicht 
ausgeschlossen —, daß die neu entdeckten Küsten nicht Cathay, 
sondern ein bisher ganz unbekanntes, von Asien getrenntes Land, 
ein neuer Erdteil seien. Diese Ueberzeugung läßt sich bereits für 
die Zeit seit 1498 feststellen. Die Mehrzahl der Kartographen schloß 
sich ihr freilich erst später an, um sie auch nachmals mehrfach zu 
verlassen und wieder aufzunehmen. Treu blieben ihr im wesent- 
lichen nur die Portugiesen und durch sie veranlaßt die Kartographen 
von Dieppe (p. 145). Die Engländer haben in jenen Gegenden im- 
mer nur den Weg nach Cathay gesucht. Der Punkt, an welchem 
John Cabot die Küsten 1497 und 1498 berührte, läßt sich nicht 
feststellen. (Die Darlegungen , durch welche Sebastian Cabots Be- 
hauptungen eigener Entdeckungen in jenem Teil von Nordamerika 
zurückgewiesen werden, sind uns aus den zahlreichen früheren Schrif- 
ten des Verfassers bekannt). Nach einigen weitern unbedeutenden 
Fahrten von Bristol aus traten die Engländer staatlicherseits für fast 
zwei Jahrhunderte von diesem Schauplatz zurück. Bis zum Frieden 
von Utrecht (1713) war Neufundland für England nur >une quantité 
negligeable< (p. XIII). 

Die Gesammtdarstellung des Werkes zerfällt in zwei Teile von 


Harrisse, Découverte et Evolution cartogräphique de Terre-Neuve etc. 141 


ungleichem Umfang; der erste behandelt die Zeit von Juan de la 
Cosa bis Caspar Viegas (1200—1534), S. 3—134, der zweite von 
Cartier bis Cook (1534—1769), S. 135—354. 

Ausführlich verweilt der Verfasser bei Cosas bekannter Karte 
von 1500; das nordwestliche Viertel der Karte ist in sauberem Facsi- 
mile (Heliotypie) beigefügt, freilich stark verkleinert. Es ist, nach 
Meinung des Referenten, mißlich, daß die europäisch-afrikanischen 
Gegengestade bei dieser und andern Karten des Werkes nicht mehr 
auf dem gleichen Blatt zur Darstellung kommen. Unbedingt ist dies 
erforderlich, wenn auf die Gesammtauffassung eines Kartographen 
vom »Weltbild« geschlossen werden soll. Harrisse versucht die geo- 
graphische Lage der von Cabot entdeckten und auf Cosas Karten 
dargestellten Küstenstrecke annähernd zu bestimmen, jedoch nach 
eigenem Geständnis ohne befriedigenden Erfolg. 

Hiebei geht der gelehrte Verfasser freilich meiner Meinung nach 
von einer falschen Prämisse aus. Die Karte enthält bekanntlich 
noch keine Breitenskala und selbstverständlich auch keine Meridian- 
linien. Auf die erstere kann man jedoch mittelst der auf der Karte 
gezeichneten Linien des Aequators und Wendekreises und des übli- 
chen Meilenmaßstabes mit genügender Sicherheit schließen. Harrisse 
nimmt das Spatium (division de l’echelle) von 50 Miglien zu 40 See- 
meilen (minutes) an, was zulässig erscheint (da 50 M.ä& las km = 
74 Kil. sind). Aber indem der Verfasser auch die Längengrade zu 40 
Seemeilen rechnet, stempelt er die Karte ohne weiteres zu einer 
quadratischen Plattkarte für den Aequator als Mittellinie (d.h. 
als Berührungslinie des zugehörigen Cylinders). Das dürfte sicher ein 
Anachronismus sein. Cosas Karte muß meines Erachtens noch als 
eine Kombination mehrerer Plattkarten für verschiedene Mittel- 
breiten zu einem Bilde aufgefaßt werden, ohne daß eine Uebertra- 
gung in ein einziges (ideelles) Hauptnetz vorgenommen ward. Die 
Karte John Cabots, welche Cosa gesehen haben soll, wird sicher 
eine Plattkarte für die Mittelbreite von Südengland, sagen wir rund 
für 48° Br. (für welche ein Längengrad sich zum Breitengrad wie 
2:3 verhält), gewesen sein. In dieser wird Cabots nächster Fest- 
landspunkt (Cavo da Inglaterra) in einem Abstand von rund 2000 
Miglien (= 40 »divisions de l’échelle< von Englands Westküste ge- 
zeichnet gewesen sein und etwa in gleicher Breite mit Bristol. Das 
sind rund 3000 Kilometer oder 1600 Seemeilen (minutes) und dieser 
Abstand bleibt für Cap Race nicht allzuweit hinter der wahren Ent- 
fernung von England zurück. In diesem selben Maße ward das Bild 
der Cabotschen Karte auf die Cosasche übertragen, ohne daß die ost- 
westliche Entfernung, entsprechend einer Cylinder- 


148 ‚Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


projektion für den Aequator als Mittelbreite, um 
das erforderliche Dritteil (3:2) vergrößert worden 
wäre (in 3000 Miglien = 4500 Kilometer). Die Beweise für diese 
Auffassung der ersten Weltkarten im 16. Jahrh., daß sie nämlich aus 
Plattkarten verschiedener Mittelbreiten zusammengesetzt sind, ohne 
daß das Material in ein einheitliches Netz eines walzenförmigen 
Kartenentwurfs gezeichnet worden wäre, kann hier nicht gegeben 
werden. Es sollte durch diese Darlegung nur der Einwurf gegen 
das Verfahren des Verfassers erhoben werden, daß er die geogra- 
phische Länge der Cabotküsten auf Cosas Karte von Westen her 
(vom Meridian von Venezuela aus) zu berechnen sucht, während die 
zu Südamerika und zu jenen Küsten Nordamerikas gehörigen ge- 
meinsamen Meridiane nicht als senkrechte gerade Linien, sondern 
als stark nach Osten gebogene Linien gezeichnet werden 
müßten. Cosa hat sich also das Cavo da Inglaterra gar nicht so 
weit östlich liegend gedacht, wie seine Karte es scheinbar an- 
zeigt, sondern jedenfalls viel westlicher als — auf moderne Längen 
übertragen — auf dem 33° W., wie Harrises Rechnung (p. 20) 
ergiebt. 

Kehren wir nach dieser kleinen Abschweifung zum Hauptwerk 
zurück, so kann es nicht Aufgabe dieser Anzeige sein, dem Verfasser 
auf dem weiten Gang durch bekannteres und neues Material, wel- 
ches er für seine Frage bearbeitet, zu begleiten. Bei seiner ausge- 
breiteten Kenntnis der Fundstätten dieser alten wertvollen Doku- 
mente, seinen nahen Beziehungen zu allen größern Bibliotheken und 
Instituten Europas, am Sitze einer der reichsten Sammlungen dieser 
Art in der Bibliothéque Nationale und andern Sammlungen zu Paris 
bereichert er unsere Kenntnisse durch manchen Hinweis oder die Ana- 
lyse bisher unbekannt geblisbener Karten. Die 26 Tafeln geben 
meist außerordentlich klare Facsimilebilder in trefflichen Heliotypen 
wieder, zuweilen freilich in zu kleinem Maßstabe, um die Legenden 
lesen zu können. Eine mit dem Zweck des Werkes eng zusammen- 
hängende Beigabe sind die mehr als hundert Skizzen von Einzel- 
partien der Umrißlinien Neufundlands nach den verschiedenen Kar- 
ten, um daran die Entwicklung der Bilder möglichst exakt nachzu- 
weisen. Sie rühren, soviel dem Ref. bekannt, sämmtlich von der 
kunstfertigen Hand des fleißigen Verfassers her, dem auch in seinem 
71. Lebensjahr noch ein scharfes Auge zur Verfügung steht, ohne 
das derartige vergleichende ,kartographische Studien kaum unter- 
nommen werden können. 

Was nun die Geschichte der Entdeckungen und Namengebung 
betrifft, so gipfelt die Untersuchung einmal in dem Nachweis des 


Harrisse, Découverte et Evolution cartographique de Terre-Neuve etc. 148 


hervorragenden Anteils, den Portugal sei es von heimischen Häfen 
oder von den Azoren aus seit den Zeiten der Cortereals an dem 
Fischfang auf den Neufundlandbänken genommen hat, ohne daß 
während eines ganzen Jahrhunderts die Tudors dagegen einen Pro- 
test erhoben hätten (p. XXIV). Noch am Ende des XVII. Jahr- 
hunderts erkannte England die Rechte Portugals auf gewisse Küsten- 
striche der Insel an, woraus es sich erklärt, daß manche Namen 
portugiesischen Ursprungs sich erhalten haben (p. 313). Erst im 
Jahre 1541 erscheint auf der Karte Desliens’ von Dieppe die Insel 
vom Festland getrennt. Die geringe Ausdehnung, welche die Kar- 
ten portugiesischen Ursprungs den Küsten im Süden von Neufund- 
land geben, führt Harrisse auf die Furcht der Portugiesen zurück, 
damit in die Domaine der Spanier zu kommen, denn der bekannte 
Vertrag von Tordesillas hatte ersteren in Nordamerika nichts be- 
lassen, was südlicher als 44 !/s ° lag (p. 76). 

Den Portugiesen wird auch das Verdienst zuerkannt, mindestens 
bis 1541 Labrador zuerst erforscht zn haben. 

Schon seit dem ersten Viertel des XVI. Jahrhunderts beteiligen 
sich Schiffer aus den Häfen der Normandie, Bretagne, des Bordelais 
am Fang des Stockfisches, woraus sich die Eigenartigkeit französi- 
scher und später holländischer Küstenzeichnung für diese Gebiete 
ergiebt (p. XXX). 

Als Beispiel ‘der Gründlichkeit, mit welcher Herkunft und Be- 
deutung einzelner Küstenformen oder Namen verfolgt werden, kann 
die Erörterung über das Land (Fluß, Stadt) »Norembegue« oder 
Anorambegue (p. 149 f.) gelten. Dem Verfasser des »discorso d’un gran 
capitano di ‘mare Francese del luoco di Dieppa«, welchen Ramusio 
(1565) erwähnt, nachzuspüren, war für den ausgesprochenen Forscher- 
trieb und die Ausdauer von Henry Harrisse eine lohnende Aufgabe. 
Er findet ihn in Uebereinstimmung mit Ch. Schefer (1883) in Pierre 
Crignon von Dieppe, dem Freund und Gefährten der Parmentiers 
(1529). Auf diesen wird die erste Erwähnung des Namens Norembegue 
zurückgeführt (1539) und dann bis zu seinem Verschwinden verfolgt. 
Die Diepper haben ihn also auf dem Gewissen. Es kann sich nur 
um einen mißverstandenen Indianer-Namen handeln ’). 

So ließen sich noch zahlreiche Beispiele minutiösester Forschung 


1) Auf S. 156 unten muß es bei der Abreise der Capitäne Alfonse von 
Saintonge offenbar heißen »le 16 avril 1542« statt le 16 aotıt 1542, da sogleich folgt 
»apr&s Päques, qui tomba le 9 de ce mois«, und die Ankunft in Terre-Neuve auf 
den 7 Juin 1542 gesetzt wird. 

Hierbei mögen noch zwei Druckfehler korrigiert werden. S. IX. Z. 11 v. 0. 
lies Sebastian Cabot statt Jean; S. XIV. Note 2 lies 1498 statt 1898. 


144 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


anführen, die in die Darstellung eingewebt sind und von dem sich 
in die Lektüre vertiefenden Leser mit steigendem Interesse gelesen 
werden dürften. | 

Doch es genügt um den Wert dieser gründlichen und reichhal- 
tigen Arbeit zu kennzeichnen, die sich würdig den ältern Werken 
anreiht. Ein ausführliches Resumé erleichtert die Auffindung der 
einzelnen Neuheiten, die in dem Werke niedergelegt sind, indem 
dabei zugleich auf die wichtigsten Belege hingewiesen wird. 

Nicht ohne Interesse ist die am Schluß gegebene Uebersicht über 
sämmtliche Schriften und Aufsätze des so ungemein produktiven 
Autors. Durch seine langjährigen Beschäftigungen mit diesen al- 
ten Urkunden ist er wie wenige befähigt ihre Echtheit zu prü- 
fen und festzustellen. Seit sich in Folge der erhöhten Nachfrage 
nach älteren Drucken und Handzeichnungen von Kartenwerken und 
Pamphleten kosmographischer Natur aus dem Zeitalter der Ent- 
deckungen und der Inkunablenlitteratur in Italien Werkstätten von 
Falsifikaten erhoben haben, denen schon manche Liebhaber oder 
auch tüchtige Kenner zum Opfer gefallen sind, ist es doppelt dan- 
kenswert, wenn eine bibliographische Kraft ersten Ranges, wie Henry 
Harrisse, sich in den Dienst der Entlarvung dieser Fabrikate stellt. 
Er weist in dem besprochenen Werke nach, daß die 1899 durch 
Jaques Rosenthal für 3000 Mark verkaufte Portulankarte eines (bis- 
her unbekannten) Kartographen fra Bono Arigoni, Venetia vom Jahre 
1511, eine Fälschung ist (p. LXX). Wir sehen daher auch der be- 
reits angekündigten Schrift »Apocrypha americana« , in der zwei 
gerichtliche Entscheidungen zu Gunsten eines für enormen Preis ver- 
kauften Pamphlets, das als Falsificat nachgewiesen werden kann, be- 
leuchtet werden sollen, mit Spannung entgegen. 


Göttingen, Nov. 1900. Hermann Wagner. 


Brandenburg, E., Moritz von Sachsen. Erster Band: Bis zur Wittenberger 
Kapitulation (1547). Leipzig, B.G. Teubner, 1898. VIII 5588. 8° Preis 12M. 


Brandenburg, E., Politische Korrespondenz des Herzogs und Kur- 
fürsten Moritz von Sachsen. Erster Band: Bis zum Ende des Jahres 
1548. Leipzig, B. G. Teubner, 1900. XXIV 761 S. gr. 8°. Preis 24 M. 


I. Wir machen uns keiner Ungerechtigkeit gegen die älteren 
Geschichtschreiber schuldig, wenn wir in diesem Werk die erste 
wirkliche Biographie des viel umstrittenen Fürsten begrüßen ; und 
dem Urteil, daß in ihr die bedeutendste Erscheinung der letzten 


Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 145 


Jahre auf dem Gebiet der Reformationsgeschichte vorliegt, thut selbst 
die Klage keinen Eintrag, daß die Biographie reichlich belastet ist mit 
Erörterungen über die allgemeine Reformationsgeschichte und die 
besondere Geschichte der sächsischen Territorien. Denn was unter 
dem Gesichtspunkt der Oekonomie einer biographischen Darstellung 
zu bemängeln wäre, vertritt sich selbst durch seinen absoluten Wert. 
Das ganze Buch zeugt von sorgfältigster Arbeit und besonnener 
Durchdringung des Stoffes. Freilich auch von großer Nüchternheit, 
wie denn künstlerische Mittel der Disposition auch an Brennpunkten 
des Interesses gänzlich verschmäht sind. Wir dürfen ja wieder litte- 
rarische Ansprüche stellen an die gelehrte Darstellung. So weit sie 
auf Reinheit und Klarheit der Sprache gehen, werden sie durch den 
Verf. vollauf befriedigt; soweit sie sich auf Lebendigkeit und Fluß 
der Gesamtdarstellung erstrecken, bleibt etwas zu wünschen. Uebri- 
gens gleichen sich Vorzüge und Mängel der schriftstellerischen Per- 
sönlichkeit aus. Für den Reichtum des Materials und die unermüd- 
liche kritische Wachsamkeit nehmen wir schon einige Nüchternheit 
mit in den Kauf; nur hätte der Verf. sein Buch durchweg etwas 
mehr vom Detail im eigentlichsten Sinne befreien sollen; er hätte 
das um so mehr, als er sich in der gewiß beneidenswerten Lage be- 
fand, gleichzeitig eine Sammlung von Urkunden und Akten zur Ge- 
schichte des Herzogs und Kurfürsten Moritz für die Sächsische hi- 
storische Kommission herauszugeben (über deren ersten Band unten 
noch des näheren berichtet werden soll). Durch strengere Sichtung 
und Handhabung des Stoffes hätte das Werk an Wert und an Le- 
SEIN gewonnen. 

Die Erzählung des vorliegenden Bandes begleitet den Herzog 
Moritz bis auf die Höhe seines Lebens, bis zum Erwerb der Kur- 
würde und der Kurlande. Was von seinem Leben noch aussteht, 
soll in einem zweiten Bande dargestellt werden: sechs inhaltreiche 
Jahre, erfüllt von dem Bemühen, das nur zu leicht Gewonnene im 
Spiel der Politik und des Feldes zu behaupten ; ein Bemühen, das 
jene denkwürdigen Vorstöße und Kompromisse erzeugte, die so sehr 
im Mittelpunkte der allgemeinen Geschichte stehen, daß ihre Dar- 
stellung sich mit Fug und Recht zur Reichsgeschichte wird erweitern 
müssen. Für die frühere Periode gilt das Gegenteil. Bis zur Wit- 
tenberger Kapitulation ist Moritz’ Geschichte fast ganz aus den klei- 
neren Verhältnissen seiner Lande zu begreifen und (das ist Bran- 
denburgs Grundgedanke) erst aus dieser Geschichte auch das Wer- 
den der Persönlichkeit des jungen Herzogs. Ranke hat einst 
(Ref.-Gesch. V 238) im Rückblick auf das spätere Wirken des Kur- 
fürsten Moritz die Persönlichkeit als Ganzes hingenommen und die 


146 | Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 2. 


Charakteristik gegeben, die sich im ganzen bis auf Bezold be- 
hauptet hat, ob ihr auch Cornelius längst den schärfsten Wider- 
spruch entgegengehalten hatte. Ranke schrieb: »eine Natur deren- 
gleichen wir in Deutschland nicht finden, so bedächtig und geheim- 
nisvoll, mit so vorschauendem Blick in die Zukunft und bei der Aus- 
führung so vollkommen bei der Sache, — durch sein Dasein als 
eingreifende Kraft bedeutende. Brandenburg findet die geheimnis- 
voll treibenden Kräfte nicht in der Person seines Helden. Sein 
Moritz ist ein Mensch von einfacher Psychologie, eine Natur von 
derbem Realismus, gutem Intellekt, etwas vorschnellen Entschließun- 
gen, aber keineswegs von Haus aus bedeutend, — erst durch Glück 
und Erfahrung gewitzigt und emporgebracht. So wird der Mann 
des öfteren auf diesen Blättern mit kühlem Realismus hingezeichnet. 
Er verliert als Persönlichkeit. Umgebung und Verhältnisse gewinnen 
an Interesse. 

Die Geschichte der albertinischen Lande in der ersten Hälfte 
des XVI. Jahrhunderts ist thatsächlich der Hauptinhalt dieses Ban- 
des. Wir können für die eingehende Darstellung der territorialen 
Verhältnisse nicht dankbar genug sein. Es verschlägt auch nicht 
viel, wenn über der Entwirrung realer Bestrebungen und Interessen- 
gegensätze in der einzelnen Darstellung die große religiöse Bewe- 
gung zu kurz zu kommen scheint. Wir werden schließlich die Stärke 
der religiösen Impulse um so reiner schätzen lernen, je rücksichts- 
loser zunächst einmal die wirtschaftlichen und politischen Motivie- 
rungen herausgestellt werden. Ein leichtes Mißverhältnis liegt in 
unserem Falle nur darin, daß doch nur Moritz’ Bedeutung für die 
allgemeine Reformationsgeschichte zu einer so eingehenden Biographie 
und damit zur Darstellung auch seiner Territorialregierung veran- 
laßt, während für die Territorialentwicklung als solche die vorher- 
gehende Regierung seines Oheims Georg und die folgende seines 
Bruders August vielleicht von größerer Wichtigkeit gewesen sind. 
Außerdem bedürfen an sich wirtschafts- und verwaltungsgeschichtliche 
Darstellungen längerer Perioden. Es ist wohl ein Zugeständnis an 
diese Thatsachen, daß Brandenburg in der Schilderung der Terri- 
torialverhältnisse weit ausholt. Seine Darstellung greift noch über 
die Zeiten Georgs zurück. Wir werden bekannt gemacht mit den 
Gebieten der Wettiner, ihren geographischen und wirtschaftlichan 
Verhältnissen, mit den glänzenden Aussichten des Hauses, die aber 
frühzeitig durch die Teilung von 1485 und die zunehmende Rivalitit 
der Linien wieder in Frage gestellt wurden. Die Rivalität äußerte 
sich auf wirtschaftlichem Gebiet in Ansehung der Handelswege unc 
Verbindungen, auf politischem in dem Verhältnis zu den schwächeren 


Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 147 


Reichsständen, Geistlichen und Städten, sogar auf kulturellem Ge- 
biet in der Eifersucht zwischen den Universitäten Leipzig und Wit- 
tenberg. Zur Darstellung des Hintergrundes wird hingewiesen auf 
die ohnehin im Reich vorhandenen ständischen, sozialen und Bil- 
dungsgegensätze, auf die Reibungen der Stände, wie der weltlichen 
und kirchlichen Organe aneinander, auf den Ausgleich oder die Ver- 
stärkung aller Gegensätze durch das Auftreten der religiösen Frage. 
Wir treten den handelnden Persönlichkeiten näher, dem Kaiser, sei- 
nem Bruder Ferdinand, den altgläubigen und den lutherischen Reichs- 
fürsten; der schmalkaldische Bund führt auf Landgraf Philipp, die 
leidige Doppelehe und den ihr folgenden Regensburger Vertrag. Für 
Moritz sollte ja beides von bestimmender Bedeutung werden; der 
junge Fürst war als Eidam Philipps bereits >in eine höchst gefähr- 
liche Richtung hineingedrängt worden, als er die Regierung der al- 
bertinischen Lande antrat< (105). 

Streit und Verwirrung in den eigenen Familien, Interessenpolitik 
und gefährliches Paktieren, nicht die schwungvolle Stimmung der 
Frühreformation bestimmten Moritz’ Anfänge. Am 21. März 1521 
in dem Teilfürstentum seines Vaters zu Freiberg geboren, prote- 
stantisch erzogen, ohne doch von seinem Glauben tiefer ergriffen zu 
werden, erhielt Moritz (1541, August 18) die Regierung der 
lange katholischen, von seinem Vater Heinrich nur hastig und unge- 
nügend reformierten Lande Herzog Georgs. Die Lande waren eben 
in der Entwicklung begriffen zum Beamtenstaat. Georgs Regierung 
war in ihrer Art musterhaft gewesen, aber eine rationell eingreifende 
Centralverwaltung hatte sich doch noch so wenig wirksam gezeigt, 
daß dem Fürstentum durchaus die bunteste Vielgestaltigkeit das 
Gepräge gab. Schon äußerlich war das Gebiet vielfach zerstückelt 
und mit Nachbargebieten vermengt. 

»Zu Beginn des sechszehnten Jahrhunderts war Sachsen noch 
vorwiegend Ackerbauland. Industrie und Handel begannen erst all- 
mählich sich zu entwickeln< (109). Der grundbesitzende Adel war 
noch weitaus der wichtigste Stand des Landes. Mochten auch wirt- 
schaftliche Anlagen auf dem Lande, wie Brennereien, bei dem star- 
ken Widerspruche der Städte nicht aufkommen, — die Stellung zum 
Fürsten einerseits und das wirtschaftliche Uebergewicht über die 
eigenen Arbeitskräfte und Zinsbauern hielt den Landadel allen an- 
dern Elementen des Landes weit überlegen. Eigentliche Industrie 
gab es nur im Erzgebirge und zwar schon seit dem XII. Jahrhun- 
dert; zunächst ein Raubbau, dann rationellere Wirtschaft unter Be- 
teiligung des »fremden Mannes<, vor allem des oberdeutschen Kauf- 
manns; hier zuerst ergab sich aus den Bedürfnissen des Großbe- 


148 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


triebes ein Geschäftsleben, das tiber den lokalen Marktverkehr hinaus- 
wirkte. Zu den Silbergruben, deren sich noch im XV. und XVI. 
Jahrhundert neue aufthaten, gesellten sich Zinn-, Eisen- und Stein- 
kohlenbergwerke. Das Silber wurde zunächst in der herzoglichen 
Kammer gesammelt; es ging guten Teils aufler Landes zum Aus- 
gleich eines geringen Imports. Wichtiger als dieser oder gar als ein 
Produktenexport war der aufblühende Durchgangshandel. Leip- 
zig als Stapel in der Richtung gegen Norden und Osten für alle 
Ladungen von Niirnberg und Frankfurt bliihte sichtlich auf; immer- 
hin stand es (wie Dresden) mit seinen 4000 Einwohnern noch gegen 
Freiberg (mit 5000) zurück. Dem günstigen wirtschaftlichen Ge- 
samtzustand des Landes entsprachen auch die herzoglichen Finanzen. 
Das Einkommen des Herzogs, vornehmlich aus den Ueberschiissen 
der Aemter, den Erträgnissen der Bergwerke und aus indirekten 
Steuern, berechnet Brandenburg für die letzten Jahre Herzog Georgs 
auf etwa 140000 fl. Die Ausgaben für die Landesverwaltung 
(grofenteils ja bereits in Natura bestritten), für das Reich und für 
fürstliche Apanagen (im weiteren Sinne) beliefen sich auf einige 
52000 fl., für den Hof blieben also etwa 88000 fl. übrig, mehr als 
Schmoller für diese Zeit als Gesamteinkommen des Kurfürsten von 
Brandenburg berechnet (S. 132). 

Für die öffentliche Sicherheit war unter Herzog Georg nicht 
schlecht gesorgt. Die sonstigen Polizeiangelegenheiten, zu denen ja 
Kleidung, Essen, Trinken, Waffentragen, wohl auch das Münzwesen 
gezogen wurden, waren geregelt durch die Landesordnungen von 
1446 und 1482. Doch fehlte es bei dem Mangel einheitlicher Ver- 
waltung noch sehr an wirklicher Handhabung einer innern Poli- 
tik. Das Land hatte außer landesfürstlichen Aemtern mit adeligen 
Amtmännern (und deren bürgerlichen Gehilfen: Schösser und Ge- 
leitsmann) noch bischöfliche, gräfliche und herrschaftliche Gebiete. 
Selbst in den Acmtern hatten der »schriftsissige< Adel und die größe- 
ren Städte wieder ihre Privilegien. Die Macht des Adels war groß, 
wenn auch die einzelnen, selbst ganze Geschlechter, gegen die Will- 
kür des Fürsten nicht mehr aufkamen, wie sich in dem leidigen 
Prozesse gegen Anton von Schönberg grell genug zeigen sollte 
(S. 171 ff., 208 f.). Immerhin nahm der Adel auch in der Central- 
regierung noch die erste Stelle ein; die »wesentlichen Hofräte« so 
gut wie die zur Disposition stehenden »Räte von Haus aus< ent- 
stammten in erster Linie dem Landadel und nur neben solchen von 
Adel wirkten bürgerliche Doctores. Von den vornehmen Aemtern 
war nur das des Kanzlers (im XV. Jahrh. noch vielfach ein Geist- 
licher) im XVI. Jahrhundert durchweg mit einem gelehrten Rate 


Brandenburg , Moritz von Sachsen. Erster Band. 149 


besetzt; aber der Kanzler stand zurück hinter dem Vorstand der 
Hofverwaltung, dem Marschall, und den jeweils einflußreichsten Hof- 
räten. 

Die Bedeutung der Geistlichkeit als Stand war überaus gering. 
Nichts von dem gewaltigen Einfluß, den die alten Reformatoren am 
Hofe der Ernestiner ausübten! Theologen von Gewicht hatte man 
überhaupt nicht. Die altgläubige Geistlichkeit war in ihrer Bethä- 
tigung vollends gebunden. Geringe Macht und die Notwendigkeit 
einer Anlehnung hatten die kleinen Bischöfe dieser Gegend über- 
haupt nicht zur vollen fürstlichen Stellung gelangen lassen. Sie be- 
suchten die Landtage der Wettiner und ohne viel Federlesens wurde 
ihnen bei den Versuchen einer Reformation (1539 in Meißen und Mer- 
seburg, 1542 in Naumburg) und dann regelmäßig auf den Reichs- 
tagen die Reichsunmittelbarkeit abgesprochen; papierne Proteste 
und Zugeständnisse des römischen Königs änderten daran nichts. 
So hat auch der altgläubige Kultus nicht so sehr an den Bischöfen, 
als an dem mächtigen Landadel seinen Schutz gefunden. Je weniger 
irgend ein anderer Stand im Fürstentum zu Bedeutung gelangte, um 
so mehr äußerte sich zumal in der Politik des Tages direkt und in- 
direkt der Einfluß dieses Adels auf die fürstliche Regierung. 

Moritz also sah sich in seinen einzelnen Entschließungen zwi- 
schen den entgegengesetzten Einflüssen seiner protestantischen Glau- 
bensgenossen und seines mächtigen, mehr oder minder altgläubigen 
Landadels. Drüben Philipp von Hessen, wenn schon durch den Re- 
gensburger Vertrag gelähmt, doch im Herzen stets auf Aktion und 
Bündnispolitik bedacht ; hüben Georg von Carlowitz, weiland Berater 
Herzog Georgs, Schwager des spätern Bischofs Julius Pflug von Naum- 
burg, der kluge Führer des Adels, altgläubig und gut kaiserlich, 
ängstlich besorgt um den Frieden und um die Sonderinteressen des 
Territoriums. 

Gegenüber dem Widerstreit solcher Gegensätze bedeuteten im 
ersten Jahre der Regierung Moritzens die Familienhändel mit dem 
Bruder August und der Mutter Katharina nicht viel, so ärgerlich sie 
sich auch anließen. Auch nachbarliche und persönliche Irrungen mit 
den Ernestinern gewannen erst nach und nach ihre Schärfe. Dagegen 
mußte über die Richtung der Gesamt-Politik im Sinne Philipps oder 
Carlowitz’ die Entscheidung zeitig fallen: sie lautete zunächst auf 
völligen Sieg des alten Rates, so sehr sich auch Moritz beim Re- 
gierungsantritt zunächst an den Landgrafen angelehnt und von die- 
sem Ratschläge erbeten und erhalten hatte. In der Hauptsache 
(vielleicht nicht ganz in dem Maße, wie Brandenburg bei seiner ge- 
ringen Schätzung von Moritz’ Eigenart es darstellt) bestimmte Carlo- 


150 'Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


witz’ Programm (S. 159 ff.) den Kurs der Regierung: »möglichste 
Absonderung von den Schmalkaldenern, Emanzipation vom Einflusse 
des Landgrafen; zugleich vorsichtige Anknüpfung mit den Habs- 
burgern, Streben nach einer neutralen Stellung zwischen den Par- 
teien, damit man bei ernsten Verwickelungen nicht in Mitleidenschaft 
gezogen werde< (Pol. Korresp. I, 284). Vor allem in der Frage des 
Beitritts zum schmalkaldischen Bund wußten die Räte dem jungen 
Herzog klar zu machen, seine einst (1537) in allgemeinster Form 
mit dem Vater abgegebene Erklärung verpflichte ihn zu nichts. 
Alle Vorstellungen der Schmalkaldischen blieben dagegen fruchtlos; 
Moritz versprach den Verwandten Hilfe in allen Fällen, lehnte aber 
das politische Zusammengehen und die Uebernahme bündischer 
Pflichten hartnäckig ab. Auch bei der persönlichen Zusammenkunft 
zu Naumburg, Oktober 1541, erreichten Philipp und Johann Friedrich 
von Moritz nur die ferne Aussicht auf eine Beteiligung an dem Zuge 
gegen Braunschweig; und selbst das dünkte Carlowitz schon zu weit 
gegangen; er bemühte sich zunächst um Aufschub, dann verhinderte 
er überhaupt die Beteiligung seines Herrn; mit einer Geldsumme 
kaufte er sich (auch noch widerstrebend) los. Dagegen instruierte 
die Regierung zum Entsetzen Philipps von Hessen ihre Reichstags- 
gesandten 1542 zu unbedingter Bewilligung der Tiirkenhilfe. Ja noch 
mehr; Moritz ließ dem Könige Ferdinand bei vertraulichem Empfang 
seiner Räte mitteilen, er werde gern persönlich mit ins Feld gehen 
und würde es gern sehen, wenn der König seinen Bruder August 
für längere Zeit zu sich an den Hof nehme. Beides nahm begreif- 
licher Weise der römische König freundlich auf. 

Gleichzeitig erweiterte sich die Kluft gegen die Häupter der 
Schmalkaldischen durch die Wurzener Fehde. Der Kurfürst Johann 
Friedrich hatte eigenmächtig das bischöflich meissnische Amt Wurzen 
besetzt, obwohl die Schutzherrschaft über das Bistum beiden Sachsen 
gemeinsam zustand. In seinem fürstlichen Selbstgefühl verletzt, fuhr 
Moritz auf, rüstete, zog ins Feld, knüpfte nach allen Seiten Verbin- 
dungen an und ließ sich schließlich nur mit Mühe durch den Land- 
grafen wieder beruhigen; zum UebertluG kam Moritz auch noch eine 
gegen ihn gerichtete Epistel Luthers zu Gesicht, was die übelste 
Wirkung hatte. 

Moritz ging gleich danach über Jie Meinungen nicht blos Phi- 
lipps sondern auch seiner Umgebung weit hinaus, wenn er darauf 
bestand, den Türkenfeldzug des Sommers 1542 persönlich mitzuma- 
chen. Das militärische Interesse an der Campagne war und blieb 
gering; das Lagerleben und die Feinde erschienen dem jungen Für- 
sten anziehend; er hatte auch Gelegenheit, seinen tollen Mut zu zei- 


Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 151 


gen und sich einen gewissen Namen zu erwerben; aber das wichtigste 
für seine Entwicklung war doch die nahe persönliche Fühlung zu 
König Ferdinand, die er damals gewann. Freilich, die Versuche 
Georgs von Carlowitz, diese Beziehungen für eine religiöse Vermittlung 
zu verwerten, scheiterten völlig; doch sahen sich die Sachsen von 
beiden Seiten täglich mehr umworben. Johann Friedrich hatte so- 
gar einmal den törichten Gedanken, den schmalkaldischen Bund 
durch ein Sonderbündnis mit Philipp und Moritz zu ersetzen. Auf 
der andern Seite wurde ein wachsendes Interesse der kaiserlichen 
Räte an dem Albertiner rege. Granvelle (den man übrigens doch 
auch bildlich nicht als »Spanier<, S. 238, bezeichnen darf), suchte zu 
Nürnberg 1543 den jüngeren Carlowitz, Georgs Neffen Christoph, fest 
in seine Netze zu ziehen; Mitte Februar scheint von ihm zuerst die 
Idee einer Uebertragung der Kur an die Albertiner hingeworfen 
zu sein; er forderte dabei, daß man solche Dinge nur in Chiffern 
nach Hause melde, damit solches wider E. F. Gn. noch ime nicht eu 
nachteil gereichete (Korresp. I 550), und Christoph von Carlowitz 
fühlte sich durch so fremdartige Bräuche erst recht in seiner Ver- 
trauensstellung. Moritz freilich stellte mit einer Unverschämtheit, 
der zur Größe einstweilen nur noch die Konsequenz fehlt, so exor- 
bitante Forderungen, daß sich die Verhandlungen zunächst zerschlu- 
gen; er wollte für einen schlichten Reiterdienst gegen Frankreich 
(und Cleve ?) nicht weniger als die vier obersächsischen Stifter auf 
einmal haben. Immerhin zog Granvelle aus den Verhandlungen die 
Lehre, daß mit Moritz etwas zu machen sei, wenn nur der Preis 
recht hoch gegriffen werde. Von König Ferdinand forderte Moritz 
noch im selben Herbst für seine Türkenhilfe gleich die Oberlausitz ; 
als er sie nicht bekam, gab er die Hilfe ungeschmälert unentgeltlich. 

Das Liebeswerben bei den Habsburgern, ganz im Sinne der 
Carlowitze, ging fort. Als der Kaiser selbst nach Deutschland zu- 
rückgekehrt war, fand Christoph von Carlowitz am Hofe so freund- 
liche Aufnahme, daß Moritz sich entschloß, persönlich nachzukommen. 
Ende Oktober 1543, einige Wochen nach Karls Sieg über Cleve er- 
schien Moritz im Hauptquartier vor Landrecy. Eine Reihe denk- 
würdiger Begegnungen: mit dem Kaiser, mit Heinrich von Braun- 
schweig, mit Markgraf Albrecht von Brandenburg-Kulmbach ! Von 
dieser Probefahrt zu Hofe brachte der junge Fürst freilich nur 
ein Danaergeschenk nach Hause: den Auftrag, in der braunschweigi- 
schen Sache zu vermitteln. Pflichtschuldigst machte er sich daheim 
ans Werk; natürlich ohne jeden Erfolg; er mußte dem Kaiser ge- 
stehen, er verstehe sich nicht auf derlei Dinge. 

Mit Mißtrauen folgten die Schmalkaldischen diesem Spiel des 


152 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


jungen protestantischen Fürsten. Die Eifersucht wegen des vorwal- 
tenden Einflusses und der späteren Herrschaft in den benachbarten 
Stiftern verstärkte immermehr die Besorgnis und die Abneigung der 
Ernestiner. Johann Friedrich suchte durch einen (nicht ohne Lu- 
thers Beihilfe zustandegebrachten) Schutzvertrag mit Halle in den 
Stiftern festen Fuss zu fassen; dagegen stand die Dresdener Regie- 
rung seit längerem mit dem etwas fragwürdigen Faktotum des Car- 
dinals Albrecht, dem Kanzler Dr. Türk, in Verhandlungen wegen Ab- 
findung des Cardinals und Verwaltung von Magdeburg und Halber- 
stadt durch Moritz. Der Kaiser sollte den Handel gestatten. Es 
fehlte nicht an ernstlichen Bemühungen, aber sie blieben selbstver- 
ständlich zunächst ohne Erfolg. Moritz ließ sich (ähnlich wie im 
Vorjahr für den Türkenkrieg) schließlich ohne jeden höheren Preis 
für den Feldzug nach Frankreich gewinnen. Am 15. Juni 1544 
musterte er seine Scharen in Metz, rückte mit ein nach Frankreich ‘), 
schlug sich ohne große Thaten mehr mit den kaiserlichen Zahlmei- 
stern als mit dem Feinde herum, kehrte aber immerhin bereichert 
um neue Erfahrungen in die Heimat zurück. Am 11. Oktober 
weilte er wieder bei Philipp von Hessen in Kassel. 

Man darf sich über all diesen politischen Vorgängen das per- 
sönliche Verhältnis des jungen Moritz zu seinem Schwiegervater 
nicht ernstlich gestört denken. Die gute zarte Herzogin Agnes hat 
freilich das Verhältnis zwischen dem Gemahle und dem Vater ganz 
und gar nicht gefördert ; sie spielte weder in der Politik noch an 
den Höfen eine Rolle (S. 359 ff... Dagegen hing Moritz persönlich 
an dem Landgrafen von jeher mit einer gewissen Bewunderung ; beide 
berührten sich mit verschiedenen Seiten ihres Wesens sympathisch. 
Fehlte es Moritz auch völlig an der politischen Uebersicht und an 
der Glaubensfrische, die des Landgrafen politische Haltung bestimm- 
ten, so war doch auch Moritz weit entfernt, sich in seinem Lande 
von den altgläubigen Räten in die religiösen Angelegenheiten hin- 
einreden zu lassen; wenn er hier überhaupt unter einem Einfluß 
stand, so war es derjenige Philipps von Hessen. Die Berufung Bu- 
zers, von Philipp angeregt, unterblieb zwar; aber der hessische Pfar- 
rer Greser aus Gießen kam nach Sachsen und wirkte zum Heile des 
Landes bis an sein Ende als Superintendent zu Dresden. So ver- 


1) Hier erfolgte wohl auch die erste Anknüpfung mit den Engländern, auf die 
ich hinweisen möchte. Ein Diensterbieten von Seiten Moritz’ beantwortete Heinrich 
VIII. in einer sehr bemerkenswerten Instruktion für Beauclerk und Dr Christ. Mont 
von Ende November 1544 [State papers, Henry VIII, foreign corresp. X, 222— 
227. Vgl. auch Froude, History IV, 236]. Die Berichte Monts vom Dezember 
1544 und Januar 1545 bringen nichts über Moritz (ib.). 


Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 153 


diente sich auch Moritz durch seine kirchliche Administration die 
Anerkennung seines Schwiegervaters. Den Verkauf der größten 
Masse der geistlichen Güter setzte der Herzog gegen seine Land- 
schaft nach mancherlei Verhandlungen durch, und in den Jahren 
1543, 44 und 45 wurde unter seiner lebhaften persönlichen Mitarbeit 
die Uebernahme der alten kirchlichen Kulturaufgaben an den Staat 
vollzogen. Wohl ging von dem Erlös der Güter einiges an die 
Räte und an das herzogliche Gut; eine namhafte Summe wurde 
auch zur Bestreitung zufälliger Tagesbedürfnisse, wie des Braun- 
schweiger Krieges verwandt, aber der größte Teil des Barertrages, 
der sich auf mehr als 150,000 fl. belief, ward doch für die Seel- 
sorge, den Unterricht und die soziale Praxis verwertet. Man muß 
die Maßregeln für die Stadt- und Landpfarren, für die Visitationen, 
das oberste Kirchenregiment und die Universität, für die Landes- 
schulen Meißen und Pforta, für Hospital und Armenpflege bei Bran- 
denburg des näheren nachlesen. Als Rat für diese Dinge war neben 
Carlowitz vorzüglich Dr. Komerstadt des Herzogs Gehilfe. Freilich, 
erst nach Carlowitz’ Abschied gelangte man mit der Errichtung der 
Konsistorien, statt des von diesem gewünschten bischöflichen Regi- 
ments, zum Abschluß. 

Neben der Administration von Kirche und Schule im eigentli- 
chen Fürstentum gingen die Versuche weiter, die Reformation über 
die Bistümer auszubreiten. Verhältnißmäßig leichtes Spiel hatte man 
mit Bischof Johann von Meißen, während Sigmund von Merseburg 
sich (hier entgegen den Wünschen der Ritterschaft) lange erfolgreich 
straubte; aber am 4. Januar 1544 starb der Bischof, und nun setzte 
die sächsische Regierung alle Hebel in Bewegung, wenigstens die 
Wahl eines ihr geneigten Nachfolgers zu erlangen; der naive Ver- 
such, das Stift einfach herzoglich zu machen, war auf das Mahnwort 
des Kaisers hin unterblieben. Es erreichte denn auch Moritz durch 
persönliches Erscheinen bei dem Wahltermin die Wahl seines Bru- 
ders August, der mit ihm den längst protestantisch gesinnten Dom- 
herrn, den Fürsten Georg von Anhalt, als Koadjutor für die geistlichen 
Funktionen bestellte. Freilich war damit Augusts Versorgung im Sinne 
fürstlicher Abfindung noch keineswegs erreicht, und die »brüderli- 
chen Sonderungen« mit neuen Abreden gingen noch durch die fol- 
genden Jahre hin, — Sorgen und Aerger, wie sie allenthalben die 
jüngeren Brüder machten. 

Die gesamte innere Kirchenpolitik hatte nun für Moritz’ Regi- 
giment eine höchst bedeutende rein politische Folge. Die Saekulari- 
sationen machten ihn unabhängiger von der Landschaft und die un- 
geheure Ausdehnung der Staatsaufgaben machte ihn mächtiger und 

Göts. gel. Ans. 1901. Nr. 2. 11 


154 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


selbstbewußter. Die historische Bedeutung der albertinischen Rit- 
terschaft und der aus ihr hervorgegangenen Räte ist demnach so zu 
bestimmen, daß sie den jungen Herzog zu Beginn seiner Regierung 
reichs- und kirchenpolitisch auf eine Bahn gelenkt hatten, die dem 
Fürsten nach und nach als bequem und gewinnbringend erscheinen 
mußte und deshalb von ihm auch weiter festgehalten wurde; daß sie 
aber an nachhaltigem Einfluß einbüßten, als der Fürst zu seinen 
Jahren gekommen war. Immer unbehaglicher fühlte sich der nach- 
gerade 75jährige Carlowitz; er nahm seinen Abschied, um es nicht 
zu erleben, daß man seiner eines Tages nicht mehr bedürfe (gegen 
den Frühling 1545). 

Die folgenden Jahre 1545 und 1546 sollten die entscheidenden 
in Moritz’ Leben werden. So erregen die letzten Kapitel in Bran- 
denburgs Darstellung: »Die Zeit des Schwankens« und »Der schmal- 
kaldische Krieg in Sachsen< von dem ganzen Buch doch das un- 
mittelbarste Interesse. In der gründlichen Durchforschung der Vor- 
gänge dieser Jahre liegt auch der Schlüssel für Brandenburgs Ge- 
samtauffassung des Herzogs. Da er in diesen Zeiten der Krisis 
nichts von kluger Leitung des Schicksals, nicht einmal etwas genial 
Niederträchtiges in Moritz’ Verhalten fand, vielmehr nur eine Kette 
von Verlegenheiten, Unwahrhaftigkeiten und schlechten Aushilfen, so 
ist er geneigt, die ganze bisherige Schätzung der Persönlichkeit als 
verfehlt zu betrachten. Nicht mit Unrecht. Moritz’ politisches Ur- 
teil erwies sich als eng und völlig abhängig von seinen individuellen 
Erfahrungen; die Türkengefahr hielt er für das Schlimmste; den 
Kaiser fürchtete er nur wegen der geistlichen Güter; in Sachen des 
Glaubens, meinte er, wisse niemand mit Sicherheit was recht und 
unrecht sei; da müsse man die Lösung Gott anheimstellen. Als die 
Auseinandersetzung mit dem Kaiser immer näher rückte, zeigten 
sich zwar Fürst und Räte darin einig, daß man schon wegen der 
Saekularisation der geistlichen Güter gemeinsame Interessen mit den 
andern Protestanten habe; aber die Parteien gingen darin auseinan- 
der, daß die einen die Kriegsgefahr durch den Hinweis auf die Ge- 
samtmacht und auf die versöhnliche Stimmung der Protestanten 
glaubte abwenden zu können (so urteilte wohl Moritz mit Dr. Ko- 
merstadt), während die andern (Chr. v. Carlowitz und Dr. Fachs) 
schon jetzt daran dachten, an dem unvermeidlichen Siege des Kai- 
sers teilzunehmen; sie leugneten offen jede Gefahr und intriguierten 
beständig gegen die Ernestiner (S. 383 f). Da Johann Friedrich 
der Dresdener Regierung an territorialer Engherzigkeit nichts nach- 
gab, war alles Bemühen des Landgrafen, die Vettern dauernd zu 
versöhnen, umsonst. 


Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 155 


Im Herbst 1545 kam die erste große Probe. Der Kaiser war 
bedrohlicher geworden gegen Hermann von Wied. Heinrich von 
Braunschweig rüstete sich zur Wiedererlangung seines Fürstentums. 
In beiden Vorgängen sah der Landgraf die Einleitung der großen 
Abrechnung mit den Protestanten. Als sein Gesandter Günderode 
nach Dresden kam, war Herzog Moritz noch unpäßlich infolge eines 
allzu kräftigen Gelages mit Johann Friedrich. Die hessische Bot- 
schaft, ihm durch Komerstadt übermittelt, beantwortete er nach 
dem alten Rezept: man solle dem Kaiser Religionsvergleichung an- 
bieten; im Kriege werde man doch den Kürzeren ziehen. Bald 
danach mahnte Landgraf Philipp um eilende Hilfe gegen Heinz von 
Braunschweig, und — plötzlich und unbedachtsam stürzte sich Moritz 
ins Feld. Freilich stutzte er sofort, als er in Mühlhausen erkannte, 
daß von unmittelbarer Gefahr für seine Verwandten nicht die Rede 
sein konnte; er versuchte deshalb die Dinge so zu wenden, daß man 
ihm die Vermittlung zwischen Philipp und Heinrich gestattete. Er 
verstrickte sich aber aufs neue in üble Verpflichtungen und schließlich 
war niemand mit ihm zufrieden; die Schmalkaldischen entbehrten 
die unbedingte Bundesgenossenschaft und die Braunschweiger sagten 
offen, daß Moritz ihren Herrn hinterlistig gefangen genommen habe. 
So war das Ende vom Liede, daß sich Moritz über diesen Dingen 
noch im Winter 1545/46 auch mit seinem Schwiegervater überwarf. 

Da er gleichzeitig mit seinem Vetter Johann Friedrich wegen 
der Stifter Magdeburg und Halberstadt immer ernstlicher aneinander 
geriet, schwand jede Aussicht auf eine Verständigung zwischen Mo- 
ritz und dem Schmalkaldischen Bunde. Der Kardinalerzbischof Al- 
brecht war am 24. September 1545 gestorben; der bisherige Koad- 
jutor, Johann Albrecht von Brandenburg folgte ihm als Erzbischof. 
Mit diesem aber hatte der Kürfürst von Sachsen sich bereits ver- 
ständigt, während Moritz nichts erlangte, als vom Kapitel die Aus- 
sicht auf die spätere Wahl seines Söhnchens Albrecht. Als dieses 
einzige Söhnchen am 12. April 1546 starb, mußte Moritz auf andere 
Mittel sinnen, zu den Stiftern zu gelangen. 

Ueber diesen Händeln war an Moritz die zweite Probe heran- 
getreten. Er sollte sich wenigstens den Bitten der Schmalkaldischen 
zu Gunsten Hermanns von Wied anschließen. Carlowitz erhielt in 
der That einen entsprechenden Auftrag, nur sollte er seine Fürbitte 
vor derjenigen des Bundes beim Kaiser anbringen. Es ging nach 
Wunsch, und die kaiserlichen Räte lobten den Herzog wegen seiner 
reinlichen Absonderung. So war denn einer schmalkaldischen Ge- 
sandtschaft, die Mitte März 1546 nach Dresden gesandt wurde, um 
nochmals wegen des Zusammengehens zu sondieren, die Ablehnung 

11* 


156 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2, 


von vornherein sicher. Als später zu Regensburg die protestanti- 
schen Stände ihre Antwort auf die kaiserliche Proposition gesondert 
übergaben, »stand kein albertinischer Vertreter in ihrer Mitte« (439). 

Mittlerweile steigerten sich des Kaisers Ansprüche. Nicht nur, 
daß er den Fürsten, auch Moritz, durch seine Verhandlungen mit 
der niederen Ritterschaft im Reiche zu nahe trat; Granvelle ver- 
langte zu Regensburg von Carlowitz als Mindestes, daß sein Herr 
sich nicht einem beliebigen, sondern diesem eben begonnenen Trienter 
Konzil unterwerfe; und als es gar zu den eigentlichen Verhandlun- 
gen mit dem Herzoge selbst kam, da lautete sein Geschäft mit 
dürren Worten auf Rückkehr zur alten Kirche und Kampf wider 
Johann Friedrich gegen Zuwendung der Kur und der Schutzherr- 
schaft über die Stifter (Juni 1546). Auf solche Dinge war Moritz 
keineswegs gefaßt; vielleicht wären seine halbkatholischen Räte leich- 
ter mit sich fertig geworden; er aber wollte seine Religion behaup- 
ten und die Neutralität, die er ohnehin einzuhalten für das sicherste 
hielt, sich möglichst teuer bezahlen lassen. Die Unklarheit seiner 
Stellung und die versteckte Begehrlichkeit wurde von der kaiserli- 
chen Regierung richtig erkannt. Es gelang ihr, den Herzog durch 
den Regensburger Vertrag vom 19. Juni 1546 auf eine ganz neue 
Bahn zu bringen. Zwei Verträge wurden geschlossen‘); der erste 
wegen Freundschaft, Bündnis und Anerkennung des Trienter Konzils 
(illustrissimus dux eiusmodi concilit determinationi sese submittere pro- 
mittit), wofür der Kaiser, damit Moritz obedientiae suae fructum ali- 
quem consequelur, eidem duct Mauritio protectionem praefati archie- 
piscopatus Magdeburgensis et episcopatus Halberstatensis committet at- 
que decernet. Dieses jus protectionis über die Stifter, nebenbei an 
allerlei Bedingungen gebunden, soll nach Meinung des Kaisers zu- 
nächst ?) ad suae voluntatis beneplacitum dauern, und erst wenn alle 
Dinge, auch wegen des Konzils, das der Kaiser beiläufig zur Beson- 
nenheit zu ermahnen versprach, geordnet sein würden, wollte der 
Kaiser ınit sich reden lassen. Mündlich fügte der Kaiser am 20. 
zwar noch einige Versprechungen hinzu über die glimpfliche Durch- 


1) Wie es oft geht, hat Brandenburg die von ihm schon einmal vortrefflich 
dargestellte Vertragshandlung [Historische Zeitschrift, 80, 1] nicht noch einmal 
in voller Ausführlichkeit vorführen wollen; man ist deshalb leider gezwungen, 
jenen Aufsatz neben der Biographie, die (S. 440) den Inhalt der Verträge nur 
flüchtig skizziert, zu Rate zu ziehen. 

2) Brandenburg hat zu dem damals üblichen Ausdruck in presentiarum die 
Anmerkung gemacht: „soll wohl heißen vi praesentium“; das ist auch sachlich 
verfehlt, da die Ausfertigung in einer besondern Urkunde erst später an Mo- 
ritz kam, 


Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 157 


führung der Konzilsbeschlüsse und über die Anerkennung der Saeku- 
larisation (die im Vertrage nur auf quoad fieri poterit gestellt war), 
aber die Kur und die ernestinischen Lande wurden mit dem Orakel- 
spruche abgethan: Kommet es dazu, so schaue ein jeder zu dem 
seinen; wer etwas bekomme der habs. Nicht minder hinterlistig ver- 
fuhr man mit dem Dienstvertrag, in dem von Ausnehmung der Erb- 
einungsverwandten nur in dem Revers die Rede war, den Moritz sei- 
nerseits dem Kaiser übergab, nicht aber in dem Schriftstück, das 
man ihm in Händen ließ. 

In unbehaglicher Stimmung kehrte Moritz heim. Nach keiner 
Seite stand er frei, da er sich nach beiden Seiten hatte sichern wol- 
len. »Indem er dem Landgrafen auch jetzt noch versicherte, er 
werde ihm helfen, machte er einen Wortbruch unvermeidlich ; blieb 
er neutral, so handelte er gegen dies Versprechen; half er dem 
Schwiegervater wirklich, so brach er den Regensburger Vertrag. 
Nur völlig ratloser Verlegenheit und der Scheu, dem Schwiegervater 
die Wahrheit zu gestehen, konnte eine solche Handlungsweise ent- 
springen«. Es war ein fauler Schutz gegen sich selbst, daß Moritz 
zusammen mit Kurfürst Joachim von Brandenburg Vermittlungsver- 
suche machte. Eine letzte Gesandtschaft der Schmalkaldischen, die 
zu Chemnitz am 11. Juli empfangen wurde, nahm bereits die feste 
Ueberzeugung mit sich, daß auf Hilfe hier nicht zu rechnen sein 
werde. Zwei Tage darauf eröffnete Moritz seinen Landtag, der im 
ganzen die Politik des Fürsten billigte; im einzelnen aber, wie zu 
erwarten, viel zu klagen hatte. 

Noch immer glaubte Moritz wenigstens seine Neutralität behaup- 
ten zu können. Aber auch aus dieser Position, die er mit morali- 
schen Opfern schon zu teuer erkauft hatte, brachte ihn die Staats- 
kunst der königlichen Räte heraus. » Wer etwas bekomme, der hab’s«. 
Ferdinand und seine Räte in Prag rückten immer deutlicher mit dem 
Ansinnen heraus, Moritz solle die Acht gegen Johann Friedrich voll- 
strecken. Aber Moritz konnte sich um so schwerer zu dem treulo- 
sen und nicht ungefährlichen Angriff gegen die Erbeinungs- und Kon- 
fessionsverwandten entschließen, als ihm der Preis, die Kur, stets 
nur von fern gezeigt wurde. Erst als er sich bei den persönlichen 
Besprechungen mit König Ferdinand zu Prag (30. Sept. bis 5. Okt.) 
überzeugte, daß der König zum Feldzuge nach Sachsen fest ent- 
schlossen war, willigte er ein, da er einerseits die Schädigung des 
Gesamthauses vor Augen sah und anderseits wenigstens zunächst, 
sich und der Welt gegenüber, den Schein des Beschützers der Lande 
annehmen konnte. Am 19. Oktober wurde der Prager Vertrag ge- 
schlossen. Moritz nahm teil am Kriege. Brandenburg zieht die 


158 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


Summe mit den Worten, daß Moritz »nicht seine Hilfe in diesem 
Kriege dem Meistbietenden verkauft hat, daß er vielmehr unpolitisch 
genug dachte, neutral der Entscheidung zusehen und, wer auch 
siege, unangegriffen bleiben zu können; daß aber der Zwang der 
Umstände und die überlegene politische Kunst der Habsburger ihn 
schließlich aus dieser unklug gewählten Stellung hinausmanövrierte 
und zum Eingreifen in den Kampf zwang< (S. 492). 

Die sächsischen Städte ergaben sich fast ohne Schwertstreich ; sie 
hofften durch Moritz vor den Bohmen und in der Religion geschiitzt 
zu werden. Mitte November hatte der Herzog ganz Meißen und 
Sachsen bis auf Wittenberg in Händen. Im Dezember anerkannte 
ein erzbischöflicher Landtag die Schutzherrschaft über die Stifter. 
Ein Teil des Heeres besetzte Thüringen (bis auf Gotha, Eisenach 
und Coburg) und führte den Bischof Julius Pflug nach Naumburg. — 

Es ist keine Frage, daß uns Brandenburg Moritz’ Haltung zu 
Beginn des schmalkaldischen Krieges nicht nur viel genauer, als bis- 
her geschehen, sondern auch in einer wohl begründeten neuen Auf- 
fassung dargestellt hat. Eine zweite wichtige These seines Buches 
ist die, daß nicht erst Moritz’ Einfall in Kursachsen den Krieg an 
der Donau entschieden habe, sondern der Geldmangel und der in- 
nere Zwiespalt im schmalkaldischen Lager längst mit Notwendigkeit 
zu dem bekannten Ergebnisse habe führen müssen. Max Lenz hat, 
wie auch Brandenburg hervorhebt, seit langem eine ähnliche Mei- 
nung vertreten, und lebhaft ist der Meinung beizupflichten, daß eine 
Darstellung des Donaukrieges (nach den schmalkaldischen Akten; 
die kaiserliche Kriegsführung kennen wir durch Druffel und Kan- 
nengießer erheblich besser) ein dringendes Bedürfnis ist. Branden- 
burg muß sich, seinem Thema entsprechend, mit Andeutungen be- 
gnügen. Lange vor dem Eintreffen der Nachrichten aus Sachsen 
verhandelte man über die Auflösung des Heeres und den Abzug der 
Bundeshauptleute nach Norden. Die Städte wollten kein Geld mehr 
aufbringen; daß sie es gut hätten können, sollte sich später traurig 
genug zeigen. Gleichwohl hielt man die Truppen noch zusammen, 
auch als die Besetzung der ernestinischen Lande durch Moritz ruch- 
bar wurde. Man wies den Kurfürsten mit Recht darauf hin, daß Mo- 
ritz die Lande, die er zu behalten gedächte, auch schonen würde; 
zur Wiedergewinnung wolle der Bund helfen. Noch am 15. Novem- 
ber erklärte Johann Friedrich bleiben zu wollen. Erst als die Trup- 
pen nicht mehr zu halten waren, brachen Kurfürst und Landgraf 
auf, in der Nacht vom 21. auf den 22. November. 

Inzwischen hatte der Landgraf durch Bing und Dr. Faust den 
Herzog Moritz zu Vermittlungsvorschlägen veranlaßt; er legte ihnen 


Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 159 


um so größere Bedeutung bei, als nach Wirtembergs trauriger Hal- 
tung die Unterwerfung des Oberlandes unaufhaltsam schien. Moritz 
bewilligte Unterredung zu Leipzig fir den 21. Dezember. Es kam 
auch schon zu Besprechungen der Rate, aber der ganze Handel 
wurde gestört durch den Einfall Johann Friedrichs (der in Mainz 
und Fulda »Geld gemacht< hatte) in das albertinische Sachsen. So 
leicht sein eigenes Land verloren war, so leicht gewann er jetzt dem 
Vetter seinen Anteil ab; nur Leipzig setzte ihm hartnäckigen und 
erfolgreichen Widerstand entgegen; die reiche Stadt wollte nicht 
als Zahlsäckel für das Kriegsvolk dienen. Moritz’ Verlegenheit war 
gleichwohl groß; es kam ihm zu statten, daß er trotz des habsbur- 
gischen Drängens noch den Kurtitel nicht angenommen hatte; er 
konnte immer noch unter gutem Schein mit dem Vetter Frieden 
machen. Vor allem sandte er Botschaft auf Botschaft an den Kai- 
ser und an den König, aber von beiden trafen erst nach langem 
Warten ungenügende Hilfen ein. Auch die Verbindung mit Kurfürst 
Joachim, der die Gelegenheit wahrnahm, seinem Hause im Vertrage 
von Aussig (20. Februar 1547) die Nachfolge in den Stiftern und 
des Schutzherrn Moritz’ Hilfe gegen Magdeburg zu sichern, wollte 
zunächst nicht viel besagen. Johann Friedrich dagegen hatte nach 
Aufhebung der Belagerung von Leipzig noch einige namhafte Er- 
folge, wie die Gefangennahme des Markgrafen Albrecht Alcibiades 
beim Ueberfall von Rochlitz; er hätte noch größere haben können, 
wenn er die lockere Verbindung mit den rebellischen Böhmen zu 
festigen gewußt hatte. Aber er benahm sich in allen Dingen unge- 
schickt; glücklich über die Kapitulation der kleinen Städte, legte er 
in jede ein Häufchen Soldaten und schwächte sein ohnehin durch 
Abtrennung Thumshirns sehr reduziertes Hauptheer. Von Vermitt- 
lungsversuchen ist kaum noch ernstlich zu reden; der Kaiser rückte 
heran und verlangte bedingungslose Unterwerfung. 

Die bald folgenden Katastrophen von Mühlberg, Wittenberg und 
Halle hat Brandenburg nach den Forschungen von Lenz, W. Wenck 
und Issleib dargestellt. Nur des Zusammenhanges halber weise 
ich auf die Hauptmomente hin. Am 11. April brach Moritz mit 
Herzog Alba aus der gemeinsamen Versammlungsstellung in Eger 
auf; zwei Tagemärsche eilte Moritz dem Hauptheere voraus, um den 
Durchzug des: gewaltigen vereinigten Kriegsvolks für das Land und 
das Heer möglichst glimpflich zu gestalten. Man rückte nordwärts, 
dann östlich, bei Rochlitz über die Mulde, auf Meißen. Da Johann 
Friedrich weiter nach Norden abgezogen war, folgte man ihm. Am 
24. April, morgens, erreichte der Kaiser mit den ersten Reitern die 
Elbe bei Schirmenitz. Gegen Mittag, als der Nebel gefallen, begann 


160 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


der Kampf um die Brückenboote; dann erfolgte der berühmte Ueber- 
gang; Moritz war vorn an. Erst gegen Abend überraschte die 
Avantgarde das sächsische Heer, schon einige Meilen nördlich Mühl- 
berg. Der Kurfürst wurde gefangen, während Moritz und Alba noch 
die ganze Nacht über die versprengten Teile des Heeres verfolgten. 

Es ist bekannt, daß der Kaiser den gefangenen Kurfürsten zum 
Tode verurteilen ließ und dann in Vertragshandlung ‘mit ihm ein- 
trat. DBeharrlich lehnte der fromme Mann die Unterwerfung unter 
das Konzil ab; sonst war er zu allem bereit. Es entsprach durch- 
aus dem Verlauf der Dinge, daß der Kaiser Moritz nicht ohne wei- 
ters die ernestinischen Lande überließ; Wittenberg und Gotha wollte 
er zunächst selbst behalten; der westliche Teil des Landes sollte 
außerdem den jungen Ernestinern verbleiben, denen Moritz beiläufig 
ein Gesamteinkommen von 50000 fl. gewährleisten mußte. Auch 
sonst gab es noch allerlei Irrungen, bis am 19. Mai 1547 die Wit- 
tenberger Kapitulation unterzeichnet werden konnte. Am 4. Juni 
erhielt Moritz die Urkunde über die Verleihung der Kur und die 
Zuweisung des größten Teils der ernestinischen Lande. 

Der trübste Handel sollte noch folgen. Dem ritterlichen Land- 
grafen wollte es lange nicht in den Sinn, einen Sondervertrag abzu- 
schließen, so viel sich auch Moritz um die Vermittlung bemühte. 
Erst in der größten Not ließ er sich auf gütliche Handlung ein und 
erklärte sich auch zur Ergebung an den Kaiser bereit gegen Siche- 
rung der Religion und eine genügende Erklärung der Worte >»auf 
Gnade und Ungnade«. Eine solche Erläuterung erhielten nun die 
vermittelnden Kurfürsten Joachim und Moritz von den kaiserlichen 
Räten dahin gehend, daß ihm solche ergebung weder zu leibstraf 
noch zu ewiger gefengnis reichen solle. Sie erweiterten bei der Mit- 
teilung an den Landgrafen in gutem Glauben, aber leichtfertig den 
Sinn dahin, daß er über die artikel weder an leib noch gut, mit 
gefengnis, bestrickung und Abtretungen nicht belästigt werden solle 
(S. 551). Am 18. Juni traf Philipp in Halle ein; am 19. abends 
fand der Empfang beim Kaiser statt. Philipp hoffte auf Verzeihung. 
Den Vermittlern war weniger zuversichtlich zu Mute, aber auch sie 
dachten, die Sache werde gut ablaufen. Der Landgraf und sein 
Kanzler knieten, während der letztere die Abbitte verlas. Seld gab 
die kaiserliche Antwort: Aufhebung der Acht und allerlei Zusagen, 
auch die Sicherung gegen ewiges Gefängnis. Der Kaiser zögerte mit 
einer Aeußerung. Philipp erhob sich. Da ging Alba auf ihn zu und 
lud ihn mit den beiden Kurfürsten zum Abendessen in die Moritz- 
burg. Nach Aufhebung der Tafel ward der Landgraf einer spani- 
schen Wache übergeben; der Kurfürsten Protest war ohnmächtig. 


Brandenburg, Polit. Korrespondenz d. Herzogs u. Kurf. Moritz von Sachsen, I, 161 


Daß Moritz aufs neue betrogen war, kann nicht bezweifelt werden. 

Wir brechen ab, wie der Verfasser. Nur eins sei zum Schlusse 
noch hervorgehoben, obwohl es dem aufmerksamen Leser ohnehin 
nicht entgangen sein dürfte. Brandenburg behandelt seinen Helden 
durch das ganze Buch hin mit geringer Sympathie, mit unausge- 
setzter Kritik, aber er befreit ihn dafür von dem schwersten Makel, 
den auch die Bewunderer bisher nicht von ihm zu nehmen wagten: 
von dem Vorwurf des wohlüberlegten bewußten Verrates. Indem er 
ihn lernen läßt, seine Erfahrungen sich zu nutze machen, indem er 
ihn von den Habsburgern mehrfach hintergehen und an der empfind- 
lichsten Stelle verletzen läßt, bereitet er uns vor auf den Moritz, der 
sich langsam wandelt, der den Kaiser mit den eigenen Waffen schlägt, 
der durch Umsicht und Energie schließlich doch zum Retter deut- 
scher Nation geworden ist. 


II. Der Aktenband umfaßt nur einen Teil der Zeit, die in dem 
ersten Bande der Biographie behandelt wird, und zwar die minder 
wichtige. Dünkt mich auch hier des Guten reichlich viel geboten, 
so wird man mit Recht entgegnen, daß wir uns jedes so bequem 
zugänglich gemachten Aktenstückes freuen sollen. Die historische 
Kommission und die Verlagshandlung haben es an vortrefflicher Aus- 
stattung nicht fehlen lassen. 

Ich berichte kurz über die Einrichtung der Publikation. Die 
Anordnung ist chronologisch. Ausgeschlossen sind alle rein terri- 
torialen Irrungen, die nicht von größerer Bedeutung für die Gesamt- 
politik gewesen sind; ferner die Angelegenheiten der Landes- und 
Kirchenverwaltung sowie die Landtagsakten. Dagegen soll man in 
der — auf drei Bände berechneten — Publikation ein möglichst 
vollständiges Material finden für die auswärtige Politik und für die 
Kenntnis der Persönlichkeit des Herzogs und Kurfürsten, sowie seiner 
vornehmsten Räte. 

In der »Darbietung< der Akten folgt Brandenburg fast ganz 
den von Felix Stieve für den Historikertag formulierten Grund- 
sätzen; auch in der Beibehaltung der direkten Rede für die Aus- 
züge. Es ist besonders gegen diese Praxis vieles eingewandt wor- 
den; — daß sie bequem ist und auch das Lesen der Akten außer- 
ordentlich erleichtert, lehrt Brandenburgs Publikation aufs neue. 
Ueber die in den Anmerkungen versteckten Briefe und Akten orien- 
tiert ein chronologisches Verzeichnis am Schluß (eine dankenswerte 
Einrichtung, die ich lebhaft bedaure nicht auch bei dem IV. Bande 
der Druffelschen Beiträge eingeführt zu haben). Was den Druck 
betrifft, so ist alles was nicht wörtlich aus der Vorlage abgedrukt 


162 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 9. 


ist, in Kursive gesetzt; Zusätze des Herausgebers sind in eckige 
Klammern eingeschlossen. Recht glücklich ist die Anwendung ge- 
sperrten Satzes für eigenhändige Korrekturen. Für die Erläuterung 
ist durch kurze Regesten und eine Fülle von Anmerkungen gesorgt; 
der Publikation kommt natürlich sehr zu statten, daß bei ihrer 
Bearbeitung die Darstellung schon vorlag. Endlich gehen den jahr- 
weise in Gruppen geordneten Akten jeweils kurze Einleitungen vor- 
aus, die wenigstens für den Recensenten recht bequem sind. Ich 
lasse mich von ihnen leiten und mache auf den Hauptinhalt der 
schönen Publikation und auf einige Stücke von besonderem Interesse 
aufmerksam. 

Aus der Zeit bis zum Regierungsantritt ist alles zusammenge- 
tragen, was irgend zur Charakteristik des jungen Herzogs dienen 
kann. Seine eigenen Briefe sind fast durchweg wenig ergiebig; um 
so mehr diejenigen der Herzogin Elisabeth von Rochlitz, einer schar- 
fen Beobachterin, die oft mit erschrecklicher Offenheit zu plaudern 
weiß. In ihren Briefen verfolgt man ziemlich gut die Verhandlungen 
mit den Sachsen in Sachen der Doppelehe Philipps und der hessi- 
schen Heirat des jungen Moritz; über diese Heirat finden wir natür- 
lich auch die Originalakten und Korrespondenzen, darunter eine end- 
lose Reihe von Briefen Moritzens an die zürnenden Eltern mit der 
Bitte um Verzeihung. Am Tage vor der Hochzeit (10. Januar 1541) 
schreibt er aus Marburg an die Mutter, daß er sich zu kindlichem 
Gehorsam schuldig bekenne, daß aber die Eltern selbst früher die 
Heirat gewünscht, und hetten uns zu E. Gn. genzlichen vertrostet, 
sie wurden uns zu dem, so nicht alleine christlich und erlich, sondern 
auch zu unser selen heil und seligkeit, landen und leuten zum besten 
gereichet , aus mutterlichem herzen ihrem anbringen nach hulflichen er- 
scheinen und von uns folge zu leisten erfreuet sein. Dass aber E. Gn. 
nunmals darob gross klagen, bemuhet uns nit wenig [83]. 

Neben Moritz’ persönlichen Angelegenheiten interessiert weitaus 
am meisten Auffassung und Haltung Georgs von Carlowitz, der sich 
bei Zeiten um Moritz bekiimmerte. Herzog Morycts yst im nich 
gram schrieb Elisabeth schon 1539 an Johann Friedrich; er yst 
vorwar eim hern wol zu halten, das mus ich ym nachsagen, weywol 
mir auch nich alweg hatt das best gedount [42]. Carlowitz liebte es, 
sich über seine kirchlichen Anschauungen breiter auszulassen; dem 
Landgrafen führte er einmal aus, daß die Protestanten von ihrer 
Konfession abstehen müßten und eine Reformation nach den ersten 
vier Konzilien leiden sollten und wie es also tausend jahr nach der 
himmelfahrt Christi ın der kirchen gehalten ıst worden; dann das 
seind sie zu thun schuldig wo sie anders vor christen wollen geachtet 


Brandenburg, Polit. Korrespondenz d. Herzogs u. Kurf. Moritz von Sachsen. I. 168 


werden; dann in der kirchen haben wir das evangelium und den 
christenglauben erkannt und angenommen ; wer wider die kirchen hand- 
let, der handlet wider Gottes ordnung [17]. 

Aus der Zeit nach dem Regierungsantritt begegnen zuerst Akten 
über die Fragen der Landesteilung, die Anton von Schönberg mit 
der Herzogin Mutter gegen die Hausordnung durchzusetzen ver- 
suchte. Es schließt sich einiges Material daran über den Prozeß 
gegen Schönberg, zumal dieser Prozeß zuerst zu einer Entfremdung 
zwischen Moritz und den Ernestinern führte, zu denen Moritz anfangs 
persönlich gut gestanden hatte. Am wichtigsten sind für uns die 
Akten über die Ablehnung des schmalkadischen Bundes durch die 
Dresdener Regierung; man sieht da in Gutachten und Entwürfen 
die Räte recht bei der Arbeit, den Herzog von dem Landgrafen ab- 
zuziehen. Philipp blieb das keineswegs verborgen und es war nur 
eine unwesentliche Veranlassung, wenn die Frage der Heimführung 
der Herzogin Agnes zu einem Austausch eigenhändiger Schreiben 
führte, die in der That höchst bemerkenswert sind. Philipp schrieb 
am 20. September 1541 seinem Schwiegersohne: dass ich mit eigner 
hand schreibe, verursacht mich, dass ich mich dunken lasse, dass et- 
liche ba E. L. der grossen Hansen die sach gern dahin richten woll- 
ten, dass E. L. und ich nit viel bei einander [wären] oder uneins 
würden; — — ist mein treuer rath und erinnerung: E. L. wolle sich 
wol fürsehen und die alten papisten nit su ganz gewinnen und sich 
regieren lassen; dann st ja noch im glauben nit bestendig; — — 
E. L. bedenk ja, dass Gott der allmechtig Herzog Jorgen und seinen 
erben das leben und land genommen und E. L. geben, ja, on zweifel, 
nur um seines unglaubens willen [211]. Moritz antwortete um- 
gehend, am 26. September: Wir haben auch E. L. treue warnung 
des heilig waren seiligmachenden wort Gottes halben zu gemuit gezogen 
und wollen uns mit hulf und sterkung Gottes davon nicht leiten las- 
sen; — dass aber Carlwitz an dem ort da er itz ist, teglich mess 
halten lesst, konnen wir ihm nicht weren; bei uns aber dulden wirs 
nicht. E. L. mogen wir vorwar schreiben, dass sich die reth noch zur 
seit deshalben wol halten [215]. 

Der Vertrag über den gemeinsamen Zug gegen Braunschweig 
vom 26. Oktober 1541 ist S. 225—231 zum ersten Male gedruckt ; 
es schließen sich daran die Verhandlungen über den Aufschub des 
Zuges und über Moritz’ Anteil. Was hier im stillen und versteckt 
wirkte, trat in der Reichstagsinstruktion vom 6. Januar 1542 zum 
ersten Mal ganz deutlich hervor, das Streben der Räte nach öffent- 
licher Absonderung des jungen Herzogs von dem Landgrafen und 
den Schmalkaldischen Ständen [269]. Die Berichte der Reichstags- 


164 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


gesandten illustrieren den Erfolg. Dazwischen stehen die Akten der 
Wurzener Fehde, des ersten kriegerischen Zusammenstoßes mit den 
Ernestinern. Die Reichstagsgesandten sind auch die Träger der er- 
sten Anknüpfung mit den Habsburgern [295. 305. 354. 400]. 

Nicht übermäßig ergiebig sind die Briefe des jungen Fürsten 
aus Ungarn. Sie sind geschäftlich und langweilig. Um so persön- 
licher erscheinen die väterlichen Schreiben des alten Carlowitz mit 
Vorstellungen zu gunsten der verlassenen Herzogin, mit Ermahnun- 
gen zur Sparsamkeit und Rechtlichkeit. Auf einem besondern Zettel 
zum Brief vom 10. August 1542 schreibt der alte Rat: Ich kann 
nicht underlassen, ich bins auch zu thun schuldig, E. F. Gn. anzu- 
zeigen, was ich befinde, das schimpflich, nachteilig und auch unrecht 
ist. Darum wollen nurs E. F. Gn. auch gnedigst zu gute halten, 
dann ich mein es gut. E. F. Gn. haben Euer gemahl allhie ver- 
lassen und E. Gn. habens doch also bestallt, dass J. Gn. nicht viel 
wilpert zu essen hat. Zu deme so kummert sich J. Gn. sehr; und 
man hat ihr kein lust zu machen, darmit sie die zeit vertreibe, dass ste 
zuweilen naus reiten oder farn mocht; wann ir E. F. Gn. doch sovil 
gulisse, dass man ir doch mocht an den orten, do es unschedlich, eine 
jagd oder zwu bestellen; und ob man gleich nichts funde, dass mans 
doch nur auf die tucher jagte, dass sie's nur laufen sege; — — so hat 
man die armen leute aus der hutwede holz lesen, darvon sie zuvor ir 
underhaltung gehat haben, auch ausgetrieben. Zu deme allem so ver- 
beut man nun den vogel in der luft zu fahen, — — und wehe dem, 
der davon redt, der soll des todes sean! Nun kann. ichs nit lassen 
und muss darum reden; dann ich hore von dem gemeinen volk eine 
solche verfluchung uber E. Gn. und Euer regiment, dass kein wunder 
wer, dass uns Gott strafte. — Ich habs E. Gn. im besten angezeigt, 
als ich vor Gott schuldig bin. — Und wollet Euch huten vor deme 
viel vergeben, einem hie, dem andern da; wird E. Gn. aber nicht fol- 
gen wollen, so muss ich E. Gn. Gott und der zeit befelen; die zeit 
wird E. Gn. wol folgen lernen [383]. Nach der Katastrophe Hein- 
richs von Braunschweig schrieb er an seinen Herrn: Nun muget Ihr 
fursten und grossen herren ein cxempel darvon nehmen, dass einem 
tden auch also geschehen kann, der do nicht friede helt oder seine 
underthanen also regiert, dass thme nicht hold sein [390]. Nach 
solchen Proben brauche ich kaum zu betonen, wie anziehend der 
zusammenhängende Briefwechsel des alten Carlowitz in Sachen der 
Religionsvergleichung und der Ordnung im Reiche ist. Mit »Kom- 
promisskatholizismuse wird man bei dieser starken Persönlichkeit 
wohl auch nicht auskommen. 

_ Oede und unerfreulich sticht dagegen die ganze Masse der Ak- 


Brandenburg, Polit. Korrespondenz d. Herzogs u. Kurf. Moritz von Sachsen. I. 165 


ten über Magdeburg und Halberstadt ab; ein notwendiges und 
schätzenswertes Material, nicht mehr. In engem Zusammenhange 
mit diesen Stiicken stehen diejenigen, welche Herzog August und 
dessen Versorgung betreffen. 

Aus dem Jahre 1543 betreffen die wichtigsten Aktenstiicke den 
Niirnberger Reichstag und die Verhandlungen der Gesandten mit 
König Ferdinand und Granvelle. Hier begegnet zum ersten Male 
der jüngere Carlowitz in verhängnisvoller Mission; freilich arbeitet 
er noch ganz nach Anweisung des Oheims. Die Berichte der Ge- 
sandten sind zahlreich und ausführlich. Das ganze kluge Spiel 
Granvelles liegt vor unsern Augen. Es hieße die Biographie noch 
einmal schreiben, wollte man davon eine Vorstellung geben. So ver- 
zichte ich auch darauf, Proben zu geben aus den Korrespondenzen, 
die Moritz’ niederländische Reise zum Kaiser betreffen ; über seine 
Besprechungen mit Philipp nach der Rückkehr unterrichtet ein aus- 
führliches Protokoll [No. 546]. Die Hauptmasse der Akten kommt 
wieder auf Rechnung der Auseinandersetzungen mit den Ernestinern, 
zumal über die Stifter. Erfrischend wirkt in den endlosen Händeln 
nur die unermüdliche Sorge des Landgrafen um den Frieden unter . 
den eigenen Freunden und eins seiner Mahnschreiben, in dieser 
Sache an Johann Friedrich ergangen [S. 639, Note], mag unsre Aus- 
lese beendigen. Der Landgraf schreibt am 12. Juli 1543: Und gegen 
E. L. vertreulich und wolmeinlich zu schreiben, so dechten wir, wann 
E. L., herzog Moritz und wir so evangelisch weren, wie wir das auf 
den ermeln furen, so wurden wir um solch geringer sachen willen mit 
einander nicht so sehr zanken, wie uns dann Christus und Paulus 
solchs lernen, sondern wir sollten wol mehr bedenken die geschwinden 
leuft, die wzo vor augen sind, desgleichen die vilfachen feindschaften, 
welche wir haben; — — dann wir besorgen warlich, dass es mit die- 
sem zanken ergehen werd, wie es der maus und frosch im krieg er- 
ging, da sie der weihe all beid hinwegnahm und frass. Es sind sorg- 
liche zeiten, darum wir, so lange wirs thun mogen, zu Singen geden- 
ken: da pacem, domine, in diebus nostris. 


Marburg i. H., 12. August 1900. Brandi. 


166 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


Ulmann, H., Russisch-preußische Politik unter Alexander I. und 
Friedrich Wilhelm Ill. bis 1806. Urkundlich dargestellt. Leipzig, 
Duncker & Humblot 1899. VI u. 318 S. Ladenpreis 7 M. 


Fast zwei Jahrzehnte sind verflossen, seit Bailleus Actensamm- 
lung es unternahm die urkundliche Grundlage für die Geschichte der 
preußisch-französischen Beziehungen von 1795 bis 1807 zu liefern. 
Die bedeutungsvollste Seite der preußischen Politik der Zeit war 
damit bloß gelegt und man kann wol sagen, daß die gesammte seit- 
herige Forschung zur deutschen Geschichte um die Wende des 18. 
und 19. Jahrhunderts an dieses Buch angeknüpft hat und von ihm 
befruchtet ist. Immerhin, es war nur die eine Seite der damaligen 
Politik Preußens, die Bailleu beleuchtete. Eine sein Werk ergän- 
zende Sammlung, welche die Geschichte der preußisch-russischen Be- 
ziehungen des gleichen Zeitraums erläuterte, sind uns die »Publica- 
tionen aus den preußischen Staatsarchiven« bisher schuldig geblieben. 
Für die erste Hälfte des Zeitraums (—1801) verspricht uns künftig 
Hüffers soeben begonnene Publication (»Quellen zur Geschichte des 
Zeitalters der französischen Revolution<) einen Ersatz zu liefern. 
Die zweite Hälfte (1801—1806) behandelt Ulmanns vorliegendes Buch. 

Bailleus Sammlung gründete sich gleichmäßig auf Berliner und 
Pariser Material. Die gegenseitigen Beziehungen beider Länder 
kamen auf diese Weise voll zur Anschauung: dem was der preußi- 
sche Gesandte aus Paris schrieb, entsprachen die Berichte des fran- 
zösischen aus Berlin u.s. w. Ulmanns Darstellung verfügt nicht über 
eine so breite Actenunterlage. Er hat das Berliner Staatsarchiv be- 
nutzt und ergänzend das Wiener herangezogen, eine Benutzung des 
Petersburger Archivs vermissen wir, obwol es, wie neuere Erfah- 
rungen beweisen, auch für die in Rede stehende Epoche fremden 
Forschern keineswegs unzugänglich ist. Freilich lagen eine Reihe 
wichtiger russischer Quellen gedruckt vor: neben dem, was Martens 
Recueil bietet, Czartoryskis Memoiren, Wassiltschikows Werk über 
die Rasumowskis, Tratschewskis Publication im Magazin der Peters- 
burger historischen Gesellschaft, das Woronzow-Archiv u. & Und 
Ulmann hat sich diese Quellen nicht entgehen lassen, wie denn über- 
haupt eine hervorragende Beherrschung der gedruckten Litteratur 
seinem Werke nachgerühmt werden muß. Aber ein entscheidender 
Mangel, das ist nicht zu leugnen, ist und bleibt für ein Buch, das 
es versucht die russisch- preußischen Beziehungen für eine be- 


Ulmann, Russisch-preußische Pol. unt. Alexander I. u. Friedr. Wilhelm IMI. 167 


stimmte Epoche darzustellen, der Verzicht des Verfassers auf die 
eine Hälfte seines archivalischen Materials. Er verurteilt sich auf 
diese Weise dazu da, wo er aus dem Vollen hätte schöpfen können, 
vor fremden Thüren betteln zu gehen. 

Gleich im ersten Capitel macht sich das fühlbar. Von dem, 
was in Berlin bis in den Herbst 1802 zwischen beiden Mächten ver- 
handelt wurde, erfahren wir bedenklich wenig — eben aus dem 
Grunde, weil dem Verfasser die Berichte des russischen Gesandten 
in Berlin Krüdener nur bis zum Sturze Panins (in den von Brückner 
herausgegebenen Panin-Materialien) vorlagen. Und durch Krüdener, 
nicht durch die Hände des preußischen Gesandten in Petersburg 
Lusi gingen diese Unterhandlungen. Die Depeschen Lusis, über des- 
sen parfaite nullité sein eigener Minister Haugwitz einmal dem Kö- 
hig gegenüber spottete!) und dem es aus eben diesem Grunde direct 
untersagt wurde sich in die Verhandlungen zu mischen), konnten 
darum dem Verfasser herzlich wenig bieten. So ist er gezwungen 
gelegentliche Andeutungen in den Depeschen Markows, den Weisun- 
gen Kotschubeis, den Briefen Woronzows u.s.w. zusammen zu tra- 
gen, ohne doch auf diesem Wege zu einem vollen Bilde zu ge- 
langen. 

Nicht einmal über die Genesis der Zusammenkunft von Memel 
weiß er uns ein Wort zu melden. Ganz unvermittelt wird sie 
(S. 33/34) eingeführt. Ebenso bleibt die dort angeregte Angelegen- 
heit des Hildesheimer Tausches (S. 40/41) im unklaren, wenigstens 
die Frage, ob Lombard im Namen des Königs Versprechungen ge- 
macht hat, die diesen nachher den Hannoveranern gegenüber ins 
Unrecht setzten ?). 

Aber auch das ihm für die ersten Jahre zu Gebote stehende 
Material hat der Verfasser nicht immer ausgenutzt. Im Centrum 
der preußischen Politik nach dem Lüneviller Frieden stand die große 
Entschädigungsfrage.e. Um sie drehten sich naturgemäß auch die 
Verhandlungen zwischen Preußen und Rußland während dieser Zeit. 
Der Verfasser konnte nicht den Versuch machen diese Frage im 


1) Vortrag vom 15. April 1801: Geh. Staats-Archiv Berlin. 

2) Weisung an Lusi vom 17. Juli 1801: ebendort. Er ward auf die bloße 
Berichterstattung beschränkt und klagt wiederholt vergeblich darüber (z.B. in 
den Depeschen vom 31. Juli und 24. November 1801). 

8) Sollte es sich nicht gelohnt haben die Sache mit Hilfe der Petersburger 
Depeschen des Grafen Münster (Hannover St. A.) nachzugehen ? Gewiß war 
Münster kein unbefangener Zeuge, aber er war zum mindesten in der Lage ge- 
nau unterrichtet zu sein. 


168 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


Rahmen der preußisch-russischen Beziehungen zu erschöpfen. Doch 
hätte man erwarten dürfen, daß er die Haltung, die Rußland ihr 
und speciell den preußischen Ansprüchen gegenüber einnahm, durch- 
aus klargestellt hatte. Das ist aber keineswegs der Fall. Sein Ur- 
teil greift vielmehr bedenklich fehl, wenn er Richtung und Ziele der 
Paninschen Politik mit der Isolierungspolitik seines Nachfolgers 
Kotschubei mehr oder minder gleichsetzt (S. 7) und ihr nachsagt, 
daß sie sich »die deutschen Dinge am liebsten als gleichgültig vom 
Leibe gehalten hätte« (S. 17). Auch ist es in solcher Allgemein- 
heit nicht richtig, daß Panin das Zusammengehen mit Oestreich 
dem mit Preußen vorgezogen hätte. Panins staatsmännisches Ziel 
lag im wesentlichen in der Richtung der Politik Katharinas. Wäh- 
rend Kotschubei Rußland wo möglich aus aller Verbindung mit den 
europäischen Händeln lösen wollte, sollte es nach Panin ganz im 
Gegenteil überall ein entscheidendes Wort mitsprechen und zwar im 
Sinne jenes lebhaften Antagonismus gegen die französische Republik, 
der auch die letzten Jahre Katharinas beherrscht hatte. Auch die 
deutsche Entschädigungsfrage war ihm darum nichts weniger als 
gleichgültig. Mit Recht erblickte er in einer allgemeinen Säculari- 
sation des deutschen Kirchengutes sowol einen Ausfluß des revolu- 
tionären Geistes wie eine weitere Stärkung der französischen Posi- 
tion in Europa. Beides war ihm gleich zuwider. Eben deswegen 
begünstigte er den östreichischen Standpunkt in dieser Sache, trat 
den preußischen Vergrößerungsplänen entgegen. Daß er aber, was 
Ulmann einer Weisung an den russischen Vertreter in Paris Ka- 
lytschew entnimmt, >auch an Einvernehmen mit Frankreich zur Nie- 
derhaltung preußischer Usurpationen« gedacht haben soll (S. 17), 
beruht auf der vollkommensten Verkennung seiner Politik und einer 
unzureichenden Interpretation seiner Worte. 

Freilich schreibt Panin wirklich in obigem Sinne an Kalytschew, 
aber jene Weisung, die erste, welche nach Pauls Ermordung und 
dem Wiedereintritt Panins ins Ministerium nach Paris abging, ent- 
hält die Gedanken des leitenden Ministers in einer wolberechneten 
Verhüllung. Sie hält fest an der Fiction der russisch-französischen 
Intimität, wie sie sich in den letzten Monaten Pauls ausgebildet 
hatte. Sie entwickelt aber eine Reihe von Voraussetzungen dieser 
Intimität, welche eben das Programm der neuen Regierung enthal- 
ten. Als wichtigste steht voran eine Verständigung beider Mächte 
in der deutschen Entschiadigungsfrage. Ein weiteres Zusammen- 
gehen, das ist der Sinn, ist nur möglich, wenn Frankreich sich dem 
russischen Widerspruch gegen eine allgemeine Säcularisation an- 


Ulmann, Russisch-preußische Pol. uot. Alexander I. u. Friedr. Wilhelm IL 169 


schließt und den vues ambitieuses der deutschen Mächte (auch Oest- 
reich wird genannt) entgegentritt. Natürlich erwartete Panin nicht, 
daß Bonaparte um der russischen Freundschaft willen seine deutsche 
Politik aufgeben werde, er gab sich nur den Anschein, als sei er 
von der Identität der russischen und französischen Grundanschau- 
ungen in dieser Frage überzeugt, — er hielt mit andern Worten 
jene dehors de la confiance aufrecht, die er in einem Rescript von 
demselben Tage!) auch Kalytschew dringend einschärfte und durch 
die sich nun unser Verfasser zu seinem Schaden hat irreführen las- 
sen. Die Weisung, auf die sich Ulmann beruft, ist also nicht so 
sehr auf den eigenen Gesandten als zur Mitteilung an das französi- 
sche Cabinet berechnet und dem entspricht es, wenn sich in der Tat 
im Archiv des Auswärtigen Ministeriums zu Paris ein Auszug jener . 
Depesche vorfindet, den Kalytschew Talleyrand überreichte. Ueber 
das eigentliche Ziel aber, das Panin in der deutschen Frage ver- 
folgte, hätte Ulmann unschwer in der (auch von ihm citierten) 
großen Instruction für Kalytschews Nachfolger Markoff Aufschluß 
finden können. Es läßt sich dahin zusammenfassen, daß Rußland 
und Oestreich sich zuerst untereinander, alsdann mit Preußen über 
einen allgemeinen Entschädigungsplan verständigen, mit dem fertigen 
Plan aber Frankreich gegenübertreten und seine subversiven Ab- 
sichten auf diese Weise vereiteln sollten). Für ein gegen Preußen 
gerichtetes russisches >Einvernehmen mit Frankreich< bleibt in dem 
Rahmen dieses Programmes, wie mir scheint, kein Platz. 

Man kann der Ulmannschen Forschung im allgemeinen nicht 
leicht einen ungerechteren Vorwurf machen als den, daß sie achtlos 
an den Aussagen ihrer Quellen vorbeigehe. Das gilt ganz speciell 
auch für das Buch, das uns hier beschäftigt. Gerade in der nüch- 
ternen sachlichen Einzelkritik liegt seine Stärke. Eben darum glaubte 
ich einen an sich nicht unwichtigen Einzelpunkt herausgreifen zu 
dürfen, in dem der Verf. sich m. E. im Irrtum befindet, ausdrücklich 
aber habe ich zu bemerken, daß der Nachdruck des vorliegenden 
Buches nicht auf den Partien liegt, an die sich meine obigen Be- 
merkungen knüpfen. 

Sowol diese Partien nämlich wie auch die weitere Darstellung 
bis etwa Ende des Jahres 1803 (Cap. 1 und 2) sind augenscheinlich 
für den Verfasser nicht viel mehr als eine Art erweiterter Einlei- 
tung und treten wie an sachlichem Wert so auch an Umfang hinter 
den folgenden vier Capiteln, welche zeitlich die kleinere Hälfte des 


1) Magazin (Sbornik) der Kais. russ. Gesellschaft Bd. 70, S. 137. 
2) A.a.0. 8. 209. 
Gött, gel. Ans. 1901. Nr. 2. 12 


170 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


Buches behandeln, zurück. Ich will mit dem Verfasser nicht dartiber 
rechten, daß er dies Verhältnis im Titel nicht deutlicher zum Aus- 
druck gebracht hat, Tatsache ist jedenfalls, daß seine Darstellung 
ihr eigentliches Thema erst erreicht mit der Krisis, welche die Ver- 
handlungen über Preußens Eintritt in die Coalition des Jahres 1805 
‘begleitete. Diese Verwicklung, während der die Geschichte der 
preußisch-russischen Beziehungen dieser Jahre ihren dramatischen 
Höhepunkt erreicht und fast zur Geschichte Europas wird, hat den 
Verf. offenbar ursprünglich und am meisten gelockt. Hier liegt 
jedenfalls sein Verdienst. Er führt uns die Geschichte der preußi- 
schen Politik während der Jahre 1804 und 1805 in aller Ausführlich- 
keit vor. 

Das Neue, was er uns zu bieten hat, ruht im wesentlichen auf 
dem neuen Material, das er herangezogen hat, eben jener gedruck- 
ten russischen Quellenlitteratur, daneben (außer auf den Berichten 
des preußischen Gesandten in Petersburg) ‘vor allem auf den De- 
peschen des Ostreichischen Militärbevollmächtigten bei Alexander, des 
Obersten Stutterheim. Die Benutzung dieser Quellen hat ihn in den 
Stand gesetzt die Abwandlungen der russischen Politik dieser Jahre 
im einzelnen genauer zu verfolgen, als das bisher möglich war. Nach 
dieser Richtung hin liegt eine positive Bereicherung unserer Er- 
kenntnis vor. Freilich Ulmanns Verzicht auf das Petersburger Ar- 
chiv hat ihm die Möglichkeit zu einem vollen Einblick zu gelangen 
abgeschnitten. Wesentlich neue Gesichtspunkte haben sich ihm aus 
seinen Quellen auch über die russische Politik nicht eröffnet. Etwas 
Abschließendes vermag er nicht zu geben. Wie wäre das auch mög- 
lich ohne Benutzung der Depeschen des russischen Gesandten Alopeus 
aus Berlin und der Weisungen, die er empfing? Was dem Verfasser 
von diesen Papieren zu Gebote stand, beschränkt sich auf im Ber- 
liner Archiv ruhende ostensible Stücke und einzelnes, was Martens 
gedruckt hat. — 

Ausdrücklich tritt Ulmann an einer Stelle seines Buches (S. 292) 
in Gegensatz zu Rankes Auffassung, der eben im Hinblick auf die 
damalige preußische Politik darauf hinwies, wie bedingt doch eigent- 
lich die Wirksamkeit des persönlichen Factors im geschichtlichen 
Leben sei. Er selbst kennt kein anderes bewegendes Princip in der 
Geschichte als das Individuum. Als leitende Grundüberzeugung 
durchzieht sein Buch der Gedanke, daß die russische und preußische 
Politik dieser Jahre das persönliche Werk Alexanders und Friedrich 
Wilhelms gewesen sei. Mit einseitiger Consequenz ist dieser an 
sich ja nicht neue Gedanke durchgeführt und das historische Pro- 
blem in ein psychologisches aufgelöst. 


Ulmann, Russisch-preußische Pol. wat. Alexander I. u. Friedr, Wilhelm III. 171 


So wenig ich mich mit einem so kurzen Maßstab einverstanden 
erklären kann, wo es gilt »das erdrückende Wachstum des Ueber- 
gewichts Napoleons« zu erklären (S. 1), se gern erkenne ich an, daß 
im einzelnen viele gute und feine psychologische Beobachtungen 
in dem Buche stecken. Sehr hübsch ist die Rolle Czartoryskis 
herausgearbeitet. Gut ist die Bemerkung über Alexander nach Au- 
sterlitz: »Die treibende Kraft seines Innern blieb zunächst eine mit 
Eifersucht versetzte Animosität gegen Napoleon« (S. 315). Haug- 
witz’ eitle Selbsttäusehung ist treffend geschildert (S. 309/310). Auch 
Friedrich Wilhelms Persönlichbeit ist mit gutem Verständnis seiner 
menschlichen Vorzüge und Schwächen aufgefaft. Sympathisch be- 
rührt vor allem die Ruhe des Urteils, das verständige Abwägen und 
das Bestreben auch complicirten Charakteren gerecht zu werden. 
Manche landläufigen Urteile (so Alexander gegenüber bei der Scene 
in der Gruft Friedrichs : S. 279) sind hier gemildert.. Auch das 
sachliche Urteil ist "nüchtern und unbefangen. Mit Recht erklärt 
sich Ulmann gegen die Annahme, als habe es Alexander im Jahre 
1805 auf eine Beraubung Preußens abgesehen gehabt (S. 197). Auch 
darin kenn man ihm nur beistimmen, daß die Annahme einer münd- 
lichen Geheim-Instruction des Königs an Haugwitz (November 1805), 
auf alle Fälle den Frieden zu wahren, nicht notwendig und darum 
unwahrscheinlich sei (S. 285 ff.). Seine vorsichtigere Fassung deckt 
sich im wesentlichen mit der von Bailleu’) gegebenen. Ebenso ist 
mir mit ihm zweifellos, daß in Berlin die ernste Absicht in den 
Krieg einzutreten selbst noch nach Austerlitz bestanden hat (S. 290). 

Nach einer Richtung möchte ich aber doch den Vf. einer star- 
ken Befangenheit zeihen. Ich wiederhole: sein ernstes Bestreben 
gerecht abzuwägen ist unverkennbar, es kommt auf jedem Blatt sei- 
nes Buches zum Ausdruck. Wenn dennoch sein Maßstab nicht nach 
allen Seiten der gleiche ist, so ist dafür ein Factor verantwortlich 
zu machen, der ihm selbst offenbar unbewußt seine Anschauungen 
entschieden beherrscht: sein preußischer Standpunct. In dem Con- 
flict zwischen Preußen und Rußland, von dem er uns zu erzählen 
hat, nimmt er lebhaft, ja fast erbittert Partei. Wenn Rußland und 
die andern Verbündeten der neuen Coalition gegen Frankreich 
den Gedanken fassen keine Neutralität in diesem Kriege zu dul- 
den, de forcer la main & la Prusse, so ist ihm das eine »An- 
maGung<, eine »verhängnisvolle Abirrung von aller gesunden An- 
sehauung«, gegen die er das Völkerrecht wie die »geschichtliche Er- 
fahrung< anruft (5.187). Er weiß einen solchen Anspruch nur als 


i) Preußen und Frankreich I, LXV. 


172 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


»hochmütige Unterschätzung der Daseinsbedingungen der Andern« 
zu werten und fragt: »wo liegt der Unterschied zwischen diesem 
Anspruch und dem Verfahren der Aufständischen im großen Bauern- 
krieg, wenn sie sich gegen Widerwillige ein Zwangsrecht beilegten ?< 
(S. 174). 

Es liegt mir fern mich für die dilettantische Gefühlspolitik Alex- 
anders zu erwärmen, ich kann aber nicht umhin mich zu der per- 
sönlichen Anschauung zu bekennen, daß es Europa möglicher Weise 
viel Elend und Blutvergießen erspart hätte, wenn der Plan Preußen 
damals so oder so in den Kampf gegen Napoleon mitzureißen ge- 
glückt wäre. Jedenfalls aber wäre es für die Förderung des histo- 
rischen Verständnisses ersprießlicher gewesen, wenn unser Verfasser 
von Vorwürfen an die russische Adresse abgesehen und sich darauf 
beschränkt hätte jenen Gedanken des forcer la main & la Prusse als 
die bittere Frucht der preußischen Neutralitätspolitik zu begreifen. 
Ich meine, seine eigene Darstellung läßt es klar genug erkennen, 
welchen Anteil einerseits das Mistrauen gegen die Aufrichtigkeit der 
preußischen Politik und andererseits die, wie er selbst sagt >un- 
glaublich gefallene Wertschätzung der physischen und moralischen 
Wehrhaftigkeit Preußen« (S. 194) an der Genesis des Gedankens 
hatten. Wer sich aber selbst einer solchen Erkenntnis nicht ent- 
zieht, wie kann der uns mit einer so matten Weisheit abspeisen 
wollen, wie sie in der folgenden Sentenz niedergelegt ist: »Auch 
die Staaten müssen wie die Menschen unterweilen eben Geduld üben 
mit einander< (S. 187)? Als ob nicht die politische Sittenlehre stets 
und zu allen Zeiten Geduld und Rücksicht nur gegenüber der ihrer 
selbst gewissen Kraft gekannt hätte? Freilich Ulmann spricht von 
einer »Unterschätzung des preußischen Staatsgeistes< durch die Ver- 
bündeten. Aber hat ihnen nicht Jena und der furchtbare Zusam- 
menbruch des alten Preußens schneller und vollständiger Recht ge- 
geben, als sie es damals noch ahnen mochten? 

Ich breche hier ab, obwol ich noch manches zu sagen hätte. 
Nur andeuten will ich noch, daß die patriotische Befangenheit des 
Autors auch an anderen Stellen zu Tage tritt. Die schöne kräftige 
Entschiedenheit, mit der Lehmann über Friedrich Wilhelm urteilt, 
darf man bei ihm nicht suchen. Nicht daß er ein Apologet des 
Königs wäre. Gut spricht er einmal von den »unköniglichen Ele- 
lementen seines Wesens< (S. 95). Er macht sie einzeln namhaft 
(S. 15, 169, 239, 279 u. ö.). Aber im ganzen hat er doch eine Nei- 
gung ihn zu schonen und statt seiner seine Umgebung, das Cabinet, 
die >kleinen Menschen«, die »Zitterer«, die »Freunde des Stille- 
sitzens< anzuklagen. Es ist einleuchtend, daß er auf diese Weise 


Pfister, Aus dem Lager der Verbündeten 1814 und 1818. 178 


zu seiner eigenen Ansicht, wonach im Grunde der König die preu- 
ßische Politik gemacht habe, in einen gewissen Gegensatz tritt. 
Ulmann selbst nennt sein Buch gelegentlich eine Studie. In 
der That giebt er weniger eine Darstellung als kritische Studien zu 
einer solchen. Kritisch setzt er sich mit Personen und Dingen, die 
er schildert, mit seinen Quellen und seinen Vorgängern auseinan- 
der. Kritisch muß sich auch der Benutzer mit seinem Buche ab- 
finden‘). Wenige werden es ohne Widerspruch, niemand ohne För- 
derung und Anregung empfangen zu haben aus der Hand legen. 


1) Einige nicht uninteressante Berichtigungen und Ergänzungen z. T. aus 
Londoner archivalischem Material bringt J. Holland Rose: English historical 
Review XV, 597—599. — Auch in Bailleus soeben erschienener Sammlung: Brief- 
wechsel Friedrich Wilhelms III. und der Königin Luise mit Alexander I. steckt 
wichtiges (oben noch nicht verwertetes) Material zur Kritik Ulmanns. 


Leipzig (Oktober 1900). G. Buchholz. 


Reue 


Pfister, A, Aus dem Lager der Verbündeten 1814 und 1815. 
Stuttgart und Leipzig. Deutsche Verlags-Anstalt. 1897. XII. 480 S. gr. 8°. 
Preis 7 Mk. 


Das Buch ist eine Fortsetzung des von demselben Verfasser 
kurz vorher herausgegebenen Werkes, das unter dem Titel »Aus dem 
Lager des Rheinbundes 1812 und 1813« die Ereignisse bis zum 
Winter 1813 behandelt. Wie dieses gründet es sich auf würtember- 
gische Akten, die in reichem Maße herangezogen und mit Sorgfalt 
ausgebeutet sind. Hierin besteht der Hauptwert der Arbeit, die zu- 
gleich eine Art Publikation ist, da sie viele von den Aktenstücken 
fast unverkürzt zum Abdruck bringt. Die neuen Ergebnisse, die 
daraus zu entnehmen sind, sind allerdings nicht allzu zahlreich, es 
finden sich deren weniger, als in dem früher erschienenen Bande. 

Das wichtigste ist, daß die Persönlichkeit des Königs Friedrich 
von Würtemberg jetzt deutlicher erkennbar gemacht ist und dadurch 
z. T. in andern Lichte erscheint als bisher. Der König hat durch- 
aus nicht aus Anhänglichkeit an Napoleon sich in der Unterstützung 
der Verbündeten so lässig gezeigt, ist ihren Ansprüchen so wenig 
entgegengekommen oder hat sich ihnen sogar schroff widersetzt. Er 
haßte vielmehr Bonaparte und sein ganzes Haus auf das heftigste 
infolge von persönlichen Kränkungen, die er von dem Gewalthaber 
hatte erdulden müssen. Er wünschte deshalb auch seinen Sturz 
und war einer von den wenigen, die während des Feldzuges von 


174 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 


1814 von Anfang an für eine energische Kriegführung mit dem Ziel 
der Entthronung des Franzosenkaisers eintraten. Der Beweggrund 
für seine Politik war überhaupt allein das dynastische Selbstgefühl, 
das ihn beseelte. Förderung der Macht seines Hauses und seines 
Staates war sein Ziel, und er verfolgte es mit allen Mitteln einer 
rücksichtslosen Diplomatie. In der Verbindung mit Napoleon hatte 
er die Königswürde und mancherlei bedeutende Vorteile erlangt, jetzt 
wo dessen Stern erblich, sollte ein anderer Protektor an seine Stelle 
treten und weiter helfen. Dazu ersah er den Zaren aus, mit ihm 
suchte er ein enges Einvernehmen herzustellen. Von der weit ent- 
fernten russischen Macht brauchte er nicht so leicht Gefahren für 
seine souveräne Selbständigkeit zu befürchten und konnte er noch 
am ehesten Unterstützung bei seinen Eroberungsgedanken erhoffen. 
Man muß die Schärfe und Klarheit seines politischen Blickes, seine 
treffende Beurteilung der fremden Staatsmänner bewundern; in die- 
ser Hinsicht war er ein würdiger Schüler Friedrichs des Großen. 
Sein Gegensatz gegen Oesterreich und sein Widerstand gegen die 
durch österreichische Vermittlung an ihn herantretenden Wünsche 
der Verbündeten in den Jahren 1813 und 1814 gingen aus der Er- 
kenntnis hervor, daß er von Oesterreich niemals Förderung oder 
Zustimmung zu seinen auf Vergrößerung seines Landes gerichteten 
Plänen erwarten dürfe. Ueberdies wurde er in seinem stolzen, hoch- 
mütigen Auftreten bestärkt durch die Mißachtung, mit der er auf 
die Fähigkeiten der verbündeten Monarchen und ihrer Feldherrn und 
Diplomaten herabsah. Die Art, wie er sich 1815 durch einen 
Kriegszug, den er persönlich unternahm, kurzer Hand in den Besitz 
Kehls zu setzen suchte, ist bezeichnend für den selbstherrlichen Cha- 
rakter seiner Politik. Er war in der That nicht nur in der innern, 
sondern auch in der äußern Politik ein Napoleon im Kleinen. Auch 
einen Napoleon suchte er seinen Zwecken dienstbar zu machen, nur 
so lange hielt er an ihm fest, als er sich Nutzen von ihm verspre- 
chen konnte, und persönliche Feindschaft wie politischer Scharfsinn 
ließen ihn erkennen, daß seit dem Herbst 1813 nichts mehr von ihm 
zu hoffen sei. 

Außer diesen neuen Aufklärungen über die Politik des ersten 
Königs von Würtemberg ergeben sich aus den Berichten der wür- 
tembergischen Bevollmächtigten hin und wieder lehrreiche Bemer- 
kungen über die politischen Ziele der andern Mächte, die zur will- 
kommenen Bestätigung und Erweiterung der historischen Auffassung 
dienen können. Diese Berichte sind wertvoll, weil sie von umsich- 
tigen, tüchtigen Männern niedergeschriehen und bei den hohen An- 
sprüchen, die der Herrscher an seine Beamten stellte, mit Sorgfalt 


Pfister, Aus dem Lager der Verbündeten 1814 und 1815. 175 


abgefaßt sind. Von Einzelheiten sei hier erwähnt, daß man darauf 
bingewiesen wird, wie Metternichs Politik auch 1815 durch die Rück- 
sicht auf Galizien bestimmt wurde, durch seine Abneigung, die alte 
Stellung Oesterreichs am Rhein wieder einzunehmen, durch sein Be- 
streben in Süddeutschland keine kräftige Selbständigkeit aufkommen 
zu lassen (vgl. S. 401). 

Leider ist die Ausbeute, wie gesagt, nicht allzu groß; und dabei 
hat das Bestreben des Verfassers, auf der einen Seite doch alles 
irgend wie Brauchbare aus seinen Archivstudien mitzuteilen, und 
andrerseits seine Darstellung unter große allgemeine Gesichtspunkte 
zu ordnen, die Form seines Buches nicht günstig beeinflußt. Denn 
es wird weder eine fortlaufende Erzählung des großen Ganges der 
Ereignisse gegeben, sondern diese sehr häufig durch Einflechten der 
würtembergischen Berichte oder durch breitere Behandlung einer 
Episode, bei der die Würtemberger beteiligt waren, mit ermüdenden 
Wiederholungen unterbrochen ; noch sind der Anteil der Würtem- 
berger, ihre militärischen und diplomatischen Leistungen, da wieder 
zu oft andere allgemeinere Gesichtspunkte hineinspielen, besonders 
klar herausgearbeitet. Die hat Pfister selbst früher in seinem Buche 
über König Friedrich von Würtemberg und seine Zeit zwar weniger 
eingehend, aber viel anschaulicher dargelegt. 

Der Verfasser will das voranstellen, »was sich für das deutsche 
Volk aus den Leistungen und Zuständen als Resultat ergeben, was 
die Stimmung der Zeit geschaffen und den Gang unserer Volksge- 
schichte erleichtert oder behindert hat<«. Aber die Auswahl der Er- 
eignisse, die er darstellt, entspricht nicht immer ihrer Wichtigkeit. 
So verweilt er, um ein paar Beispiele zu nennen, mit behaglicher 
Breite bei der Schilderung der Reise Napoleons von Fontainebleau 
nach Frejus, die gar nichts Neues enthält und zudem recht zweifelhaft 
begündet ist; von der Bedeutung des Rechtsabmarsches der schlesischen 
Armee am 23. Februar, der den Feldzug rettete, ist dagegen nicht 
die Rede, von der Schwierigkeit und Tragweite der Frage nach dem 
Schicksal Sachsens bei den Verhandlungen des Wiener Kongresses 
erhält der Leser kaum einen Eindruck. Erwähnt muß doch auch 
werden, daß die Methode des Verfassers nicht einwandsfrei ist. Er 
druckt z.B. eine längere Stelle aus den Metternichschen Memoiren 
ab (S. 58), von der Bailleu, dessen Kritik er übrigens selbst an an- 
dern Orten zitiert, gerade speziell nachgewiesen hat, daß sie un- 
glaubwürdig sei. Er stellt ferner den Grundsatz auf (S. 206 und 
sonst), daß in diesem Feldzug 1814 der persönliche Entschluß im 
Guten wie im Bösen von jeher viel zu viel betont sei und die ge- 
setagebende Lage, von der man sich abhängig fühlte, mehr Bertick- 


176 Gott. gel. Anz. 1901. No. 2. 


sichtigung verdiene, dann würden Verdammung und Lobpreis, Schuld 
und Verdienst sich mehr ausgleichen und gleichmäßiger auf die ver- 
schiedenen Persönlichkeiten verteilen, und verwendet ihn vor allem 
dazu, Schwarzenbergs Kriegführung zu erklären und gegenüber ihren 
Kritikern zu rechtfertigen. Ob der Grundsatz, wenn er so formu- 
liert wird, zu verteidigen ist, erscheint sehr zweifelhaft, daß seine 
Anwendung in diesem Falle besonders geglückt sei, kann man nicht 
behaupten. Denn um wirkliche Beweise für die Apologie des Ober- 
feldherrn, die ja nicht neu ist, zu geben, wäre doch ein etwas ge- 
naueres Eingehen in die Einzelgeschichte des Feldzuges nötig ge- 
wesen. So werden die Gründe der Gegner nicht widerlegt, wirken 
die eigenen Behauptungen nicht überzeugend. 

Doch genug von solchen Ausstellungen. Der Historiker muß 
dankbar sein für die Erschließung neuer Quellen über eine so wich- 
tige Epoche, wenn er auch nicht verschweigen kann, daß das höhere 
schöne Ziel, welches das Buch sich außerdem gesteckt hat, nicht er- 
reicht ist. 


Göttingen. L. Mollwo. 


Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen. 


März 1901. Nr. 3. 


Grtineisen, C, Der Ahnenkultus und die Urreligion Israels. Halle 
M. Niemeyer 1900. XV. 287 S. Preis 6 Mk. 


Die Arbeit ist die Erweiterung einer Preisaufgabe, in der der 
Verfasser die exegetische Grundlage der Ahnenkulthypothese von Stade 
und Schwally untersucht hat. Im vorliegenden Buche verfolgt er jene 
Hypothese auch auf den Lebensgebieten, in denen Stade und Andere 
Spuren des Ahnenkultus als der Urreligion Israels gefunden zu ha- 
ben glauben. Die Einleitung bietet eine geschichtliche Entwickelung 
des Begriffes Animismus und eine Begrenzung der vorliegenden Auf- 
gabe dahin, zu untersuchen, ob, nicht die animistische Weltanschauung, 
sondern die animistischen Religionsformen des Totenkultus und der 
Ahnenverehrung im alten Israel vor dem Jahvismus als Urreligion ge- 
herrscht haben. In drei Teilen behandelt der Verf. seine Aufgabe. 
Im ersten Teil: Die Vorstellungen von der Seele und vom Zustande nach 
dem Tode werden in 2 Abschnitten die anthropologischen Vorstellun- 
gen des alten Israel und die israel. Vorstellungen vom Zustand nach 
dem Tode besprochen. Wenn auch die altisrael. Vorstellung von 
©») Aehnlichkeit mit der ‘Seele’ des Animismus hat, so ist sie doch 
darin eine ganz andre, daß die ‘3 den Körper nur im Tode verläßt 
und daß es dann aus mit ihr ist. Ebenso zeigt sich im Glauben 
an die XD wohl die Vorstellung von einer gewissen Fortdauer des 
Toten (nicht der Seele!), aber gerade die Schilderung der So legt 
Protest ein gegen jede höhere Wertschätzung, geschweige religiöse 
Verehrung, der Toten. Der zweite Teil, Totenkult im alten Israel, 
hat 3 Abschnitte: Trauergebräuche, Begräbnis und Totenopfer, To- 
tenbeschwörung in Israel. Für die Trauergebräuche wird ein ge- 
meinsamer Grund gesucht und im Anschluß an J. G. Frazer darin 
gefunden : Der Mensch will sich durch die Entstellung (in der Trauer) 
unkenntlich machen, um sich vor der drohenden Gefahr zu schützen. 
Diese Gefahr drohte ursprünglich von Gott; doch spielen auch hier 
animistische Vorstellungen insofern hinein, als das laute Trauerg&heul 

Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 13 


178 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3, 


wohl zur Abwehr des Totengeistes dienen soll. — Die Bestattungs- 
gebräuche zeigen keine Spur von kultlicher Verehrung der Toten, wohl 
aber geben auch sie von dem Glauben an Totengeister Kunde. Die 
»Totenopfer< die man Jerem. 16, 7 finden will, sind keine Spenden 
an die Toten, sondern Speise und Trank, die man den Trauernden 
in das Haus schickt, um sie vor dem Genuß des unreinen im Haus 
befindlichen sogen. Trauerbrotes (E18 Dr) zu bewahren; auch die 
Totenspenden, von denen Deut. 26, 14 und öfter in den Apokryphen 
die Rede ist, sind keine Zeichen göttlicher Macht der Toten, son- 
dern eher das Gegenteil. Der 3. Abschnitt bespricht die schwer zu 
vereinigenden Notizen im A. T. über 218 und 397° und schließt eine 
exegetische Behandlung von I. Sam. 28 an, deren Resultat ist, daß 
der Autor hier gar keine »typische Totenbeschwörungsscene« schildern 
will. Jedenfalls hat die Totenbeschwörung nichts mit einem Kultus 
der Toten zu thun, sondern gehört in das Gebiet der Zauberei und 
ist vielleicht kanaanäische Sitte. — Der letzte Teil, Ahnenkultus, be- 
handelt die von Stade u. a. angeführten Spuren der animistischen Ver- 
gangenheit Israels 1) in der Verehrung der Eltern, 2) in dem häus- 
lichen Kult, 3) in der Organisation der israel. Familie, 4) in der 
Bildung und Verfassung der Stämme. Auf allen vier Gebieten zeigt 
sich keine Spur von Ahnenkultus, wohl aber manche Anzeichen für 
das Gegenteil, wie die Thatsache, daß der nachweislich älteste häus- 
liche Kult bereits Jahve galt, das zweifellose Vorhandensein matri- 
archalischer Eheformen, und das Entstehen der hebr. Stämme nicht 
aus der Familie. 

Das ist ein kurzer unvollständiger Auszug aus dem reichhalti- 
gen Inhalt des Buches. Man wird gern anerkennen, daß der Verf. 
über die Probleme nachgedacht hat, das zeigt hauptsächlich der 3. 
Teil. Aber gerade mit so allgemeinen Betrachtungen, wie er sie 
uns dort bietet, ist praktisch wenig gethan. M.E. hätte eine gründ- 
liche exegetische Behandlung einzelner Stellen mit den nothwendig- 
sten historischen Ausblicken vollständig genügt, um das Unrecht je- 
ner Anschauung darzuthun. Auf die Methode kommt’s nicht dabei 
an und an den Gegner braucht man sich auch nicht zu binden, wenn 
man nur was Rechtes zu sagen hat. Jedenfalls war auf die Erklä- 
rung der einzelnen Texte der Hauptnachdruck zu legen, denn alle 
andren Lebenserscheinungen, die man herbeigezogen hat, wie Wesen 
und Entstehung der Familie und des Stammes, sind z. Z. noch außer- 
ordentlich vieldeutig und das Philosophieren darüber bringt uns 
nicht weiter. Sparen können hätte sich m. E. der Verf. auch die 
zahlreichen Parallelen, die er zu den Sitten und Gebräuchen Israels, 
meist von den sogen. Naturvolkern anführt. Er will ihnen zwar 


Grüneisen, Der Ahnenkultus und die Urreligion Israels. 179 


keine eigentliche Beweiskraft zugestehen, sie sollen nach seinen 
Worten nur ein Maßstab sein für das, was religionsgeschichtlich 
möglich ist und so als Korrektiv und Kommentar wirken. Ich 
glaube aber weder, daß die Sitten der >»Naturvölker« der Natur nä- 
her stehen und ursprünglicher sind, als die altisrealitischen, noch, 
daß sie uns so gut bekannt sind wie die im A. T. Und schließlich, 
wer weiß nicht, wie oft Erscheinungen mit einander verglichen wer- 
den, die, äußerlich ähnlich, ganz verschiedene Herkunft, also auch 
Bedeutung haben; so lange wir die Genesis jener nicht kennen, dür- 
fen wir sie nicht zum Vergleich heranziehen, denn jene nicht die 
äußerliche Aehnlichkeit auf einem Punkte der Entwicklung, ist das 
allein Entscheidende. Was uns in seiner inneren Bedeutung noch 
so fremd und unbekannt ist, wie Sitten und Gebräuche geschichts- 
loser d. bh. in ihrer Entwicklung unkontrollirbarer Völker, darf man 
nicht zum Maßstab machen für das, was >religionsgeschichtlich mög- 
lich« (!) ist, oder als Korrektiv und Kommentar anziehen bei einem 
Gebiet, das so lange und so gründlich durchgearbeitet ist wie das 
alttestamentliche. 

Ich werde mich aus diesen Gründen hauptsächlich auf die Bespre- 
chung der exegetischen Partieen des Buches beschränken. Die Sätze, 
auf denen der Verf. im ersten Teil die Ausführungen über de) und 
mn basiert, sind zwar allgemein anerkannt, aber doch falsch. " u. 
'a bezeichnen keineswegs beide ursprünglich dasselbe, nämlich den 
Atem als den den Körper belebenden Faktor. ‘ ist der Atem, der 
durch die Nase geht, ') dagegen ursprünglich der heiße Hauch der 
Gier, den man fühlt, wenn ein Tier den Rachen öffnet und im 
Hunger nach etwas schnappt, vgl. Job 41, 12f. Die Atemtätig- 
keit, mmm geht durch die Nase (BYEx), die ’; dagegen fühlt man in 
der jappenden Gier (SNX%) des geöffneten Rachens oder Mundes, vgl. 
Jer. 2, 24. So ist wp: Bezeichnung der Gier nach Speise und Trank, 
überhaupt des Hungergefühls geworden und in dieser Bedeutung ist 
es in der alten Literatur durchweg, auch Gen 27,4 — vom Verf. 
mißverstanden — gebraucht. Dies Hungergefühl galt dem Hebr. 
als das deutliche Zeichen des Lebens, daher ‘3 oft = m°n, und sein 
Fehlen als Beweis, daß das, was er mo nennt, eingetreten ist. Ganz 
verkehrt ist die Anschauung, die auch der Verf. als althergebrachte 
vertritt, als ob von Haus aus der Begriff des Individuellen an- 
hafte und es deshalb später oft zum Ersatz der Pron. diene; den 
Begriff des Individuellen bekommt es ja (vgl. "wa, "nox etc. in 
den Psalmen) erst durch das Suffix! Vielmehr ist ‘ nichts anderes 
als das ganz allgemeine, in allen Lebewesen vorhandene Verlangen nach 
Speise als natürliches Zeichen des Lebens. Das Charakteristische 

13 * 


180 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


am Toten ist das Aufhören dieses Triebes — wir würden sagen die- 
ses Bedürfnisses. Darum heißt es, wenn der Mensch »stirbt«, die 
‘p> »stirbt< d. h. hört auf, sich zu betätigen, und darum stellt man 
dem Toten Speise und besonders Trank auf das Grab: man kann 
ja nicht wissen, ob die ‘3 sich nicht mal wieder regt; denn den ab- 
soluten Gegensatz zwischen Leben und Tod giebt’s natürlich für das 
naive Empfinden nicht, leben heißt kräftig sein (m), tot sein heißt 
schwach sein (ep). Erst in späterer Zeit ist ’, die Atemtätig- 
keit, Kennzeichen des Lebens geworden, vgl. » 146,4. — Freilich, 
wenn '3 mp oder ‘5 rmpnm hieße: den Atem aushauchen, wie der Verf. 
frischweg übersetzt, wäre die Sache klar genug; aber diese fehler- 
hafte Uebersetzung, die weder Jerem. 15, 9 noch Job. 11,21. 31, 39 
paßt, hätte man schon längst nach den Uebersetzungen berichtigen 
sollen. — Daß der Verf. sich nicht von der herkömmlichen An- 
schauung losgemacht hat, ’) wäre eine >»persönliche Potenz<«, ist in 
der Folge für seine Stellung zum Animismus verhängnisvoll gewor- 
den; er ist in animistischen Vorstellungen hängen geblieben, wenn 
er ihnen auch keine religiöse Sonderexistenz zuerkennt. 

Mit seiner Deutung der Trauergebräuche im zweiten Teil der Arbeit 
wird der Verf. schwerlich Zustimmung finden. Er macht die rich- 
tige Beobachtung, daß die sogen. Trauergebräuche auch bei andern 
Gelegenheiten, z. B. an Kriegsgefangenen vollzogen werden, zieht 
aber daraus den unrichtigen Schluß, daß die Vollziehung dieser Ge- 
briiuche an den Besiegten eine religiöse Bedeutung habe; durch die 
Kriegsgefangenschaft treten nämlich die Besiegten in »Beziehung 
zur Gottheit«. Aus I Reg. 20,42 wird nämlich herausgelesen, daß 
jeder Feind unter dem oun Jahwes stand; hat denn der Verf. die 
Begründung für I Reg. 20, 42, die derselbe Autor in v. 28 ib. giebt, 
gar nicht gelesen?! Nicht weil er weiß, daß er es mit Jahwe zu 
thun hat, erscheint Benhadad in dem Aufzug I Reg. 20, 31 vor 
Ahab, sondern um durch seine klägliche Erscheinung des Königs 
Mitleid zu erregen. Er trägt selbst den Strick, wenn ihn der Sie- 
ger etwa fesseln wollte, ähnlich wie Dobais gebunden, mit Schwert 
und Leichentuch, vor den Chalifen geführt wird, vgl. Barhebr. chron. 
syr. ed. Bedjan S. 295 und S. 274. Die Grausamkeiten gegen die 
Besiegten, die sich in der Ausübung der »Trauerriten« an ihnen 
zeigen, gehen nicht aus religiösen Motiven hervor, sondern aus den 
ganz ursprünglichen Gefühlen des Hasses und der übermütigen 
Freude. Es sind ganz naturwüchsige Gefühle, die in dem Glatze 
scheeren , Haarabschneiden, nackt ausziehen, barfuß gehn lassen, 
Hintern entblößen etc. an dem besiegten Feind ihren Mutwillen üben. 
Das alles sind Schändungen und Entehrungen, die der Sieger in 


Grüneisen, Der Ahnenkultus und die Urreligion Israels. 181 


wilder Freude an den gefangenen Feinden vornimmt, aber wahr- 
haftig keine kultlichen Handlungen! Für unrichtig halte ich auch die 
Erklärung, als ob der Aussätzige Lev. 13 oder Thamar 2. Sam. 13 
deshalb die dort beschriebenen »Trauergebräuche« anwenden, weil 
sie unrein sind. Nicht weil sie vergewaltigt und dadurch unrein ge- 
worden ist, legt Thamar die Hände jammernd auf’s Haupt, sondern 
weil ihre Bitte v. 16 abgeschlagen und sie schändlich hinausgejagt 
wird. Dieselbe Bewandnis hat es mit der Bublerin Jer. 2, 37; sie 
hat eine schändliche repulsa ihrer Anträge erlitten, daher der Gestus 
des moa. So legt Besus jammernd die Hand auf das Haupt, als 
sie die Schmach hört, die ihr in der Beleidigung ihres Gastes zuge- 
fügt worden ist, Abulfed. hist. anteisl. ed. Fleischer S. 138. — Die 
Deutung vollends der Trauerriten, als ob sich der Mensch durch sie 
unkenntlich machen wollte, um sich vor der — von Gott — drohen- 
den Gefahr zu schützen, hat im A. T. keine Spur von Berechti- 
gung; daß der Verf. auf sie gekommen ist, erklärt sich nur daraus, 
daß er sich von den angeblichen oder wirklichen Ergebnissen der 
religionsgeschichtlichen Forschung auf anderen Gebieten hat beein- 
flussen lassen. Schon die Gottesvorstellung legt gegen diese Auf- 
fassung den schärfsten Protest ein. Ueber die Vorstellung des Kin- 
des, das sich die Decke über den Kopf zieht und sich nun geborgen 
wähnt, sind wir im A.T. längst hinaus — wenn diese Vorstellung 
überhaupt jemals vorhanden gewesen ist. Die Vorstellung von Gott, 
die sich aus den ältesten Texten erschließen läßt, macht eine solche 
Deutung der Trauergebräuche unmöglich. Zu Gott kommt man, um 
im Dunkel Licht zu haben, wo menschliche Augen nichts mehr sehen, 
da soll Jahwe den Schuldigen, den Dieb, den Räuber finden. Diese 
unheimliche Fähigkeit Gottes, den Schuldigen zu treffen (xxx), ist 
bei den Verehrern der Grund ihrer Schauer und ihrer Furcht. Der 
Gott, den Israel seit den ältesten Zeiten verehrt, ist kein unter- 
menschliches Wesen, das sich durch solch Versteckenspiel foppen läßt. 
Unfaßbar ist mir jene Deutung, da doch das A.T. selbst deutlich 
genug den Zweck der Trauerriten giebt. Trauerzeiten sind Zeiten 
der Gefahr für den Menschen. In Hunger und Krankheit, Not und 
Tod spürt der Mensch schauernd die Gegenwart Gottes, sein Vor- 
übergehen oder Hindurchgehen durch das Volk. Unglücksfälle sind 
ein warnendes cave adsum der Gottheit, die ihr Angesicht zürnend 
auf den einzelnen und seine Umgebung richtet und ibren Arm noch 
drohend ausgestreckt hält zu weiteren Schlägen. Den Demütigen 
giebt Gott Gnade. Um Gottes Zorn abzuwenden und seinem erho- 
benen Arm Einhalt zu thun giebt’s kein andres Mittel als »sich 
demütigen«, d.h. sich erbärmlich stellen, sich entehren, erniedrigen 


182 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


und sich schänden, damit durch solch jammervollen Aufzug Jahwes 
Mitleid erweckt werde und sein zomig Antlitz sich glätte, vgl. 
2 Sam. 12,15 ff. Jes. 58,3 ff. Natürlich unterblieb in solchen Zeiten 
des Interdiktes jede fröhliche Lebensäußerung ; der Schrecken der 
göttlichen Gegenwart wirkt gleichsam lähmend, das geschäftliche und 
häusliche Leben steht still, alles konzentriert sich auf die Beschwich- 
tigung des göttlichen Zornes, vgl. den Traktat razor der Mischnah. 
Die Gebräuche, die hierbei zur Anwendung kamen, nennt man sehr 
irrtümlicherweise »Trauergebräuche< ; sachlich sind es nichts andres 
als Selbstdemiitigungen, die auf Jahve einwirken sollen, wie die 
jämmerliche Erscheinung Benhadads auf Ahab, vgl. auch I Reg. 21, 27 ff. 
Von der Thatsache, daß die meisten sogen. Trauergebräuche zugleich 
Entehrungen sind, muß man ausgehen, wenn man sie recht deuten 
will. -— Daß das Grauen der Hebräer vor dem Leichnam und allem, 
was damit zusammenhängt, seine Wurzel hat in der Furcht vor den 
Totengeistern, wird dem Verf. niemand glauben, so lange er für das 
Vorhandensein jenes Glaubens keine bessern Gründe anführen kann, 
als sein Mißverständnis der Bestimmung Num. 19, 15. Diese »schein- 
bar spitzfindige« Bestimmung erklärt sich doch wohl nicht aus der 
Angst, daß die »Seele< in das offene Gefäß geschlüpft sein könnte, 
sondern aus der Befürchtung, es könnte etwas von der Leiche oder 
was damit zusammenhängt hinein gefallen sein, vgl. Lev. 11, 33 und 
den Traktat mi5mx der Mischnah. Ebenso wenig kennt das A.T. in 
der Trauer oder beim Begräbnis ein »wüstes Geschrei< um die Gei- 
ster zu vertreiben; die Rufe, die beim Begräbnis ertönen, sind 
letzte Grüße an den Toten, Lobpreis seiner Tugenden, Klagen über 
den schweren Verlust etc., aber in der alten Zeit niemals wüstes 
sinnloses Lärmen. Das laute Klagen ist eine Ehre der Toten Je- 
rem. 22,18 f., aber keine ängstliche Abwehr der Geister; für »See- 
lene und Totengeister haben die alttestamentlichen Vorstellungen 
überhaupt keinen Platz. — In dem Abschnitt über Begräbnis und 
Totenopfer unterzieht der Verf. Jerem. 16,7 einer exegetischen Be- 
sprechung. Seinem Resultat, hier sei die Sitte bezeugt, den Trau- 
ernden Brot in das Haus zu schicken, wird schwerlich zuzustimmen 
sein; denn diese Sitte ist sonst im A. T. nicht bezeugt und Tob. 42, 11 
spricht ausdrücklich dagegen. Wenn er aber meint, D’sıX um> wäre 
das unreine Brot im Trauerhause und Do; '>, wie er Ez. 24, 17. 22 
jener fraglichen Sitte zu liebe beibehält, bezeichne das (reine) Brot, 
das die »Leute<, d.h. die Freunde und Verwandten dem Trauern- 
don schicken, damit er jenes unreine Trauerbot nicht zu essen 
brauche, — so ist das sicher falsch; jedes Brot, das der Trauernde "7x83 
genießt, ist unrein und D>. Die D15C m: des Trauernden schicken 


Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Untersuchungen. 2. Bd. 183 


ihm kein Brot, sondern sie gehen in sein Haus, essen dort mit ihm 
und trösten ihn; und zwar ist das Trösten nicht etwas, was sich so 
mit dem Senden des p°w:x’> »verbunden hat«, sondern eine Haupt- 
sache. — Zum Schluß noch eine sonderbare Exegese von I. Sam. 28 
im Kapitel »Totenbeschwörung in Israele. Das Weib, das der König 
bei Nacht und Nebel aufsucht, ist eine Betrügerin. Sie macht auf 
das Verlangen des Unbekannten hin ihren Hokus pokus, in der Ge- 
wißheit, daß der zitierte Geist nicht kommen wird — er kommt 
aber doch und über die Erscheinung erschreckt, kreischt sie laut 
auf! Nein, sie schreit, weil sie aus den Gebärden Samuels gegen 
den Unbekannten den König erkannt hat. Nicht ein besondrer Wil- 
lensakt Jahwes hat den Toten gegen das Erwarten des Weibes auf- 
geführt, sondern die Zauberei hat ihre Wirkung gethan; v. 15 spricht 
ja Samuel deutlich aus, daß ihn Saul (gegen seinen Willen) durch 
ihre Zauberkünste hat aufsteigen lassen: fva tf xaonv@yAnods wor 
dvaßival we? 
Louisendorf (Hessen-Nassau). Frankenberg. 





Funk, F. X., Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Unter- 
suchungen. Zweiter Band. Paderborn (F. Schöningh); 1899. V und 
483 5. 8°, 

Der erste Sammelband von ehemals in Zeitschriften verstreuten 
Abhandlungen zur Kirchengeschichte, den Funk 1897 veröffentlichte, 
ist von mir an dieser Stelle 1898, S. 1—15 besprochen worden; er- 
freulicherweise ist ein zweiter, in dem etwa die litterargeschichtlichen 
Untersuchungen so bevorzugt erscheinen, wie im ersten die archäo- 
logischen, bald gefolgt, und das Urteil wird, da Funk ein fertiger 
Mann ist, über die neue Abteilung seiner Sammlungen genau so 
lauten, wie über die ältern. 

Von den 22 Stücken, die der Band bringt, sind weitaus die 
meisten der Theol. Quartalschrift entnommen, und zwar den ver- 
schiedensten Jahrgängen von 1871 bis 1898, drei waren in dem Histo- 
rischen Jahrbuch 1881 und 1889 zuerst erschienen, eins, m. E. das 
wertvollste von allen, (Nr. XV) im Compte rendu des internationalen 
katholischen Gelehrtenkongresses von 1897 gedruckt; dies wird aller- 
dings bisher wenigen von Funks Mitforschern bekannt gewesen sein. 
Wohl nirgends hat F. sich mit einem einfachen Abdruck begnügt, 
wenigstens Zusätze und Verbesserungen hat er angebracht, mehrfach 
auch eine vollkommene Umarbeitung vorgenommen. Daß er in der 


184 Gott. gel, Anz. 1901. Nr. 8. 


Revision nicht so weit ging, die lebhaftere Stimmung des Augen- 
blicks, in dem die Aufsätze entstanden sind, zu unterdrücken, auch 
wo er jetzt eine andere Darstellung bevorzugen würde, weiß ich zu 
würdigen, aber gehören Zeitbestimmungen, wie jüngst, in den letz- 
ten Jahren, bisher, in der jüngsten Zeit, wie wir sie nun 1899 und 
1900 lesen, während sie nur 1876, 81 oder 82 angebracht waren, 
mit zu dieser Stimmung? Der Abhandlung über den Verfasser der 
Philosophumenen verleiht die breite Aufzählung der einschlägigen 
Schriften von 1851—80, die sich S. 163 als Uebersicht über den 
Stand der Frage giebt, von vornherein den Charakter des Greisen- 
haften; diese Listen hätten vervollständigt werden oder fortbleiben 
müssen. Actuelles Interesse hat dies Thema überhaupt kaum noch, 
die Abfassung durch Hippolyt unterliegt keinem Zweifel mehr, aber 
als einen Beitrag zur neuesten Kirchengeschichte wird man auch 
diesen Aufsatz wertschätzen, weil er zeigt wie schwer es hält, in der 
Kirche die Anerkennung der Thatsache durchzusetzen, daß ein or- 
thodoxer Christ wie Hippolytos um 220 so leidenschaftliche An- 
griffe gegen einen römischen Bischof richten konnte, ohne das Ver- 
trauen der katholischen Kirche, zu deren Heiligen er bis heute zählt, 
zu verlieren. Lediglich gleichen Wert hat Nr. 17 »zu den Ignatius- 
Akten<; Funk hatte mit allen Urteilsfähigen das sog. Martyrium 
Ignatii Colbertinum für eine spätere Fälschung erklärt und war 
darum von einem Luzerner Chorherrn Düret und einem Dr. B. Sepp 
angegriffen worden als Helfershelfer protestantischer Hyperkritik, 
dabei war der reizende Satz gefallen: »Wir sind zwar weit entfernt, 
an irgend jemanden einen Vorwurf um deswillen zu richten, denn 
wir befinden uns da nicht auf dogmatischem oder autoritativem Ge- 
biete, sondern auf dem Terrain historisch-patristischer Wissenschaft, 
wo ein gewisses Maß von Freiheit und objektiver Kritik be- 
rechtigt ist. Daß sich Funk gegen die Torheit dieser Angriffe 
rechtfertigen muß, nicht wie er es thut, ist das Interessante, und 
mit Wehmut habe ich den Schluß seiner Apologie (S. 347) gelesen, 
wo er fast laudabiliter se subjiciens, statt für die Ergebnisse objek- 
tiver Kritik schlechthin Annahme zu verlangen, eine Duldung für 
seine Zweifel erbittet: »Nach den Erörterungen von Düret und Sepp 
könnte man glauben, als ob in der Frage keinerlei Zweifel möglich 
sei. Die vorstehende Ausführung dürfte zeigen, daß wir von diesem 
Ziele noch weit entfernt sind. Im übrigen wird das Dokument in 
einigen Kreisen auch fortan als echt sich behaupten, da es, wenn es 
seinen späteren Ursprung auch nicht verleugnet, doch durch Schlicht- 
heit und Einfachheit vor zahlreichen anderen Akten sich vorteilhaft 
auszeichnet. Die Vertreter der entgegengesetzten Auffassung werden 


Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Untersuchungen. 2. Bd. 185 


dem Umstand Rechnung tragen (?). Man möge aber auch gegen 
sie gerecht sein, und wenn sie mit einem Schriftstück sich nicht 
zurechtfinden können, das die Kritik so sehr herausfordert, nicht von 
Hyperkritik reden«. 

Ich will nicht wiederholen , was ich 1898 über die Vorzüge von 
Funk als Forscher und Darsteller gesagt habe. Auch die knifflich- 
sten Detailuntersuchungen lesen sich bei ihm bequem, nie bleibt man 
im Zweifel über seine Meinung, und die Umständlichkeit, die bis- 
weilen, wo er besorgt ist dem Gegner vielleicht Unrecht zu thun, 
allerdings weitgeht, wird doch nie langweilig. Gewisse Provinzialis- 
men wird er sich nicht mehr abgewöhnen, einzelne häßliche Aus- 
drücke wie Akoluthat, Exorcistat, Selbstverdemütigung, allenfalsig, 
ausziiglich — als Adverb und Adjektiv S. 323 — wären leichter zu 
vermeiden gewesen. Stilfehler sind selten; mit gleicher Sorgsamkeit 
hat der Verf. seine Feder wie den Druck überwacht, die paar Druck- 
fehler, die ich bemerkt habe, verdienen keine Erwähnung, außer 
etwa in Citaten, wie wenn S. 50 n. 2 xgocxagrepécers st. -Naeıs, 
S. 69 n. 1 Z. 2 peccator st. negotiator, S. 292 m. concinnata st. con- 
cinnatum und credis st. credes steht, oder wenn S. 352 Z. 21 vide vor 
6 Adyos, S. 271 Z. 16 reydels vor @vduaore, S. 70 n. 3 Z. 2 ettam 
Iiberti vel vor propter hoc, S.69 n.1 Z.4 ein , bene vor mthi ausge- 
lassen sind. Die Bezeichnung der Citate läßt am ehesten zu wünschen 
übrig, ein Hinweis z.B. p. 57 auf Clem. strom. II 18 ist beinahe 
unbrauchbar, da cap. 18 ganze 19 Paragraphen umfaßt. Wenn F. 
doch manchmal die Seitenzahlen der Potterschen Ausgabe (und übri- 
gens auch die §§ziffern, z.B. S. 50 n. 2. 3) beifügt, warum geschieht 
das nicht durchweg? Auch Fehler giebt es hier häufiger zu ver- 
bessern, schon S. IV Z. 19 1. 112* st. 112, S. 64 n. 4 1. Divin. in- 
stit. V 17,32 st. V 18, ebenso 66 n. 3 V 17,10—13 st. V 18, 
S. 155 Z. 27 VIII 39 st. VIII 54, S. 341 Z. 34 Philad. 3,1 st. 7,1 
und S. 353 Z. 1 1. I Cor. 8,6 st. Rom. 8, 9. 

Für Funks gründliche und wahrheitsliebende Hingebung an die 
alten Quellenschriften bringt auch dieser Band wieder eine Fülle von 
Belegen, nur scheint er mit philologischen Kenntnissen nicht immer 
ausreichend gerüstet zu sein, als Uebersetzer ist er mindestens nicht 
geschickt. S. 334 Z. 4 wird &xidsıkıs mit »Beweis« wiedergegeben, 
genau wie S. 333 Z. 37 Zvdsıfıs, obwohl es sich um verschiedene 
Begriffe handelt; wer wird ohne den Grundtext die Stelle 330, 10 ff. 
verstehen : >»so daß sie, indem sie den Menschen und das innere 
Bild entfernen, nur das AeuGere reinigen und sich selbst wider- 
sprechen, indem sie u.s. w.<? S. 253 wird die fundamentale Stelle 
bei Basilius de spir. s. XVIII 45 dem Leser nicht klar, teils weil 


186 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


ihm der Schlußsatz vorenthalten bleibt: 6 ody gory Evraüda (näm- 
lich in dem angeführten Bilde oder Gleichnis) wıuntixös 9% elxav, toüro 
éxeét (nämlich im metaphysischen Verhältnis zwischen den Personen 
der Trinität) mveixas 6 vids, teils weil im Hauptpunkte der Ueber- 
setzer fehlgreift. Basilius will veranschaulichen, daß sic xal eis 
(Vater und Sohn) da sein können und doch nicht dvo Heol. »orı 
Bacıleds Asysraı xal 1 tod Pacılens elxcov xal ov dvo Bactdetcc. 
Nach Funk: »Weil man auch König sagt und Bild des Königs«, in 
Wahrheit: Weil man König auch das Bild des Königs nennt, ohne 
daß es deshalb 2 Könige gäbe. Und wenn gleich darauf Funk otro 
xual 7) ap’ judy dokodoyla uta wiedergiebt, >so ist auch die bei uns 
übliche Doxologie eine<, so macht er mindestens den Leser ver- 
gessen, daß wir uns hiermit noch im Gleichnis befinden, die zag’ 
nua Ödo&oAoyie unsere Ehrenbezeugungen vor dem Kaiserbild be- 
deutet wie vorher 7 xgatotea judy Key xal n Ekovaia die über uns 
verfügende kaiserliche Gewalt. Und gewiß legt die Stelle kein Zeug- 
nis für die Bilderverehrung im 4. Jahrhundert ab, aber als solches 
haben sie auch die Alten größtenteils nicht verwendet; daß der Ge- 
danke außerordentlich geeignet war, die kirchliche Doxologie der 
Heiligen- und Christusbilder zu rechtfertigen, kann Niemand läugnen. 
Seltsam ist S. 53 die Wiedergabe von Clem. strom. VII 12, 70 udvov 
yoöv Eavrod xnödusvos (der Unverheirathete) „rräraı zepös tov 
dAmoAsı vonEvov uty xara thy Eavrod Smryolav, wepirrsdovrog dé 
Ev th xara tov Blov olxovoule: »daernur für sich allein zu sor- 
gen hat (vielmehr »sorgt«), so wird er weniger gestört in der Sorge 
für sein eigenes Heil, jener aber überragt ihn durch seine Stellung 
im Leben<«. Von den Schlußworten des Satzes, die F. sich wohl zu 
übersetzen scheute, erfährt man gar nichts: eixdva areyvag owfovtos 
dAiyny ti tis dAndeiag noovoie. 8.56 findet xoıvovi« (neben werd- 
docıs) in Funks »Geselligkeit« doch ein etwas mehr als modernes 
Aequivalent, S. 57 aber ist es sicher falsch, wenn F. Clem. strom. 
II 18,84 #sbo yao 6 xrlorng tordgde ydpırog (nämlich mit offe- 
nen Händen an die Bedürftigen auszuteilen), dn d& 5 weradorıxös 
xal téxovg dEioAdyovs Aaupdver td tipiorata tay Ev dvPedxors, 
hucodtnra, yonordéryra deutet: »denn Gott hat solchen Erweis der 
Liebe befohlen. Auch ermangelt der Wohlthätige nicht bemer- 
kenswerter Zinsen, er empfängt, was die Menschen am höch- 
sten schätzen, Sanftmut, Rechtschaffenheit etc. Von der 
naiven Folgerung, die F. aus jenen Worten zieht, Clemens verbiete 
den Zins nicht schlechthin, will ich schweigen, aber den @ed¢ 6 xti- 
orng hätte er als den Gott, der die Reichtümer dieser Welt ge- 
schaffen hat zum Zweck guter Verwendung, erkennen müssen, 


Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Untersuchungen. 2. Bd. 187 


und das Kostbarste, was man unter Menschen, d.h. auf Erden — 
beachte 4d7 ö& — haben kann, ist leider nie das gewesen, was >die< 
Menschen am höchsten schätzen. S. 64 schiebt F. seine Vorstellun- 
gen dem Lactanz unter, wenn er dessen Verbot, aurum parvo emere, 
deutet, der Käufer solle nicht etwa Gold als unedles Metall in Em- 
pfang nehmen, aurum parvo heißt: Kostbarkeiten für Schleuder- 
preise. S. 297 soll nach F. Eunomios in seinem Apologeticus mit 
den Worten c. 27 tovray dé ndvrov sdxgivads wiv xal xdariregoy 
Ev Er£poıs july dnodedsıyucvov, év Boayst O& viv (hier setzt F. ganz 
verkehrt ein Komma) zed¢ tuds duodoynpévay evysuefa durchaus 
nur auf den ersten ausführlichen Teil des Apolog. c. 1—25 hin- 
weisen, wie der kürzere c. 26 ja anhebe: ’444’ iva un to prjxer tadv 
Adyav Anoxvnonusv tovs dxovovras, näcav Ev Boayzet tov Onter- 
tay nepiAaßövres tiv Övvaulv pausv;, die Geschichte berichte nichts 
von einer bedeutenden früberen litterarischen Thätigkeit des Euno- 
mios! Trotzdem Funk für seine Auffassung J. Garnier ins Feld füh- 
ren kann, bleiben hier J. A. Fabricius und auch einmal J. Dräseke 
im Recht, die a.a.O. einen Hinweis auf ältere Schriften des Euno- 
mios mit eingehender Behandlung der einschlägigen theologischen 
Fragen finden. Die öwoAoyi«, von der c. 27 als einer gegenwärtigen 
(viv) die Rede ist, ist im Grunde bereits vollendet (@uoAoy.); als 
öuoAoyia giebt sich aber der Apolog. von Anfang an, nicht als éxd- 
devEig vgl. c. 1: @idmuev... eis tuts exPéofar rig Eavraov ÖdEng 
tiv Önokoyiav, mit dem iva un vo unxeı etc. c. 26 erinnert sich der 
Verfasser blos lebhaft an seine Pflicht, sich kurz zu fassen, ganz wie 
er es schon c. 4 gethan hatte: dAA tye ye un tovzoıg éxl nAclov 
Evösarpißovres xéga tod pétgov unxvvapev toy Adyov, Ex’ adriy 
dn tospaueta tig alérems thy duodoytay; sein Temperament zog 
ihn eben immer wider seinen Willen vom Bekennen zum Beweisen 
(darum auch c. 9 xara tiv ngoAaßovcev drodsıkıv) hinüber, aber es 
war das wider seinen Vorsatz; als edxgıvös und wiarvregoy geführten 
Beweis kann er, der c. 4 geschrieben hatte, diesen öwodoyie-Auf- 
satz nicht tituliert haben. 

Fast noch erstaunlicher ist mir, daß S. 295f. Funk sich von 
J. Garniers Exegese nicht trennen kann, wo es doch nicht erst der 
Einwände Dräsekes bedurft hätte, um den richtigen Weg zu zeigen. 
Ps.-Basil. adv. Eunom. IV 1 (p. 287C) steht: uovöxtiorog xvgıo- 
tégov ay Atyoıro, xrloua wry dAndüs xar’ Ebvduov Gy, yEvvnua dd 
pevdaviuas xadovuevos. Da soll der Verf. dem Eunomios die 
Lehre zuschreiben, der einzig wahre Name für den Sohn sei xr/aue, 
yevynuc sei ein ihm nicht gebührender Titel. Auch wenn wir nicht 
aus dem Munde des Eunomios das Bekenntnis zu Christus als yev- 


188 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


vnue besäßen, würde ich diese Auslegung verwerfen, das wevdavi- 
pao giebt sich ebenso wie dAndög als Urteil des Verfassers über die 
eunomianischen Theologen, und die zweite Satzhälfte ist der ersten 
logisch subordiniert: bei Eunomios ist in Wahrheit der Sohn nur 
xtioun, wenn er auch mit falschem Namen yevvnua genannt wird. 
Nur dann paßt die Folgerung zu dem Vordersatz: ef wovoyerns 6 
vids dia tb ubvog Ex uovov yeyevvijefa:, dies ist ein arianischer 
Satz, den es aus seinen Consequenzen zu widerlegen gilt. Wenn Ihr 
Euch den povoyservys, weil ihn die Schrift bezeugt, gefallen laßt und 
ihn zu einem primus inter pares degradiert durch die Näherbestim- 
mung, er sei eben uovog &x udvov gezeugt wurden, so verlange ich 
der Ehrlichkeit wegen von Euch den Verzicht auf jenes Prädikat; 
nur wovöxtıorog darf er Euch heißen, weil er trotz aller Accommo- 
dation an orthodoxe Formeln bei Eurem Eunomios eben nur xtiopa 
ist. Noch eben hatte Ps.-Basil. (286 D) den Satz der Gegner yé»- 
vnua 6 vlds mg Ev tdy ysvvnudıov, näv ÖE yEevvnua xrioun 
(vgl. 286 E »tadröv xrikev xal yevväv roy Sedov) angegriffen, jetzt 
sollte er mit dem yévynua xaAsioheı plötzlich sich angegriffen füh- 
len? Nein, über den Namen yevvnu« für Christus ist er mit seinen 
arianischen Gegnern einig, er versteht nur darunter etwas Einzig- 
artiges, während er für jene eins von Vielen ist; da sie yevvnu« 
und xtisu@ gleichsetzen , beschuldigt er sie eines fälschlichen Ge- 
brauchs des Ehrentitels yevvnua. 

Doch ich will nicht über der Debatte um einzelne Stellen ver- 
gessen, Bericht über den reichen Inhalt des Buches zu erstatten. 
Nur die 3 letzten Aufsätze behandeln Fragen aus der mittleren und 
neueren Kirchengeschichte, XX und XXI eng zusammen gehörig; 
»Gerson und Gersen<« und >der Verfasser der Nachfolge Christi< 
führen in Uebereinstimmung mit der großen Mehrheit der deutschen 
Gelehrten unter Ablehnung von windigen Einfällen und Hypothesen, 
soweit möglich, den Beweis, daß das Buch de imitatione Christi erst 
im 15. Jahrh. und von Thomas a Kempis verfaßt worden. N. XXII 
»Zur Galilei-Frage< ist zur Orientierung vorzüglich geeignet ; in wür- 
diger Form räumt F. die von der kirchlichen Indexkommission im 
Proceß Galileis begangenen Fehler ein und warnt vor dem anmaß- 
lichen Hineinziehen der göttlichen Vorsehung bei Erklärung mensch- 
licher Irrungen und Leidenschaften. 

N. I bis XIX sind der alten Kirchengeschichte gewidmet. I bis 
III ursprünglich akademische Reden, über Constantin d. Großen und 
das Christentum, Johannes Chrysostomus und den Hof von Constan- 
tinopel, Clemens von Alexandrien über Familie und Eigentum. Nach 
Form und Inhalt scheint mir N. II die hervorragendste; es verdient 


Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Untersuchungen. 2. Bd. 189 


Erwähnung, daß auch F. (S. 37 n. 1) die Worte: »Wiederum rast 
Herodias< , obschon die mit diesem Anfang überlieferte Homilie ein 
späteres Machwerk sein dürfte, von Chrysost. unvorsichtigerweise ge- 
sprochen glaubt. In Nr. I tritt F. mit treffenden Gründen denen 
entgegen, die Constantins Hinwendung zum Christentum lediglich 
aus staatsmännischer Berechnung ableiten, aber von dem persönlichen 
Christentum dieses Kaisers bekomme ich auch durch F. keine glän- 
zende Vorstellung, vollends daß ihm wohl mehr als irgend einem 
der Ruhmestitel des Großen gebühren soll, bleibt eine, zwar durch 
Dankbarkeit einer Kirche entschuldigte, Uebertreibung. In Nr. III 
macht sich die kirchliche Befangenheit des Verfassers aber doch 
peinlicher bemerkbar. »Der göttliche Stifter des Christentums< 
strug über die geschlechtlichen Verhältnisse überhaupt eine Lehre 
von solcher Reinheit und Erhabenheit vor, daß sie zu dem, was das 
Heidentum in dieser Beziehung dachte und that, den denkbar größ- 
ten Kontrast bildet« (S. 46) — wo mag wohl Jesus diese Lehre 
vorgetragen haben? Auch weiß ich nicht, wo der »Stifter« die 
Liebe zum Menschen als solchen ein neues Gesetz genannt haben 
soll, doch nicht Joh. 13, 34 f.? Bei Clemens bemüht sich F. redlich 
den verschiedenen Tendenzen des Mannes gerecht zu werden, und 
er zwingt nicht etwa entgegengesetzte Aussprüche gewaltsam in eine 
Einheit, aber er findet, zumal bei der Ehe, nicht das entscheidende 
_ Wort: die Anschauungen des Kirchenvaters über Ehe und Familie 
hängen ab von denen über die Geschlechtslust — freilich eigneten sich 
diese nicht zum Thema einer akademischen Rede. 

Nr. IV »Handel und Gewerbe im christlichen Altertum< ist eine 
interessante Skizze, die sich leicht erweitern ließe, die Untersuchungen 
Nr. V und VI über die Zeit des Barnabasbriefs und über die Di- 
dache, ihre Zeit und ihr Verhältnis zu den verwandten Schriften ent- 
halten wenig Neues; Aehnliches gilt von Nr. XI >die Schrift adv. 
aleatores« und Nr. VIII >die Zeit des Wahren Wortes von Celsus«, 
wo man aber gern die besonnene Feststellung des Wahrscheinlichen 
durch Funk wiederum verfolgen wird. Von Nr. IX, XIII und XVII 
war oben die Rede. Nr. VII Zur Chronologie Tatians bringt noch 
immer nicht genügend gewürdigte Gesichtspunkte bei; mich erfreut 
insbesondere die Ablehnung der Hypothese, wonach Justins 2. Apo- 
logie in Wahrheit nur ein Nachtrag oder gar blos der Schlußteil 
der ersten, einzigen sein soll S. 143. Die Frage, ob Tatian sein 
Diatessaron nur als Häretiker oder als Mitglied der Großkirche habe 
schreiben können, darf gar nicht gestellt werden; sollte ein Austritt 
Tatians aus der Kirche (S. 151) je stattgefunden haben ? 

Nr. X »Die Pfaffschen Irenaeus-Fragmente< ist eine recht dan- 


190 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


kenswerte Arbeit; Funk findet die Argumente gegen die Echtheit jener 
berühmten 4 von dem späteren Tübinger Kanzler Pfaff angeblich in 
Turiner Catenenhandschriften gefundenen und 1715 veröffentlichten 
Fragmente aus verlorenen Schriften des Irenaeus überwiegend, meint 
aber über jedes von ihnen eine besondere Untersuchung anstellen zu 
sollen; beim wichtigsten 2ten muß er die Unechtheit bestimmt be- 
haupten, beim Isten und 3ten spricht er minder energisch als er es 
durfte, obwohl die ay:@tdty zistıs dort und die Klage über die 
aus Anlaß von Ceremonien entstandenen Kämpfe und Spaltungen hier 
ihn bedenklich machen, nur gegen das 4te hat er nichts einzuwenden. 
Sein Schlußurteil: >»im ganzen steht es mit der Echtheit nicht gün- 
stig<, ist aber wohlbegriindet, und wenn Funk (S. 204) noch »weit 
entfernt ist, bei Pfaff an eine Fälschung zu denken<, so wird er um so 
gespannter auf Harnacks demnächst bevorstehende Untersuchung war- 
ten, der laut Sitzungsber. d. Akd. d. Wiss. zu Berlin 1899 p. 880 
n. 1 Pfaffs Fragmente als dessen Fälschung erweisen will’). 

Mit Funks Resultaten in Nr. XII »die apostolische Kirchen- 
ordnung kann ich mich im Wesentlichen einverstanden erklären, 
sie ist nach ihm wohl nicht vor 340 compiliert worden, möglicher- 
weise doch in Syrien. Das éméyew (TE nAnde tov dyyeiov) kann 
zwar gewiß nicht mit Harnack als darreichen (sc. die Schalen) ge- 
faßt werden, aber doch auch nicht mit Funk S. 242 einfach als vor- 
stehen. Es heißt wie sonst öfters beobachten, beaufsichtigen, wie in 
der Anwendung auf die Laien ein xgovosiodh« tod xAjPovg Sams 
edoradrjon xal dd6pvßov 7 ihm entspricht. Die Presbyter zur Lin- 
ken will nun F. als Diakonen verstehen, weil ihnen eine Aufgabe 
zugewiesen werde, die sonst die Diakonen zu verrichten hätten. In- 
deß in dieser Kirchenordnung haben die Diakonen c. 20 den Wan- 
del der Gläubigen zu überwachen, für die Ordnung beim Gottes- 
dienst sorgen die & dgroteg@v ngeoßvregoı: ebenso wie ihre Func- 
tionen unterscheiden sich die an sie gestellten Ansprüche — dort 
aNEYOMEVOYS TIS QOS yuvaixag Ovvelcvoews, hier uovdyauor, TEXVo- 
todpoı. Ganz dunkel ist mir, wie F. sich die Begründung der For- 
derung: nicht 2, sondern 3 Presbyter, durch die 2mal 12 Presbyter 
der Apokalypse denkt. Wenn das rgeis c. 17 echt ist, wofür schon 
die Parallele c. 20. 21 spricht, so kann die Apokalypsenstelle wohl 
nur herangezogen worden Sein, um eine Mehrzahl von Presbytern 
auf jeder Seite des Bischofs als notwendig erscheinen zu lassen. 
Die autoritative Macht ihres einstimmigen Handelns in einem disci- 

1) Diese Untersuchung ist inzwischen (Texte und Unters. z. Gesch. d. alt- 


christl. Literatur N.F. V 3 1900) erschienen und dürfte jeden Zweifel an der 
Fälschung beseitigt haben. 


Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Untersuchungen. 2. Bd. 191 


plinaren Fall — 1d &v xowjoavreg ol éxl tH Bvoveorynoim dv tol- 
odrov wera long Bovis ... Oixacaetwoay — wächst durch die Exi- 
stenz eines Collegiums; zu einem solchen sind mindestens 3 Köpfe 
erforderlich. Also nicht der erste Satz hinter @AA& roeis, der auf 
die Apokalypse verweist, enthält die Begründung, sondern aus die- 
sem apokalyptischen Stück werden die verschiedenen Functionen der 
xosoBuregoe abgeleitet und zur Ausübung dieser Functionen in Not- 
fällen die Existenz eines mehrgliedrigen Collegiums als erforderlich 
bewiesen: folglich kommt man mit 2 Presbytern nicht aus. Ein so 
künstlicher Zusammenhang ist aber nur verständlich, wenn ver- 
schiedene Quellen zusammengearbeitet wurden. 

In Nr. XIX tritt F. wiederum zu Gunsten seiner Datierung der 
Apostolischen Constitutionen auf. c. 400 oder noch etwas später ein; 
ich habe wie früher das Gefühl, daß er etwas zu sicher auftritt, 
wenn auch die Zeit um 400 mehr für sich hat als 350 oder ein 
noch friiheres Datum. Unter den irgendwie den Apollinarismus be- 
rührenden Abhandlungen XIV—XVI und XVIII scheint mir nur die 
letzte, diese aber auch vollständig, misglückt zu sein. F. will durch- 
aus den Fälscher der Ignatianen zu einem Apollinaristen stempeln. 
Das eine ßanrritsv ... eis tosis Öuoriuovg Phil. 2 entscheidet ihm 
alles, denn öudrıuos habe kein Arianer je gebraucht oder brauchen 
können, es sei das Aequivalent für öwoova.os und, wie er mit reich- 
lichen Belegen darthut, ein im 4. und 5. Jahrhundert allenthalben 
bekanntes dogmatisches Schlagwort der Nicäner. Nun gehören aber 
die Belegstellen alle dem Ende des 4. oder dem 5. Jahrh. an, sie 
beweisen nicht, daß öudrıuos von jeher Stichwort der Orthodoxen 
war. Warum ein Arianer, zumal ein halber wie Pseudoignatius, 
nicht Vater, Sohn und Geist als öudrıuo:, d.h. gleicher Ehre teil- 
haftig, in gleichem Maß Gegenstände unsrer Anbetung, hätte be- 
zeichnen können, ist nicht abzusehen. Daß es bei Antinicänern 
nicht ein einziges Mal gebraucht wird, bedeutet wenig, da die Litte- 
ratur der Antinicäner, vor allem die semiarianische, nahezu völlig 
verloren gegangen ist. Und dies entscheidende Schlagwort sollte der 
Apollinarist nur ein Mal, trotzdem er so oft Gelegenheit hatte, es 
anzubringen, verwendet haben, das gleichbedeutende duoovcrog kein- 
mal? Das Richtige ist doch wohl, das Hauptinteresse des Autors bei 
seinen massenhaften trinitarischen Kundgebungen festzustellen, dies 
aber ist durchweg die Betonung der Differenz zwischen Vater und 
Sohn, der ézegoy7j des Vaters; läßt er doch Christum Phil. 12 sel- 
ber bekennen: 00x eiuı dvrideos, dpoloyd tiv bxegoyyy. Auch die 
Nachweise, daß ein Nicäner, ein Apollinarist vom Vater 6 udvog &Ay- 
Hıvds aussagen durfte, nutzen nichts, da doch Phil. 7 eine Teufelei 


192 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


darin erblickt, wenn Jemand den vom Vater gesandten Christus mit 
dem éxl xdvrmv Beds, 6 Hv, 6 Xavroxpdrop verwechselt, oder 
ein yeyevvjodeı: von dem dy&vvnros — das ist ihm also das Cen- 
trale im Gottesbegriff — aussagt, wenn er Christum old« roy Eva, 
Exioraueı toy udvov Phil. 12 ausrufen läßt, und ihm ein yropy 
oder égovove eines Anderen eixeıw Phil. 7 zuschiebt. Daß er Phil. 5 
Christum auch den Herrn der Herrlichkeit, roy ty pice ärgexrov 
tituliert, ist kein Gegenbeweis, denn das soll nur die Unmöglichkeit 
einer xagevoude bei ihm darthun, ein Blick auf das diabolische xa- 
xitsıv thy pvow tig xagPevov und ry pvow adr draBdddew ds 
uvaspdv: téte ylveras aloyedy te Stay xagavouia OuvxavOy, von Na- 
tur ist alles sehr gut und Christus ist eben nichts anders geworden 
als er von Natur war. — Phil. 5 nennt Ps.-Ign. Christum auch rd» 
dvdpwrivnv pvyhy odx Eyovre. Apollinarios hat dem Gottmenschen 
aber nicht die menschliche Seele, sondern nur den menschlichen voöc 
abgesprochen. F. behilft sich damit, andere Apollinaristen könnten 
die dichotomische Auffassung des Menschenwesens bevorzugt haben, 
und die Arianer hätten die menschliche Seele Christo nicht abge- 
sprochen, um seine Sündlosigkeit zu erklären, sondern laut Theodo- 
ret, ive raven (scil. der Hedrng) ta ransınva xal tov Imudeov xal 
tay xoaypdtayv xgooeyworv. Also solche verleumderischen Unter- 
stellungen eines erbitterten Gegners sind maßgebend für unsere Be- 
urteilung der Motive bei den Arianern? Fast noch übler fährt F. 
bei Smyrn. 4, 2, wo er die Unterdrückung des reAsıos &vdpwzog 
durch Ps.-Ignat. als Beleg für den Apollinarismus faßt und gegen- 
über Duchesne, der ihn daran erinnert, daß Apollinaristen wohl mit 
diesem Terminus hätten fertig werden können, nur ein Arianer nicht, 
behauptet, im physischen Sinne könnten weder Apollinaristen noch 
Arianer den Ausdruck gebrauchen, aber im ethischen Sinne habe ihn 
Apollinarios gebraucht (xatd pégog rlarıs): tédevov xal &yıov xal dv- 
audprntov Ävdomnov Ovvıorag Eavröv, und so habe auch ein Arianer 
sprechen dürfen; daß wir keinen Beleg in ihren Schriften dafür fän- 
den, sei ein Zufall. Aber zum Unglück für F. hat er S. 334 uns 
belehrt, daß die Apollinaristen wohl von einem vollkommenen Men- 
schen in Christus redeten, indem sie die Vollkommenheit dadurch 
entstehen ließen, daß an der Stelle des menschlichen Geistes der 
Logos mit dem menschlichen Fleisch und der menschlichen Seele 
sich verband, und als Beleg die eben erwähnte Stelle aus xara pégos 
zlorıs angeführt, die er S. 355 von dem ethisch vollkommenen 
Menschen deutet. In Wahrheit zwingt uns der Zusammenhang, bei 
Apollinarios den reAsıos &vdgwnog im physischen oder logischen 
Sinne zu nehmen, somit ist für Meister und Jünger dieser Partei 


Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlnngen und Untersuchungen. 2. Bd. 198 


erwiesen, daß sie keine Bedenken trugen, in Christus den vollkom- 
menen Menschen zu verehren; hat Pseudo-Ign. an diesem Ausdruck 
Anstoß genommen und ihn aus seiner Vorlage weggestrichen, so hat 
er da nicht als Apollinarist gehandelt. 

Auf ein einziges nicänisch klingendes Öudrıuos neben zahllosen 
arianisierenden Wendungen die Hypothese von der nicänischen Partei- 
stellung des Verf. zu gründen, ist doch mehr als unvorsichtig ; selbst 
wenn duooverog dort stünde, was nachweisbar ein Schlagwort der 
Orthodoxie schon vor 350 gewesen ist, würde man vielmehr bei sol- 
chem Thatbestand eine spätere Emendation anzunehmen haben, es 
konnte ursprünglich dagestanden haben eis reeis Öumvvuovg — dies 
mit Rücksicht auf den Singularis Baxtifew eis Td dvoue Tod xareds 
xat tod viow etc. —, aber dem Herrn der Herrlichkeit, dem Adyos 
eds durfte ein Semiarianer auch die gleiche teu wie dem Vater 
zusprechen. 

Mehr Zustimmung verdient Funks Standpunkt in der Frage nach 
den dem Gregorius Thaumaturgus zugeschriebenen zwölf Kapiteln 
über den Glauben (Nr. XVI). Dräsekes Vorschlag, diese Kapitel mit 
dem Glaubensbekenntnis des Apollinaristen Vitalis, von dem wir durch 
Gregor von Nazianz wissen, zu identificieren, wird m. E. zutreffend 
zurückgewiesen, S. 332 das Bedenkliche in Dräsekes Beweisverfahren 
gut gekennzeichnet, und Spuren antinestorianischer Tendenz, die das 
Schriftstück in die Zeit um 450 herabdrücken würde, hat F. ein- 
leuchtend aufgezeigt. Keinenfalls sind diese Anathematismen das 
Glaubensbekenntnis, das Vitalis einreichte, gewesen ; daß aber die 
Cap. 10 und 11 von einem Apollinaristen überhaupt nicht — ohne 
Hintergedanken ja natürlich nicht! — hätten geschrieben werden 
können, wage ich nicht so bestimmt wie F. zu behaupten. 

Unbedingte Annahme erhoffe ich für die Ergebnisse von Funks 
Forschung in Nr. XIV. Dräseke hatte die kürzere Fassung der 
pseudojustinischen expositio rectae fidei in die Hinterlassenschaft des 
Apollinarios einreihen wollen; in musterhafter Darlegung beweist F. 
die Haltlosigkeit dieser Hypothese, schon der eine Punkt würde ent- 
scheiden, daß der Anonymus für die dvo mvoes schwärmt, während für 
Apollinarios das Gegenteil feststeht. Weiter aber zeigt F. noch, daß 
der kürzere Text jener expositio unmöglich der ursprüngliche sein 
kann, er ist nur ein ungeschickter Auszug aus dem längeren, und 
den letzteren wird Niemand mit Apoll. in Verbindung bringen. Drä- 
seke hat verkündigt, er werde sich an der Untersuchung nicht wei- 
ter beteiligen. Ich bin wie Funk der Meinung, daß es dessen auch 
nicht bedarf, denn diese Angelegenheit ist durch Funks Abhandlung 
erledigt. 

Gott. gel. Ans, 1901. Nr. 8. 14 


194 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


Von hervorragendem Wert für die Patristik und für die Dogmen- 
geschichte ist endlich Nr. XV »die zwei letzten Bücher der Schrift 
Basilius des Großen gegen Eunomius<. Von den 5 Büchern adv. Eu- 
nomium, die unter dem Namen des Basilius umgingen, hatte man 
längst die beiden letzten mehr oder minder entschieden dem Basilius 
aberkannt, Dräseke hatte auch sie seinem Apollinarios, der ja als 
Verfasser einer antieunomianischen Schrift bezeugt ist, gutgeschrieben. 
F. beginnt nun damit, die Mängel in Dräsekes Argumentation und 
die Unhaltbarkeit seiner Ergebnisse aufzuzeigen, dann aber geht er 
dazu über, die nahen Beziehungen der fraglichen Bücher zu Schrif- 
ten des Didymos, der ebenfalls litterarische Fehde mit Eunomius 
und den andern Häretikern geführt hat, aufzudecken; er will indeß 
den Text der beiden Bücher nicht schlechthin mit einem von Didy- 
mos herausgegebenen gleichsetzen, der Charakter des Excerpts sei 
stellenweise unverkennbar. Interessant ist sein Nachweis, daß im 
7. Jahrh. die Bücher bereits den Namen des Basilius trugen, sehr 
ansprechend seine Vermutung, daß die Umnennung (vielleicht auch 
zugleich die Verkürzung) im Zusammenhang mit den origenistischen 
Kämpfen um 553 stattgefunden hat. 

Der zweite Teil dieser Arbeit S. 310-329 kann geradezu als 
Muster einer litterargeschichtlichen Untersuchung bezeichnet werden 
in der Reichhaltigkeit des beigebrachten Materials, der durchsichti- 
gen, ruhigen Art des Fortschreitens und in der Vorsicht des ab- 
wägenden Urteils; bisweilen erscheint F. fast zu ängstlich darauf 
bedacht, alle Möglichkeiten, alle denkbaren Einwände gegen seine 
Thesen in Betracht zu ziehen. Die wörtlichen Uebereinstimmungen 
zwischen Didymos und Buch IV u. V adv. Eunom. sind so zahlreich und 
so weitgehend, daß ein ganz naher Zusammenhang, entweder Gleich- 
heit des Verfassers oder grobe Ausplünderung des Didymos durch 
einen Unbekannten außer allem Zweifel steht, Apollinarios ist für im- 
mer abgethan. Funk hat sich gleichwohl der Mühe unterzogen, von 
S. 295—310 die Argumente Dräsekes für seine Apollinarios-Hypothese 
im Einzelnen erst noch zu widerlegen. So sehr ich ihm auch da in der 
Hauptsache beistimme, scheint mir dieser Teil des Aufsatzes doch 
nicht so hervorragend wie der zweite. Daß F. bei Punkt 1 und 2 
falsch exegesiert, wurde schon besprochen, bei 4—6 wäre ein ge- 
naueres Eingehen auf die Dinge sehr erwünscht gewesen; daß F. 
über das Vorkommen von termini wie Heoıs = viodesdia, viodereichn:, 
éxxouxy und vollends yevvnua in den trinitarischen Erörterungen 
des 4. (und 5.) Jahrhunderts so wenig, wie auf S. 299 und 301 steht, 
zu sagen weiß, lehrt uns, wie viel in der Dogmengeschichte noch zu 
thun übrig geblieben, welche Verdienste sich da fleißige Sammler 


Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Untersuchungen. 2. Bd. 195 


erwerben könnten. S. 300 hätte F. nicht blos constatieren sollen, 
daß Dräseke Zeitschr. f. Kirchengesch. XI S. 48—51 wohl eine Kritik 
einiger Gründe bietet, mit denen Garnier seine These weiter er- 
härtet, daß diese aber, soweit sie auf Apollinarios gehe, einer größeren 
Bedeutung entbehre, sondern er hätte die Verkehrtheit der dort von 
Dräseke pathetisch — >so erlaube ich mir zu erklären< — aber 
recht wenig sachverständig vorgenommenen Exegese beleuchten sol- 
len. Wenn Dräseke bei 306A noch ‘etwas von 304D gewußt hätte, 
würde er wohl auf sein Fündlein verzichtet, insbesondere nicht 
Psalm 32, 6, wo nur von xvgcog und zveüue die Rede ist, als Schrift- 
beleg für das ovvdotatesd«ı des Geistes mit Vater und Sohn procla- 
miert haben. Auch bei 7 und 8 fände man gern durch Beispiele 
die richtige Behauptung belegt, daß, was Dräseke als Beweise für Ab- 
fassung durch Apollinarios anbringt, weil es dort Parallelen hat, ebenso 
bei anderen Nicänern vorkommt. Wer die von Funk mitgeteilten 
Didymus-Parallelen mit den von Dräseke zusammengesuchten Apolli- 
narios-Parallelen vergleicht, wird freilich den Unterschied zwischen 
dem bedeutsamen und dem nichts beweisenden consensus handgreif- 
lich finden. Am wertvollsten in diesem polemischen Theil von Funks 
Abhandlung erscheint mir der Schluß, in dem er klarstellt, daß jene 
beiden pseudobasilianischen Bücher gar keine Streitschrift gegen 
Eunomius und keine Antwort auf dessen Apologeticus sind, sondern 
allgemein die Arianer widerlegen und das orthodoxe Trinitätsdogma 
rechtfertigen sollen, daß Eunomius in ihnen nur gelegentlich erwähnt 
wird, übrigens als eine schon allgemein bekannte Persönlichkeit, und 
daß sowohl deshalb wie wegen der ziemlich fortgeschrittenen Lehre 
vom h. Geist in diesem Stücke sich ihre Ansetzung vor 375 schwer- 
lich halten läßt. 

Für die dringend notwendige Erledigung der Aufgabe, die Ueber- 
reste von den Werken des Laodiceners zu sammeln und zu sich- 
ten, und auf Grund dieser und der später noch aus den Kreisen 
seiner Anhänger hervorgegangenen Litteratur seine Ideen darzu- 
stellen und ihre Geschichte zu verfolgen, liefern Funks gediegene 
Untersuchungen wertvolle Beiträge; sie enthalten auch sonst genug 
des Guten, das nicht so rasch, wie es Zeitschriften-Artikeln gewöhn- 
lich ergeht, vergessen werden sollte. 


Marburg, im Februar 1900. A. Jülicher. 


14* 


196 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


Wiegand, Joh, Das altchristliche Hauptportal an der Kirche der 
hl. Sabina. Trier 1900. Verlag der Paulinus-Druckerei. 145 S. 21 photo- 
typische Tafeln und 6 Textillustrationen. 


Während Mgr. de Waal in Rom die Sonderpublikation des 
Bassus-Sarkophags vorbereitete, über die im I. Heft berichtet worden 
ist, hat einer der jungen Gelehrten, die derzeit in dem von de Waal 
geleiteten Collegium Pium Campi Sancti weilten, sich ein anderes 
frühchristliches Werk zur Behandlung ausersehen, das an Bedeu- 
tung jenem Sarkophage keineswegs nachsteht. Die Holzthür der 
Kirche S. Sabina auf dem Aventin ist zwar nicht wie der in den 
Grotten von S. Peter verborgene Sarkophag den Blicken der Rom- 
fahrer entzogen, aber eine genaue Betrachtung der Einzelheiten an 
der über 5m hohen Thür ist dem Untenstehenden unmöglich. W. 
hat mit Hülfe von Leitern die Reliefs äußerst sorgfältig untersucht 
und auch die photographische Aufnahme überwacht, wobei dafür 
gesorgt worden ist, daß die Reliefs von drei Seiten künstlich be- 
lichtet wurden, um allzutiefe störende Schatten zu vermeiden. In 
Folge dessen geben die phototypischen Tafeln ein sehr deutliches 
klares Bild des Originals. Eine Doppeltafel bietet zunächst eine 
Gesamtansicht der Thür von der Vorderseite, die folgende Tafel 
zeigt die verschiedenen Kerbschnitzmuster der Holzplatten, die auf 
der Innenseite der Thür den Rücken der Reliefplatten decken, 18 
weitere Tafeln enthalten je ein Relief. Ursprünglich besaß die Thür 
12 hohe Reliefs, die eine Ausdehnung von ungefähr 80 >< 35cm 
haben, und 16 niedrigere, die nur etwa 25cm hoch sind’), aber von 
jenen Reliefs sind nur 8, von diesen nur 10 erhalten. 

W.s Abbildungen zusammen mit seinen musterhaft exakten Be- 
schreibungen, die auch über ergänzte Teile genaue Auskunft geben, 
bilden eine feste und sichere Grundlage für die Erklärung und 
kunsthistorische Verwertung des Monuments. Die Deutung einer 
der kleinen Platten war bisher sehr schwankend gewesen. Die einen 
haben darin die Verklärung gesehen, andere die auf Sarkophagen 
oft wiederholte Szene, da Christus dem Petrus das Gesetz einhändigt; 


1) Der Wechsel hoher und niedriger Platten, der von Strzygowski (Jahr- 
buch der Kgl. Preuss. Kunstsamml. XIV 1893 p. 63) als ein Merkmal byzan- 
tinischer Thüren hingestellt wurde, dürfte eine uralte Erfindung der Holztechnik 
sein, die frühzeitig dazu führen mußte, Platten, in denen die Fasern vertical 
laufen, einzufügen in solche mit horizontal laufenden Fasern. Auch an der Thür 
von S. Sabina, obwohl hier die Reliefplatten in Rahmen eingespannt sind, zeigen 
die hohen Platten verticale, die niedrigen horizontale Faserung. 


Wiegand, Das altchristliche Hauptportal an der Kirche der hl. Sabina. 197 


wieder andere nahmen an, daß das Relief Christus und die zwei 
Jünger auf dem Wege nach Emaus darstelle, aber auch als Daniel 
zwischen den beiden Aeltesten sind die drei Figuren erklärt worden. 
Ausschlaggebend ist ein rundlicher Gegenstand in der Hand der 
Mittelfigur, der früher unbeachtet blieb oder falsch aufgefaßt wurde. 
Er kann, wie W. richtig gesehen hat, nur ein Brot sein und deshalb 
haben wir in dem Relief die Begegnung des Auferstandenen mit 
den beiden wandernden Jüngern zu erkennen, wobei das Brot pro- 
leptisch in die Hand Christi gelegt ist. 

Nur bei zwei Reliefs bleibt auch nach W.s Behandlung noch 
für Zweifel Raum. Das eine derselben habe ich in meiner Be- 
sprechung des Codex Rossanensis (GGA. 1900 p. 416) angeführt als 
Beispiel der Compositionen, die ihre Figuren, die auf einem Niveau 
zu denken sind, auf mehrere über einander liegende Streifen ver- 
teilen. Im obersten Streifen des Thürreliefs sehen wir ein Haus 
mit Giebeldach, in dessen Mitte sich ein mit Edelsteinen besetztes 
Kreuz erhebt. Im Hintergrunde ragen zwei Türme über das Haus 
empor. Vor dem oftenen Eingang, dessen Velum gerefft an den 
Seitenpfosten angebunden ist, steht ein bärtiger Mann in Beamten- 
tracht. Er trägt eine kurze gegürtete Aermeltunica, hohe Stiefel 
und die Chlamys, den auf der r. Schulter zusammengehaltenen 
Mantel. Beide Hände streckt er in Elienbogenhöhe seitwärts aus, 
die offenen Handflächen dem Beschauer zukehrend. Neben ihm vor 
der Seitenwand des Hauses ist ein Engel dargestellt, der im Begriff 
steht nach rechts fortzuschreiten und seine Linke nach oben, seine 
Rechte abwärts streckt. Im mittleren Streifen stehen drei Männer 
in Senatorentracht, im untersten Streifen drei mit der Paenula be- 
kleidete Männer, beiderwärts ist die links stehende Figur in Rück- 
ansicht gegeben, die übrigen sind in Vorderansicht. Die Männer 
heben alle die geöffnete Rechte in die Höhe. 

Die älteren Erklärer hatten die Hauptfigur für Abraham ge- 
halten, dem der Engel erscheint, oder für Zacharias, der nach der 
Verkündigung dem Volke im Tempelvorhof andeutet, daß er ver- 
stummt ist. Die zweite Erklärung hatte allgemeine Geltung, bis 
Pater Grisar im Vorjahre auf die Aehnlichkeit hinwies!), die zwischen 
dem christlichen Bildwerk und mehreren profanen Darstellungen der 
Acclamatio besteht. Die Aehnlichkeit ist besonders. frappant bei 
einem Vergleich des Holzreliefs mit einem Marmorrelief des Con- 


1) Civilt& cattolica 1899 Ser. XVII vol. 5 p. 224 und später in der Ge 
schichte Roms und der Papste. I p. 257. 


198 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


stantinbogens, das eine Geldverteilung des Kaisers vorführt'). Con- 
stantin sitzt dabei auf erhöhtem Throne, von den Unterthanen, die 
ihm nahen, um die Spende in Empfang zu nehmen, erheben viele die 
Rechte und sie sind auch hier durch das Kostüm in zwei Klassen 
geschieden; die dem Throne zunächst stehenden haben die Sena- 
torentracht, die ferner stehenden die Paenula. Zur Aehnlichkeit 
der Reliefs trägt außerdem noch bei, daß auch auf dem Marmor 
die rechts vom Kaiser befindlichen Figuren alle in Vorderansicht 
erscheinen, auf der anderen Seite aber einige dem Beschauer den 
Rücken zukehren ?). Constantin selbst hat in dieser Szene die gleiche 
Tracht wie die Senatoren, dagegen auf dem benachbarten Relief des 
Bogens°), das ihn auf den Rostra eine Rede ans Volk haltend zeigt, 
ist sein Kostüm identisch mit dem der Hauptfigur auf dem Thür- 
relief. Grisar hat deshalb auch in dieser Figur einen Kaiser sehen 
wollen und angenommen, daß das Ganze die Idee des christlich- 
römischen Kaisertums versinnbilde. W. schließt sich dieser Auf- 
fassung an und sucht sie näher zu begründen. 

Der Mangel des Diadems bei der vermeintlichen Kaiserfigur ist 
W. nicht entgangen, aber er glaubt sich darüber hinwegsetzen zu 
können. Das ist falsch. Wie sollten die alten Betrachter der Thür 
in einem Manne, der keines der Herrscherabzeichen hat, weder 
Reichsapfel, noch Szepter noch Diadem, einen Kaiser erkennen’? 
Wollte anders der Künstler auf Verständnis seiner Schöpfung rechnen, 
so mußte er einer Figur, die einen Kaiser darstellen sollte, minde- 
stens das ständige Attribut, das Diadem, geben. Die Tracht, in 
der die Figur des Thürreliefs erscheint, war zahllosen Beamten ge- 


1) Abb. Rossini, Archi trionfali Tab. ultima; Daremberg et Saglio, Diction- 
naire des antiquités s. v. diptychon; beide Abb. sind ungenau, eine zuverlässige 
nach Photographie in Wilperts vortrefflicher Studie, Un capitolo di storia del 
vestiario, L’Arte 1898 p. 91. 

2) Bei der vom Rücken gesehenen Figur in Senatorentracht des Marmor- 
reliefs und bei einer entsprechenden Figur des Probianusdiptychons hatte Wilpert 
a. a. O. angenommen, daß die Künstler ein Detail des Gewandes falsch wieder- 
gegeben hätten. Wir sehen nämlich auf dem Rücken jener Figuren einen breiten 
Streifen auf den Untergewändern liegen wie er ebenso auf der Vorderseite andrer 
gleichgekleideter Personen erscheint, aber nach Wilperts Meinung ist der vorn 
sichtbare Streifen nichts anders als der zusammengelegte Anfang der Toga, die 
hinten keinen analogen Streifen bilden könnte. Da das Relief von S. Sabina 
mit den beiden andern Monumenten übereinstimmt, glaubt W., daß der Fehler 
von dem Holzschnitzer übernommen sei, aber ich sehe in der Uebereinstimmung 
vielmehr einen neuen Beweis, daß Wilperts Ansicht über jenes Detail nicht richtig 
ist. Vgl. dazu Strzygowski in der Byzant. Zeitschrift VIII 490. 

8) Die beste Abb. wiederum bei Wilpert a. a. O. p. 89. 


Wiegand, Das altchristliche Hauptportal an der Kirche der hl. Sabina. 199 


meinsam bis herab zu den Schreibern in den Gerichten'). Es ist 
nun möglich, in dem Relief eine Huldigung für einen Beamten zu 
sehen, der irgend welche Beziehung zum Bau oder zur Ausschmückung 
der Kirche gehabt hat. W. erhebt gegen solche Annahme den Ein- 
wurf, daß es schwer sein dürfte, näher zu bezeichnen, wer der Be- 
amte sein sollte, da der Liber Pontificalis und die Mosaikinschrift 
im Innern der Kirche nur von einem Priester Petrus aus llyrien 
berichten, der das Gotteshaus auf seine Kosten erbaut habe. In 
der That läßt sich heute gar nicht sagen, wer dieser Beamte ge- 
wesen sein mag, aber es läßt sich sehr wohl denken, daß ursprüng- 
lich ein Feld der Thür, das verloren ist, gleichwie an vielen späteren 
Bronzethüren eine Dedikationsinschrift enthalten hat, die über die 
Stiftung der Thür Auskunft gab und damit das fragliche Relief er- 
läuterte. Zur Zeit der Abfassung des Liber Pontificalis kann diese 
Inschrifttafel schon verloren gewesen sein. Die Anwesenheit des 
Engels neben einem Beamten würde nicht minder vereinzelt dastehen, 
als seine Anwesenheit neben dem Kaiser. Der Engel macht es je- 
doch für mich wahrscheinlicher, daß wir zur alten Deutung des 
Reliefs zurückkehren müssen ?). 

Die Verwendung der Beamtentracht für den Zacharias ist gewiß 
sehr auffallend, aber man muß sich gegenwärtig halten, was ich in 
meiner Besprechung des Codex Rossanensis darzulegen versucht 
habe, daß in der Entstehungszeit der Thür die später typisch ge- 
wordene Tracht der jüdischen Priester in der Kunst noch nicht aus- 
gebildet war. Wenn auch in den Mosaiken von S. Maria Maggiore, 
die ungefähr gleichzeitig mit der Thür geschaffen sind, schon die 
Vorstufe jener späteren Priestertracht auftritt, so ist dadurch keines- 
wegs ausgeschlossen, daß damals an einer andren Stelle Roms in 
andrer Weise versucht ist, die jüdischen Priester zu charakterisieren. 
Thatsache ist, daß auf einem der niedrigeren Thürreliefs, das Christi 
Verhör durch Kaiphas darstellt, der Hohepriester eine Chlamys 
trägt. W. glaubt zwar, daß hier der Schnitzer aus Unkenntnis die 
Lacerna und Chlamys confundiert habe, denn rechts von dem Saume, 
der von dem die Chlamys auf der Schulter festhaltendem Knopfe 
abwärts laufe und den Mantel hier abschließen müßte, gehe noch 
eine breite Bahn weiter unten über den rechten Arm, die einen 
Knopf auf der Brust voraussetze, wie er der Lacerna eigentümlich 


1) Vgl. das Probianusdiptychon, Meyer, Zwei antike Elfenbeintafeln etc., Ab- 
handl. der kgl. bayer. Akademie I. Cl. XV. Bd. 1879 Taf. 2; Molinier, Histoire 
générale des arts appliqués & l’industrie, I. Ivoires pl. IV; Wilpert a.a.O. p. 93. 

2) Oben im Jahrg. 1900 p. 416 habe ich selbst mich zu der Meinung be- 
kannt, daß auf dem Relief eine Acclamatio dargestellt sei. 


200 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


ist. Eine solche Confusion liegt nicht vor. Das Probianusdiptychon 
belehrt uns, daß unter der Chlamys von manchen ein bis zu den 
Enkeln reichendes weites ärmelloses Gewand getragen wurde, das 
sich bei den betreffenden Diptychonfiguren ganz ebenso wie bei dem 
Kaiphas über den rechten Arm legt. Auf dem Diptychon unter- 
scheidet dieses Untergewand die hohen Würdenträger von den 
Schreibern des Vicarius Urbi, die unter der Chlamys nur die kurze 
gegürtete Tunika tragen. Müssen wir daraus nicht den Schluß 
ziehen, daß derselbe Unterschied in den Thürreliefs beabsichtigt ist, 
daß dadurch der Hohepriester in Gegensatz gestellt werden sollte 
zu dem simplen Priester Zacharias ? 

Die Handbewegung der Figur, die vermutlich den Zacharias 
darstellt, ist der Situation, in der er sich beim Austritt aus dem 
Tempel befindet, vollkommen angemessen, während sie bei einem 
Repräsentanten des Kaisertums schwer zu deuten wäre. Das An- 
drücken der Oberarme an den Körper und das seitliche Ausstrecken 
der geöffneten Hände ist ein Gestus, den man ausführt, wenn man 
in Verlegenheit ist, nicht weiß, was man sagen soll, und dieser 
Gestus paßte gut für den verstummten Zacharias. Auch die Hand- 
bewegungen der übrigen Personen sind wohl verständlich, denn die 
geöffnet erhobenen Rechten, die bei einer Huldigungsszene die Bei- 
fallsrufe begleiten), drücken in anderen Fällen das Staunen aus, 
z. B. auf dem Diptychon der Collezione Carrand ?), wo der Oberst 
Maltas erstaunt über das Wunder des Paulus, der die Giftschlange 
abschüttelt. 

Wenn der Künstler, um die jüdischen Priester ihrem Range 
nach zu differenzieren, die verschiedene Tracht der römischen Be- 
amtenklassen benutzte, kann es uns nicht weiter Wunder nehmen, 
das er das Kostüm zweier Stände in Rom wählte, um zwei ver- 
schiedene Klassen des jüdischen Volks zu bezeichnen. Die Paenula, 
die in der Spätzeit das Kleid des gemeinen Mannes in Rom war, 
ist allgemein in den Thürreliefs und in vielen anderen Kunstwerken 
auf die Juden übertragen worden, die drei Männer in römischer 
Senatorentracht, die auf unserem Relief oberhalb der Paenulaträger 
stehen, sollen wahrscheinlich Pharisaeer sein im Gegensatz zu der 
Masse der übrigen Juden. Die Verwendung dieser Senatorentracht 
für Juden steht nicht vereinzelt da. Der Chludhof-Psalter, dessen 
Dlustrationen teilweise auf frühchristliche Vorlagen zurückgehen, 


1) Auf dem Probianusdiptychon erheben die Rufenden nicht die geöffnete 
Rechte, sondern sie machen mit dieser Hand den üblichen Redegestus, indem 
sie Zeige- und Mittelfinger ausstrecken, die übrigen einbiegen. 

2) Abb. Garrucci, Storia dell’ arte cristiana Taf.451,452; Molinier a.a.O.pl.V. 


Wiegand, Das altchristliche Hauptportal an der Kirche der hl. Sabina. 201 


bietet in einem seiner Kreuzigungsbilder') eine Gruppe Hellenen 
und eine Gruppe Juden. An der Spitze der zweiten Gruppe steht 
ein Mann in der Senatorentracht und er gilt mir als Gewähr dafür, 
daß wir auf dem fraglichen Relief der Sabina-Thür die Juden zu 
erkennen haben, die im Tempelvorhof den Austritt des Zacharias 
aus dem Heiligtum erwarteten. 

Für seine Erklärung des Reliefs als einer symbolischen Dar- 
stellung des christlich-römischen Kaisertums fand W. eine Stütze in 
einem anderen Relief der Thür, dem er ebenfalls eine symbolische 
Bedeutung zuschreiben zu müssen glaubte. In dessen oberen Teile 
sehen wir einen Kranz, in dem Christus steht, die Rechte aus- 
streckend, in der gesenkten Linken eine Rolle haltend mit den 
Buchstaben IX YOCK. Zu beiden Seiten Christi sind die Buchstaben 
Aund 2 angebracht, in den Ecken außerhalb des Kranzes die Köpfe 
der Evangelistenzeichen. Der Kranz ruht auf dem Himmelsgewölbe, 
das einer halbkreisförmigen Nische gleicht, an deren Decke die 
Sonne, der Mond und fünf Sterne schimmern. Unter dem Gewölbe 
stehen auf der Erde drei menschliche Figuren, in der Mitte eine 
Frau in Orantenhaltung, den Kopf mit einem Schleiertuch bedeckt, 
die Blicke aufwärts gerichtet. Links und rechts von ihr stehen 
ebenfalls nach oben blickend Petrus und Paulus, die über dem 
Haupte der Frau einen merkwürdigen Gegenstand halten. Er be- 
steht aus einem Ringe mit einem Kreuze darin, dessen vertikale 
Leiste oben über den Ring hinaus verlängert und zugespitzt ist. 

Das Relief kann nicht, wie einige Gelehrte angenommen haben, 
die Himmelfahrt vorstellen, denn sie bildet den Vorwurf einer an- 
deren Thürplatte, auf der Christus von Engeln zum Himmel empor- 
gezogen wird, während die Jünger erschreckt und trauernd dem 
Vorgange zuschauen. Jenes Relief führt uns keine Handlung, son- 
dern einen Zustand vor, den Herrn in der Glorie über dem Himmel 
und unten auf Erden seine Verehrer. Die Frau zwischen den 
Apostelfürsten hat man allgemein als Personifikation der Kirche auf- 
gefaßt, und W. meint, daß keine andre Person in der Weise wie 
de Orans des Reliefs mit Petrus und Paulus zusammengestellt 
sin könne. Die Kirche in Doppelgestalt, als »Ecclesia ex circum- 
äsione<« und »Ecclesia ex gentibus< erscheine ja auch im Mosaik 
des Inneren und sei hier ebenfalls ursprünglich begleitet gewesen 
von den Apostelfiirsten. Mir scheint, daß gerade die Verschieden- 
keit zwischen dem Mosaikbilde und der Reliefigur deren Deutung 
als Personifikation der Kirche widerstreitet. 

Lange ist man gewohnt gewesen, in zahlreichen Oranten der 

1) Abb. Tikhanen, Die Pealterillustrationen im Mittelalter p. 58. 


202 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


Sepulkralkunst ebenfalls Personifikationen der Kirche zu sehen, aber 
der jetzige beste Kenner der römischen Katakomben, Mgr Wilpert, 
hat schon vor Jahren diese Ansicht als irrig erwiesen‘). Daß die 
Orans der Holzthür die Kirche vorstelle, wird erst dann glaubhaft 
werden, wenn aus frühchristlicher Zeit Parallelen beigebracht werden 
können, die die Kirche in derselben Weise personificieren. In dem 
Mosaikbilde von S. Sabina trägt sowohl die Judenkirche als auch 
die Heidenkirche ein Buch im linken Arme und erhebt die Rechte 
in einem Gestus des Redens oder Lehrens. Vor allem wichtig ist 
aber der Unterschied zwischen dem Mosaik und dem Relief, daß dort 
die beiden Hälften der Kirche durch gesonderte Personen dargestellt 
sind; eine Personifikation der Gesamtkirche durch eine einzige weib- 
liche Figur kommt m. W. in frühchristlichen Bildwerken nicht vor °). 

Auf den Weg zum richtigen Verständnis der fraglichen Figur 
weisen uns mehrere frühchristliche Monumente, die eine dem unteren 
Teil des Reliefs analoge Gruppe enthalten. Eine Reihe von Gold- 
gläsern nämlich zeigt zwischen Petrus und Paulus ebenfalls eine 
weibliche Orans, der einige Male der Name Maria°), häufiger der 
Name Agnes beigeschrieben ist‘). Andere Goldgläser stellen in die 
Mitte der beiden Apostel eine Säule, die das Monogramm Christi 
trägt, andere wieder bilden die Apostelfürsten sitzend und zwischen 
ihnen das Monogramm Christi in einem Kranze oder auf einer Scheibe, 
die von den Aposteln gehalten wird®). Das Monogramm ist hier 
ein Symbol des Evangeliums, das die Apostel verkünden, der Lehre, 
die sie vertreten. 

Auf Goldgläsern also finden wir die Elemente, aus denen der 
Thürschnitzer, der zeitlich jenen Erzeugnissen der Kleinkunst nicht 
fern steht, seine größere Composition aufgebaut hat. Die Vertau- 
schung des Monogramms mit dem Kreuze hat vielleicht darin ihren 
Grund, daß der Kreuzesbalken verlängert werden sollte, um gleich- 
sam eine nach oben weisende Zunge zu bilden, die wie W. treffend 


1) Ein Cyclus christologischer Gemälde (1891) p. 36ff.; Römische Quartal- 
schrift 1899 p. 28. 

2) O. Weber, Geistliches Schauspiel und kirchliche Kunst (1894) p. 9 ff. will 
noch für zwei andere weibliche Figuren aus frühchristlicher Zeit die Deutung 
als Ecclesia gelten lassen, nämlich für die Frau, die im Codex Rossanensis den 
Evangelisten Markus inspiriert, und für die, die in der Wiener Genesis den aus 
dem Paradiese vertriebenen Voreltern tröstend zur Seite steht. Daß jene Figur 
vielmehr die göttliche Weisheit darstellt, ist von Haseloff erwiesen, bei der 
Genesisfigur deutet nichts auf eine Personifikation der Kirche. 

3) Abb. Garrucci a.a.O. Taf. 178, 6,7. 

4) Abb. Garrucci a.a.O. Taf. 190, 1, 3, 4, 6. 

5) Abb. Garrucci a.a.O. Taf. 180,2,8; 188, 6,8; 184, 2, 4. 


Wiegand, Das altchristliche Hauptportal an der Kirche der hl. Sabina. 208 


bemerkt, eine engere Verbindung der unteren Gruppe mit der oberen 
herstellt. Der Sinn des Ganzen ist, eine Gesellschaft von Heiligen 
vorzuführen, die gläubig und andachtsvoll zu dem aufblicken, was 
den Inhalt ihres Glaubens ausmacht. 

Die Goldgläser mit ihren Beischriften bezeugen uns, daß schon 
im vierten und fünften Jahrh. Heilige im Bilde vereint wurden, 
deren Lebenszeiten weit auseinander liegen, denn ebenso wie Maria 
ist auch die hl. Agnes, die im Jahre 394 das Martyrium erlitt, den 
Apostelfürsten beigesellt. Die zwischen den beiden stehende Orans 
des Thiirreliefs wird niemand anders sein als die hl. Sabina, die 
während der Regierungszeit des Hadrian den Märtyrertod starb und 
der man später auf der Stelle ihres Wohnhauses die Kirche er- 
baute!). Die hl. Agnes erscheint in den Bildwerken ab und zu 
mit einer Kopfhülle, im allgemeinen aber wird sie barhaupt darge- 
stellt, weil sie eine jungfräuliche Märtyrerin ist. Die hl. Sabina 
war eine römische Matrone und mußte daher mit bedecktem Haupte 
abgebildet werden, wie wir sie in dem Relief sehen. 

Mein alter Glaube, daß die Orans die hl. Sabina sei, ist zur 
Gewissheit geworden, seit mich W.s gründliche Untersuchungen 
überzeugt haben, daß die Thür für ihren jetzigen Platz von Anfang 
an bestimmt gewesen ist. Er wirft in dem Kapitel, das der Einzel- 
interpretation der Reliefs zunächst folgt, die Frage auf, wie viel 
Hände an dem Werk beteiligt gewesen sind, und verteilt die Reliefs 
auf drei verschiedene Künstler. Das V. Kap. wendet sich gegen 
diejenigen Forscher, die den römischen Ursprung der Thür in Zweifel 
gezogen haben, das VI. gegen diejenigen, die die Thür einer spä- 
teren Zeit als die Kirche selbst zuschreiben wollten. Es folgen noch 
zwei weitre Kapitel. Das erste versucht eine Reconstruction der ur- 
sprünglichen Anordnung der Reliefs, das zweite vergleicht die Thür 
mit mittelalterlichen Kirchenthüren und gelangt zu dem Resultat, 
daß ein direkter Einfluß der Thür von S. Sabina nirgends spürbar ist. 

W.s Buch bildet eine willkommene Ergänzung zu de Waals 
Publikation des Bassus-Sarkophages, der uns den Maßstab giebt zur 
Beurteilung der christlichen Skulptur um die Mitte des IV. Jahrh. 
Die Thür von S. Sabina zeigt uns, was die christliche Reliefbildnerei 
etwa zwei Menschenalter später zu leisten vermochte, denn die von 
W. im V. und VI. Kap. vorgebrachten Beweise stellen es außer 
Zweifel, daß die Thür in Rom selbst gleichzeitig mit der zwischen 
422 und 432 erbauten Kirche entstanden ist. 


“ 1) Vgl. Acta SS. Bollandiana ad d. 29 Aug. 
Hannover, im August 1900. H. Graeven. 





204 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


Palestinian Syriac texts from palimpsest fragments in the Taylor-Schechter 
collection ed. by Agnes Smith Lewis and Margaret Dunlop Gibson. 
London, C. J. Clay & sons, 1900. XXII u. 112 S. 4° mit 8 Tafeln. geb. 
Sh. 10. 6 d. 


Die vorliegenden Texte im sog. syrisch-palästinischen oder 
christlich-palastinischen Dialect stammen fast alle aus der großen, 
durch die Sirach- und Aquilafragmente berühmt gewordenen Hand- 
schriftensammlung, die in der Geniza der Synagoge von Alt-Kairo 
entdeckt und im J. 1897 von S. Schechter in Cambridge erworben 
wurde. Schechter selbst fand unter den zahllosen hebräischen Frag- 
menten einige Palimpseste, in deren unterer Schrift er Christlich- 
Palästinisches zu erkennen glaubte; von ihm und Taylor, sowie von 
der Cambridger Universititsbibliothek wurden die beiden Damen, 
die sich bekanntlich schon durch die Herausgabe eines Lectionars 
und eines Evangeliars um die Kenntnis dieser Literaturüberreste 
verdient gemacht hatten, mit der Entzifferung und Bearbeitung die- 
ser neuen Texte betraut. Es sind ihrer 30 Fragmente; dazu kom- 
men noch weitere 4, die die Herausgeberinnen selbst in Kairo er- 
warben und die übrigens ebenfalls aus jener Geniza stammen sollen. 
Wir erhalten hier von Bibeltexten: Num. 22,41—23,9 (p. 110f, 
dies die richtige Identification von Nöldeke in den unten zu be- 
sprechenden »Addenda et corrigendac). Dt. 31, 3—14. 20—29. 
Ps. 118,10. 119,109. Jes. 50,4f. Jer. 12, 12—14. 17—13, 4. 14, 
4—7. 29,32. 30,1—10. 31,4—15. 35°—32,2. 32, 35°—39. 421. 
Hos. 14, 4—Joel 1, 6. 2,10°—20. Sir. 18, 18—33. Joh. 14, 15 £. 
Rom. 5, 6—9*. 2 Cor. 3, 2—4, 10%. 1 Thess. 3, 1—13. 4, 1—14. 
2 Tim. 2, 16—20. 22—26. Tit. 3,3*—12. Von anderer Litteratur: 
Fragmente des Nicänischen Symbols (deren Entzifferung laut Ein- 
leitung in der Hauptsache Rendel Harris’ Verdienst ist), Fragmente 
einer Uebersetzung der Vita Antonii und ein Fragment der aus 
Land’s Anecdota 4,169f. bekannten Uebersetzung des Martyriums 
des Philemon (vgl. ZDMG. 53, 713). Außerdem haben (aus welchem 
Grunde, ist nicht recht ersichtlich) zwei in edessenischem Syrisch 
verfaßte Stücke Aufnahme gefunden, nämlich Ez. 20,9—15 und 
Sir. 13, 1—14, 1, dies zweite iibrigens von den Herausgeberinnen nicht 
erkannt (p. 94—97). Bei den meisten biblischen Fragmenten ist der 
griechische Text gegenüber gedruckt, für Jeremia nach dem Cod. 
Chisianus, den Guidi zu diesem Zweck copierte, ebenso bei denen 
aus der Vita Antonii (nach der alten Kölner Ausgabe). Weitaus 
das Meiste von diesen Texten ist neu; bekannt war Jes. 50,4 (8. 


Palestinian Syriac texts ed. by Smith Lewis and Dunlop Gibson. 205 


Lectionar p. 113), Joel 2, 10f. (Lect. 44). 12—20 (Lect. 45 f.), 
Joh. 14,15 f. (im Evangeliar an 3 Stellen), Rom. 5,6—9 (Lect. 114), 
1 Thess. 4,3—14 (Anecd. Oxon. vol. I, pars 5, p. 12 ff., die Verse 
13. 14 auch im Lect. p. 77), übrigens mit allerlei kleineren Ab- 
weichungen. Wichtig ist, daß, wie in der Einleitung richtig hervor- 
gehoben wird, wenigstens einige von den biblischen Fragmenten er- 
wiesenermaßen nicht aus einem Lectionar stammen, sondern, gleich 
den von Gwilliam in den Anecd. Oxon. publicierten Texten, Teile 
einer fortlaufenden Uebersetzung sind; das ergibt sich aus dem Feh- 
len einer auf ein Lectionar weisenden Pericopenüberschrift zwischen 
dem Schluß von Hosea und dem Anfang von Joel, und aus den 
Buchüberschriften wef. bezw. {Aut vor dem Titus- bezw. dem 
2. Timotheusbrief. | 

Der Zustand dieser Palimpseste ist verschieden; während die 
einen leidlich lesbar sind, konnten andere nur mühsam unter An- 
wendung von Reagentien entziffert werden, mit wieder andern war 
gar nichts anzufangen (No. XXVII, XXVIII). Mit welchem Scharf- 
blick und welcher Geschicklichkeit die Herausgeberinnen, unterstützt 
von Rendel Harris, sich der schwierigen Aufgabe entledigten , zeigt 
eine Vergleichung der 8 beigegebenen Tafeln. Die Resultate ihrer 
Bemühungen verdienen das größte Lob, und dieses Lob soll durch 
die Bemerkung, daß ein allzu scharfes Auge da und dort einmal mehr 
oder Anderes zu lesen glaubte, als nachweislich dasteht, nicht ein- 
geschränkt werden. Wie unsicher übrigens die Lesungen oft sind, 
haben die Damen in den nachträglich versandten »Addenda et cor- 
rigenda« selbst indirect zugestanden, nachdem ihnen Ryssel durch 
die Identificierung etlicher von ihnen nicht erkannten Stücke die 
Möglichkeit verschafft, die Texte mit den griechischen Vorlagen zu 
vergleichen. Eine genaue Prüfung der Facsimilia liefert immerhin 
allerlei Verbesserungen. So hat p. 12,17 (Jer. 14,6) die Hs. paojs,, 
wie zu erwarten, nur daß das » nicht mehr erkennbar ist und beim 
Schlußalaf < der Querbalken teilweise verblaßt erscheint. 20°, Z. 8 
Hs. 9 ‚go, nicht „oo. 68°, 12 Hs. Lauda, nicht Lada (!); ob 
vorher „y oder wu, ist nicht sicher. 90%, Z 8 gS.»: Hs. deutlich 
> bau; 11 foo...0): Hs. fopus fom; 12 w.3: Hs. was; 13 
eho: Hs. deutlich „wos. Ebenda col. ®, 2.4... mw: Hs. 
qe ead ns; 11 Jyraa (sic): Hs. logascp, Umgekehrt vermag 
ich p. 68°, Z. 7 im Facsimile auch nicht die geringste Spur von LA zu 
entdecken. Es ist also jedenfalls zu bedauern, daß nicht die Facsimilia 
sämtlicher Fragmente beigegeben worden sind. Aber auch so können 
wir noch da und dort eine Verbesserung anbringen; z.B. p. 4, 11 
(Dt. 11, 38) apm: anam (zgeoßvrepoı). 6, 11 ‚come: |. 


206 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


I (xAngoı). 20,13 wawudo: |. woawhs (dv zapuxiraeı). 
52,13 ist ~S..Akso wol mit Pe3. in opps zu ergänzen; 56, 18 
is pis: lies Sa 0,2: dpsuxtov; zu {,® als Uebersetzung des 
griech. « privat. vgl. Mt. 28, 14, Luc. 1,6, Eph. 1,4 (Lect. 79), 
Hebr. 9, 14 (Lect. 15. 120). 68,6 ist 9 omaso uy für rosoürog in 
dessen regelmäßiges Aequivalent » ma, (~)2 zu ändern; p. 64, 13 
Lasse: 1. {lake (wmode); p. 77 (Ps. 117,10) agse: 1. 
(éxtxAmoov). 79, 14etsans: |. wisanso; 81, 7 {Asan} 07.0: |. 
(raw popie’ (Sir. 18, 24), und ebenda ;a.: 1. ;2,. 100 ult. ist 
0.20... ebenso sicher in dank zu ergänzen; dieses Verbum 
steht auch anderswo für oxvAAsıv. Schließlich wäre auch in der 
Corrigendenliste noch Einiges zu bessern. Was jlsaa@ (zu 74, 14) soll, 
ist mir so dunkel als das Jasaa im Text; oSa co (zu 74, 16) ist wol 
Druckfehler statt a0; 74,15 ist natürlich Lu> in LNNo zu 
ändern (orépavor). 74, 10 zeigt der griech. Text, daß Js zauo viel- 
mehr KAs;auo d. i. Lius;sas xußepviensg zu lesen ist. Nicht blos 
60, 1.3, sondern auch 58, 11 ist {> st. {5 gemeint, u.s.w. — In- 
dem wir minder Wichtiges auf sich beruhen lassen, schließen wir 
diese Anzeige mit dem Dank an die Herausgeber dieser Texte für 
ihre mühevolle Arbeit und mit dem Wunsche, sie möchten in Zukunft 
noch oft Gelegenheit finden, ihr Interesse christlich-palästinischen 
Literaturüberresten zuzuwenden. 


Göttingen, 13. Oktober 1900. 
Friedrich Schulthess. 


Bülow, O., Das Geständnisrecht. kin Beitrag zur allgemeinen Theorie 
der Rechtshandlungen. Freiburg, Leipzig, Tübingen, 1899. J. C. B. Mohr. 
XII 811 S. Ladenpreis 6 Mk. 


Die Lehre von dem gerichtlichen Geständnis hat im Lauf der 
letzten Jahrzehnte eine Reihe von Bearbeitungen erfahren, die, wenn 
auch zum Teil in ihren Grundgedanken nicht unanfechtbar, doch 
nach mancher Richtung zur Klärung der behandelten Materie beige- 
tragen haben. Nachdem bereits im Jahre 1827 Bethmann-Hollweg 
(in den »Versuchen über einzelne Teile der Theorie des Civilpro- 
zesses« S. 250 ff.) in grundlegender Weise die Ansicht widerlegt 
hatte, als sei das gerichtliche Geständnis ein Beweisgrund, hat sich 
trotz vereinzelter Angriffe mit immer wachsender Entschiedenheit 
die Auffassung entwickelt und behauptet, welche in dem gericht- 
lichen Geständnis einen Dispositionsakt der Partei erblickt. 


Bülow, Das Geständnisrecht. 207 


Allgemein wird gelehrt, das gerichtliche Geständnis sei nicht 
ein durch seine Ueberzeugungskraft wirkender Beweisgrund, vielmehr 
eine Handlung, durch welche die Partei den Richter nötige, eine be- 
stimmte Thatsache, ganz unabhängig von ihrer Wahrheit, der Ent- 
scheidung zu Grunde zu legen. Gerade darin, daß die Partei ge- 
wisse Umstände, ohne daß ein weiterer Beweis darüber erforder- 
lich oder auch nur zulässig wäre, durch das bloße Geständnis 
dem Streit entrückt und der Kognition des Richters entzieht, wird 
eine Disposition (Verfügung) über die Urteilsgrundlagen gefunden. 
Wegen dieser besonderen Wirkungskraft rechnet man das gericht- 
liche Geständnis zu denjenigen prozessualen Thatbeständen, welche 
die Urteilsgrundlagen formell feststellen, und von denen der Prozeß 
eine ganze Reihe zeitig. Auch spricht man mit Rücksicht auf die 
im Geständnis liegende Disposition und auf die Unmittelbarkeit der 
daran geknüpften Wirkungen von einem >prozessualen Rechts- 
geschäft«e. Andere Schriftsteller wiederum legen das Hauptge- 
wicht auf einen im Geständnis angeblich liegenden Verzicht. Ueber- 
all kehrt also, wenn auch mit etwas verschiedenen Wendungen, der 
Gedanke einer durch das Geständnis bewirkten Verfügung wieder. 


I. 


Gegen diese Vorstellung wendet sich Bülow in einer umfang- 
reichen Monographie über »das Geständnisrecht«, deren ersten Teil 
er bereits in Band 88 des Archivs für die civilistische Praxis (1898) 
veröffentlicht hatte. Nach dem Vorwort soll das Werk einen Bei- 
trag bilden zu der »neuen Prozeßrechtswissenschaft«, deren Bestreben 
darauf gerichtet sei, sich von dem »Banne der mittelalterlichen Wis- 
senschaftsmethode, in dem sie noch vor wenigen Jahrzehnten be- 
fangen war«, in welchem sie aber vielfach und gerade in der Lehre 
vom Geständnis noch heute befangen sei, zu befreien. Es soll das Pro- 
zeßrechtsinstitut des Geständnisses >von Grund aus anders, in einer 
weniger künstlichen, den wirklichen Verhältnissen besser entspre- 
chenden und daher auch für die Rechtsprechung weniger verfäng- 
lichen Weise< aufgefaßt werden. Zu diesem Behufe will der Ver- 
fasser eine neue Lehre von dem gerichtlichen Geständnis aufstellen, 
die er gelegentlich selbst (— im Gegensatze zu der herrschenden 
‚subjektivene —) als die objektive Geständnistheorie bezeichnet 
(5.246), und zu der er auf Grund folgender Gedankengänge gelangt. 

Das gerichtliche Geständnis sei nicht, wie von Planck und im 
Anschluß an ihn von einer Reihe neuerer Schriftsteller behauptet 
werde, die Aeußerung eines Verzichtswillens, sondern lediglich, wie 
das außergerichtliche Geständnis, eine ernstlich gemeinte Wahrheits- 


208 Gött. gel. Aus. 1901. Nr. 3. 


versicherung. Die Erklärung, nicht bestreiten zu wollen, sei daher 
kein Geständnis. Durch sie werde die »gegnerische Behauptung 
nicht zugegeben, sondern im Gegenteil eine Aeußerung darüber ver- 
mieden. Wer »nicht bestreiten< wolle, erkläre seine Neutralität, 
nicht sein Einverständnis (S. 9 ff... Gestehen und Nichtbestreiten 
seien von dem Gesetze selbst sehr deutlich unterschieden (§ 288 
verglichen mit $ 138 Abs. 2 C.P.O.). Während der Verzicht auf 
die Zukunft gerichtet sei, beziehe sich das Geständnis lediglich auf 
die Vergangenheit. Während jener sich als ein rein negativer Be- 
griff, nämlich als die Aufgabe eines Rechtes darstelle, sei das Ge- 
ständnis seiner Natur nach positiv, die Bejahung einer Thatsache 
(5.26 f.). Verzichtet könne nur auf Rechte werden. Ein Recht zur 
Bestreitung gebe es nicht, am allerwenigsten zur Bestreitung wah- 
rer Thatsachen, sondern lediglich eine entsprechende Handlungsb e- 
fugnis. Diese könne aber aus dem Grunde nicht aufgegeben wer- 
den, weil sie einen Teil der unverzichtbaren Rechtspersönlichkeit des 
Einzelnen bilde (S. 37f.). Vor allem aber könne von einem Verzichts- 
willen keine Rede sein, wie denn überhaupt das Geständnis nicht 
die Erklärung eines Wollens enthalte. Demgemäß sei auch die so- 
genannte Feststellungswillenstheorie von Wach unzutreffend (S. 48 ff.). 

Diese Ablehnung des Willensmomentes in dem gerichtlichen Ge- 
ständnis bildet den bei Weitem umfangreichsten Teil in dem be- 
sprochenen Werke, und wird das ganze Buch hindurch in der mannig- 
fachsten Form wiederholt. Dabei wird namentlich Folgendes aus 
geführt. Die Partei gestehe regelmäßig nicht in der Absicht, 
Urteilsgrundlagen zu schaffen, sondern bloß, weil die zugegebene 
Thatsache wahr sei. Ueber die Wirkungen mache sie sich keine 
Gedanken. Der Fall, daß eine Thatsache im Bewußtsein ihrer Un- 
richtigkeit zugegeben werde, sei außerordentlich selten und für die 
Begriffsbestimmung unwesentlich. Jedenfalls sei die Wirksamkeit 
der Geständniserklärung durchaus unabhängig von dem Wollen 
ihrer Wirkung. Sonst müßte ein derartiger Rechtsfolgewille, der in 
Wirklichkeit kaum jemals gegeben sei, in jedem Einzelfalle als vor- 
handen noch besonders nachgewiesen werden. Wo er in Wirklich- 
keit vorliege, gehöre er nicht zum Geständnis, sondern laufe neben 
diesem als besonderes Gebilde einher. Geständnisse würden auch 
nicht dadurch zu Dispositionsakten, daß sie ganz vereinzelt in der 
Absicht einer Verfügung über Privatrechte erfolgten. Denn hier 
wirke nicht das Geständnis selbst, sondern erst das darauf gegrün- 
dete Urteil auf das materielle Recht ein. 

Nicht zufrieden damit, den sogenannten »erklärten Willen« — 
den er mit dem Rechtsfolgewillen für gleichbedeutend erachtet — 


Bülow, Das Geständnisrecht. 209 


aus dem Geständnis ausgeschieden zu haben, wendet sich dann der 
Verfasser S. 98 ff. in einem umfangreichen, mit seinem eigentlichen 
Gegenstande nicht unmittelbar zusammenhängenden Exkurse dem 
Privatrechtsgeschäfte zu, um den Nachweis zu versuchen, daß es 
auch hier lediglich auf den sog. Erklärungswillen ankomme. Der 
Rechtsfolgewille könne nur als eine flüchtige Phase in der Ent- 
stehung des Rechtsgeschäftes betrachtet werden. Für das Wesen 
des letzteren sei nicht maßgebend die Beziehung zu einem vorhande- 
nen Wirkungswillen, sondern die Richtung auf einen herbeizuführen- 
den künftigen Erfolg. Das Rechtsgeschaft sei konkretes Rechts- 
gebot, keine Wollens-, sondern eine Sollenserklärung. 

Demgemäß könne das in einer Wahrheitserklarung sich er- 
schöpfende Geständnis auch kein Rechtsgeschäft sein, zumal es 
keine Rechtsveränderung schaffe, sondern im Gegenteil den Prozeß 
seinem bestimmungsmäßigen Ende zuführe. 

Wenn aber der Wirkungswille nicht einmal ein Erfordernis der 
Privatrechtsgeschäfte sei, so könne er für das Geständnis noch viel 
weniger verlangt werden. Namentlich spreche gegen die Annahme 
eines Feststellungswillens die weitere Erwägung, daß das ge- 
richtliche Geständnis nichts feststelle, vielmehr die zugegebene That- 
sache gerade der Notwendigkeit einer Feststellung enthebe. Das 
Geständnis habe schon deshalb keine feststellende Kraft, weil es, 
wie überhaupt alle Prozeßhandlungen, nicht durch sich selbst, son- 
dern erst vermöge seiner Verwertung im Urteile des Gerichtes 
wirksam werde. 

So gelangt der Verfasser zu dem Ergebnis, das gerichtliche Ge- 
ständnis sei begrifflich nichts anders als eine Wahrheitserklä- 
rung. Demgemäß unterscheide es sich von dem außergerichtlichen 
Geständnis nicht in dem Inhalte, sondern nur in der Erklärungsforın 
(S. 45) und in der prozessualen Wirkung. Diese Verschiedenheit 
der Wirkungen stehe aber in gar keinem Zusammenhange mit dem 
Inhalt der Erklärung, sondern sei lediglich die Folge davon, daß 
das gerichtliche Geständnis eine Prozeßhandlung sei. Die Wir- 
kung bestehe lediglich darin, daß die zugegebene Thatsache keines 
Beweises bedürfe, vielmehr, unangesehen ihrer Richtigkeit, dem Ur- 
teile zu Grunde gelegt werden müsse. Dem Richter werde nicht, 
wie ganz allgemein angenommen werde, und wie der Verfasser selbst 
noch bis vor einem Jahre geglaubt habe, die faktische Unmöglichkeit 
zugemutet, eine Thatsache für wahr zu halten, von deren Unrichtigkeit 
er überzeugt sei. Eine derartige bloß »formelle« oder >juridische« 
‘Wahrheit gebe es nicht. Der Grund, weshalb zugestandene Be- 
hauptungen Urteilsgrundlagen würden, liege nicht in ihrer nunmehr 

Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 15 


210 Gött. gel. Anz. 1901. No. 3. 


festgestellten Richtigkeit, sondern in dem Umstande, daß für das 
Gebiet des Privatrechtes der Staat kein Interesse daran habe, nach 
der Wahrheit von Thatsachen zu forschen, über welche zwischen den 
Parteien Einverständnis herrsche. 

Im Uebrigen erörtert der Verfasser, abgesehen von einem kur- 
zen Ueberblick über das außergerichtliche Geständnis (S. 172—190) 
noch die einzelnen Merkmale seines Geständnisbegrifts, insbesondere 
das Erfordernis der Rechtsnachteiligkeit der zugestandenen 
Thatsache und ihrer Behauptung durch den Gegner. Endlich 
zieht er in einem fünften Teile aus seiner Auffassung des Geständ- 
nisses als einer Wahrheitsbekundung die Folgen für die Recht- 
sprechung, und behandelt zum Schlusse der Arbeit in eingehender 
Weise das zuvorkommende Geständnis. 

Dies der wesentliche Inhalt des zu besprechenden Werkes. 
Wenden wir uns nunmehr seiner Würdigung zu. 


Il. 


Nach der oben mitgeteilten Definition des Verfassers soll das 
Geständnis die Erklärung der Wahrheit einer Thatsache sein. 
Daß sich nun das Geständnis äußerlich in der Regel als eine solche 
Erklärung darstellt, ist durchaus richtig und auch bisher allgemein 
anerkannt worden. Der Verf. selbst führt S. 6 Anm. 2 eine ganze 
— übrigens leicht zu ergänzende — Reihe von Schriftstellern auf, 
die sämmtlich davon sprechen, durch das Geständnis werde eine 
Thatsache >als wahr anerkannt<, »eingeräumt«, >für richtig erklärt«, 
»bejaht« u.s.w. Vergl. etwa noch v. Canstein, Zeitschrift für Deut- 
schen Civilprozeß I S. 259; Renaud 2te Aufl. S. 270; Koch Preuß. 
Civilprozeß 2te Aufl. S. 415; Hellmann Lehrbuch S. 267. 

Die angeführten Gelehrten begnügen sich aber, anders als der 
Verfasser, nicht mit einer solchen rein äußerlichen Umschreibung 
oder Schilderung des Geständnisvorganges, sondern sind bestrebt, das 
rechtliche Wesen und die prozessuale Bedeutung dieses Vorganges 
tiefer zu erfassen. Und zwar mit gutem Grunde. Denn Rechtsbe- 
griffe sind nicht damit klargestellt, daß ihre äußere Erscheinungs- 
form referierend dargelegt wird. Der Kaufvertrag z.B. läßt sich 
nicht als die Erklärung definieren, eine Sache oder ein Recht gegen 
eine Geldsumme umzutauschen, der Rücktritt nicht als die Erklä- 
rung, von dem Vertrage zurückzutreten. Vielmehr gehört zu dem 
Begriff der genannten Handlungen überall die von ihnen geäußerte 
bestimmte Rechtswirkung hinzu, durch welche sie sich von anderen 
Handlungen ähnlicher Art unterscheiden. So definiert z.B. das Bür- 
gerliche Gesetzbuch die einzelnen obligatorischen Verträge, den Rück- 


Bülow, Das Geständnisrecht, 211 


tritt u.s. w. in der Weise, daß es die dadurch hervorgerufenen spe- 
zifischen Verpflichtungen darlegt; § 433: »Durch den Kaufvertrag 
wird der Verkäufer einer Sache verpflichtet ...<; § 346: »Hat 
sich in einem Vertrag ein Teil den Rücktritt vorbehalten, so sind 
die Parteien, wenn der Rücktritt erfolgt, verpflichtet... . 

Nicht anders verhält es sich mit den Prozeßhandlungen; insbe- 
sondere mit dem gerichtlichen Geständnis. Dessen rechtliche Be- 
deutung ist schlechterdings nicht zu erfassen, ohne daß Art und 
Grund seiner prozessualen Wirksamkeit zur Bestimmung seines We- 
sens mit verwendet werden. Denn gerade diese Wirkung ist es, 
welche dem gerichtlichen Geständnis sein eigenartiges und charak- 
teristisches Gepräge verleiht. Für dessen rechtliche Natur ist nicht 
maßgebend, wie es sich äußerlich darstellt, sondern die Bedeutung, 
die ihm für den Prozeß und für das Urteil zukommt. 

Dies kann umsoweniger zweifelhaft sein, als sich sonst eine 
scharfe begriffliche Abgrenzung des gerichtlichen gegenüber dem 
außergerichtlichen Geständnis nicht gewinnen läßt, welches ja, äußer- 
lich betrachtet, auch eine Erklärung des Inhaltes ist, daß eine dem 
Zugestehenden nachteilige Thatsache wahr sei. So kommt denn auch 
der Verfasser dazu, beide Arten des Geständnisses zu einem ein- 
heitlichen Gattungsbegriff zusammenzufassen, obgleich doch, wie auch 
er nicht zu leugnen vermag, zwischen beiden Rechtsgebilden ein 
tiefreichender Gegensatz obwaltet. Diesen Gegensatz zu erklären 
ist nun aber die erste Aufgabe jeder wissenschaftlichen Darstellung 
der Lehre von dem gerichtlichen Geständnis, dessen Definition denn 
auch vor Allem entsprechend gefaßt werden müßte. | 

Zu einer derartigen klaren Entscheidung und Begriffsbestimmung 
war die Prozeßtheorie gelangt, indem sie das gerichtliche Geständ- 
nis, im Gegensatze zu dem außergerichtlichen, welches einen bloßen 
Beweisgrund bilde, als einen Dispositivakt bezeichnete. Damit ist Fol- 
gendes gemeint. Das Geständnis schafft unmittelbar kraft Partei- 
thätigkeit eine inhaltlich genau bestimmte Grundlage für das Urteil. 
Sie versetzt den Richter in die Notwendigkeit, bei seiner Entscheidung 
die zugegebene Thatsache zu berücksichtigen. Indem also z.B. der 
Beklagte die Klagethatsachen zugiebt, und sie dadurch zur Entschei- 
dungsgrundlage macht, »verfiigt< er über den Urteilsinhalt. Und 
zwar, anders als etwa bei der Behauptung, mit unmittelbarer 
Rechtswirkung. Während nämlich die Behauptung zwar ebenfalls in 
der Absicht erfolgt, dem Urteil zu Grunde gelegt zu werden, aber 
in dem Bewußtsein, daß die bloße Behauptung unter normalen Um- 
ständen dazu nicht ausreichen, sondern erst noch zu beweisen sein 
werde, nötigt das Geständnis für sich allein, ohne weiteren Beweis 

15 * 


212 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


oder sonstige Voraussetzungen, den Richter zur Verwertung der zu- 
gegebenen Thatsache im Urteil. Diese bestimmte, unmittelbare Wir- 
kung des Geständnisses rechtfertigt es, von einer Dispositionshandlung 
zu sprechen, wobei das Wort Disposition (Verfügung) als ein Vor- 
schreiben, ein Gebot, eine für Andere (hier für Richter und Parteien) 
bindende Aeußerung verstanden, also in einem ähnlichen Sinne 
gebraucht wird, wie z.B. bei den Redewendungen: ich verfüge, daß 
etwas geschehen soll; ich treffe eine bestimmte Disposition u. s. w. 

Gegen diese Ansicht macht nun der Verfasser hauptsächlich gel- 
tend, ein Wille der Parteien, Urteilsgrundlagen zu schaffen, liege 
beim Geständnis regelmäßig nicht vor, brauche jedenfalls als vor- 
handen nicht nachgewiesen zu werden. 

Der erste Teil dieses Einwandes trifft nun für die meisten Fälle 
nicht zu. Das Geständnis wird regelmäßig in dem Bewußtsein seiner 
Wirkungen, und daher auch mit dem Wollen derselben abgegeben. 
Ueberhaupt alle Prozeßhandlungen werden zu einem bestimmten 
Zwecke, mit der Willensrichtung auf einen bestimmten Erfolg vorge- 
nommen. Selbst die zur Begründung von Anträgen vorgetragenen Be- 
hauptungen sind nicht rein historische Erzählungen, sondern werden 
mit der Tendenz aufgestellt, in der Entscheidung verwertet zu wer- 
den. Dies gilt noch in weit höheren Maße von dem gerichtlichen 
Geständnis. Die Partei, welche eine gegnerische Behauptung zugiebt, 
weiß größtenteils recht wohl, welche Bedeutung und welche Wirkung 
ihrer Erklärung zukommt. Sie handelt in dem Bewußtsein, daß die 
zugegebene Thatsache nunmehr für den Prozeß festgelegt sein wird. 
Sie ist mit dem Eintritt jener Wirkungen einverstanden. Sie führt 
sie, in der Terminologie des Strafrechtes ausgedrückt, vorsätzlich 
herbei. 

Dies ergiebt sich ohne Weiteres aus der ganzen Situation, in 
welcher das Geständnis abgegeben wird, und ohne deren Beachtung 
eine Würdigung desselben gar nicht möglich ist. Zugestanden wird 
in dem Rechtsstreit, unter dem Druck der Klage, angesichts des 
drohenden Urteils, eine zur Begründung dieses Urteils vom Gegner 
geltend gemachte erhebliche Behauptung. Sollte sich hier die Partei 
wirklich über die Folgen ihrer Erklärung keine Gedanken machen? 
Oder will sie nicht vielmehr diese ihr wohl bewußten Wirkungen ein- 
treten lassen? 

Die Motive für diesen Willen können nun sehr mannigfaltige 
sein. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle gesteht allerdings 
die Partei eine gegnerische Behauptung aus dem Grunde zu, weil 
sie von deren Wahrheit überzeugt ist. Darf aber daraus mit dem 
Verfasser gefolgert werden, daß hier der »Feststellungswille« fehlt? 


Bülow, Das Geständnisrecht. 213 


Mit nichten! Gerade weil die Partei die zugegebene Thatsache als 
wahr kennt, ist sie mit ihrer Verwertung im Urteil einverstanden. 
Gerade weil nur richtige Behauptungen zugestanden zu werden pfle- 
gen, ist regelmäßig der Feststellungswille vorhanden. Man müßte 
denn annehmen wollen, daß die Parteien grundsätzlich so unehrlich 
sind, gerade die Thatsachen, von deren Wahrheit sie überzeugt sind, 
von der urteilsmäßigen Feststellung ausschließen zu wollen. 

In manchen Fällen wird nun aber auch aus anderen Motiven 
eine Thatsache zugestanden, von deren Wahrheit der Gestehende 
nicht überzeugt, deren Unrichtigkeit ihm sogar wohl bekannt ist. 
Hier kann das Vorhandensein eines Feststellungswillens erst recht 
nicht bezweifelt werden. Indem die Partei eine bewußt unrichtige 
Behauptung zugiebt, offenbart sie besonders deutlich ihre Absicht, 
sie als Urteilsgrundlage verwendet zu sehen. Denn es stände ihr 
ja frei, durch bloße Bestreitung der unrichtigen gegnerischen Auf- 
stellung dieses Ergebnis zu vermeiden. Hier ist schlechthin nicht 
abzusehen, welche Bedeutung ihrer Geständniserklärung sonst zu- 
kommen würde, wenn sie nicht mit der Tendenz einer Berücksichti- 
gung im Urteil abgegeben würde. 

Diese Gedanken sind alle so einleuchtend und so häufig wieder- 
holt worden, daß auf sie nur verwiesen zu werden braucht. Indem 
aber der Verfasser aus dem regelmäßigen Vorhandensein eines Wahr- 
heitsbewußtseins das Fehlen eines Feststellungswillens ableiten will, 
zieht er einerseits einen falschen Schluß, und verwechselt er anderer- 
seits den Willen mit den ihm zu Grunde liegenden Motiven. 

Besonders lehrreich ist in dieser Beziehung ein Vergleich mit 
dem im Prozeß abgegebenen Anerkenntnis, zu welchem das 
Geständnis, wie mit Recht allgemein gelehrt wird, in der engsten 
Begriffsverwandtschaft steht. Daß nun aber das Anerkenntnis, obgleich 
es sich, rein äußerlich betrachtet, nur als die Erklärung darstellt, 
daß der gegnerische Anspruch begründet sei, seinem inneren We- 
sen nach eine Verfügungshandlung ist, wird wohl auch der Ver- 
fasser nicht bestreiten können. Und doch werden die Anerkennt- 
nisse, genau wie die Geständnisse, regelmäßig nur aus dem Grunde 
abgegeben, weil die Partei von der Begründetheit des gegen sie gel- 
tend gemachten Rechtes überzeugt ist. Daß durch ein solches Motiv 
die Eigenschaft des Anerkenntnisses als eines Dispositivaktes nicht 
aufgehoben wird, liegt auf der Hand. Warum sollte es sich bei dem 
Geständnis anders verhalten ? 


II. 
Da nach den obigen Ausführungen Geständnisse der Regel nach 


214 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


mit dem Willen erfolgen, daß die zugegebene Behauptung dem Urteil 
zu Grunde gelegt werde, so würde im Einzelfalle der Nachweis, daß 
ein solcher Wille thatsächlich besteht, der Partei nicht allzu schwer 
fallen können. In Wirklichkeit bedarf es aber eines solchen Be- 
weises nicht. Das Geständnis äußert seine Folgen unabhängig da- 
von, ob die Partei innerlich den oben geschilderten Wirkungs- oder 
Rechtsfolgewillen gehabt hat. Es genügt die gewollte Abgabe der 
Erklärung und es kommt nicht auf einen außerhalb derselben liegen- 
den besonderen Willen, auf eine damit verbundene, einen bestimmten 
Rechtserfolg erstrebende Absicht an. Das gerichtliche Geständnis 
ist lediglich nach den Regeln der sogenannten Erklärungstheo- 
rie zu beurteilen. 

Dieser von dem Verfasser mit besonderer Lebhaftigkeit verfochtene 
Grundsatz ist rückhaltlos anzuerkennen. Er ist aber einerseits nicht 
neu, andererseits in seiner Einschränkung auf das gerichtliche Ge- 
ständnis viel zu eng gefaßt. Er gilt nämlich, wie schon längst in 
der Prozeßwissenschaft anerkannt ist, für alle Handlungen des 
Rechtsstreites. 

Allerdings war früher der Versuch gemacht worden, den Begriff 
des Prozesses als Ganzen aus den ihm zu Grunde liegenden 
Zwecken und Absichten (insbesondere Wiederherstellung eines ver- 
letzten Rechtes, Entscheidung eines Streites u.s.w.), zu definie- 
ren. Diese ganze Auffassung hat durch A. S. Schultze in seinen 
Grundlagen des Deutschen Konkursrechtes (10ter Abschnitt) eine so 
gründliche Widerlegung erfahren, daß sie wohl als abgethan gelten 
kann. Dort ist überzeugend nachgewiesen, daß der Wille, von dem 
die Partei bei der Klagerhebung getragen ist, daß insbesondere 
die ihr dabei vorschwebenden Zwecke und Absichten für den Begriff 
des Prozesses und für die Wirksamkeit der Klage gänzlich uner- 
heblich sind; daß es vielmehr lediglich auf die formell ordnungs- 
mäßig vollzogenen prozessualen Akte ohne Rücksicht auf einen da- 
neben herlaufenden besonderen Wirkungswillen ankommt. 

Daß aber auch für die Wirksamkeit einzelner Prozel- 
handlungen das Vorhandensein und der Nachweis eines derartigen 
inneren Rechtsfolgewillens nicht erfordert ist, hat die Prozeßrechts- 
wissenschaft im Grunde niemals bezweifelt. Deshalb hatte sie auch 
keine Veranlassung, auf die für das Privatrecht so wichtige und 
zugleich so schwierige Frage nach den Beziehungen zwischen Partei- 
willen und Handlungswirkung mit dem gleichen Aufwand an Scharf- 
sinn und Gründlichkeit einzugehen. 

Die bisherige Prozeßtheorie hat es aber auch an ausdrücklichen 
Zeugnissen für jenen Grundsatz nicht fehlen lassen. Schon Langen- 


Bülow, Das Geständnisrecht. 215 


beck, Beweisführung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten 1858 S. 142 
vertrat für das gerichtliche Geständnis die reine Erklärungstheorie, 
indem er ausführte, Scherz und Simulation kämen bei demselben 
nicht in Betracht, auf der anderen Seite aber seien Worte nicht 
verbindlich, deren Tragweite in dem Augenblick ihrer Aussprache 
nicht ermessen werde oder füglich nicht ermessen werden könne. 
Nachdem sodann A. S. Schultze in seinem »Privatrecht und Prozeß 
in ihrer Wechselbeziehung< S. 460, gerade an der confessio die for- 
melle Natur der einzelnen Prozeßhandlungen eingehend dargelegt 
hatte (— übrigens unter Bezugnahme auf die nun auch von Bülow 
verwertete 1.5 § 7 de donationibus inter virum et uxorem (21. 1) —), 
haben eine Reihe von Schriftstellern den gleichen Grundsatz, teils 
für die Prozeßhandlungen überhaupt, teils gerade mit besonderer 
Beziehung auf das gerichtliche Geständnis, wiederholt und gründlich 
erläutert. 

So hat Klein in seiner Schrift über die schuldhaften Partei- 
handlungen, welche der Verfasser (S. 22 Anm. 1) nur ganz im Vor- 
beigehen als in mehreren Punkten übereinstimmend erwähnt, S. 27 
zunächst hinsichtlich der Anträge ausgeführt, für deren Wirksam- 
keit entscheide nicht das »innere Absichtselement<, sondern die 
AeuGerungsthatsache, das Erklären, nicht das »velle, sondern das 
loqui<, und später (S. 107 Anm. 127) die Regel mit Bezug auf die 
»prozessualen Dispositiverklärungen« wiederholt, zu denen er unter 
Anderem »das gerichtliche Geständnis einer vom Gegner behaupteten 
Thatsache< rechnet. 

Diesen Gedanken hat dann Pollak in seiner Monographie über 
das gerichtliche Geständnis weiter entwickelt und seine Geltung für 
alle Prozeßakte dargethan. Insbesondere ist dort die von Wach!) 
vertretene Ansicht, welche allerdings auf das Geständnis die privat- 
rechtliche Willenstheorie anzuwenden versucht, und seine Wirksam- 
keit auf den ihm zu Grunde liegenden innerlichen Feststellungs- 
willen zurückführt, einer im Wesentlichen zutrefienden Widerlegung 
unterzogen, und die ausschließliche Herrschaft der Erklärungstheorie 
für den Rechtsstreit nachgewiesen (S. 39 ff.). Darin liegt ein großes 
Verdienst der angeführten Schrift, welches auch durch die daselbst 
vertretene unzutreffende Auffassung des Geständnisses als Beweis- 
mittel nicht geschmälert wird. 

Die angegebene Kennzeichnung der Parteihandlungen hat denn 


1) Im Uebrigen hat die Abhandlung von Wach im Archiv für die civilisti- 
sche Praxis B. 64 S. 201 ff. das Verdienst, das Wesen des Geständnisses als eines 
Dispositionsaktes im Gegensatze zu einer bloßen Beweishandlung besonders ener- 
gisch betont zu haben. 


216 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


auch allgemeine Zustimmung gefunden, so z.B. in der Kritik von A 
fred Schultze Zeitschrift für deutschen Civilprozeß B. 19 S. 2% 
Desgleichen hat Paul in seinem Buch über den gerichtlichen Ve 
gleich auf den formalen Charakter der prozessualen Handlung 
überhaupt sehr entschieden hingewiesen. Auch Möhring führt 
seiner Berliner Dissertation über »Natur und Kraft des gerichtlich 
Geständnisses« S. 41 den Grundsatz aus, das gerichtliche Geständi 
wirke feststellend »obne Rücksicht auf ein Wollen, welches vielme 
nur für die Abgabe der Erklärung in Betracht kommt; der 
wenn eine prozeßfähige Partei eine Thatsache zugesteht, so wird | 
nicht gehört werden mit dem Einwand, sie habe den Willen nic 
gehabt, das Zugestandene als wahr gelten zu lassen«. 

Selbst Planck, gegen den der Verfasser als den hauptsäc 
lichen Vertreter der Willenstheorie besonders lebhaft ankämpft, t 
tont (Lehrbuch I S. 317), daß das Motiv des Gestehenden, >d 
Vorbringen des Angreifers als richtig gelten zu lassen, nicht | 
streiten zu wollen, . . . vorerst für den Eintritt der rechtlichen W 
kungen gleichgiiltig< sei. Und bei Hellmann (Lehrbuch S. 27] 
findet sich die Bemerkung, das Geständnis sei nicht wegen bloß 
Irrtums im Beweggrunde anfechtbar, wohl aber sei es ungült 
wenn die Partei sich verspreche oder die gestandene mit einer 3 
deren Thatsache verwechsele, (— was allerdings nicht ganz zutreffe 
als eine Nichtübereinstimmung des Willens mit der Erklärung t 
zeichnet wird, während im ersten Falle, genau genommen, ei 
nicht gewollte Erklärung vorliegt). 

Es ist also unzutrefiend, wenn der Verfasser S. 106 oh 
Rücksicht auf die eben mitgeteilte Litteratur behauptet, die he 
tige Prozeßrechtswissenschaft sei >ganz und gar im Banne ¢ 
extremsten Willenstheorie« befangen. Vielmehr findet sich über 
der rein formale, von einem zu Grunde liegenden Wirkungswill 
gänzlich unabhängige, Charakter der im Rechtsstreit vorgenomn 
nen Handlungen mit Entschiedenheit betont. Diese Eigenart « 
Prozeßakte hat denn auch ihren guten Grund. Das Prozeßre: 
bietet die Formen zur Feststellung der konkreten Privatrech 
Auf die Verwirklichung dieser Formen muß es demnach in ers 
Linie ankommen. Das auf endgültige Regelung der materiell 
Rechtsverhältnisse gerichtete Verfahren kann nicht jederzeit in ı 
Länge gezogen oder rückgängig gemacht werden, weil die Partei : 
äußeres Verhalten nicht in Uebereinstimmung mit ihrem wirklich 
Willen gestaltet hat. Die Partei muß, wenn sie einzelne mit ihı 
Absichten und Motiven widersprechende Handlungen vornimmt, | 
Folgen einer solchen Inkongruenz tragen, und darf nicht jederz 


Bülow, Das Geständnisrecht. 217 


die Wirksamkeit ihrer Akte wieder aus dem Grunde in Frage stellen, 
weil sie vielleicht aus Scherz, Simulation, Furcht, Zwang, infolge 
eines Betruges, wegen Irrtums, geklagt, sich auf den Rechtsstreit 
eingelassen, auf den Anspruch verzichtet oder ihn anerkannt, geg- 
nerische Behauptungen zugestanden hat u. dergl. Deshalb kann 
es insbesondere auch nicht darauf ankommen, ob sie die besondere 
prozessuale Wirkung thatsächlich hat herbeiführen wollen, welche 
durch das Prozeßgesetz an ihre Handlung geknüpft ist. Der un- 
bedingte Eintritt dieser Wirkung hängt, abgesehen von dem ange- 
führten Hauptgrunde, in gewisser Beziehung auch mit dem Um- 
stande zusammen, daß eine Reihe jener Prozeßhandlungen, anders 
als die Parteirechtsgeschäfte, leichter widerrufen werden können, 
die Partei also jederzeit in der Lage ist, die ihren Absichten zu- 
widerlaufenden Akte wieder rückgängig zu machen. 

Aus alledem ergiebt sich, daß die Geltung der Erklärungstheorie 
im Civilprozeß nicht bezweifelt werden kann und auch bereits allge- 
mein anerkannt ist. Dies scheint der Verfasser zu übersehen, wenn 
er mit großer Ausführlichkeit den Gedanken als neu vorträgt, für 
die Wirksamkeit gerade der gerichtlichen Geständnisse komme e8 
auf den dabei obwaltenden Willen und Zweck nicht an. 

Auch zur Begründung jener Regel werden im Allgemeinen nur 
bekannte Gesichtspunkte geltend gemacht. Nur in einer Beziehung 
wird ein neuer Beweis versucht. Eine Bestätigung jenes Grundsatzes, 
und zugleich ein Argument gegen die Auffassung des gerichtlichen 
Geständnisses als Rechtsgeschäft, soll nämlich aus dem Umstande 
entnommen werden können, daß auch bei Privatrechtsgeschäften nur 
der Erklärungswille in Frage komme und daß auch hier dem soge- 
nannten erklärten Willen (Wirkungs- oder Rechtsfolgewillen) eine 
für den Begriff wesentliche Bedeutung nicht zuerkannt werden dürfe. 
Zu diesem Zwecke glaubt der Verfasser eine neue Durchsicht der 
außerordentlich schwierigen Lehre von dem »Willensmoment der 
Rechtsgeschäfte« vornehmen zu sollen, mit der er seinen »Beitrag 
zur allgemeinen Theorie der Rechtshandlungen< liefern und den 
Nachweis erbringen will, daß auch auf dem Gebiete des Privatrechtes 
mit der Willenstheorie zu brechen sei. 

Ob diese Behauptung zutrifft, kann hier nicht entschieden werden, 
wie denn die ganze, sehr verwickelte Frage, nicht geeignet erscheint, 
bei Behandlung ganz andersartiger Probleme nebenhin behandelt 
und gelöst zu werden. Es kommt aber auch gar nicht darauf an, 
welche Auffassung für das Privatrechtsgeschaft die richtige ist. Selbst, 
wenn hier die Willenstheorie zuträfe, wofür übrigens recht gewichtige 
Gründe sprechen dürften, würde daraus für den Prozeß im Alige- 


218 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


meinen und für das Geständnis im Einzelnen, nicht das Geringste 
gefolgert werden dürfen. Daß nämlich letzteres, wie überhaupt 
sämmtliche im Rechtsstreit vorgenommenen Handlungen, ohne Rück- 
sicht auf einen besonderen Erfolgswillen seine Wirksamkeit äußert, 
erklärt sich in erster Linie aus seiner Eigenschaft als eines pr o- 
zessualen Aktes. Es erscheint aber nicht zulässig, die Grundsätze 
des Privatrechtes unbesehen auf die Prozeßhandlungen zu übertragen, 
denen grundsätzlich eine ganz andersartige Bedeutung innewohnt. 

Demgemäß hätte eine wissenschaftliche Darstellung, um den 
Geständnisbegriff aus allgemeinen Gesichtspunkten zu erklären, nicht 
an das materielle Privatrecht, sondern an das Wesen des Civilpro- 
zesses und der in diesem vorkommenden Akte anzuknüpfen. Das 
ist in dem vorliegenden Werke nicht geschehen. Die ganze Unter- 
suchung des Verfassers ist aber grade von seinem Standpunkt aus 
deshalb überflüssig und widerspruchsvoll, weil sie für das Privat- 
rechtsgeschäft genau zu dem gleichen Ergebnis wie für das Ge- 
ständnis gelangt, daß nämlich hier wie dort ein besonderer Rechts- 
folgewille nicht erforderlich sei. Ist dies aber der Fall, so kann 
die Eigenschaft des gerichtlichen Geständnisses als Verfügungshand- 
lung oder als Rechtsgeschäft doch nicht wieder aus dem Grunde 
geleugnet werden, weil es dabei auf einen Rechtsfolgewillen der 
Partei nicht ankommt. 

Nach dem Gesagten braucht auf die Rechtsgeschäftstheorie des 
Verfassers nicht näher eingegangen zu werden. Nur eine beiläufige 
Bemerkung sei gestattet. Das Rechtsgeschäft, so wird ausgeführt, 
sei nicht, — wie bisher allgemein angenommen — eine Wollens- 
erklärung, sondern eine Sollenserklärung, ein konkretes Rechts- 
gebot. In dieser Definition liegt aber doch wohl kaum ein Unter- 
schied gegenüber der herrschenden Ansicht. Das »Sollen« führt, 
genau betrachtet und in seine Bestandteile zerlegt, mit logischer 
Notwendigkeit auf ein Wollen zurück. Wer im Rechtsverkehr 
den Satz ausspricht: »dieser Erfolg soll sein<, der sagt damit doch 
nichts anders als: »ich will, daß dieser Erfolg sei<'). Es handelt 
sich in beiden Wendungen lediglich um etwas verschiedene Betrach- 
tungsweisen. Bei dem Sollen wird mehr der erstrebte Erfolg selbst, 
bei dem »Wollen< mehr das Erstreben des Erfolges betont. Daß 


1) Dieser Satz war, wie die ganze Kritik, schon seit längerer Zeit zum 
Druck abgegeben, als mir die Kritik von Lenel in der Münchener kritischen 
Vierteljahrsschrift zu Gesicht kam, in welcher, derselbe Gedanke fast in den glei- 
chen Worten vertreten wird. Ich unterlasse nicht, auf diese gewichtige Bestäti- 
gung meiner Ausführungen hinsichtlich des materiellrechtlichen Teiles der be- 
sprochenen Arbeit hinzuweisen. 


Bülow, Das Geständnisrecht. 219 


aber beide Ausdrücke nicht verschiedene, geschweige denn gegen- 
sätzliche Begriffe bezeichnen, ergiebt sich schon aus der einfachen 
Erwägung, daß der Befehl oder das »Gebot< gerade als die stärkste 
Form des Wollens erscheint. 


IV. 


Die von dem Verfasser gegebene Definition gipfelt in dem Satze, 
das gerichtliche Geständnis sei eine Wahrheitserklärung. Diese 
Auffassung ist nicht neu. Sie ist die alte gesetzliche Beweistheorie. 
Insonderheit ist sie bereits in ähnlicher Weise, wenn auch mit 
größerer Konsequenz, bei der Beratung des sog. Norddeutschen 
Entwurfes vertreten worden, wie sich aus den Protokollen ergiebt, 
in denen sich übrigens eine gedrängte, sehr lehrreiche Auseinander- 
setzung zwischen den beiden Geständnistheorien findet (Protokolle 
S. 689 f., 698 fi... Ein Mitglied meinte, vielfach, insbesondere 
nach erhobenem Beweis, kämen Geständnisse vor, denen »keine 
andere Absicht, als die Wahrheit zu sagen, zu Grunde liege<«. Für 
solche Fälle dürfe aber dem Geständnis beweisausschließende Kraft 
nicht beigemessen werden, welche vielmehr nur dort gerechtfertigt 
sei, wo es »in der erkennbaren Absicht abgegeben sei, sich zu ver- 
pflichten, bezw. dem Gegner den Beweis zu ersparen<. Diese Auf- 
fassung wurde ausdrücklich abgelehnt und ihr gegenüber bemerkt, 
‚daß bei gerichtlichen Geständnissen im Sinne der Vorlagen eine 
andere Absicht als der animus confitendi nicht vorauszusetzen sei, 
das Fürwahrhalten aber nur als ein häufiges Motiv jenes animus 
gelten könne. Jedenfalls entspreche die beabsichtigte Unterscheidung 
nicht dem Wesen des Civilprozesses, wenn etwa damit gemeint sei, 
daß der Richter eine ausdrücklich gestandene Thatsache als ungewiß 
oder noch des Beweises bedürfend behandeln diirfte<. 

In der That: wäre die Definition des Verfassers richtig, d. h. 
das Geständnis eine Wahrheitserklarung, so müßte es auch als 
solche wirken. Die zugegebene Thatsache müßte für den 
Prozeß dem Streit entrückt sein, weil sie von der Partei für wahr 
erklärt wäre. Sie würde umgekehrt nicht festgestellt sein, wenn 
das Geständnis, die angebliche Wahrheitserklärung, falsch, d. h. eine 
unwahre Erklärung wäre. Es müßte im Einzelfalle geprüft werden, 
ob die für wahr erklärte Behauptung auch wirklich wahr sei; 
d.h. es müßte der Beweis geführt werden, den zu ersparen das 
Geständnis gerade bestimmt und geeignet ist. 

Das alles trifft aber nicht zu. Das Geständnis äußert seine 
Rechtsfolgen ohne Rücksicht darauf, ob es der wirklichen Sachlage 
entspricht oder nicht. Durch dasselbe kann die Partei jede unwahre 


220 Got. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


Behauptung des Gegners zur Urteilsgrundlage machen. Gerade 
darin zeigt sich in aller Deutlichkeit, daß die Geständniserklärung 
nicht vermöge eines in ihr enthaltenen Wahrheitsurteils, sondern 
ganz unabhängig von einem solchen wirkt, daß es demnach auch 
nicht mit einer Wahrheitserklärung identisch sein kann. Es kommt 
keineswegs darauf an, ob die Partei die zugegebene Thatsache für 
richtig hält oder als richtig hinstellt, sondern lediglich auf ihre 
Aeußerung, mit der Verwertung derselben als Urteilsgrundlage ein- 
verstanden zu sein. Man braucht nur an den Fall zu denken, daß 
ein Beklagter erklärt: »Die Behauptungen der Klage sind zwar 
sämmtlich unrichtig: ich will sie aber, um dem Streit ein Ende zu 
machen, hiermit ausdrücklich zugegeben haben«. Darin liegt das 
gerade Gegenteil einer Wahrheitserklärung, und doch wird Niemand 
bezweifeln können, daß hier ein wirksames Geständis abgegeben ist. 

In der That wird denn auch mit der Bezeichnung des Geständ- 
nisses als Wahrheitsbehauptung seine Wirkung nicht erklärt. Es 
ist ein in der Prozeßrechtswissenschaft unbezweifelter, auch vom 
Verfasser ausführlich dargelegter Grundsatz, daß die Wahrheit einer 
Thatsache keineswegs die Voraussetzung ihrer Verwertung im Urteil 
ist. In einer ganzen Reihe von Fällen stützt sich die richterliche 
Entscheidung auf Behauptungen, deren Wahrheit nicht im Geringsten 
erwiesen und auch sonst (z.B. wegen Offenkundigkeit) nicht feststeht. 
Es braucht nur an das Mahn- und Versäumnisverfahren, an die so- 
genannten freiwilligen Urteile, an den sog. Scheinprozeß und ähnliche 
Fälle erinnert zu werden. Ist aber prozessuale Feststellung ohne 
Wahrheitsermittelung denkbar, so kann auch die besondere Wirkungs- 
kraft des gerichtlichen Geständnisses nicht darauf zurückgeführt 
werden, daß eine Thatsache für wahr erklärt ist. 

Der Grund ist denn auch ein ganz anderer. Er liegt in dem 
Umstande, daß der Civilprozeß auf der sogenannten Dispositions- 
oder Verhandlungsmaxime aufgebaut ist, nach der es den Par- 
teien grundsätzlich überlassen bleibt, die auf Verwirklichung ihrer 
Privatrechte zielenden Anträge zu stellen, und das zu deren Unter- 
stützung dienende thatsächliche Material beizubringen. Aus diesem 
Prinzip folgt, daß der Staat nur dann eingreift, wenn seine Thätig- 
keit verlangt wird, und soweit sie erforderlich ist, daß er aber keinen 
Grund hat, nach der Wahrheit oder Unwahrheit von Behauptungen 
zu forschen, über deren Richtigkeit die Beteiligten einverstanden 
sind. Der Partei ist demgemäß die Möglichkeit gewährt, irgend 
welche Thatsache, wie sie dieselbe durch Bestreitung beweisbedürftig 
machen konnte, durch Erklärung ihres Einverständnisses außer Streit 
zu setzen. Eben darin zeigt sich der von der herrschenden Ansicht 


Bülow, Das Geständnisrecht. 221 


anerkannte dispositive Charakter der Geständnishandlung, und eben 
deshalb wirkt diese nur insoweit feststellend, als der Staat am 
Ergebnis des Rechtsstreits, an der Richtigkeit oder Unrichtigkeit 
des Urteiles, nicht interessiert ist. Wäre das gerichtliche Geständnis 
eine bloße Wahrheitserklärung, so müßte es in Rechtsstreitigkeiten 
über Ehe, Entmündigung, genau die gleiche Wirkung äußern, wie 
in Prozessen über Vermögensrechte. Dem widersprechen aber die 
ausdrücklichen Vorschriften unseres Gesetzes. 

Ferner: wäre das Geständnis nur Wahrheitsbehauptung, so müßte 
es jederzeit ohne weitere Voraussetzungen widerrufen werden kön- 
nen. Hätte die bloße Erklärung, daß eine Thatsache wahr sei, für 
sich allein und als solche die Kraft, den Gegner des Beweises zu 
entheben, so müßte die einfache nachträgliche Behauptung, jene 
Thatsache sei unrichtig, der ursprünglichen Wahrheitsäußerung ihre 
Wirksamkeit benehmen, jedenfalls den Beweis der Unwahrheit ge- 
statten. Selbst das bewußt unwahre Geständnis müßte danach 
rückgängig gemacht werden können. Auch in dieser Beziehung 
nimmt die deutsche Civilprozeßordnung einen anderen Standpunkt 
ein. Sie verlangt zum Widerrufe nicht nur den Nachweis der Un- 
richtigkeit, sondern auch den des Irrtums. Sie bringt hierdurch 
den rechtsgeschäftlichen Charakter des Geständnisses im Gegensatz 
zu bloßen Beweishandlungen auf das Deutlichste zum Ausdruck. Da- 
mit läßt sich aber die Theorie des Verfassers nicht vereinbaren. 

Derselbe bleibt aber auch seiner Begrifisbestimmung nicht treu. 
Er führt selbst in einem vierten Teile (S. 223 —240) sehr entschie- 
den aus, das Geständnis wirke ganz unabhängig von der Richtigkeit 
der zugegebenen Thatsache. Er kämpft selbst mit Lebhaftigkeit 
gegen die Vorstellung an, als gebe es im Prozeß eine besondere Art 
von »>formeller< oder >juridischer< Wahrheit, und als könne dem 
Richter der Glaube an die Richtigkeit einer unwahren Behauptung 
von Staatswegen aufgezwungen werden, als sei die Wirkung des 
gerichtlichen Geständnisses auf seine Natur als einer Wahrheitsbe- 
kundung zurückzuführen. Vielmehr verficht er, im Widerspruch mit 
dem übrigen Inhalt des Buches sehr entschieden die Meinung, das 
Geständnis setze zu seiner Wirksamkeit weder Wahrheit voraus, 
noch schaffe es solche, sondern es wirke lediglich deshalb, weil die 
Parteien durch ihre Uebereinstimmung die betreffende Thatsache 
außer Streit setzten, und ohne Rücksicht auf deren Wahrheit den 
Richter nötigten, sie zur Urteilsgrundlage zu machen. Diese Aus- 
führungen sind durchaus zutreffend. Einerseits aber stehen sie zu 
den übrigen Ausführungen des Werkes, insbesondere zu dem darauf 
folgenden letzten Teil (S. 246—311) in offenbarem Gegensatze. Und 


222 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


andererseits decken sie sich gerade mit der seit Savigny in der Civil- 
prozeßrechtswissenschaft herrschenden Auffassung, gegen welche der 
Verfasser im Uebrigen so lebhaft polemisiert. 

Schon Bethmann-Hollweg und Savigny hatten gegenüber 
der Legaltheorie des gemeinen Prozeßrechtes, die allerdings auf der 
Vorstellung einer besonderen juridischen Wahrheit beruhte, in aller 
Bestimmtheit den Standpunkt eingenommen, daß das gerichtliche Ge- 
ständnis keine Wahrheitserklärung sei, und es gerade deshalb 
aus dem Kreise der Beweisgründe für immer ausgeschieden. Seither 
hat die Legaltheorie so zahlreiche und so gründliche Widerlegungen 
erfahren, daß sie prinzipiell schon längst als endgültig abgethan gel- 
ten kann, und daß der ganze Kampf des Verfassers gegen dieselbe 
als gegenstandslos bezeichnet werden muß. Statt Aller sei auf En- 
demanns Beweislehre 1860 und auf die Bemerkungen A. S. Schul- 
tzes in Grünhuts Zeitschrift 22 S. 102f., 129 ff. sowie Zeitschrift 
für Deutschen Civilprozeß 22 S. 117 verwiesen. 

Wie erklärt sich nun dieser Widerspruch des eingeschobenen 
vierten Teiles zu dem ganzen übrigen Inhalte des Buches? Die Lö- 
sung giebt der Verfasser selbst. Bereits im Jahre 1898 nämlich 
publizierte er den ersten Teil des jetzt vollständig vorliegenden 
Buches in dem Archiv für civilistische Praxis 88ter Band, und teilte 
daselbst S. 353 ausdrücklich mit, daß das ganze Buch bereits »fertig 
abgefaßt« vorliege, weshalb er auch in diesem selbst (S. 76 Anm.) 
dem 1898 erschienenen Buche Pauls über den Vergleich gegenüber, 
bezüglich einzelner dort gemachter Ausführungen, die Priorität wenig- 
stens der Niederschrift beansprucht, wie übrigens auch gegenüber 
der Anfang 1898 publizierten Abhandlung von Wittmaak (Arch. 
f. civil. Prax. 88 S. 321 Anm. 11). 

Wie der Verfasser nun jetzt in diesem eingeschobenen vierten 
Teile S. 223 und 237 noch ausdrücklich erklärt, war er damals, also 
nach Fertigstellung des Buches, in jener, >aus einer der dunkelsten 
Wissenschaftsepochen stammenden wahrheitswidrigen Denkweise< der 
gesetzlichen Beweistheorie >so ganz und gar befangen, daß er an 
deren Richtigkeit »gar nicht zu zweifeln wagte«. Erst »inzwischen 
habe er sich eines anderen überzeugt« (S. 224, 237). 

Unter diesen Umständen ist es allerdings nicht verwunderlich, 
daß der nach diesem Meinungswechsel nachträglich eingeschobene 
vierte Teil mit dem übrigen Buche in unvereinbarem Widerspruche 
steht. In demselben wird nun aber überdies jene frühere gesetzliche 
Beweistheorie als die heute ausnahmslos herrschende Ansicht be- 
zeichnet, und werden gerade diejenigen Schriftsteller, welche im 
Gegensatze dazu die heutige — nunmehr im vierten Teile auch vom 


Bülow, Das Geständnisrecht. 228 


Verfasser adoptierte — Auffassung des Geständnisses begründet und 
vertreten haben, als die Hauptvertreter der gesetzlichen Beweistheorie 
hingestellt. Es finden sich namlich allerdings hier und dort vereinzelte 
Wendungen wie: die zugegebene Thatsache müsse >als wahr gelten<, 
sei zur >formellen Wahrheit« geworden, u.s.w. Aus dem Zusammen- 
hang geht aber unzweifelhaft hervor, daß von jenen Schriftstellern das 
Wort »förmliche Wahrheit« gerade im Gegensatz zu irgend wel- 
cher Beweiswirkung lediglich im Sinne einer formellen Feststellung der 
Urteilsgrundlagen gebraucht wird. Wollte man, wie der Verfasser, auf 
den Ausdruck und nicht auf die Sache sehen, so könnte man mit ebenso 
gutem Grunde den gesetzlichen Wortlaut (— zugestandene Thatsachen 
bedürfen keines »Beweises« —) tadeln, dessen negative Fassung den 
eigentlich maßgebenden Punkt, nämlich die (— positive —) Eigenschaft 
der zugestandenen Thatsache als Urteilsgrundlage nicht genügend her- 
vortreten läßt. (Ein solcher Tadel ist denn auch thatsächlich in der 
Norddeutschen Prozeßkommission — s. Protok. S. 700 — laut geworden. 
Man vergleiche auch die Fassungen in dem sächsischen Entwurfe $ 390, 
der württembergischen Prozeßordnung Artt. 408, 409 = 397, 398 
Entw., und dem österreichischen Entwurf von 1862 §§ 155 ff.). 

Nicht einmal den Schein einer Begründung hat es aber, wenn der 
Verfasser sogar die Wendung im Sinne der Legaltheorie deutet, das ge- 
richtliche Geständnis habe feststellende Kraft. Denn gerade diese 
Wendung bezeichnet die Geständniswirkung auf das Allertrefflichste. 
Eine Thatsache >feststellen< heißt, wie die einfache Zerlegung des 
Wortes in seine Bestandteile ergiebt, sie in eine unverrückbare (feste) 
Stellung bringen, sie den Schwankungen, dem Streit entziehen. Dies 
ist aber bei dem Geständnis der Fall, welches zwar die zugegebene 
Thatsache nicht als wahr nachweist, wohl aber für den Prozeß außer 
Streit setzt, insofern also als Unterlage feststellt. 

V. 

Der Verfasser spricht aber nicht nur dem Geständnis, sondern 
überhaupt sämmtlichen urteilsbegründenden Prozeßhandlungen eine 
eigene selbständige Rechtswirksamkeit ab. Alle diese Handlungen 
sollen nicht durch sich selbst, sondern erst mit dem Urteil und durch 
dieses einen Erfolg hervorbringen können. Daß aber die auf Be- 
schaffung der Urteilsgrundlagen gerichteten Parteihandlungen, unter 
ihnen auch das Geständnis, erst mit dem Urteil wirksam würden, 
kann höchstens zugegeben werden, wenn man auf das Ganze der 
Prozeßführung sieht, namentlich den Einfluß der Prozeßhandlungen 
auf das materielle Recht ins Auge faßt. Abgesehen davon äußern 
aber sämmtliche Parteiakte schon innerhalb des Prozesses und vor 
dem Urteil die mannigfachsten Wirkungen. Gerade auf diese inner- 
prozessualen Folgen aber kommt es für die Wertung jener Thatbe- 


224 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


stände wesentlich und in erster Linie an. Gerade in ihnen gelangt 
die charakteristische Eigentümlichkeit der Parteihandlungen zu kla- 
rem Ausdruck, da ja doch deren prozessuale Bedeutung haupt- 
sächlich in dem Einfluß liegt, den sie auf den Prozeß selbst aus- 
üben. 

Das gilt in besonderem Maße bei dem gerichtlichen Geständ- 
nis. Es entfaltet schon vor der Entscheidung seine Wirksamkeit. 
Es enthebt den Gegner des Beweises, d. h. einer Handlung, die 
grundsätzlich nur innerhalb des Rechtsstreits vorkommen kann. Es 
steht jedem nachträglichen auf Beweis der zugegebenen Thatsache 
gerichteten Antrag entgegen, dessen Abweisung es herbeiführt; es 
macht künftige Bestreitungen des Gestehenden unbeachtlich. Des- 
halb spricht auch das Gesetz davon, daß das Geständnis unter ge- 
wissen Umständen seine Wirksamkeit »verliert< (§ 290). Eine Wir- 
kung muß demnach schon vor dem Urteile bestanden haben, wenn 
auch für dieses das Geständnis, wie überhaupt alle Prozeßhandlungen, 
von wesentlichster Bedeutung ist. Ja, der Verfasser, welcher den 
urteilsbegründenden Handlungen eine eigene Rechtswirksamkeit ab- 
spricht, redet selbst in einem besonderen vierten Teil des Längeren 
von der »Wirkung des gerichtlichen Geständnisses«. 

Aber selbst, wenn man zugeben müßte, daß das Geständnis erst 
mit dem Urteil und durch dasselbe Rechtsfolgen hervorbringt, so 
könnte daraus gegen die Annahme einer Feststellungswirkung kein 
Einwand gefolgert werden. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß 
der Richter zugegebene Thatsachen seiner rechtlichen Beurteilung unter- 
ziehen muß. Er bildet gewissermaßen nur das Medium, durch welches 
die Partei jene Thatsachen zur Urteilsgrundlage macht. Der eigent- 
lich wirksame Faktor ist demnach die Parteihandlung des Ge- 
ständnisses; sie ist es, welche feststellt. 

Daß sie dies vermag, ergiebt sich aus dem oben dargelegten 
Dispositionsprincip. Die Geltung dieses im Anfang des Buches leb- 
haft bekämpften Prinzips stellt denn auch der Verfasser im vierten 
Abschnitt nicht in Abrede. Im Gegenteil: Alles, was er S. 240—245 
über den Grund der Geständniswirkung mit großer Ausführlichkeit 
darlegt, ist nichts als eine Wiedergabe der Dispositions- oder Ver- 
handlungsmaxime, die sich nahezu seit einem Jahrhundert in der 
Prozeßlehre ausnahmslose Anerkennung verschafft hat. Unter den 
überaus zahlreichen Schriftstellern, welche diesen Satz ausgesprochen 
haben, sei nur verwiesen auf Bethmann-Hollweg, der sich a.a.O. 
S. 258 folgendermaßen ausläßt: »Sowie der Richter nach der sogenann- 
ten Verhandlungsmaxime überhaupt von der Ungewißheit eines Rechts- 
verhältnisses nur dann Notiz nimmt, wenn es darüber zum Streit 
kommt, und dies ibm vorgetragen wird, so richtet er nach demselben 


Bülow, Das Geständnisrecht. 225 


Prinzip in der anhängig gemachten Sache seine Untersuchung nur 
auf diejenigen Punkte, die unter den Parteien bestritten sind«. Man 
vergleiche ferner die Aeußerungen von Renaud 2te Aufl. S. 272, die 
prozessuale Uebereinstimmung der Parteien mache die eingeräumte 
Thatsache zu einer nichtstreitigen und entziehe sie deshalb der rich- 
terlichen Prüfung, sowie die trefflichen Ausführungen Jagemanns 
in Weiskes Rechtslexikon unter >Gestandnis« S. 802 über das man- 
gelnde Interesse des Staates, in Prozessen über Mein und Dein die 
Richtigkeit unbestrittener Thatsachen zu ermitteln; weiter A. S. 
Schultze in seinem Privatrecht und Prozeß S.80; Laband Staats- 
recht des Deutschen Reiches 2te Aufl. II S. 338. 

Indem aber der Verfasser den Grund für die Geständniskraft auf 
die Herrschaft der Parteien über den Prozeß zurückführt, und indem 
er nicht die Wahrheit der zugegebenen Thatsache , sondern das Ein- 
verständnis der Parteien über deren Verwertung im Urteil für maß- 
gebend erachtet, sagt er durchaus nichts anders als die herrschende 
Ansicht, wenn sie das gerichtliche Geständnis einen Dispositivakt 
nennt. Zugleich aber tritt er damit in Gegensatz zu seiner im er- 
sten Teil aufgestellten Definition, in der auf die Wahrheitserklärung 
das Hauptgewicht gelegt wird. Er kommt also, wenn auch im Wider- 
spruche mit seinen ursprünglichen Ausführungen, schließlich auf eine 
Ansicht hinaus, die schon längst Gemeingut der Prozeßrechtswissen- 
schaft gewesen ist, jener selben Wissenschaft, welche gerade in die- 
sem Punkte »>so vollständig schwarz< sein soll, >daß sie gar nicht 
schwärzer gemacht oder für schwärzer gehalten werden könnte.« 
(S. 224 Anm. 1). 

VI. 

Der erste Teil des vorliegenden Werkes ist hauptsächlich dem 
Kampfe gegen die von Planck aufgestellte, und im Anschluß an ihn 
von zahlreichen Schriftstellern vertretene Verzichtstheorie 
gewidmet. Diese beruht auf naheliegenden Vorstellungen. Sie 
nimmt ihren Ausgangspunkt von dem Normalfalle, daß die Partei- 
behauptungen durch die Gegenseite bestritten und deshalb beweis- 
bedürftig werden, und betont aus diesem Gesichtspunkte die im Ge- 
ständnis liegende Aufgabe jener Bestreitungsmöglichkeit. Zugleich 
erklärt sie sich aus der Tendenz, einen Parallelismus mit ähnlichen 
Parteihandlungen herzustellen, durch welche gewisse prozessuale Be- 
fugnisse von der Partei aufgegeben werden, wie z.B. beim Verzicht 
auf die Rüge eines Mangels im Verfahren ($ 295 C.P.O.), der Klage- 
zurücknahme, der Zurückziehung eines Rechtsmittels u.s. w. Schließ- 
lich ist sie bestrebt, für die im Geständnis liegende Parteidisposition 
einen Gegenstand zu ermitteln, und zwar findet sie diesen, analog 

Ste. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 16 


226 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


dem Falle des außerprozessualen Verzichtes, in einem Rechte, näm- 
lich dem Bestreitungs-, bezw. Verneinungsrechte. 

Hält man diese Erwägungen im Auge und beachtet man weiter, 
daß die Prozeßhandlungen ohne Rücksicht auf den ihnen zu Grunde 
liegenden Erfolgswillen wirksam sind, so kann die Verzichtstheorie 
jedenfalls nicht aus dem Grunde abgelehnt werden, weil die Partei 
vielfach nicht das subjektive Bewußtsein der im Geständnis liegenden 
Hingabe einer prozessualen Befugnis hat. Dagegen muß zugegeben 
werden, daß die Verzichtstheorie, wenn auch nicht schlechthin un- | 
richtig, so doch zu einseitig ist und sich aus diesem Grunde nicht 
empfiehlt. Sie betrachtet das Geständnis lediglich aus dem Stand- 
punkte des daran geknüpften Verlustes prozessualer Verhaltungs- 
möglichkeiten, statt das Hauptgewicht auf seine positiven Wirkungen, 
nämlich auf seine Bedeutung für Prozeß und Urteil zu legen. 

Demgemäß ist die Verzichtstheorie schon von einer ganzen Reihe 
gemeinrechtlicher und auch neuerer Schriftsteller bekämpft worden, 
zum Teil mit genau den gleichen Gründen, wie sie der Verfasser 
hier vorbringt. Man vergleiche etwa: Langenbeck, Beweis- 
führung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten 1858 S.121; Bracken- 
hoeft, Erörterungen S. 267; Renaud 2te Aufl. 1873 S. 270; Pu- 
chelt, Komm. IS. 63; Demmler, Gerichtliches Geständnis von 
Rechtsverhältnissen; Möhring, Natur und Kraft des gerichtlichen 
Geständnisses S. 20; Wittmaak im Archiv für die civilistische 
Praxis 1888 S. 18 ff. u.s.w. Neuerdings haben nun auch im An- 
schluß an das vorliegende Buch die Kommentare von Gaupp-Stein 
(4te Aufl.), Petersen (4te Aufl.) den Verzichtsgedanken aufgegeben, 
wenn sie auch im Uebrigen, wie auch Struckmann-Koch 7te Aufl. 
S. 349 Zif. 1 die Auffassung des Geständnisses als einer Dispo- 
sitivhandlung mit vollem Rechte weiter vertreten. 

Wenn nun aber nach dem Gesagten das Ergebnis des Verfas- 
sers, Ablehnung der Verzichtstheorie, in gewisser Hinsicht Billigung 
verdient, so gilt das Gleiche nicht von den beiden, im Wesentlichen 
neuen Gründen, auf welche er diese Ansicht hauptsächlich stützt. 
Ein Verzicht soll zunächst aus dem Grunde ausgeschlossen sein, 
weil in der Erklärung, nicht zu bestreiten, ein Geständnis niemals 
gefunden werden könne. In einer derartigen Aeußerung liege über- 
haupt kein Zugeben, keine Anerkennung der Wahrheit, sondern um- 
gekehrt eine Neutralitätsverkündung, die Erklärung, weder gestehen 
noch bestreiten zu wollen. Wer nicht verneine, sage damit noch 
koineswegs Ja, vielmehr enthalte er sich jeder Stellungnahme. 

Diese rein äußerliche Betrachtungsweise, welche geradezu auf 
ein Spiel mit Worten hinausläuft, trifft nun gewiß nicht das Rich- 
tige. Das Geständnis kann in jeder Form zum Ausdruck gebracht 


Bülow, Das Geständnisrecht. 227 


werden, aus welcher das Einverständnis mit der gegnerischen Be- 
hauptung geschlossen werden kann. Es kommt lediglich darauf an, 
was die Partei mit ihren Erklärungen meint. Für die Auslegung 
der Parteiabsichten und -handlungen sind aber praktische Gesichts- 
punkte, nicht formal logische Erwägungen maßgebend, sodaß die 
durch Citate aus philosophischen Schriften (S. 11 Anm. 1) unter- 
stützten Ausführungen des Verfassers über die logische Verschieden- 
heit zwischen Nichtbestreiten und Gestehen, und über die häufige 
Verwechselung zwischen konträr und kontradiktorisch entgegenge- 
setzten Begriffen, für unsere Frage gänzlich ohne Bedeutung sind. 
Daß die Partei ihrer Geständniserklärung eine positive Fassung gebe, 
ist nirgends verlangt, und kann auch vernünftiger Weise nicht ge- 
fordert werden. Denn, wer im Rechtsstreit erklärt: »ich bestreite 
nicht<; »ich will nicht bestreiten<; »ich kann nicht bestreiten< und 
Aehnliches, der sagt damit in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle 
doch nichts anders, als: »Die gegnerische Behauptung ist richtig, 
ich erkenne sie hiermit als wahr anc«. 

Diese Deutung ergiebt sich der Regel nach ohne Weiteres aus 
der ganzen Situation, in welcher eine solche Erklärung abgegeben 
wird. Eine Partei, die auf die erhobene Klage hin, angesichts 
des nahen Urteils, im vollen Bewußtsein der Erheblichkeit gegneri- 
scher Behauptungen, diese nicht zu bestreiten erklärt, gesteht sie 
damit einfach zu. Sie giebt keine vom positiven Geständnis ver- 
schiedene Erklärung ab, sondern nur eine Umschreibung für dieselbe 
Sache. Diese ganze Auffassung liegt so nahe, daß eine Partei, 
die eine Aeußerung über die Aufstellungen des Gegners ver- 
meiden will, sich, wenn sie nicht als geständig gelten will, niemals 
mit der bloßen Erklärung wird begnügen dürfen, nicht zu bestreiten, 
sie vielmehr dahin wird erläutern müssen, daß sie ebensowenig be- 
jahen als leugnen, daß sie sich überhaupt nicht äußern wolle. 

Freilich kann, wie zugegeben werden mag, die Erklärung des 
Nichtbestreitens in ganz vereinzelten Fällen als Antwortverweigerung 
gemeint sein, was dann vermöge des richterlichen Fragerechtes fest- 
zustellen ist. In der Regel kommt sie jedenfalls auf ein wirkliches 
Geständnis hinaus. Demgemäß hat denn auch die Rechtsprechung un- 
serer Gerichte, unter entschiedener Ablehnung des hier bekämpften 

rein formalistischen Standpunktes und richtiger Würdigung der Partei- 
absichten, keinen Anstand genommen, die Aeußerung der Nichtbe- 
streitung in einer Reihe von Fällen als Geständnis auszulegen. Vgl. 
die Entscheidungen bei Petersen 4te Auflage zu $ 288. 

Der Verfasser beruft sich darauf, daß ja das Gesetz selbst zwi- 


schen dem Nichtbestreiten einerseits ($ 138 Abs. 2) und dem Ge- 
| 1A * 


228 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


stehen andererseits ($ 288 C.P.O.) einen deutlichen Unterschied 
mache. Indessen : Der § 138 Abs. 2 C.P.O. handelt zunächst keines- 
wegs vom Nichtbestreiten, sondern von der Unterlassung jeder Er- 
klärung, also auch vom Nichtbejahen. Sodann besteht zwischen dem 
Stillschweigen und der ausdrücklichen Erklärung des Nichtbestreitens 
eine wesentliche Differenz. Dort hat sich die Partei überhaupt nicht 
geäußert, hier hat sie ihr Einverständnis mit dem Gegner hinsicht- 
lich einer Thatsache ausdrücklich dokumentiert, d. h. mit anderen 
Worten gestanden. 

Des Weiteren wird gegen die Verzichtstheorie der Einwand er- 
hoben, es gebe keine subjektiven Prozeßrechte, sondern lediglich 
prozessuale Handlungsbefugnisse. Dieselben könnten aber nicht 
den Gegenstand einer Verfügung oder eines Verzichtes sein, sondern 
bildeten einen Teil der unveräußerlichen Rechtspersönlichkeit. Ein 
Rechtssubjekt könne nicht ein für allemal auf die Vornahme einzel- 
ner Handlungen oder einzelner Arten von Handlungen verzichten. 
Sie könne sich nicht selbst entmündigen. 

Auch dieses Argument kann als zutreffend nicht erachtet werden. 
Auf die grundlegende und schwierige Frage, ob es subjektive ProzeB- 
rechte oder nur Befugnisse (— Berechtigungen —) im engeren Sinne 
giebt, kann hier nicht näher eingegangen werden. Es scheinen in 
der That überwiegende Gründe für die letztere Auffassung zu spre- 
chen. Darf aber daraus gefolgert werden, daß ein Verzicht auf 
prozessuale Handlungsbefugnisse undenkbar sei? Keineswegs! Die 
der Partei verliehenen Befugnisse sind von vornherein durch das 
Prozeßgesetz genau vorgezeichnet. Dieses kennt nur eine be- 
schränkte Anzahl von Verhaltungsmöglichkeiten, deren jede einzelne 
durch ihren bestimmten Inhalt hinreichend individualisiert ist. In- 
dem nun die Partei eine derartige Befugnis aufgiebt, verzichtet sie 
damit nur auf die Vornahme einer ganz bestimmten Handlung. Sie 
verliert dadurch mit Nichten einen Teil ihrer gesammten Rechts- 
persönlichkeit. Wer z. B. in einem konkreten Rechtsstreite von der 
Bestreitung einer einzelnen Thatsache abzusehen erklärt, der ver- 
pflichtet sich damit doch nicht, nunmehr in allen denkbaren Pro- 
zessen keine Thatsache mehr zu bestreiten. Er büßt nicht die ab- 
strakte Bestreitungsbefugnis ein. Und wer auf die Berufung gegen 
ein bestimmtes Urteil verzichtet, hat damit keineswegs für sein gan- 
zes Leben die Fähigkeit verloren, Berufungen einzulegen. Es ist 
demnach eine offenbare, auf der Verwechselung zwischen konkreter 
und abstrakter Handlungsmöglichkeit beruhende, Uebertreibung, wenn 
behauptet wird, prozessuale Berechtigungen seien schlechterdings 
unverzichtbar. 


Bülow, Das Geständnisrecht. 229 


Das Gegenteil ergiebt sich schon in unzweifelhafter Weise aus 
den positiven Vorschriften der Civilprozeßordnung. Dieselbe spricht 
unter Anderem von einem Verzicht auf prozeßhindernde Einreden 
($$ 274 Abs. 2, 528), auf Befolgung einer Prozeßvorschrift (§ 295), 
auf den Anspruch (§ 346), auf Rechtsmittel §§ 514, 521, 526), auf 
die Vernehmung von Zeugen ($ 399), auf das Beweismittel der Ur- 
kunde ($ 436), ja sogar auf die Vereidigung von Zeugen und Sach- 
verständigen (§§ 391, 410). Man wird aber sicherlich nicht sagen 
dürfen, daß, wer z.B. einen Zeugen unbeeidigt vernehmen läßt, sich 
damit selbst entmündige! 

Auch im privatrechtlichen Verkehr ist übrigens die Verfügung über 
Handlungsbefugnisse keineswegs ausgeschlossen, sondern überall dort 
zulässig, wo die aufzuhebende Befugnis hinreichend spezialisiert ist, 
und sich auf verfügbare Rechtsgüter bezieht. Freilich kann man 
nicht allgemein und schlechterdings auf Okkupation , Vornahme von 
Rechtsgeschäften, z.B. Schenkungen u. s. w. wirksam verzichten. Da- 
gegen kann sehr wohl eine Person gegenüber einer bestimmten an- 
deren die Verpflichtung übernehmen, sich eine genau bezeichnete 
herrenlose Sache nicht anzueignen. Auch liegt in einem rechtsge- 
schäftlichen Veräußerungsverbot doch nichts anders als der gültige 
Verzicht auf eine Handlungsbefugnis. Eine ähnliche Erscheinung 
bieten ferner das Vor- und Wiederkaufsrecht. Aus diesen leicht zu 
vermehrenden Beispielen ergiebt sich zur Genüge, daß bestimmte 
Handlungsbefugnisse recht wohl aufgegeben werden können. Aus- 
nahmen, wie z.B. der Fall des $ 1136 B.G.B., bestätigen nur die 
Regel. 

VI. 

Auch in dem vorliegenden Werke kommt der Verfasser wieder- 
holt auf die von ihm aufgestellte Bestimmung des Prozesses als eines 
Rechtsverhältnisses zurück. Eine Vertiefung seiner Ansicht, und zu- 
gleich ein Argument gegen die rechtsgeschäftliche Natur des Ge- 
ständnisses, glaubt er in dem Umstande finden zu können, daß die 
urteilsbegründenden Handlungen eine selbständige Wirksamkeit nicht 
äußern, sondern erst mit der richterlichen Entscheidung und durch 
diese zur Geltung gelangen. Die letztere Behauptung ist bereits 
oben unter IV gewürdigt worden. Hier soll nur kurz auf das an- 
gebliche Prozeßverhältnis eingegangen werden, ohne die grundlegende 
Frage erschöpfend behandeln zu wollen. 

Die hauptsächlichen Gesichtspunkte, die gegen die Annahme 
eines besonderen einheitlichen Prozeßrechtsverhältnisses sprechen, sind 
bereits von A.S. Schultze in seinem »Privatrecht und Prozeß« S. 285 
geschichtlich und dogmatisch entwickelt worden. Dort ist namentlich 


280 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


($ 29) auf den Zusammenhang jener Ansicht mit einer unrichtigen 
Anschauung über das Verhältnis von jus und judicium im altrömi- 
schen Prozeß verwiesen und gezeigt worden, daß daraus die gewiß 
unzutreffende Folgerung sich ableite, als gäbe es keine Prozeßein- 
reden, wenigstens keine anderen als die prozeßhindernden Einreden 
(S. 276, 287—293, 353). Eine Widerlegung jener Einwände hat der 
Verfasser nirgends versucht ; sie dürfte auch nicht leicht zu erbringen 
sein. Selbst wenn aber jene Definition des Prozesses als eines 
einheitlichen Rechtsverhältnisses nicht unrichtig wäre, so 
scheint sie mir, was nur in aller Kürze hier angedeutet werden 
kann, der wissenschaftlichen Fruchtbarkeit zu entbehren, wenn auch 
nach Ansicht des Verfassers ihre Aufstellung den Ausgangspunkt 
einer neuen Prozeßrechtswissenschaft bilden soll. (Vergleiche seinen 
Aufsatz in der Zeitschrift für deutschen Civilprozeß, B. 27 S. 223.) 

Will der Ausdruck »Rechtsverhältnis< die Rechtsnatur des 
Civilprozesses besonders betonen, so besagt er lediglich etwas Selbst- 
verstandliches; denn auch bisher hat Niemand bezweifelt, daß der 
Prozeß durch Rechtssätze beherrscht wird. Will er dagegen auf die 
Einheitlichkeit des Prozeßverfahrens das Gewicht legen, so 
spricht er ebenfalls eine unstreitige und und längst anerkannte That- 
sache aus. Die Einheit des Prozesses beruht aber nicht auf seiner 
Eigenschaft als Rechtsverhältnis, sondern auf dem organischen Zu- 
sammenhange, in welchem die einzelnen Prozeßhandlungen und die 
daran geknüpften Wirkungen durch die Beziehung zwischen der 
Klage als dem Entscheidungsantrag und dem Urteil als der Ent- 
scheidung gebracht werden. 

Sodann ist der Begriff Rechtsverhältnis keineswegs unzweideutig 
und überall der gleiche. Soll durch ihn eine Beziehung der Berech- 
tigung und Verpflichtung gemeint sein, wie sie bei Privatrechtsver- 
hältnissen obwaltet? Wäre dies wirklich der Fall, und könnte eine 
einheitliche Prozeßberechtigung und -verpflichtung nachgewiesen wer- 
den, so läge allerdings für das behauptete Rechtsverhältnis ein be- 
stimmter greifbarer Inhalt vor. Dies kann aber die Meinung des 
Verfassers aus dem Grunde nicht sein, weil er alle einzelnen subjek- 
tiven Prozeßrechte und -pflichten ablehnt, also auch nicht geneigt 
sein wird, ein den ganzen Prozeß erfassendes Recht anzuerkennen. 
Worin soll aber dann der Inhalt, der Gegenstand des einheitlichen 
Prozeßverhältnisses liegen? Darauf hat bisher weder der Verfasser 
selbst noch irgend einer seiner Anhänger eine klare Antwort erteilt. 

Aber auch, wenn eine solche gefunden werden könnte, wäre da- 
mit nicht allzuviel gewonnen. Denn gemeinsame Regeln, die überall 
zur Anwendung kommen müßten, wo ein Rechtsverhältnis gegeben 


Bülow, Das Geständnisrecht. 281 


erscheint, sind bisher noch nicht ermittelt, und werden wohl auch, 
mit Rücksicht auf die Mannigfaltigkeit der möglichen Rechtsbe- 
ziehungen, kaum jemals aufgestellt werden können. Was der Ver- 
fasser in dieser Richtung von dem Begriffe des Rechtsgeschäf- 
tes ausführt (S. 156 Anm. 2), und was nach seiner Meinung seine 
Uebertragung auf die Prozeßhandlungen ausschließt, müßte noch in 
viel höherem Maße von dem Begriff des Rechtsverhältnisses 
gelten. Uebrigens würden derartige gemeinsame Grundsätze, auch 
wenn sie sich aufstellen ließen, schon deshalb nicht unbesehen auf 
den Prozeß übertragen werden dürfen, weil es sich hier um ein 
ganz eigenartiges, von allen übrigen gänzlich verschiedenes Rechtsver- 
hältnis handeln würde. 

Demnach dürfte wohl unsere Wissenschaft ihre Hauptaufgabe 
weniger in dem Nachweis eines ProzeGrechtsverhialtnisses, als viel- 
mehr in der Erforschung der einzelnen prozessualen Thatbestände 
und ihres gegenseitigen Verhältnisses, namentlich in der Klarstellung 
der verschiedenen Parteihandlungen und der daran geknüpften Wir- 
kungen zu erblicken haben. Und gerade diese Aufgabe wird ihm 
zugewiesen durch die Auffassung des Prozesses als dessen, was er 
ist, nämlich eines Handelns zur Geltendmachung und Verwirk- 
lichung von Rechten, als eines Verfahrens, einer Thätigkeit, eines In- 
begrifis von Akten. Er teilt insofern die Eigentümlichkeit der 
strafrechtlichen Thatbestände, bei welchen ebenfalls nicht in er- 
ster Linie rechtliche Beziehungen, sondern Handlungen mit be- 
stimmtem Inhalt und bestimmten Wirkungen in Frage kommen. 

Geht man aber von der Auffassung des Prozesses als eines In- 
begriffes von Handlungen aus, so gelangt man folgerichtig auch zu 
einer Mehrheit prozessualer Beziehungen. Für diese läßt sich aber, 
anders als für das behauptete Prozeßrechtsverhältnis, jeweils ein 
ganz bestimmter Inhalt und Gegenstand nachweisen. Es ließe sich 
demnach mit weit größerem Rechte von einer Vielheit prozessualer 
Rechtsverhältnisse, als von einem einzigen reden, wenn man über- 
haupt den ganzen Begriff für den Prozeß verwerten zu müssen 
glaubt. 

Daß es jedenfalls kein von der Gesammtheit dieser Beziehun- 
gen unterscheidbares einheitliches Verhältnis giebt, dafür giebt der 
Verfasser selbst den schlagendsten Beweis, indem er (in der erwähn- 
ten Abhandlung, Zeitschrift für Deutschen Civilprozeß 1900) seine 
Prozeßrechtsverhältnis nicht anders zu definieren vermag als den 
‚Inbegriff der gesammten prozessualischen Rechtsbeziehungen, die 
zwischen den Prozeßsubjekten, den beiden Parteien und dem Ge- 
richte, durch die Prozeßeinleitung entstehen« (S. 222); und daß 


282 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


die einzelnen Prozeßthatbestände durch die Annahme eines sol- 
chen allgemeinen Verhältnisses eher verdunkelt als klargestellt wer- 
den, offenbart sich gerade in dem vorliegenden Werke, das durch 
jene Annahme für die spezielle Geständnislehre zu dem unrichtigen 
Schlusse verleitet wird, als könne dem Geständnis eine eigene selb- 
ständige Prozeßwirkung nicht zuerkannt werden. 

VOL 

Bisher sind hauptsächlich die vom Verfasser entwickelten all- 
gemeinen Gedanken einer Prüfung unterzogen worden. Im Fol- 
genden soll nunmehr seine Definition, und sollen die daraus ent- 
wickelten Sätze im Einzelnen behandelt werden. Nach ihm ist das 
gerichtliche Geständnis >die von einer Partei vor dem Prozeßgericht 
abgegebene Erklärung, daß eine der Partei zum Rechtsnachteil ge- 
reichende, vom Gegner behauptete Thatsache wahr ist«. 

Daß aber das Geständnis nicht positiv gefaßt zu werden braucht, 
und daß es seinem Begriffe nach keine Wahrheitserklärung ist, 
wurde bereits oben ausgeführt. Die mitgeteilte Definition leidet 
aber auch an dem Fehler, daß sie das Mißverständnis nahelegt, als 
müsse die gestehende Partei auf die gegnerische Behauptung Be- 
zug nehmen, als müsse sie unter ausdrücklichem Hinweis auf 
jene Behauptung ihr Einverständnis mit derselben erklären. Das ist 
indessen nicht erfordert, wie ja auch der Verfasser durch seine Aus- 
führungen über das zuvorkommende Geständnis anerkennt. Die zu- 
gebende Partei braucht weder ausdrücklich noch stillschweigend auf 
die Behauptung der Gegenseite Bezug zu nehmen. Sie braucht 
nicht einmal das Bewußtsein zu haben, daß die auch von ihr aufge- 
stellte Thatsache bereits von dem Gegner geltend gemacht worden 
ist. Es genügt der rein objektive Umstand, daß übereinstimmende 
Erklärungen vorliegen. 

Hier erhebt sich aber die Frage, welche von jenen beiden in- 
haltsgleichen Aufstellungen die Behauptung im technischen Sinne 
und welche das Geständnis bilde. Aus diesem Gesichtspunkte 
wird ein weiteres Thatbestandsmerkmal von Bedeutung, das der 
Verfasser als die Nachteiligkeit der zugegebenen Thatsache be- 
zeichnet. Auch dieser Ausdruck ermangelt der für jede Definition 
unumgänglichen Schärfe und Unzweideutigkeit. Im Prozeß werden 
vielfach Umstände von Erheblichkeit, die zu gleicher Zeit sowohl 
für die eine als für die andere Partei günstig und nachteilig sind. 
Ein Erbe klagt z.B. eine Erbschaftsforderung ein, begegnet aber der 
Einrede der Aufrechnung mit einer Erbschaftsschuld. Die behauptete 
Erbschaftsannahme ist für ihn vorteilhaft, soweit die Erbschaftsfor- 
derung, nachteilig, soweit die Erbschaftsschuld in Frage kommt. 


Bülow, Das Geständnisrecht. 288 


Zuweilen wird sich nach Abgabe des Geständnisses das Verhältnis 
von Vorteilhaftigkeit und Nachteiligkeit infolge später erhobener 
Einreden gänzlich verschieben und umkehren. Nach dem Verfasser 
(S. 199) soll sich die Eigenschaft der Nachteiligkeit einer Behaup- 
tung erst nach der bei Fällung der Entscheidung gegebenen Pro- 
zeßlage beurteilen können. Indessen kommt doch das Gericht oft 
genug in die Notwendigkeit, sich schon während des Prozesses über 
das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Geständnisses schlüssig zu 
machen; so z. B., wenn eine »Behauptung« widerrufen, ein Beweis 
über dieselbe erboten wird und dergl. In allen derartigen Fällen 
ist mit der Nachteiligkeit nicht auszukommen. 

Das damit gemeinte Begriffsmerkmal muß denn auch anders 
gefaßt werden. Das gerichtliche Geständnis enthebt den Gegner 
des Beweises. »Zugestanden« im eigentlichen Sinne werden also 
nur Behauptungen, welche von dem Gegner zu beweisen wären. 
Wenn also die gleiche Thatsache von beiden Parteien übereinstim- 
mend aufgestellt wird, so liegt die Behauptung auf Seiten dessen, 
der sie nach den Grundsätzen der Beweislast darlegen müßte, 
wenn sie nicht auch durch den Gegner bestätigt worden wäre; das 
Geständnis dagegen ist von dem letzteren abgegeben. Damit ist 
zwischen Behauptung und Geständnis eine klare Unterscheidung ge- 
wonnen, welche es auch ermöglicht, das Vorhandensein des letzteren 
schon während des Prozesses, also in einem Zeitpunkte zu beurteilen, 
in dem sich vielfach die Nachteiligkeit oder Vorteilhaftigkeit der 
betreffenden Thatsache für das Prozeßergebnis noch gar nicht über- 
sehen läßt. 

Zugleich erledigt sich damit die Streitfrage, ob das Geständnis 
notorisch unwahrer Thatsachen den Richter binde, ohne Wei- 
teres in negativem Sinne, da weder die offenkundige Thatsache selbst 
noch auch ihr Gegenteil des Beweises bedürfen, also auch nicht mit 
der spezifischen Wirkung des $ 288 »zugestanden< werden können. 

Endlich ergiebt sich daraus eine wichtige Folgerung für die 
Auffassung der sog. zuvorkommenden Geständnisse. Diesen 
widmet der Verfasser eine ausführliche und anregende Erörterung, 
deren Ergebnisse jedoch nur zum Teil gebilligt werden können. 

Nach ihm ist das zuvorkommende, d. h. vor der entsprechenden 
Behauptung durch den Gegner abgegebene Geständnis zwar seinem 
Wesen nach ein Geständnis, eine Wahrheitsbekundung (S. 279). Es 
ist jedoch noch kein fertiges verbindliches Prozeßgeständnis (S. 212). 
Es kann andererseits vermöge seiner Beweiskraft wirksam sein 
(S. 219 f.) und ist infolgedessen »eines jener seltsamen vor Gericht 
abgelegten außergerichtlichen Geständnisse«. Zugleich aber wirkt 


284 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


es, soweit nicht rechtsverfolgende Einreden in Frage stehen, als 
eine Thatsachenanführung, welche unabhängig von ihrer Wahrheit 
auch ohne Behauptung durch den Gegner dem Urteil zu Grunde 
gelegt werden muß. Diese Wirkung gründet sich — wird weiter 
ausgeführt — nicht auf den Beweiswert der unerwidert gebliebenen 
Geständniserklärung, welche insofern weder gerichtliches noch außer- 
gerichtliches Geständnis ist (S. 289—290). 

Daß diese ganze Auffassung besonders durchsichtig wäre, kann 
man nicht behaupten. Sie betrachtet eine und dieselbe Parteiauf- 
stellung zu gleicher Zeit als »außergerichtliches Gestandnis< (Beweis- 
grund), als Thatbestandsmoment für das gerichtliche Geständnis, und 
als eine unabhängig von ihrem Beweiswert wirkende Thatsachen- 
anführung. 

In der That läßt sich, wenn man auf das Wesen der Sache 
sieht, für alle Fälle nur die letzte Konstruktion aufrecht erhalten. 
Das sogenannte zuvorkommende Geständnis ist seinem rechtlichen 
Kerne nach überhaupt und in jedem Falle kein Geständnis, sondern 
reine Behauptung. Ein noch unfertiges, unverbindliches Geständnis 
ist eben gar keines; genauso, wie ein >Delikt«, dessen Merkmale 
nicht sämmtlich verwirklicht sind, keine strafbare Handlung (kein 
Delikt), und wie die einseitige Willenserklärung eines Kontrahenten 
kein Vertrag ist. Die in dem »zuvorkommenden Geständnis< lie- 
gende Thatsachenanführung ist nichts von ihm verschiedenes, nichts 
daneben herlaufendes, sondern der einzige, wesentliche, und er- 
schöpfende Inhalt desselben. 

Das gerichtliche Geständnis setzt seinem Wesen nach beider- 
seitige Behauptung voraus. Es ist solange nicht gegeben, als 
nur die Aufstellung der einen Seite vorliegt. Eine solche Auf- 
stellung ist demnach begrifflich nichts als eine Behauptung. Sie 
kommt rechtlich auch nicht als ein >Stück« eines gerichtlichen 
Geständnisses in Frage; denn sie besitzt keine einzige seiner wesent- 
lichen Eigentümlichkeiten; sie ist nicht unwiderruflich (vergl. aus 
neuester Zeit die interessante Entscheidung in Seufferts Archiv 54 
Nr. 187); sie enthebt den Gegner nicht des Beweises, da dieser keine 
Behauptung aufstellt, also auch keinen Nachweis zu führen hat. Sie 
ist auch kein außergerichtliches Geständnis, schon deshalb nicht, 
weil sie vor dem Prozeßgericht in dem konkreten Rechtsstreit ab- 
gegeben wird; namentlich aus dem Grunde, weil sie, wie der Ver- 
fasser selbst ausführt, nicht kraft ihres Beweiswertes, sondern un- 
abhängig von demselben Berücksichtigung durch den Richter erheischt. 

Sie wirkt daher auch nur als Behauptung. Soweit also der 
Kläger einseitig Thatsachen anführt, die seinen Anspruch ganz oder 


Bülow, Das Geständnisrecht. 286 


zum Teil als nicht bestehend erscheinen lassen, ist seine Klage (sei 
es vollständig, sei es zum Teile) unbegründet. Dieselbe muß also 
abgewiesen werden, nicht weil der Kläger etwas zugestanden hat, 
auch nicht, weil der Beweis erbracht ist, daß seine Klage unge- 
rechtfertigt ist, sondern lediglich aus dem Grunde, weil er seinen 
Anspruch nicht oder nicht hinreichend begründet hat. Die durch 
die Aufstellung des Klägers in den Prozeß eingeführte (nicht be- 
strittene) und deshalb vom Richter zu beachtende Thatsache er- 
scheint dann im Zusammenhalte mit den übrigen Behauptungen 
nicht geeignet, den Antrag zu rechtfertigen. Es greift demnach 
der negative Gesichtspunkt der unzureichenden Klagebegründung Platz. 

Und zwar gilt dies sowohl dann, wenn die Erklärung mit den 
übrigen Behauptungen des Klägers unvereinbar ist, als auch in 
dem Falle, wenn sie sich zwar mit jenen anderweitigen Aufstellungen 
vereinbaren läßt, aber einen Schluß auf die Unbegründetheit des 
auf jene Aufstellungen gestützten Rechtes erlaubt, wenn sie also 
eine Thatsache enthält, welche, falls sie von dem Gegner aufgestellt 
wäre, nicht als Leugnung des Thatgrundes, sondern als Einrede auf- 
zufassen wäre. 

Als reine Behauptung erscheint das sogenannte zuvorkommende 
Geständnis auch dann, wenn es zur Begründung gegnerischer Ein- 
reden im Sinne des bürgerlichen Gesetzbuchs, z. B. der Aufrechnung, 
der Verjährung, des Anfechtungsrechtes geltend gemacht werden 
könnte. Hier ist aber die Behauptung unerheblich, und zwar des- 
halb, weil sie in wirksamer Weise nur durch den Gegner aufgestellt 
werden kann, der allein befähigt ist, durch Berufung auf sie einen 
rechtserheblichen Thatbestand zu schaffen. Das wird auch von dem 
Verfasser (S. 306 ff.) nicht verkannt. Er unterläßt es aber zu er- 
läutern, wie denn eigentlich in solchen Fällen das sog. »zuvorkom- 
mende’Geständnis« rechtlich aufzufassen sei, und er glaubt zu Un- 
recht, jene Besonderheit sei bisher für die Geständnislehre von der 
Prozeßrechtswissenschaft noch nicht verwertet worden. 

Nach dem Gesagten ist die einseitige Parteibehauptung über- 
haupt niemals Geständnis. Sie wird es nicht eher, als bis sie auch 
durch den Gegner aufgestellt wird. Nun erst hat die beweisaus- 
schließende Kraft des Geständnisses einen Sinn und einen Gegen- 
stand. Der Vorgang ist also nicht in der Weise aufzufassen, als 
habe schon vorher ein (unfertiges, nicht vollkommenes) Geständnis 
vorgelegen, welches nunmehr unwiderruflich würde; sondern die Be- 
hauptung der einen Partei nimmt jetzt den Charakter eines Geständ- 
nisses erst an. Letzteres tritt mit einem Male ins Dasein; es ent- 
wickelt sich nicht allmäblich und schrittweise. 


236 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


So gelangen wir also zu dem Ergebnis: solange das Geständnis 
zuvorkommend ist, ist es überhaupt noch kein Geständnis. Der 
ganze Begriff hat daher keine Daseinsberechtigung. 

In diesem Zusammenhange ist noch einer Aufstellung zu ge- 
denken, die wohl allenthalben berechtigtem Widerspruche begegnen 
wird. Nach dem Verfasser soll eine zuvorkommende thatsächliche 
Erklärung, die zum Protokoll eines beauftragten Richters verlaut- 
bart ist, nicht auch vor diesem, sondern nur in der mündlichen 
Verhandlung vor dem erkennenden Gericht widerrufen werden können. 
Dies kann nicht zugegeben werden; umsoweniger, als ja ein Ge- 
ständnis gar nicht vorliegt, ein Widerruf im eigentlichen Sinne also 
gar nicht erforderlich ist, sondern lediglich eine von der ursprüng- 
lichen abweichende Erklärung. Thatsachenanführungen aber können 
zweifellos vor dem beauftragten und ersuchten Richter wirksam er- 
folgen. Wenn schon dort die weittragende und mit einschneidenden 
Folgen ausgerüstete Handlung des gerichtlichen Geständnisses vor- 
genommen werden kann, so muß erst recht die gänzlich voraus- 
setzungslose Zurückziehung einer Behauptung in dieser Weise statt- 
finden können, zumal ja sogar ein wirkliches (»fertiges«) Geständnis 
beim Vorhandensein der Voraussetzungen des $ 290 C.P.O. vor 
dem beauftragten und ersuchten Richter widerrufen werden kann, 
wie die entsprechende durch nichts gehinderte Ausdehnung des 
§ 288 C.P.O. ohne Weiteres ergiebt. 


IX. 


Der Verfasser ist bestrebt, die Richtigkeit der eigenen Auf- 
fassung und die Unhaltbarkeit der Dispositionstheorie an einer Reihe 
von Einzelfragen zu erweisen, die im Folgenden noch berücksichtigt 
werden sollen. Er handelt unter Anderem von dem Falle, daß die 
bestreitende Partei nach erhobenem Beweis erklärt, sie halte den- 
selben für hinlänglich erbracht, und führt dann mit vollem Rechte 
aus, dadurch werde das Gericht an der freien Würdigung der zu 
Beweis gestellten Thatsache nicht gehindert. Daß nämlich die Partei 
über die Beurteilung des Prozeßresultates nicht verfügen kann, ver- 
steht sich ganz von selbst; und daß sie das nicht kann, widerspricht 
keineswegs, wie Verfasser meint, der Ansicht, daß das gerichtliche 
Geständnis eine Verfügung über die Urteilsgrundlagen ist. Hieraus 
folgt nur, daß die Partei auch nach erhobenem Beweise die That- 
sache außer Streit setzen, zur Urteilsgrundlage machen kann und 
dieses selbst dann, wenn durch die Beweisaufnahme die Unwahrheit 
der Thatsache erwiesen sein sollte, wie ja auch allgemein anerkannt 
ist. Dieses letztere Resultat aber steht in Widerspruch gerade mit 


Bülow, Das Geständnisrecht. 237 


der Auffassung, als sei das Geständnis nichts als eine Wahrheits- 
versicherung. Denn wie sollte es möglich sein, daß eine bloße 
Wahrheitsversicherung im Stande wäre, als solche auf eine soeben 
widerlegte Behauptung feststellend zu wirken. 

Ferner: kann die behauptende Partei das Geständnis des Geg- 
ners abweisen und auf Beweis beharren ? Oder kann sie demselben 
im Wege der Vereinbarung den Widerruf des Geständnisses trotz 
des Mangels der gesetzlichen Voraussetzungen ($ 290 C.P.O.) ge- 
statten? Beide Fragen werden vom Verfasser in verneinendem 
Sinne beantwortet, und wohl mit Recht. Daraus läßt sich aber kein 
Einwand gegen die herrschende Geständnistheorie entnehmen. Die 
Dispositionsbefugnis der Partei kann sehr wohl bestehen, ohne eine 
schrankenlose zu sein. Das ausnahmsweise vorhandene Interesse 
des Behauptenden an dem Beweise seiner Aufstellungen, oder beider 
Parteien an der Zurückziehung eines abgegebenen Geständnisses 
rechtfertigt nicht das Abgehen von der allgemeinen Regel, daß zu- 
gestandene Thatsachen endgültig festgestellt sind. Diese Regel ist, 
wie der Verfasser zutreffend ausführt, im öffentlichen Interesse be- 
gründet. Daraus ergiebt sich ohne Weiteres die Beschränkung der 
Parteidisposition. Dagegen würde, wie bereits dargelegt, gerade 
die Ansicht des Verfassers folgerichtig zu der freien Widerruflichkeit 
führen, da eine bloß als Wahrheitsäußerung wirksame Erklärung 
durch die nachträgliche Aufstellung des Gegenteils paralysiert werden 
müßte. 

Des Weiteren wird ausgeführt, die Dispositionstheorie gelange 
dazu, die Wirksamkeit eines gerichtlichen Geständnisses zu leugnen, 
bei dessen Abgabe die Partei sich gegen die Rechtsverbindlichkeit 
desselben verwahre. In Wahrheit müsse aber ein solches Ge- 
ständnis trotz des Vorbehaltes, wie jedes andere, vollwirksam sein. 
Ob die letztere Behauptung zutrifft, oder ob nicht vielmehr, wie 
der Verfasser selbst S. 259 andeutet, einer derartig gewundenen 
Erklärung die Eigenschaft eines Geständnisses abzusprechen sei, 
wofür sich gewichtige Gründe anführen ließen, mag hier dahingestellt 
bleiben. Jedenfalls ist es unrichtig, daß in den angegebenen Fällen 
die Unwirksamkeit des Geständnisses sich mit Notwendigkeit aus 
der herrschenden Auffassung ergiebt. Eine besonnene Partei muß 
wissen, welche Wirkung ihren Prozeßakten zukommt. Will sie diese 
Wirkung ausschließen, so mag sie die betreffende Handlung unter- 
lassen. Sie kann sich nicht beklagen, wenn unter diesen Umständen 
ihrem Vorbehalte kein Wert beigemessen wird. Uebrigens verhält 
es sich damit im Prozeß nicht anders als im privatrechtlichen Ver- 
kehre. Hier wie dort ist zu untersuchen, inwieweit die abgegebene 


288 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


Willenserklärung ernstlich gemeint war oder nicht, und wieweit ihr 
aus diesem Gesichtspunkte der Erfolg zugesprochen oder versagt 
werden muß. 

Ein besonders schlagender Beweis gegen die Dispositionstheorie 
soll in dem Umstande zu finden sein, daß es keine bedingten 
und keine befristeten Geständnisse geben könne (S. 260 fl.). 
Diese bekannte Streitfrage läßt sich hier nicht erschöpfend behan- 
deln. Für beide Fälle gilt, wie hier nur kurz bemerkt werden mag, 
gleichmäßig folgende Regel. Es ist zu prüfen, inwiefern nach der 
Absicht der Partei und nach dem Sinne ihrer Erklärung die Bei- 
fügung einer Bedingung oder Zeitbestimmung derart wesentlich er- 
scheint, daß ein Geständnis ohne jene Einschränkung nicht abge- 
geben worden wäre. Ist dieses der Fall, so ist das bedingte bezw. 
befristete Geständnis unwirksam, im anderen Falle gilt umgekehrt 
die Beschränkung als nicht erfolgt. Jedenfalls aber dürfte es nicht 
folgerichtig sein, wenn der Verfasser das bedingte Geständnis anders 
als das befristete behandelt und jenes als wirksam, dieses als nicht 
erfolgt betrachtet. Denn, wenn eine befristete »Wahrheitserklärung« 
überhaupt keine ist, so muß das Gleiche von der bedingten 
Wahrheitserklärung erst recht gelten. Vor Allem aber würde der 
Ausschluß solcher mit Einschränkungen behafteter Geständnisse 
keineswegs gegen ihre dispositive Natur sprechen. Die Richtung 
des Prozesses auf endgültige Regelung und Entscheidung verlangt 
bestimmte, auf sofortige und vorbehaltslose Wirksamkeit berechnete 
Erklärungen. Schon dadurch würde es sich rechtfertigen, die durch 
das Privatrecht ausgesprochene Zulässigkeit von Bedingungen und 
Fristen für den Prozeß abzulehnen. Uebrigens kennt ja auch das 
Privatrecht eine Reihe von Willenserklärungen, denen solche Neben- 
bestimmungen nicht beigefügt werden dürfen. 

Endlich soll die herrschende Auffassung zu unrichtigen Folge- 
rungen in der Frage führen, >ob die gerichtlichen Geständnisse 
von Rechtsverhältnissen ähnlich wie die von Thatsachen zu 
behandeln sind«. Derartige Geständnisse hält der Verfasser allge- 
mein für wirksam, und zwar ohne die von dem Reichsgericht wieder- 
holt ausgesprochene Beschränkung auf die einfacheren, leicht über- 
sehbaren und zerlegbaren Rechtsverhältnisse. Inwiefern aber die 
Ansicht des Verfassers, deren Begründetheit hier nicht weiter zu 
untersuchen ist, mit der Dispositionstheorie unvereinbar sein soll, 
ist schlechterdings nicht einzusehen. Gerade über Rechtsverhält- 
nisse vermag doch die Partei wirksam zu verfügen. Umsomehr muß 
sie über deren Verwertung im Prozeß entscheiden können. Die 
Wirksamkeit des Geständnisses von Rechtsverhältnissen spricht also 


Bülow, Das Geständnisrecht. 239 


nicht gegen, sondern gerade für die allgemeine Ansicht. Gerade, 
weil das Geständnis Dispositivakt und nicht bloße Wahrheitserkla- 
rung ist, kann es sich auf Rechtsverhältnisse beziehen. Darin zeigt 
sich aber zugleich die Unrichtigkeit der Definition des Verfassers. 
Denn, ist das Geständnis seinem Begriffe nach nichts anders als die 
Erklärung, daß eine Thatsache wahr sei, wie soll dann ein Ge- 
ständnis über Rechtsverhältnisse möglich sein, da sich die letzteren 
doch nach der eigenen Ausführung des Verfassers (S. 273 Anm. 1) 
von Thatsachen sehr wesentlich unterscheiden ? Uebrigens gründet 
der Verfasser selbst seine Entscheidung gerade dieser Frage nicht 
auf seine Ansicht von der im Geständnis liegenden Wahrheitsver- 
sicherung, sondern auf den hier platzgreifenden Ausschluß der rich- 
terlichen Kognition, d.h. mit der herrschenden Auffassung auf die 
Parteiverfügung über die Urteilsgrundlagen. 


X. 


Zum Schlusse noch eine kurze Bemerkung über verschiedene 
Punkte mehr äußerlicher Art. Was zunächst die Darstellungs- 
weise des Verfassers anlangt, so dürfte sie wohl verschiedene der 
Vorzüge vermissen lassen, wie sie zum Erfolge seiner früheren Werke 
so wesentlich beigetragen haben. Das Bestreben, seine Gedanken 
möglichst deutlich und eindringlich vorzutragen, verleitet ihn viel- 
fach zu Wiederholungen, welche den Leser ermüden. Auch leidet 
die Uebersichtlichkeit des Buches dadurch, daß der Verfasser gegen 
seine Ansicht eine Reihe selbstgemachter, zum Teil recht weit her- 
geholter Einwände erhebt, um sie dann in weitläufigen Ausführungen 
zu widerlegen. Die Redeweise zeichnet sich vielfach nicht durch 
Einfachheit aus; verunziert wird sig durch Wortungetüme wie Pro- 
zeßhandlungseigenschaft (S. 183), Wahrheitsbethätigungswille (S. 178), 
Rechtsgeschäftswillenstheorie (S. 280), Fürwahrgeltenlassenwollen 
(S. 261), Nichtbestreitenwollenserklärung (S. 282), Nachlaßschuld- 
zahlungsverpflichtung (S. 252), Geständniswirkungswillenserklärung 
(S. 160) u. 8. w. 

Wichtiger als diese formellen Einzelheiten sind die Einwände 
gegen die Stellung des Verfassers zur Litteratur. Zunächst ist die 
letztere nicht erschöpfend berücksichtigt, wenigstens nicht vollständig 
angeführt. So ist z. B. die umfangreiche Abhandlung von v. Can- 
stein in der Zeitschrift für Deutschen Oivilprozeß Band I nicht er- 
wähnt. Alles, was frühere Schriftsteller über die formale Natur der 
Parteihandlungen und über die Herrschaft der Erklärungstheorie im 
Civilprozeß sowie gegen die Begriffsbestimmung des Prozesses als 
eines einheitlichen Rechtsverhältnisses ausgeführt haben, ist ohne 


240 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


Berücksichtigung geblieben. Besonders charakteristisch ist in dieser 
Beziehung die Art, in welcher der Verfasser die nach beiden Rich- 
tungen hin so bedeutsamen, oben mehrfach erwähnten Werke A. S. 
Schultzes über das Konkursrecht und über Privatrecht und Pro- 
zeß in ihrer Wechselbeziehung, ohne auf ihren Inhalt einzugehen, 
abthun zu können glaubt. Ueber das letztere findet sich (S. 51) 
nur die Bemerkung: »dieses ganze Buch hat durch die gründliche 
Recension von Lothmar eine nicht zu strenge Beurteilung gefunden«. 
Dieser nackte Hinweis auf eine vor siebzehn Jahren erschienene, 
durchaus persönlich und gehässig gehaltene, deshalb auch von vorn- 
herein der verdienten Nichtbeachtung der vornehmeren Prozetßlitte- 
ratur anheimgefallene »Recension< richtet sich von selbst. 

Das Konkursrecht desselben Gelehrten sodann wird nur erwähnt, 
um daran die unrichtige Behauptung zu knüpfen (S. 153 Anm. 1), 
sein Verfasser vertrete den »über alles Maß gehenden Gedanken, 
der ganze Prozeß sei ein Rechtsgeschäft«. Es ist dies um so auf- 
fallender, als Schultze gerade schon an der in Bezug genommenen 
Stelle (Konkursrecht S. 139 Anm. 1), an welcher er zum ersten 
Male die Auffassung von der rechtsgeschäftlichen Natur gewisser 
Prozeßhandlungen aussprach, außer dem formalen Charakter der- 
selben ausdrücklich die Mehrheit der innerhalb des Prozesses 
zu unterscheidenden Rechtsgeschäfte betonte, und diese Auffassung 
in seinem Privatrecht und Prozeß durch Aufzählung zahlreicher 
Handlungen dieser Art deutlich illustrierte, schließlich jene ihm 
auch von Anderen entgegengebrachte, unzutreffende Unterstellung 
zweimal zurückzuweisen veranlaßt war (Zeitschr. f. deutschen Civil- 
proz. XII S. 475 und Prozessualische Zeitbestimmungen S. 14 Anm. 1). 

Sodann werden die Ansichten anderer Gelehrter gelegentlich 
in der Weise angeführt, daß vereinzelte aus dem Zusammenhang 
gerissene Bemerkungen herausgegriffen und als der Kern ihrer Auf- 
fassung hingestellt werden. So soll beispielsweise Wetzell den Be- 
griff des gerichtlichen Geständnisses dahin bestimmt haben, es sei 
dasselbe eine »Disposition über das streitige Recht« (S. 74). In 
Wirklichkeit aber definiert W etzell das Geständnis (S. 171) als die 
Erklärung, durch welche thatsächliche Behauptungen als »unbe- 
stritten dargestellt< werden, und folgert daraus nur, daß, wenn alle 
den Klagantrag rechtfertigenden Thatsachen zugestanden werden, 
damit eine indirekte Anerkennung der jenseitigen Sachbitte, eine 
durch Verzicht auf den Beweis bewirkte Disposition über das streitige 
Recht erblickt werden kann. 

Diese leicht zu vermehrenden Punkte sind aber bezeichnend 
für das ganze Verhältnis des Verfassers zur Wissenschaft des Pro- 


Bülow, Das Geständnisrecht. 241 


zeßrechtes. Wie fast bei allen seinen früheren Werken, so kehrt 
auch bei dem vorliegenden Buche in den verschiedensten Ausge- 
staltungen der Grundgedanke wieder, als liege diese Wissenschaft 
bezüglich der von ihm behandelten Materie noch ganz im Argen, 
als sei sie noch mit Vorstellungen erfüllt, würdig einer Zeit der 
kirchlichen Wissenschaft, als könne sie >gar nicht schwärzer ge- 
macht oder für schwärzer gehalten werden«, als sie in Wirklichkeit 
sei. Gelegentlich wird dann dieser rückständigen Prozeßtheorie die 
neuere Wissenschaft gegenüber gehalten, welche, von der Entdeckung 
des einheitlichen Prozeßrechtsverhältnisses datierend, sich von allen 
jenen Unarten zu befreien eifrig bemüht sei. 

Nun ist zwar unsere Prozeßtheorie, wie überhaupt alle Wissen- 
schaft, des Fortschritts und der Weiterentwickelung gewiß durchaus 
fähig und bedürftig. Ebenso gewiß aber ist es, daß die Unterschätzung 
ihrer bisherigen Leistungen zum guten Teile auf ihrer Ignorierung be- 
ruht. Schon vor einem halben Jahrhundert war sie im gemeinen 
Prozeßrechte, obgleich naturgemäß auch damals nicht frei von Mängeln, 
doch zu einem ziemlich hohen Grade der Durchbildung gelangt, und 
das System von Wetzell steht hinter irgend einem der neueren Prozeß- 
lehrbiicher und -handbücher kaum zurück. Sicher ist, daß, wie in 
allen übrigen Fächern, so auch in unserer Disziplin der Fortschritt 
sich nicht durch eine mit aller Tradition brechende, völlige Ver- 
lassung der bisher gewandelten Bahnen vollziehen wird, sondern im 
Anschluß an die bisherigen Errungenschaften, im Wege steter Ent- 
wickelung und Vertiefung der durch langjähriges Zusammenarbeiten 
vieler Kräfte mühsam gewonnenen Erkenntnis. 

Dafür liefert das vorliegende Werk einen deutlichen Beweis. 
Die Gedanken, welche zu einer völligen Reform des Geständnis- 
rechtes führen sollen, sind, wie aus den obigen Ausführungen her- 
vorgehen dürfte, zum guten Teile irreführend. Soweit sie aber 
einen richtigen Kern enthalten, gehören sie schon seit langer Zeit 
zu den allgemein anerkannten Wahrheiten, die man als den »eisernen 
Bestand« unserer Wissenschaft bezeichnen kann. 

Der Verfasser ist der Ansicht (S. 46 Anmerkung), bis zur Mono- 
graphie von Demelius habe die Geständnislehre seit Bethmann- 
Hollweg keinen erheblichen Forschritt gemacht, und später ebenfalls 
nicht. Wenn nun auch dieses ungünstige Urteil unzutreffend oder 
zum Mindesten übertrieben ist, so kann doch gegen seine Anwen- 
dung auf das hier besprochene Buch nichts eingewendet werden. 


Straßburg i. Elsaß, im November 1900. W. Kisch. 





Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 3. 17 


242 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


Riezler, S., Geschichte Baierns. Vierter Band (von 1508 bis 1597). Gotha, 
1899, Fr. A. Perthes. XXII 681 S. Ladenpreis 15 Mk. 


Die Haltung Baierns in der Reformationszeit ist in älterer Zeit 
mehrfach behandelt worden‘). Aber seit Erneuerung der kriti- 
schen Geschichtsforschung hat man sich in Baiern mit Quellen- 
publikationen und Darstellungen vorzüglich um den Zeitraum »des 
vorwaltenden Einflusses der Wittelsbacher in Deutschland« (1550— 
1650) bemüht. Die Erforschung der ersten Hälfte des XVI. Jahrh. 
ist darüber zu kurz gekommen. Auch die Geschichtsschreiber der 
deutschen Reformation wandten sich weniger Baiern als vielmehr 
denjenigen Stellen zu, an denen sie die treibenden Kräfte der Re- 
formation kennen zu lernen hofften oder den entscheidenden Wider- 
stand. Die bairische Geschichte der Reformationszeit wurde eben 
nicht ganz mit Unrecht in erster Linie als Einleitung zur Gegen- 
reformation betrachtet und entsprechend summarisch behandelt. 

Nun ist der Geschichtsschreiber Baierns bis in das XVI. Jahrh. 
gekommen ; ihm ist die Geschichte auch dieser Zeiten Selbstzweck, 
und so widmet er der bairischen Reformationszeit zum ersten Male 
eine gleichmäßige, tiefergreifende urkundliche Darstellung unter 
glücklicher Verwertung der inzwischen bei uns so weit geförderten 
Kenntnis der allgemeinen Reformationsgeschichte. Aber seine Dar- 
stellung steht zugleich in dem größeren Zusammenhange der ganzen 
bairischen Geschichte; so wird die Haltung Baierns in der Refor- 
mationszeit von ihm vor einem doppelt bedeutenden Hintergrunde 
dargestellt. 

Es erregt gleich anfangs das lebhafteste Interesse des Lesers 


1) An der Spitze steht das tolerante Buch des katholischen Priesters V. A. 
Winter, Schicksale der evangel. Lehre in Baiern 1809. Aktenmäßig und meist 
sorgfältig gearbeitet sind dann die Beiträge des Archivars S. A. Stumpf, Lands- 
berger Bund (1804), Politische Geschichte (1816) und Gesch. des Heidelberger 
Bundes (in der Zeitschrift für Baiern 1817). Die beste Zusammenfassung gab 
1842 Aretin in der Einleitung zu seiner Geschichte des Herzogs und Churfürsten 
Maximilian. Gleichzeitig erschien, in gewissem Sinne ergäuzend, die reichlich 
temperamentvolle Darstellung Sugenheims von den kirchlichen und Volkszuständen. 

Später erfolgten nur begrenzte Aktenausgaben und Monographien von Muffat 
in den Quellen u. Erört. IV, den Ahhbandlungen (X, 1) und den Sitzungsber. der 
Münchener Akademie (1861, III); von Vogt über Baierns Stimmung (1876) und 
Politik im Bauernkriege (1883), v. Druffel, Beiträge zur Reichsyeschichte 1546— 
1555, I-IV (1878—96) und die bayr. Pol. zu Beginn der Ref.-Zeit (1886), Lenz, 
Briefwechsel Phil. v. Hessen mit Bucer J. III. (1880—91), Riezler, Abb. und 
Sitzungsberichte der Akad. (1891—95). 


Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 243 


die Frage, warum denn gerade in Baiern die Reformation nicht Wur- 
zel gefaßt habe; wie die unendlich bedeutungsvolle Erhaltung des 
Katholizismus in Baiern zu erklären sei. Lenkte doch »der Wider- 
stand gegen die Reformation Baierns Kultur in Bahnen, auf denen 
man sich mehr mit Romanen, als mit den Volksgenossen begegnet. 
Wohl lagen schon in der älteren Entwicklung Ansätze zu einer Son- 
derstellung Baierns im Reiche, entschieden aber ward über diese in 
Politik wie Kultur erst durch die Regierung Wilhelms IV.« (S. 249). 

Geschichtsschreiber und Akten lehren, daß wenigstens zeitweilig 
eine starke Neigung des Volkes, auch wirtschaftliche und politische 
Erwägungen der Regierenden , ja vorübergehend sogar der Drang 
der Not zusammen zu wirken schienen, um auch Baiern der Refor- 
mation zuzuführen und damit die einzige wirkliche Stütze des Ka- 
tholizismus unter den Reichsständen zu vernichten. Riezler hat diese 
Eindrücke nicht abgeschwacht; er läßt die ganze Schwierigkeit des 
Problems hervortreten; aber er führt zugleich mit sicherer Hand 
durch das verwirrende Spiel der bairischen Politik der Reformations- 
zeit, sorgfältig vorbereitend auf die entscheidende Wendung zur 
Gegenreformation; auch von dieser lernen wir die Anfänge noch 
kennen. 

Die Darstellung ist schmucklos und bemerkenswerte Begeben- 
heiten werden oft unvermittelt, chronikartig, zu ihrer Zeit gebucht; 
aber in der Hauptsache vermißt man selten die feste Führung. 

Die Dinge, mit denen die Erzählung beginnt, stellen die Ver- 
bindung her mit der Geschichte des XV. Jahrhunderts. Weise ist 
von einer allgemeinen Einleitung in die Reformationszeit Abstand 
genommen, wir behalten die bairischen Verhältnisse ununterbrochen 
im Auge und glauben sie aus ihnen selbst im wesentlichen zu ver- 
stehen. Freilich sind »die inneren Zustände in Staat, Kirche und 
Gesellschaft, — Litteratur und Kunst« wegen Raummangels in einen 
neuen Band verwiesen; allein was davon zum Verständnis der Politik 
vonnöten ist, wird schon hier ohne Kargheit erörtert. Mit unver- 
kennbarem Interesse wird einmal von den Ideen des Hans Denck 
sogar recht ausführlich gehandelt (176—183). 

Wir finden den bairischen Herzog Wilhelm im Kampfe mit der 
Landschaft. Seine selbständige Regierung (seit 13. Nov. 1511) suchte 
sich zu stützen auf das Primogeniturgesetz Albrechts IV. Doch trat 
die Landschaft für die Brüder ein und, obwohl Kaiser Maximilian es 
auch hier, wie gleichzeitig in Hessen, mit gegen die »Untertanen< hielt, 
mußte Wilhelm sich fügen und im brüderlichen Vertrage vom 20. Nov. 
1514 wenigstens Ludwig als Mitregenten annehmen; den jüngern 
Ernst dachte man mit einem geistlichen Fürstentum abzufinden. Die 

17 * 


244 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


Landschaft gewann um so leichter die Oberhand, als Wilhelm zu- 
gleich unklug und liederlich auftrat, während sich die Landschaft 
einer starken und bedeutenden Führung erfreute durch den Ritter 
und Doctor Dietrich von Plieningen. Der schon als Humanist be- 
kannte Edelmann entwickelte gegen den Fürsten sein modernes 
Staatsrecht: Der Fürst ist seines Landes Administrator, die Unter- 
thanen wachen über ihrem >jus naturale und jus gentium<; gegen 
ungerechte, stolze Fürsten ist ihnen die »Defensio von Natur ge- 
stattet< (21). Sehr eindringlich rief er dem Fürsten ein »yvadı 
osavrov< zu (S. 20). 

Wie in Sachsen und Hessen entsprach der Macht und dem 
Selbstbewußtsein der Gesamt-Stände nicht die Sicherheit des einzel- 
nen. In Baiern waren es die Räte Neuhäuser und Hieronymus Stauf, 
die der fürstlichen Rache zu Opfer fielen; Stauf wurde gefoltert und 
gerichtet. 

Bald danach kamen die ersten Verwickelungen in der äußern Po- 
litik. Die Heirat Wilhelms mit Jakobaea von Baden, 5. Okt. 1522, 
hatte höchstens später für Baden, nicht für Baiern Bedeutung. Eine 
wichtigere Verbindung, etwa mit Anna von Böhmen, Eleonore von 
Burgund, mit Schottland oder England war nicht zustande gekom- 
men. Dagegen verwickelte den jungen Herzog die unglückliche Ehe 
seiner Schwester Sabine mit Ulrich von Wirtemberg zuerst in fol- 
genschwere Händel. Der Nachbar war längst im Lande verhaßt; 
1519 machte der schwäbische Bund unter Führung des 26jährigen 
Baiernherzogs der Herrschaft Ulrichs ein Ende. Ein Triumph der 
bairischen Macht. Die unterworfenen Städte erhielten Schutzbriefe 
mit dem quadrierten Wappen Baierns und des Bundes. Ein Versuch 
Ulrichs zurückzukehren wurde gleichfalls siegreich abgeschlagen. 
Der Baier hatte sich überraschend gut gehalten und stattliches ge- 
leistet; gleichwohl ging er leer aus. Die Zahlung der gewaltigen 
Kriegskosten von 220,000 fl., die auf dem Besitz Wirtembergs laste- 
ten, traute man niemand als den reichen Habsburgern zu; ihnen gab 
der Bund 1520 das Land in Verwaltung. 

In Baiern war die famose Schlichtung des pfälzischen Erbstreites 
durch Maximilian noch in frischer Erinnerung; jetzt sah man die 
Enkel ähnlich handeln; und so wurde die Umklammerung durch die 
maßlos gesteigerte habsburgische Macht Baierns erste Sorge. 

Die religiöse Frage fügte nicht sogleich eine zweite hinzu. Spä- 
ter ist viel lutherische Gesinnung nach Baiern hineingetragen und 
in Baiern beherzigt worden; einzelne Baiern gehörten im Auslande 
bald zu den Führern der Bewegung: Agricola, Sailer, Landsberger, 
Kaspar Güttel; auch Denck und Hubmaier sind zu nennen. Aber um 


Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 245 


1520 ist von einer tieferen religiösen Gährung in Baiern nicht viel 
zu spüren. 

Gleichwohl war das Entscheidende für die dauernde Fernhaltung 
der Reformation doch die Thatsache, daß auch die Herzöge und 
ihre maßgebenden Räte ganz und gar nicht von der Reformation 
berührt worden sind. Wilhelm teilte die Vorwürfe gegen das geist- 
liche Regiment; aber von Luther hielten ihn fern dessen Lehre von 
der Kirche, vom freien Willen und vom Glauben, nicht zum wenig- 
sten auch die Furcht vor der politischen Revolution. Die bairische 
Regierung, so wenig habsburgisch, schloß sich doch von vornherein 
gegen die Ketzer, lebhafter als selbst die Bischöfe, dem jungen Kai- 
ser an. Von Baiern gingen die ersten Mahnungen aus zur Vernich- 
tung der neuen Lehre mit dem Schwerte. Im Gegensatz zum übri- 
gen Reich geschah in Baiern ohne weiteres die Publikation des 
Wormser Edikts und ein Jahr darauf, 5. März 1522, folgte das erste 
sogenannte Religionsmandat. Man hat öfter angedeutet, daß Baierns 
Haltung durch Hoffnungen auf Vorteile in Rom bestimmt worden 
sei; allerdings erlangte Johann Eck 1523 Türkensteuer, Praesenta- 
tion und Collation in den päpstlichen Monaten, — wie Riezler her- 
vorhebt, ein Geringes gegenüber den evangelischen Saekularisationen !). 

»Religiöse Antriebe< waren jedenfalls bei den Herzögen mit 
wirksam. Politische Motive gaben den Ausschlag bei Wilhelms all- 
mächtigem Rate?) Leonhard von Eck. Er war bei sich überzeugt, 
daß »die lutherische Sekt und Biiberei< zur Verachtung und Vertil- 
gung aller Oberkeiten führe (Denkschrift vom 15. Mai 1523). Man 
suchte Fühlung mit Oesterreich und Salzburg gegen die Untertanen 
und zugleich zur vorbeugenden »Reformation, wie es die Priester 
halten sollen«e (1524). Schon 1522 war zu Mühldorf eine erste 
Synode abgehalten, der noch mehrere folgen sollten. Eine »Abrede< 
ward 1523 mit Erzherzog Ferdinand getroffen; der Einladung Fer- 
dinands und des Nuntius Campeggi zum Regensburger Convent 
(24. Juni 1524) folgten auch die bairischen Herzöge. Ein zweites 
Religionsmandat wurde erlassen (2. Okt.), Verfolgungen lutherisch 
Gesinnter begannen; zahlreiche Baiern >»oft die geistig regsamsten« 
(S. 113) verließen das Land. 

1) »Konservative Scheu und kirchliche Gesinnung hielten die Herzöge davon 
zurück, ihre Lande und Güter auf Kosten der reichen Bistümer und Klöster ab- 
zurunden und auszudehnen« (S. 94). Dagegen hatte Stieve schon 1892 (und neu 
in den Abhandlungen 8. 43) eingewandt, daß damals noch niemand Saekularisa- 
tionen gewagt habe. 

2) »Ein weitverbreiteter Irrtum nennt ihn Wilhelms Kanzler. Er hat dieses 


Amt nie bekleidet« (S. 423). Aber Riezler selbst muß dem Herkommen Tribut 
entrichten; er nennt Eck mehrmals (S. 154 und S. 156) »Kanzler«. 


246 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


Die Herzöge und Eck fühlten sich nur bestärkt in ihrer Politik 
durch die Bauernerhebung, die rings um Baiern ein so bedrohliches 
Ansehn gewann. Denn nur eine Ausnahme war jener Pfalzgraf 
Friedrich in Amberg, der die soziale Lage der Bauern »des Ge- 
wissens halber« verbesserte. Aber warum erlebte Baiern selbst kei- 
nen Bauernkrieg? Zum Teil wegen Fernhaltung aller Praedikanten 
und Demagogen ; dann wegen der großen Strenge der Regierung 
gleich zu Anfang und wegen der umfassenden Rüstungen Ecks, der 
in seiner harten Beamtennatur durch Widerstand von unten am 
stärksten getroffen wurde. Ansehen und Macht des Fürstentums im 
eigenen Lande betrachtete er dauernd als das höchste Gut auf Er- 
den, — wesentlich als Mittel zum Zweck diente ihm die Erhaltung 
der alten Religion, erst an dritter Stelle stand ihm der an sich wich- 
tige Widerstand gegen den Kaiser und die Habsburger. Eck war 
gegen die Bauern ganz unerbittlich; er vertrat den extreinsten 
Autoritätsstandpunkt. Ja sogar, als sich die Gelegenheit bot, die 
freundlichen Nachbarn Oesterreich und Salzburg in ernstliche Ver- 
legenheit zu bringen, als die Salzburger Bauern, von ihrem schön- 
geistigen und vielgewandten aber herzlosen Kardinal Lang mil- 
handelt, an bairische Herrschaft dachten, war es Eck, der gegen 
seinen Herzog den glänzenden Landerwerb von der Hand wies und 
das Prinzip der Legitimität hochhielt. Auch als Matthaeus Lang 
durch sein brutales Auftreten 1526 einen zweiten schlimmeren Auf- 
stand entfachte — berühmt durch die an Jürg Jenatsch erinnernde 
Figur des Michael Gaismayr —, half ihm nochmals der von Eck re- 
gierte schwäbische Bund aus der Not. Rücksichtslos wollte Eck die 
Bewegung niedergeschlagen wissen. »An dem Scheitern [der ganzen 
Bewegung] tragen die Herzlosigkeit der Machthaber und die rohen 
Triebe der Masse gemeinsam Schuld< (S. 167). 

In Sachen der Protestantenverfolgung war die bairische Regie- 
rung erheblich milder. Es lassen sich aus der Reformationszeit doch 
nur drei Hinrichtungen nachweisen: die eines Bäckergesellen, die 
berühmtere des Leonhard Käser (den die Sehnsucht nach dem alten 
Vater noch einmal in die Heimat zurückgeführt hatte) und die des 
Messerschmieds Ambrosi. Sonst begnügte man sich mit Belästigun- 
gen, wie man den Geschichtsschreiber Aventin, der in der That >mit 
der alten Kirche innerlich vollständig gebrochen< hatte, eine zeitlang 
gefangen setzte. Es ist zu betonen, daß Eck, der als ein hochge- 
bildeter Mann gerühmt wird (Charakteristik S. 420—29), seinen Sohn 
Oswald durch Aventin erziehen ließ. Der Sohn ist denn auch Prote- 
stant geworden, wie derjenige Dietrichs von Plieningen (S. 429). 

Bekanntlich tobte sich die im Bauernkrieg erregte Grausamkeit 


Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 247 


der Machthaber allerorten in der entsetzlichsten Weise aus gegen die 
»Sakramentierer und Wiedertäufer«e. Man geht kaum fehl, die Schärfe 
der Verfolgung, auch in Baiern, auf Rechnung der sozialen Befürch- 
tungen zu setzen. Hans Denck, der gelehrte Schwärmer, und Bal- 
thasar Hubmaier, einst Priester der »Schönen Marie zu Regensburg« 
hatten starken Eindruck gemacht und, wie die umfassenden Verfol- 
gungen lehren, ihre Lehren weit verbreitet. Die Regierungen ver- 
fuhren äußerst rigoros. Hartnackige Sünder wurden lebendig ver- 
brannt, reumütige geköpft, Weiber ertränkt. In Tirol wurden etwa 
1000 Personen gerichtet, ähnlich ging es in Baiern. Um die Mitte 
der zwanziger Jahre befand man sich in allen diesen Dingen im 
Einklang mit den Habsburgern. 

Das änderte sich rasch. Die gemeinsame Gefahr von unten war 
beseitigt und an den großen Protestantenkrieg war ohne die be- 
deutendsten Anstrengungen schon nicht mehr zu denken. Dagegen 
ließ Erzherzog Ferdinand, wie man meinte, keine Gelegenheit unge- 
nutzt, die Baiern zu verletzen und zu übervorteilen. Im Bauernkrieg 
hatte er sich in dem bischöflich augsburgischen Füssen huldigen las- 
sen. Nun trat er Baiern als gefährlichster Konkurrent entgegen bei 
der Königswahl in Böhmen und bald nachher im Reiche. 

Ueber diese Dinge ist, auch neuerdings, öfters gehandelt wor- 
den. Riezler teilt die Meinung, daß in Böhmen bei der Wahl am 
23. Okt. 1526 nicht religiöse Rücksichten den Ausschlag gegeben 
haben, sondern, wie in Wirtemberg, der größere Kredit des Hauses 
Habsburg; mochte der bairische >Saffranzetl< auch noch so stattlich 
gewesen sein. Baiern empfand nicht nur die Kränkung, sondern 
auch die Gefahr der immer engern Umschließung durch die Habs- 
burger. Es war die Zeit, da Karl V. den Papst in Rom belagern 
ließ, und, >da man in Rom wie in München Luther und Habsburg 
zugleich bekämpfte, entsprang hieraus eine so enge Verbindung der 
Baiernfürsten mit der Kurie, wie sie im Verlauf der bairischen Ge- 
schichte noch nie bestanden hatte« (S. 198). Der geschäftige Bona- 
corsi handelte in Rom um Eichstädt oder Salzburg für Herzog Ernst, 
und der Papst ließ fallen, für Baierns Verdienste sei kein Preis zu 
hoch; man deutete auf die Königskrone. Auch als Papst und Kaiser 
ausgesöhnt waren und der gekrönte Kaiser ins Reich zurückkehrte, 
setzte Baiern seine Bemühungen fort. Die Herzöge bewirteten den 
Kaiser in München und ließen vor aller Welt den Reichtum ihres 
Hauses wirken. Manöver, Jagden, lebende Bilder und Festessen 
folgten sich; ein großes Mahl war mit dem zweiunddreißigsten Gange 
erst halb erledigt, als der Kaiser »nicht mehr konnte< und die Tafel 
aufhob. Die Habsburger täuschten sich nicht über die Gesinnung, 


248 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


die sich hinter dem gleißenden Prunk verbarg. Der Kaiser soll dem 
Herzog Wilhelm Vorstellungen gemacht, der Herzog auf seines Haus 
ältere und höhere Würden hingewiesen haben. — 

Die Wahl Ferdinands zum römischen Könige (5. Jan. 1531) be- 
gleitete ein Protest der protestantischen Fürsten und die Weigerung 
Baierns, den gegen die goldene Bulle gewählten König anzuerkennen. 
Man geriet in immer schärferen Gegensatz zu Habsburg. Ein hessi- 
scher Gesandter, Rudolf Schenck, praktizierte in Baiern, Eck erschien 
in Gießen. Am 24. Oktober 1531 wurde das Bündnis von Saalfeld 
abgeschlossen, — Schlag auf Schlag folgten sich die Abmachungen: 
am 26. Mai 1532 der Vertrag von Scheiern zwischen Baiern, Hes- 
sen, Sachsen und Frankreich; im Februar 1533 trieb Baiern in Ko- 
burg zum Kriege; im April trafen sich die Fürsten von Baiern, Sach- 
sen und Hessen zu Nürnberg; mit Johann Zapolya von Siebenbürgen 
trat auch Baiern in lebhafte Verhandlungen und nur eine unüber- 
windliche Gewissensregung scheint trotz starker Versuchung die An- 
knüpfung mit den Türken gegen König Ferdinand verhindert zu 
haben. Glaubt man, daß in dieser Konstellation für Baiern ein 
neuer Anlaß zu konfessioneller Annäherung an die Protestanten ge- 
legen habe, so erinnere man sich der gleichen traditionellen Politik 
Frankreichs. Anderseits hat Eck jedes reichsrechtliche Zugeständnis 
an die Protestanten (zunächst zu Nürnberg, 23. Juni 1532) nicht so 
sehr aus katholischem Eifer bestritten, als in der Sorge, »die Prote- 
stantengefahr könne für den Kaiser einmal aufhéren<. Eck selbst 
meinte, er gelte wohl bei den Habsburgern als der »böseste aller 
lebenden Menschen< (255). 

Mit Worten hielten sich die Baiern immer wieder gut kaiser- 
lich. Der Gesandte Gotschalk Erikson berichtete aus München, die 
Herzöge verehrten kaiserliche Majestät >wie ihren Gott«. Aber in 
der That wühlte Eck mit allen Mitteln gegen sie. Das wirksamste 
Werkzeug der Habsburger in Oberdeutschland war so lange der 
schwäbische Bund gewesen; nun lief dieser Bund ab (2. Febr. 1534), 
und Eck hütete sich wohl, ihn zu erneuern. Die konfessionell ge- 
mischten südwestdeutschen Sonderbünde (Nov. 1532. Mai 1534. etc.) 
treten an die Stelle und bleiben charakteristisch bis zum Ende des 
Heidelberger Bundes im Jahre 1556. 

Die doppelte Front verurteilte Baiern trotz aller Praktiken zur 
Thatenlosigkeit ; aber die dadurch bedingte Neutralität war jetzt und 
später von der größesten Bedeutung; sie verhinderte immer wieder 
das entscheidende Uebergewicht eines der beiden welthistorischen 
Gegner im Reich und an der größten Krisis unserer Geschichte hat 
Baiern seinen Anteil als retardierende Macht. 


Riezler , Geschichte Baierns. Vierter Band. 249 


Jenes antihabsburgische Biindnis wollte in Wirtemberg ansetzen. 
Baiern rechnete auf Schwächung der habsburgischen Macht, auf gute 
Nachbarschaft mit dem befreundeten Christoph, der an Stelle des 
Vaters ins Fiirstentum kommen sollte. Die Protestanten dagegen 
wünschten Zurückführung des reformatorisch gesinnten Ulrich; sie 
gewannen dafiir auch Frankreich (Bar le duc, 1534), und da der 
Krieg ihnen Recht gab, hatten die Baiern das Nachsehen. Nun er- 
schien plötzlich die habsburgische Gefahr als die geringere, die Nach- 
barschaft des Protestantismus als neue Sorge. Man lenkte, da alle 
sich zunächst vertrugen, den Blick zurück zu König Ferdinand. Im 
Vertrag von Linz (11. Sept. 1534) anerkannte Baiern den römischen 
König gegen ein Heiratsversprechen für Wilhelms ältesten Sohn Al- 
brecht (S. 274). | 

Damit war die Wendung angedeutet, die bald die bairische Po- 
litik für längere Dauer nehmen sollte: dynastischer Anschluß an die 
Habsburger mit katholischer Tendenz. Für den Augenblick war man 
noch stark in den alten Bahnen, aber es ist doch bemerkenswert, 
daß sich Baiern schon am 30. Januar 1535 wieder auf einen kaiser- 
lich neunjährigen Bund einließ. Gleichzeitig freilich suchte man den 
Kaiser in den Protestantenkrieg hineinzutreiben, wie Vergerio rich- 
tig bemerkte ; und während Herzog Ludwig im Gefolge des Kaisers 
mit gegen Frankreich zog, pflog du Bellay als französischer Gesandter 
freundschaftliche Verhandlungen in Baiern (1536). Ja, man begab 
sich mit Habsburg in die christliche Einung, die zu Nürnberg, 
10. Juni 1538 unterzeichnet wurde, rüstete, befestigte Ingolstadt 
und warb beim Kaiser durch Bonacorsi, durch Stockhammer beim 
Papste für den Protestantenkrieg. Aber um dieselbe Zeit handelte 
man mit der Republik Venedig gegen die Habsburger, von denen 
man an Land und Ehren gekränkt sei; den Venetianern wollten die 
Baiern bei dieser Gelegenheit weißmachen, daß >»ihre Familie seit 
1200 Jahren in Baiern herrsche und 22 Kaiser und Könige unter 
ihren Ahnen zähle« (S. 300). Ununterbrochen wurde außerdem die 
Fühlung mit den Protestanten, vor allem mit Hessen erhalten. Eine 
zeitlang wurden, wohl mit Rücksicht auf die persönlichen Neigungen, 
die Rollen so verteilt, daß die Herzöge mit ihren Theologen sich 
scharf katholisch hielten (Johann Ecks Gegensatz zu Contarini ist 
denkwürdig), während Leonhard v. Eck an seinen protestantischen 
Fürstenbünden schaffte. So hielt es Baiern zugleich mit der Kurie, 
mit dem Kaiser und mit den Protestanten; niemand hielt die Baiern 
für zuverlässig ; aber niemand glaubte sie auch übersehen zu dürfen. 

Zu Anfang der vierziger Jahre schienen sich einmal alle Gegen- 
sätze zu mildern. Philipp von Hessen ließ sich vom Kaiser die 


250 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


Hände binden, Herzog Wilhelm söhnte sich aus mit Ulrich von 
Wirtemberg (9. Okt. 1541 zu Lauingen); da Zapolya 1540 gestorben 
war, trat auch Baiern für die Türkenhilfe ein; auch Baiern schaute 
ruhig zu, als 1542 Herzog Heinrich von Braunschweig zum ersten 
Male vertrieben wurde. Dann aber erfolgte eine neue folgenschwere 
Erregung der bairischen Katholizität durch die Aussicht auf die 
pfälzische Kur. 

Im März 1544 starb Kurfürst Ludwig von der Pfalz. Sein Erbe 
Pfalzgraf Friedrich war kinderlos; er und sein Neffe Ottheinrich 
hatten außerdem offenkundig protestantische Neigungen. Ottheinrich 
hatte sein Fürstentum Neuburg an der Donau schon 1542 refor- 
miert; der neue Kurfürst nahm 1545 das Abendmal unter beiderlei 
Gestalt. Konnte man Neuburg nicht wegen seiner Verschuldung er- 
kaufen, so konnte man es vielleicht wegen seines Glaubens erstreiten. 
Der Kaiser rüstete eben endlich zum Protestantenkrieg. 

Baierns Teilnahme am Kriege zu gewinnen, bemühte sich der 
Kaiser schon in den Tagen, da er zuerst die Hand ans Schwert 
legte. Vom Wormser Reichstag 1545 wurde Viglius van Zwichem 
nach Baiern gesandt, im Oktober desselben Jahres folgte der Kardi- 
nal Otto Truchsess. Baierns Forderung für den Anschluß an die 
kaiserliche Politik war gleich von vornherein die Verwirklichung der 
Linzer Abrede von 1534, die Eröffnung dynastischer Aussichten 
durch die Familienverbindung wenigstens mit dem Hause König Fer- 
dinands. Daneben tauchen verschiedene Möglichkeiten des Erwerbs 
von Neuburg und der pfälzischen Kur auf; bald durch gütliche 
Uebereinkunft, wozu Hessen helfen soll, bald durch Aussicht auf Ver- 
urteilung der Pfälzer und Belohnung der Baiern. Es fragt sich, wie 
weit sich Baiern verpflichten ließ. Vollkommen klar sehen wir nicht 
in die Verhandlungen; wir wissen nur, daß sie sich lange hinzogen, 
daß Eck noch bei den Besprechungen in Regensburg vom 5. bis zum 
10. Mai 1546 sehr schwierig war, daß erst am 7. Juni das Bündnis 
vereinbart wurde, von dem es bezeichnender Weise keine oflizielle 
Beurkundung gibt. Wir können vermuten, daß die bairische Regie- 
rung den Erfolg der kaiserlichen Waffen mit Mißtrauen erwartete, 
daß sie aber auch für den Fall des Mißerfolges gegenüber dem Geg- 
ner nicht blos gestellt sein wollte. Nur so erklärt sich der über die 
Wechselfälle des Krieges hinaus fortgesetzte Verkehr mit Hessen, 
die äußerste Zurückhaltung gegen den Kaiser nach dessen Erfolgen 
und der rasche Anschluß an die protestantischen Fürsten zu Beginn 
der fünfziger Jahre. Immerhin hielt sich Baiern (im Gegensatz zu 
dem Verhalten in den ersten Jahren der Reformationszeit) stets in 
freundschaftlichen Beziehungen zu König Ferdinand, teils infolge der 


Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 251 


Familienverbindung, teils in gemeinsamem Gegensatz gegen den 
übermächtigen und gewaltthätigen Kaiser. 

Welche Bedeutung die bairische Neutralität im schmalkaldischen 
Kriege gehabt hat, welche Rolle sie bei dem überaus wichtigen 
Kampf um Ingolstadt gespielt hat, ist hinlänglich bekannt, und mit 
Unrerht hat Karl V. sie in seinen Kommentarien verkleinert. Aber 
um den Preis ist das übervorsichtige Baiern nachher gleichwohl be- 
trogen worden. Der Kaiser hatte jedenfalls das richtige Gefühl, daß 
Baiern weniger seine Partei, als die im eigensten Interesse gebotene 
Politik gewählt habe. Nur die Hochzeit war bereits vor dem Kriege 
gefeiert worden, zu Regensburg am 4. Juli 1546. In dem Ehevertrag 
hieß es, daß Baiern bei Abgang der männlichen Erben der Habs- 
burger ein Erbrecht besitzen solle; allein König Ferdinand hat 
schon in seinem Codicill vom 4. Februar 1547 willkürlich die »männ- 
lichen Erben« durch die »Leibeserben< ersetzt und damit in den 
Konflikt von 1740 entscheidend eingegriffen; in Baiern hatte man 
freilich eine Abschrift unbekannter Herkunft, in der es richtig hieß 
männliche Leibeserbene.. — Auch Neuburg wurde, obwohl die 
Baiern eben noch vor Ingolstadt ihre Neutralität zu gunsten des 
Kaisers verletzt hatten, nach der Einnahme nicht den Baiern, son- 
dern einem kaiserlichen Statthalter übergeben. Gegen alles Erwar- 
ten wurde Kurpfalz trotz seiner freundschaftlichen Haltung gegen 
die Schmalkaldischen schon im Dezember 1546 in Gnaden wieder 
aufgenommen und selbst Wirtemberg ohne jeden Gewinn für Baiern 
restituiert. 

So verhielt sich Baiern nicht nur gegen die kaiserliche Bundes- 
politik 1547 und 1548 (nochmals 1552 und 1553) ablehnend, sondern 
auch der religiösen Vermittlungspolitik des Interims gegenüber. 
Die einen wollten nichts mit dem Kaiser thun, die andern schalten 
das Werk unkirchlich. Nicht ohne antikaiserliche Stimmung schloß 
man sich aufs neue enger an die Kurie an. Man verhandelte auch 
auf Zugeständnisse in Sachen des Kirchenregiments; wenn man da- 
bei die Auslagen im Dienste der Kirche seit 1521 auf 2,300000 fl. 
veranschlagte, so übertrieb man stark, doch hat man sich fort und 
fort ernstliche Mühe gegeben mit Synoden, Visitationen und Besserung 
des Klerus. Die Visitation von 1541 hatte ein unerfreuliches Bild ge- 
liefert. Mochten sich auch viele Bischöfe, Klöster und einzelne Pfar- 
rer als untadelhaft erwiesen haben, in gar zu vielen Fällen glänz- 
ten die Pfarrherren durch Absenz, die Pfarrverweser mehr durch 
Begabung und Sorge für ihren leiblichen, als für ihren geistigen 
Nachwuchs. Man wünschte gründlich zu bessern und berief die Je- 
suiten. Im Jahre 1544 hatte sich zuerst der Jesuit Le Jay an der 


252 Gott. gel, Anz. 1901. Nr. 8. 


Salzburger Synode beteiligt, 1546 war er wieder anwesend, und ob- 
wohl er sich echt klerikal lebhaft gegen den Anteil der »Räte« am 
Kirchenregiment erklärte, ward er doch mit seinen Genossen, dem 
Spanier Alfons Salmeron und dem Niederländer Petrus Canisius, 1549 
durch den Herzog an die Universität Ingolstadt berufen. Mit un- 
verhohlener Bewunderung sah man die Erneuerung der Zucht und 
der Religiosität, die von diesen Männern ausging. 

Als Herzog Wilhelm in der Nacht des 6/7. März und Leonhard 
v. Eck am 17. desselben Monats aus dem Leben schieden, gab es 
in Baiern schon alle Ansätze zur Gegenreformation. Nur die ge- 
ringe Meinung, die man im Grunde von den reichspolitischen Ge- 
fahren des Protestantismus hatte, die Befürchtungen vor der er- 
drückenden Macht des Kaisers hielten die Baiern noch so lange 
scheinbar in anderen Bahnen. — 

Denn auch die Anfänge der Regierung Albrechts V. stehen noch 
unter dem Zeichen der antikaiserlichen Fürstenpolitik, der sich jetzt 
sogar König Ferdinand zuneigte. Der habsburgische Familienzwist 
wegen der Nachfolge im Kaisertum, wegen der englischen Heirat 
und anderer Dinge, die Türkennot Ferdinands und seine alte Ver- 
bindung mit Moritz von Sachsen, eben wegen der Türken, die Fa- 
milienverbindung Albrechts V. mit dem Wiener Hofe, sowie seine 
vetterliche Freundschaft mit dem inzwischen auch zum Herzogtum 
gelangten Christoph von Wirtemberg —, eine Fülle von Gründen 
für die auf den ersten Blick überraschende politische Gruppierung 
der ersten fünfziger Jahre. Es kam hinzu, daß auch Albrecht V., 
ein weicher genuffroher und empfänglicher Mensch, sich gleich bei 
der ersten Zusammenkunft mit Moritz von Sachsen, zu Fürstenfeld 
am 6. April 1552, von dem überlegenen Kurfürsten aufs stärkste 
imponieren ließ. Sein Anteil an Linz (18. April) und Passau 
(Mai und Juli) schmeichelte seiner Jugend, und da er keinen Rat 
zur Seite hatte von der scharfsinnigen Entschiedenheit Ecks, so ließ 
er auch prinzipielle Forderungen konfessioneller Art passieren, da 
sie ja gegen den Kaiser gerichtet waren. So kam unter Beteili- 
gung der führenden katholischen Fürsten die Fassung der Passauer 
Abrede zustande, die dem Augsburger Religionsfrieden so erheb- 
lich vorgearbeitet hat. — 

Die Konstellation von 1552 hielt sich bis zum Augsburger 
Reichstage von 1555. Im Heidelberger Bunde zwischen Mainz, 
Trier, Pfalz, Jülich, Baiern, Wirtemberg (seit 1554 unter Beteiligung 
des römischen Königs) wirkten Freundschaft, Verwandtschaft, Nach- 
barschaft und Gegensatz gegen den Kaiser zusammen, — während 
die äußere Veranlassung in dem Vorgehen des Markgrafen Albrecht 


Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 258 


Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach vornehmlich gegen die frän- 
kischen Bischöfe lag’). Aber nur solange man diesen Mordbrenner 
für ein Werkzeug des Kaisers hielt, war man einig gegen ihn; so- 
bald der Kaiser deutliche Aufklärungen gab, und die Koalition gegen 
den Markgrafen mächtiger wurde, griff bei einigen Bundesfürsten auch 
schon die Befürchtung Platz, die Niederwerfung des Markgrafen 
könne der Anfang einer katholischen Restauration sein, und da gleich- 
zeitig der Kaiser sich vom Reich zurückzog, der Gegensatz zu ihm 
sich gab, verlor der Bund seine Kraft. 1555 und 1556 hatte er 
schon keine Bedeutung mehr. 

Es kann nicht zweifelhaft sein, daß nur die günstige politische 
Lage, wie sie im Heidelberger Bunde ihren Ausdruck fand, den Er- 
folg von Moritz’ Auftreten über Passau und Sievershausen hinaus 
sicherte und den Augsburger Religionsfrieden ermöglichte. Gleich- 
wohl leitete die Formulierung der Streitpunkte in dieser Friedens- 
handlung doch wieder eine Periode gesteigerter konfessioneller Em- 
pfindlichkeit ein, — auch in Baiern. Ein Jahr nach dem Frieden 
wurde der paritätische Heidelberger Bund ersetzt durch den neuen 
Landsberger Bund zwischen Ferdinand, Baiern, Salzburg und der 
Stadt Augsburg, — bis zu seiner Auflösung (1598) ein Friedensbund 
mit spezifisch katholischer Färbung; allerdings noch lange keine 
»Liga«. Nach außen hielt man um so lieber Ruhe, als sich der 
erste Akt der Gegenreformation durchaus im Inneren der Fürsten- 
tümer abspielte. 

In Baiern liegen die Dinge wieder außerordentlich verwickelt. 
So bestimmt die katholische Richtung der fürstlichen Regierung vor- 
gezeichnet war, in dem langjährigen freundschaftlichen Verkehr mit 


1) Für die Geschichte des Heidelberger Bundes hat Riezler neben den 
Druffelschen Beiträgen zur Reichsgeschichte leider auch noch die alte fehlerhafte 
Darstellung von Stumpf gebraucht (S. 457). Die Tage von München und Wimpfen 
(5. Febr. 1553) sind zu streichen , vgl. Druffel IV, 85. 37. 60. 61. 69 Note. Al- 
brecht und Christoph kamen erst am 9. März nach Heidelberg, wo am 29. März 
der Bund abgeschlossen wurde. — Im übrigen ist das reiche von Druffel ge- 
sammelte Material der Darstellung durchweg zu statten gekommen und ich freue 
mich über die ausgiebige Nutzbarmachuug der vielleicht nach heutigen Begriffen 
altmodischen aber großangelegten Publikation des zu früh Verstorbenen. Wenn 
jetzt junge Gelehrte, von beschränkten Arbeitsgebieten aus, Lücken und Fehler 
der Droffelschen Aktensammlungen rügen, so übersehen sie den Gewinn, den ihnen 
selbst die Vorarbeit gebracht und bedenken nicht, wie billig und leicht die Nach- 
prüfung ist. Was den letzten, von mir herausgegebenen (1V.) Band betrifft, so 
hat doch, trotz der vielfachen freundlichen Anerkennung, die der Band gefunden 
hat, niemand lebhafter als ich die Ueberzeugung, daß nachgelassenen Werken bei 
aller Sorgfalt des Herausgebers das Beste feblt. 


254 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


den protestantischen Höfen waren der Adel des Landes und zahl- 
reiche Räte mehr oder minder von den modernen Ideen berührt 
worden. Der junge Fürst aber war von Haus aus nichts weniger als 
ein Eiferer. Eher ein rechter Lebemann; denn nach den ersten Jah- 
ren seiner Regierung mußte er sich (1557) von seinen Räten sagen 
lassen, »daß er ungeachtet der gefährlichen Lage nichts als Ruhe, 
Kurzweil und Lust suche und jegliche Arbeit fliehe, während auch zu 
besorgen, daß seine Beleibtheit mit den Jahren noch zunehmen 
werde< (488). Freilich vertraten die Räte den Standpunkt ordnungs- 
liebender Pedanten; sie verwünschten des Herzogs kostspieliges 
Maecenatentum und besonders seine fast leidenschaftliche Liebe zur 
Musik. Ein Orlando di Lasso war ihnen ein Dorn im Auge, und 
der Umstand, daß die Capelle, die 1552 schon 2407 fl. gekostet 
hatte, 1573 nicht weniger als 7803 fl. in Anspruch nahm, beweist, 
wie wenig die Mahnungen der Räte gefruchtet haben. Des Herzogs 
vornehmste Interessen lagen eben auf dem Gebiet der Künste; »die 
Maler und Kontrafakter kommen fast das ganze Jahr nicht aus der 
neuen Feste! Dazu die Bildschnitzer , Dreher, Steinmetzen, der 
außerordentliche Aufwand für Kleidung, Tapezerei, Mummereien, das 
schädliche Uebermaß in Essen und Trinken, Banketten und Lad- 
schaften< (487). Die Räte klagten vergebens. Die Kuriositäten 
und Antiquitäten der herzoglichen Kunstkammer bildeten den An- 
fang der berühmten Münchener Sammlungen und die drei großen 
Ankäufe der Bibliotheken von J. J. Fugger, Widmanstadt und Hart- 
mann Schedel gaben den Grundstock für die Schätze der Hof- und 
Staatsbibliothek. Für alles das brauchte der Herzog viel Geld. 
1557 wurden die Schulden auf 812,000 fl., die Zinsen auf 57,798 fi. 
berechnet. Nur die Landschaft konnte helfen, — es fragte sich, 
gegen welche Zugeständnisse. 

Es hat doch etwas Ueberraschendes, daß die bairische Land- 
schaft so ganz unvermittelt und mit solcher Majorität Zugeständnisse 
auf dem religiösen Gebiete forderte. Die Form, in die sich hier das 
Streben nach Neuerungen kleidete, war das Verlangen nach Laien- 
kelch und Priesterehe, — scheinbar geringfügige Wünsche, doch ha- 
ben die strengeren Kurialen sehr richtig erkannt, daß nach Gesinnung 
und Absichten mehr dahinter steckte. 

Wer hat nun die erneuten Aussichten der Reformation in Baiern 
zerstört? Wiederum der Landesfürst, dem in diesen Anfängen der 
Gegenreformation schon ein durch Musik und Kunst und respektable 
Priester gestützter Katholizismus unbewußt zur Herzensangelegenheit 
geworden war. Die Väter der Gesellschaft Jesu (seit 1556 dauernd 
in Ingolstadt, seit 1559 in München), allen voran Petrus Canisius, 


Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 255 


hatten um so leichter Einfluß auf den Herzog gewonnen, als sie sich 
in jeder Hinsicht vorteilhaft vor dem einheimischen Klerus auszeich- 
neten, — die Persönlichkeiten gaben auch hier den Ausschlag. Frei- 
lich hat der Herzog zunächst die Meinung geteilt, daß man dem 
auf jedem Landtage seit 1553 wiederholten Verlangen nach dem 
Kelch entsprechen müsse; wurde doch festgestellt, daß sogar Jesui- 
ten die Hostien in Wein tauchten, um dem Volke entgegenzukom- 
men. Aber die Kurie verhielt sich hartnäckig ablehnend. So ver- 
suchte man es mit einem Kompromiß. Der Herzog gab unter dem 
31. März 1556 eine Deklaration des Inhalts, daß wenigstens die 
weltlichen Behörden nicht einschreiten sollten, wenn jemand unter 
beiderlei Gestalt kommunizierte oder die Fasten nicht beobachtete. 
Hand in Hand mit der vom Herzog unterstützten Forderung des 
Laienkelches ging das Verlangen nach gründlicher Reformation des 
Klerus, dem der bairische Gesandte Aug. Paumgartner am 27. Ja- 
nuar 1562 zu Trient in einer Aufsehen erregenden Rede energischen 
Ausdruck gab; die Stimmung der Entrüstung erklärt sich vollauf 
aus den Ergebnissen der vor kurzem (1558) abgehaltenen Kirchen- 
visitation. War es das wiederholte Begehren der bairischen Regie- 
rung oder die Unterstützung durch den Kaiser, — jedenfalls erfolgte 
trotz des langen Sträubens am 16. April 1564 doch noch der Erlaß eines 
entgegenkommenden päpstlichen Breves an die deutschen Bischöfe in 
Sachen des Laienkelches. Aber gerade damals hatte in der Um- 
gebung des Herzogs die strengere Richtung das Uebergewicht er- 
langt; von der Bewilligung wünschte man offiziell keinen Gebrauch mehr 
zu machen; man neigte wieder der Meinung zu, daß nur rücksichts- 
lose Strenge zum Ziele führe. Diese Rückkehr in die strengkirch- 
liche Richtung wirkte klärend auch auf die Opposition. Niemals 
sind in Baiern so weitgehende Forderungen erhoben worden, wie auf 
dem Ingolstädter Landtage vom März und April 1563. Die Extrem- 
sten forderten ohne weiteres die Augsburger Confession, die Mittel- 
partei wenigstens Durchführung der Deklaration. Graf Joachim von 
Ortenburg, Landsasse und Reichsstand zugleich, ließ in seiner kleinen 
Herrschaft (bis heute die einzige protestantische Enklave in Alt- 
baiern) trotz Warnungen und Drohungen die Reformation einführen; 
»gepanzert und mit geladener Büchse betrat der Praedikant die Kanzel<. 
Andere Landsassen folgten dem Beispiele des Ortenburgers. Aber 
der Herzog schritt überall ein, ja er erbeutete auf Schloß Mattig- 
kofen den berühmten, ihn tief verletzenden Briefwechsel des oppo- 
sitionellen Adels, der zum Hochverratsprozeß von 1563 Veranlassung 
gab. Obwohl das Urteil überaus milde ausfiel und nur einzelne der 
Führer wie Pankraz von Freiberg, schlimmere Unbill zu leiden hat- 


266 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


ten, war doch der alte Widerstand der Landschaft gebrochen. Nur 
Ortenburg erhielt als Reichsstand durch den Vergleich von 1566 
den evangelischen Gottesdienst für seine Schloßkapelle zugestanden. 
Der wundervolle Raum zeugt noch heute in dem verwahrlosten 
Schlosse davon, wie Graf Joachim beflissen war, >dem Heiland in 
seiner geringen Grafschaft ein Thürlein zu öffnen«. 

Die Auseinandersetzung von 1563 bedeutete die Krisis. Der 
Herzog machte nicht erst jetzt eine Schwenkung (wie man wohl ge- 
meint hat), aber er bestärkte sich in seiner ablehnenden Haltung 
gegen jede Neuerung, wie einst sein Vater in den Zeiten des Bauern- 
krieges. Ungehindert durch reichspolitische Rücksichten, ja bei der 
lauen Haltung Maximilians geradezu als erklärte Vormacht des Katholi- 
zismus nahm Baiern die Gegenreformation in die Hand. 1564 begann 
die Jesuitenmission in den bedrohten Gegenden, die Ausweisung aller 
Widerspänstigen; wiederum wurden die besten Kräfte des Landes 
verwiesen. Der Landtag erhob bewegliche Vorstellungen, aber zu- 
letzt hat auch er sich (1568) »untertänig getröstet«. Es war doch 
nicht gleichgültig, daß eben damals (1568, Febr.) durch die Heirat 
des Prinzen Wilhelm mit Renata von Lothringen dem Eindringen 
wälschen Geistes auch bei Hofe erheblich Vorschub geleistet wurde. 

Zu Beginn der siebenziger Jahre hat sich Baiern eingefügt in die 
große europäische Schlachtordnung der Gegenreformation. Der Nun- 
tius Porzia (1573) gewann samt seinem Personal tiefgehenden Ein- 
fluß. Die Idee eines katholischen Bundes wurde mit ganz anderem 
Ernst als einst in der Reformationszeit aufgenommen ; man dachte 
daran, den Landsberger Bund, dessen Hauptmann Herzog Albrecht 
blieb, durch Aufnahme des Königs von Spanien mit den Nieder- 
landen zu stärken. Herzog Alba und der Kardinal Truchsess be- 
mühten sich eifrigst um das Werk (1569 ff.), aus dem dann freilich 
doch nicht viel geworden ist. Der Papst rechnete auf Baierns Hilfe 
sogar bei der in Aussicht genommenen Bekehrung der protestanti- 
schen Fürsten von Sachsen und Schweden; und in Baden hat in der 
That die bairische Vormundschaft 1570—73 den Katholizismus wie- 
der hergestellt. 

Aber alles das war unbedeutend gegenüber der Thätigkeit, die 
Baiern im Verfolge seiner Bistumspolitik entwickelte, bestimmt zu- 
gleich durch den Wunsch, nachgeborene Söhne abzufinden, wie durch 
den Eifer in der Bekämpfung des Protestantismus. Im »Kölnischen 
Krieg< erfolgte die großartigste und folgenreichste Manifestation die- 
ser Bestrebungen; sie durfte angesichts der eben erst abgeschlosse- 
nen erschöpfenden Darstellung Lossens von Riezler kürzer behandelt 
werden. Das Interesse konzentriert sich zunächst auf die Person des 


Riesler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 2 


Prinzen Ernst; mit ihm »beginnt eine neue durch zwei Jahrhunderte 
sich hinziehende Reihe von geistlichen Fürsten aus dem Hause Wit- 
telsbach, welche auch nach dem Trienter Konzil in einem streng 
katholischen Fürstenhaus, bei der Kurie und in den Domkapiteln 
weltliche Interessen im Konflikt mit Geistlichen übermächtig zeigt« 
(522). Schon elfjährig war Ernst Salzburger Domherr , zwölfjährig 
hatte er durch päpstliche Bewilligung die Verwaltung der Tetiipora- 
lien des Bistums Freising; noch nicht zwanzigjährig wurde er (7. Mürz 
1573) auch zum Bischofe von Hildesheim gewählt und darauf das 
schon ganz verlorene Land wieder katholisch gemacht. Aber der 
junge Bischof selbst widerstrebte noch immer sehr lebhaft dem geist- 
lichen Stande; die Exercitien des Jesuitenpaters Mengin schienen 
einen Augenblick einen tiefen Eindruck auf den lebenslustigen Prin- 
zen gemacht zu haben, aber bald nachher brachte der nicht ganz 
absichtslose Aufenthalt in Rom (1574) neue Verdrießlichkeiten. Die 
lauen römischen Nächte luden zu merkwürdig ungeistlichen Aben- 
teuern; als der Prinz eines Morgens die Strickleiter an seinem Pa- 
lazzo abgeschnitten fand, floh er nach Neapel; es gab Scenen und 
erregte Korrespondenzen, bis schließlich die väterliche Fürsprache 
des Papstes den herzoglichen Vater besänftigte. Die päpstliche Huld 
begleitete denn auch nach der Abdankung Salentins von Isenburg 
den 1577 geweihten herzoglichen Priester in den ersten Kölner 
Wahlkampf. Gleichwohl siegte am 5. Dezember 1577 noch die Partei 
des Gebhard Truchsess von Waldburg, und die Baiern, die nichts 
gespart hatten, waren aufs tiefste verletzt. Herzog Albrecht setzte 
alles in Bewegung, die kanonische Wahl umzustoßen, vergebens; er 
starb dahin, ohne den Erfolg seines Sohnes erlebt zu haben (24. Okt. 
1579). 

Es war Wilhelm dem Frommen vorbehalten, erst den Bruder, 
dann den Sohn zu Erzstift und Kurfürstenhut zu bringen. Neue 
Aussicht winkte, als Gebhard Truchsess entgegen seiner früheren 
guten Haltung begehrte, eine Geliebte zu ehelichen und die »Frei- 
stellung< zu erproben, d.h. als protestantischer Fürst im Lande zu 
bleiben. Der Papst setzte ihn ab (22. März 1583) und der Kaiser 
stimmte zu. Nun fiel die Wahl am 23. Mai 1588 einhellig auf Ernst 
von Baiern, der inzwischen auch das Bistum Lüttich nebst Stablo und 
Malmedy erhalten hatte. Geld war nicht gespart worden, aber den 
Ausschlag bei der Wahl hatte diesmal doch gegeben, daß man nur 
Baiern zutraute, die Sache gegen die Partei des Truchsess durchzu- 
fechten. Auf dem Spiele standen nicht nur das Erzbistum und die 
Nachbarlande, sondern vor allem die katholische Majorität im Kur- 
fürstenkolleg und damit das katholische Kaisertum. Gleichwohl ver- 

Gött, gel. Anz. 1901. Nr. 8. 18 


258 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


hielten sich die mächtigeren Fürsten im Reiche durchaus abwartend. 
Von den protestantischen Fürsten beteiligte sich eigentlich nur der 
Pfalzgraf Johann Kasimir eine zeitlang an dem Handel. Aber auch 
auf katholischer Seite unterstützte fast nur Spanien das nächst be- 
teiligte Baiern. Herzog Ferdinand von Baiern übernahm den Ober- 
befehl, und in dem Feldzuge des Winters 1583/84 erstritt er nicht 
allzu mühsam seinem Bruder das reiche Stift. Lokale Wirren zogen 
sich noch lange hin, aber an der Entscheidung wurde nichts mehr 
geändert. Die Folgen waren gewaltige. Mit Recht betont Riezler 
nach Lossen, >daß die Erhaltung des Niederrheins und Westfalens 
im katholischen Bekenntnis eine Frucht der engen Verbindung ist, 
welche das bairische Hausinteresse mit den katholischen Zielen ver- 
kniipfte< (645). Bis zum Jahre 1761 ist Köln von wittelsbachischen 
Herzögen regiert worden, meistens vereint mit Hildesheim, Lüttich 
und Münster, zu Zeiten auch mit Paderborn und Osnabrück. Die 
Kumulation der Bistümer, noch 1585 bei dem Erwerb Münsters 
durch Herzog Ernst von der Kurie beanstandet, blieb doch geduldet 
angesichts der großen Verdienste, die sich das »hochloblich christlich- 
eifrige bairische Blut< erworben. So geschah es denn auch ohne 
Schwierigkeiten, daß dem niemals sehr priesterlichen Ernst schon 
1595 sein Neffe Ferdinand als Coadjutor zur Seite gestellt wurde; 
1599 folgte ihm dieser auch in Stablo und Malmedy, 1601 in 
Lüttich. Im vorigen Jahrhundert baute sich der letzte kölnische 
Wittelsbacher, Clemens August, ein Jagdschloß bei Sögel in Gestalt 
eines Kegelspiels; er war so glücklich, die Mehrzahl der Kegel- 
pavillons mit den Namen seiner Bistümer schmücken zu können. 

Herzog Wilhelm mochte sich mit seinen Erfolgen über den 
Spott und Widerstand trösten, den er bei der Fürsorge für seine 
jüngern, geistlichen, Söhne gefunden hatte. Philipp, der 20jährige 
Kardinal ist nur zu früh gestorben, um es seinem Bruder Ferdinand 
gleich zu thun. Will man aber Wilhelms Bedeutung für die Gegenrefor- 
mation in Deutschland würdigen, so muß man zu der Bistumspolitik 
auch noch seine Bemühungen im Straßburger Kapitelstreit, in Baden 
und vor allem in Steiermark gesellen. Freilich ging in Steiermark 
nicht alles nach Wunsch, doch war es ein wichtiges Ding, daß der 
junge Erzherzog Ferdinand vermöge der bairischen Vormundschaft 
in Ingolstadt ganz jesuitisch erzogen werden konnte. 

Denn in den Jesuiten lag doch der eigentliche Nerv der Gegen- 
reformation, nicht blos für Baiern. Herzog Albrecht hat alles vorbe- 
reitet, Herzog Wilhelm wird bereits völlig beherrscht von jesuitischem 
Einfluß. Zu Ingolstadt war er erzogen unter Leitung des Conver- 
titen Dr. Staphylus; Jesuiten waren seine Beichtväter, 29 Jahre 


Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 259 


lang P. Mengin; für die Jesuiten erbaute er zu München die präch- 
tige Michaelskirche mit dem weitläufigen Collegium ; Jesuiten brachte 
er auch in den Besitz der alten Klöster Biburg, Mönchsmünster und 
Ebersberg und damit zu Sitz und Stimme in der bairischen Land- 
schaft; unter Leitung der Jesuiten ergab sich Wilhelm auch per- 
sönlich einem fast mönchischen Leben, zumal nach seiner Abdankung 
im Jahre 1594 (offiziell 1597); aber auch schon vorher lag er täg- 
lich vier Stunden auf den Knien im Gebet, beichtete und kommuni- 
zierte jede Woche, machte jährlich wenigstens einmal seine Wall- 
fahrt nach Altötting. Freilich entsprach dem religiösen Eifer des 
Herzogs auch der moralische Ernst seiner Lebensführung und die 
Gewissenhaftigkeit seiner Berufsarbeit; im Gegensatz zu seinem Va- 
ter liebte er. die Akten, und die Registraturen seiner Regierung 
wimmeln von seinen eigenhändigen Schriftstücken. 

Nur in einer Beziehung war Wilhelm ganz der Sohn seines Va- 
ters, in der völligen Verständnislosigkeit für eine geordnete Finanz- 
wirtschaft. Bedeutende Summen kostete die Versorgung der 
Prinzen, besonders im Kölnischen Krieg. Aber ungleich kostspieliger 
noch war die laufende fürstliche und kirchliche Repräsentation. Be- 
schäftigte Albrecht Künstler und Musiker, so war Wilhelm, außer 
auf Kunstsachen und Kuriositäten, vornehmlich auf Reliquien be- 
dacht; da solche im protestantischen Norden damals massenhaft zu 
haben waren, legte er sich auf Tausch, und bezog z.B. von den 
Brandenburgern eine ansehnliche Kollektion gegen englische Hunde 
und Münchener Gewehre. Vollends die Kirchen- und Klosterbauten 
verschlangen riesige Summen. So gerieten die bairischen Finanzen 
in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts in die jämmerlichste 
Zerrüttung. 

Das Erbe Herzog Albrechts war eine Schuldenlast von 613,000 
Gulden gewesen; dazu hatte die Landschaft bereits 2500 000 fl. an 
Schulden übernommen. Bei der großen Abrechnung von 1593 stellte 
sich heraus, daß die Landschaft seit 1563 an Schulden und Zinsen 
10 Millionen übernommen hatte, daß die Bilanz der fürstlichen Ein- 
nahmen und Ausgaben ein jährliches Defizit von über 300 000 fl. er- 
gab. Die Klagen der Stände waren um so mehr berechtigt, als das 
Land durch die ununterbrochene Uebersteuerung ganz entmutigt 
war. Die »gemeine Steuer< bedeutete, wie Riezler hervorhebt, 1/s0 
vom Vermögen, nicht vom Einkommen, so daß in Herzog Albrechts 
30jähriger Regierung jeder Bauer bei der durchschnittlich zweijäh- 
rigen Auflage, abgesehen von Mißwachs, Gält und Zehnten, die Hälfte 
seines Vermögens an den Herzog gegeben hat (S. 625). Kleine 
Bauernerhebungen gaben Zeugnis von der verzweifelten Stimmung. 


260 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


Aber bei dem frommen Fiirsten war auf keine Weise ein anderes 
Verhalten zu erzielen. 

So war der Ertrag der fiir das engere und weitere Vaterland 
so verbängnisvollen Regierung dieser Herzöge zugleich der wirt- 
schaftliche Ruin des Landes. Unter solchen Auspizien trat Baiern 
in die Aera des 30jährigen Krieges. 

Marburg, 11. Januar 1901. K. Brandi. 


Analecta reformatoris. II. Biographien: Bibliander — Ceporin — Jo 
hannes Ballinger. Von Emil Egli Mit drei Tafelo. Zürich, Zürcher 
und Furrer, 1901. V u. 1728. Gr. 8°. 


Auf das GGA 1900, Nr. 9, besprochene erste 1899 erschie- 
nene Heft ist schon sehr hald eine Fortsetzung der Analecta re- 
formatoria gefolgt, die durch drei biographische Beiträge Lücken 
der historischen Litteratur zur schweizerischen Reformation auszu- 
füllen sucht. Wie das »Vorwort« sagt, will der Verfasser in der 
Vorführung Biblianders, des Nachfolgers Zwinglis im theologischen 
Lehrfache, »eine Ehrenschuld der Zürcher Kirche« zahlen. Ceporin, 
der Lebrer des zuerst geschilderten, war der erste Lehrer der bibli- 
schen Sprachen an Zwinglis Schule. In Johannes Bullinger, dem 
älteren Bruder des Reformators, des Nachfolgers Zwinglis in der 
Leitung der zürcherischen Kirche, stellt der Biograph einen Vertreter 
aus dem Kreise der Zöglinge der Zürcher Schule dar, dessen reich 
glossierte Bibel einen Einblick in die da gewonnenen Anregungen 
bietet. 

Bibliander, der Sohn eines angesehenen bürgerlichen Hauses 
Buchmann im thurgauischen Städtchen Bischofszell, geboren wahr- 
scheinlich 1509, in Zürich, dann in Basel geschult, auf Begehren des 
schlesischen Herzogs Friedrich II. 1527 durch Zwingli nach Liegnitz 
an die dort gegründete Schule geschickt, von 1529 an aber durchaus 
in Zürich thätig und eben 1531 an Zwinglis Stelle als Professor er- 
wählt, bis 1560 im Amte, 1564 — als ein Opfer der Pest — ge- 
storben, galt lange Zeit hindurch neben dem Antistes Bullinger als 
der angesehenste Vertreter der zürcherischen Kirche. Dennoch hat 
es auffälligerweise bis zur Gegenwart an einer biographischen Dar- 
stellung dieses Mannes gefehlt. Aus dem verhältnißmäßig recht 
reichlichen Materiale, den 24 Druckschriften, 50 handschriftlichen 
Abhandlungen, einer Anzahl von Collegienheften , 153 Briefen, wozu 


Analecta reformatoria. II. 261 


noch Briefe von Zeitgenossen kommen, ist nun in der gewissenhaft 
sorgfältigen Arbeitsweise des Verfassers diese Versäumnis nachge- 
holt (S. 1—144). 

Bibliander war vor Allem hervorragender Kenner der biblischen, 
aber überhaupt vieler Sprachen, wie sein Nachfolger Stucki sich 
ausdrückte, >et re et nomine Bibliander«, und dabei in der Anwendung 
auf sein spezielles Fach, nach dem Ruhme des ausgezeichneten Orien- 
talisten des folgenden Jahrhunderts Johann Heinrich Hottinger, der 
Vater der exegetischen Theologie in der Schweiz. Gleich von An- 
fang seines Lehramtes in Zürich liegen seine Hauptleistungen in der 
Auslegung der Propheten — seine erste Druckschrift, eine am 
11. Januar 1532 so zu sagen zur Einführung in die Thätigkeit als 
»Leser« gehaltene lateinische Rede, betraf den Propheten Jesajah — ; 
ein großes Interesse wandte er insbesondere auch der apokalypti- 
schen Litteratur zu. Doch neben den sorgfältigen grammatischen 
Studien im Hebräischen — die 1535 erschienene hebräische Gramma- 
tik übertraf nach Pellicans Urteil alles Frühere an lichtvoller Kürze 
— stand auch die Ausgabe des Koran sammt einer von Bibliander 
hinzugefügten Widerlegung, 1543; hervorgerufen durch die Er- 
wägung, nach den neuen türkischen Siegen des Jahres 1541 müsse 
eine Belehrung über die Glaubensurkunde dieses grimmigsten Feinds 
eintreten, eingeleitet durch das 1542 publicierte kurz sogenannte 
»Türkenbüchleine — »Ad nominis Christiani socios consultatioc — 
hat diese durch den befreundeten Drucker Oporin in Basel über- 
nommene Edition das allergrößte Aufsehen erregt, so daß die Basler 
Rathsverordneten eingriffen, die gedruckte Auflage mit Beschlag be- 
legt, Oporin kurze Zeit in Haft gelegt wurde, bis dann die Straß- 
burger Theologen, aber besonders auch Luther, in einem Brief an 
den Basler Rath vom 27. Oktober 1542, sich der Sache annahmen 
und die Befreiung der Auflage herbeiführten. Die allgemeinen phi- 
lologischen Kenntnisse Biblianders, seine Ansichten über Sprachver- 
gleichung, Sprachmethode treten vorzüglich in dem merkwürdigen 
Werke »De Ratione communi omnium linguarum et literarum com- 
mentarius ... cui adnexa est compendiaria explicatio ... religionis 
omnium gentium atque populorum« 1548 zu Tage, und an diese 
Aeußerungen über das Gemeinsame aller Religionen knüpfen sich 
hinwider seine Ratschläge für eine Mission unter Juden und Moham- 
medanern, die er 1553 in einer nur handschriftlich erhaltenen Ab- 
handlung niederlegte. Unleugbar stand Bibliander auch ein reiches 
historisches Wissen zu Gebote; seine beiden Arbeiten auf diesem 
Felde sind chronologischen Inhaltes, 1551 das Buch De ratione tem- 
porum und 1558 das letzte Druckwerk: Temporum ... supputatio 


262 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


partitioque exactior. Sein ganzes Leben hindurch war Bibliander 
ein unerschrockener Bekenner seiner protestantischen Ueberzeugung 
auch gegenüber der päpstlichen Kirche und ihrer Kräftigung durch 
das Tridentinum in seinem Briefwechsel, in Schriften, von denen die 
Aufforderung Ad illustrissimos Germaniae principes et optimates libe- 
rarum atque imperialium civitatum 1553 vorzüglich feurig lautet. 
Um so peinlicher berührten ihn Meinungsverschiedenheiten innerhalb 
der eigenen Glaubensgenossenschaft, und hieraus erwuchs auch die 
Krisis, die zu seiner Amtsentlassung, übrigens in der ehrendsten 
Form, führte. Von Anbeginn infolge seiner freien humanistisch an- 
gehauchten Anschauung von der göttlichen Gnade der strengen Form 
der Erwählungslehre abgeneigt, gerieth Bibliander, als 1556 Peter 
Martyr Vermigli die scharf ausgeprägte calvinische Lehre der Gna- 
denwahl nach Zürich brachte, mit diesem Collegen in bitteren Zwist, 
so daß seine Emeritierung erfolgte. 

In vortrefllicher Weise tritt die vielseitige Thätigkeit des Nach- 
folgers des Reformators, der dessen Erbe eifrig und hochgesinnt 
vertheidigte, in der wohl angeordneten biographischen Darstellung, 
der noch einige Beilagen angehängt sind, entgegen. 

Weit kürzer konnte der Verfasser den 1500 geborenen Jakob 
Wiesendanger, aus Dinhart bei Winterthur, oder präcisiert Cepo- 
rinus behandeln, da dessen Leben schon Ende 1525 bei den über- 
mäßigen Anstrengungen erlosch (S. 145—160). Durch Zwingli war 
der in Wien, Ingolstadt, Basel Vorgebildete 1522 für die Lehrstelle 
des Griechischen und Hebräischen — in dieser Sprache ging der Re- 
formator selbst bei dem jungen Lehrer in den Unterricht — nach 
Zürich gezogen worden. Die 1522 zuerst im Druck — bei Curio in 
Basel — vollendete griechische Grammatik erlebte bis 1526 noch 
zwei, später, da sie bis in das 18. Jahrhundert in der zürcherischen 
Schule im Gebrauche blieb, noch sehr viele weitere Auflagen ; daneben 
stehen Ausgaben von Classikern. Im lateinischen Vorwort zur Edi- 
tion des Pindar widmete Zwingli dem »homo monstrose laboriosus« 
einen warmen Nachruf. 

Der kurzen Abhandlung über Johannes Bullinger (S. 161 
— 172) liegt dessen Handbibel zu Grunde, neben Nachrichten, die aus 
Mittheilungen des berühmten Bruders, des Antistes Heinrich, fließen. 
Mitten aus seinen — mit Heinrich in Cöln und Emmerich betriebe- 
nen — Studien und der nachher folgenden priesterlichen Thätigkeit 
heraus hatte sich Johannes bis 1527 als Urner Feldprediger selbst 
an den Kämpfen in Italien betheiligt. Dann aber holte er in Zürich 
das Versäumte nach und trat von 1529 an in verschiedene Pfarr- 
ämter, zuletzt 1557 bei der Kirche zu Cappel, wo er 1570 starb. 


Analecta reformatoria. II. 263 


Die 1530 angekaufte Frobensche Vugata, jetzt im Zwinglimuseum in 
Zürich, wohin sie Dr. Heidenheim auf das Ansuchen des Verfassers 
schenkte, zeigt in ihren zahlreichen Einträgen sehr gut, woran ein 
Landgeistlicher jener Jahrzehnte, der durch die exegetische Schule 
Zürichs gegangen war, besonders auch in der Richtung seiner Bibel- 
studien, theilnahm. Bei seiner fünfmaligen Durchlesung des Buches 
machte der Besitzer die verschiedenartigsten Anmerkungen, in deut- 
lich zu unterscheidenden Schichten, erklärend, zusetzend, aus den ver- 
schiedensten alten, mittelalterlichen, zeitgenössischen Autoren, aus 
den von ihm selbst angehörten Auslegungen der »Prophezei<, 
Zwinglis, an der Zürcher Schule, im Großmünster. Daneben stehen 
Eintragungen freierer Art, aus Beobachtungen, die er in der eigenen 
Zeit und Umgebung gemacht hat, in Bezug auf die eidgenössische 
Politik, auf das Papstthum und Aehnliches. 

Die drei Tafeln stellen Biblianders und Ceporins Handschrift, 
bei dem letzteren eine Probe aus dem einzigen erhaltenen Briefe an 
seinen Gönner, den Propst Brennwald des Chorherrenstiftes zu Em- 
brach —, sowie die Figur des Adlers vom Titel des Buches Biblian- 
ders von 1553, Ausgabe des Propheten Esdra, dar. 

Wenn der Verfasser in Aussicht stellt, daß der Stoff zu weiterer 
Fortsetzung gesammelt liege, so ist nur zu wünschen, daß sein Vor- 
satz, erst in einigen Jahren damit hervorzutreten, nicht allzulange 
auf sich warten lasse. 


Zürich, 23. December 1900. G. Meyer v. Knonau. 


Delaville le Roulx, J., Cartulaire général de l’ordre des Hospita- 
liers deS. Jean de Jörusalem (1100—1310). T. IV. part. 1. Paris, Ernest 
Leroux 1901. 307 S. Fol. 


Das Werk, auf welches ich in diesen Blättern wiederholt, (1894, 
749—52; 1897, 502—504; 1899, 249f.) aufmerksam zu machen mir 
erlaubte, geht seinem Abschluß entgegen: IV, 1 führt die Urkunden 
zu Ende, deren letzte das Datum 11. Dec. 1310 trägt, IV, 2 wird 
noch erklärende Anınerkungen und Register nachbringen. Den 
Grundstock bilden auch in diesem Bande die Verleihungen von Be- 
sitztiimern und Gerechtsamen — eine willkommene Beute für Lokal- 
forscher der verschiedensten Territorien. Wer feineren Gegenständen 
aus kunstgewerblichen Gebieten nachspürt, findet zuweilen auch 
seine Befriedigung, er darf nur z.B. einen Blick thun in die Schatz- 


264 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


kammer der reichdotierten Ordenskapelle zu Aix, deren Inventar 
vom Notar aufgenommen auf S. 122—124 zu lesen ist. Das innere 
Leben der Ritter erfuhr seine Regelung durch Beschlüsse ihres Ge- 
neralkapitels, welches unter dem Vorsitz des Meisters Jahr für Jahr 
zu Limiso gehalten wurde, solange der Orden seinen Sitz auf Cypern 
hatte. Der Verfasser hat die Satzungen auch dieses Jahrzehnts mit 
großer Sorgfalt gesammelt. Von den vielen verglichenen Hand- 
schriften erwies sich ihm wieder die der Pariser Nationalbibliothek 
mit französischem Text als die vollständigste. Aber nur die Be- 
schlüsse der Generalkapitel von 1301 (S. 14—23), 1302 (S. 35 —41), 
1303 (S. 57f.) und 1304 (S. 93—98) sind lückenlos auf uns gekom- 
men, während von denen des Jahrs 1305 (S. 120) blos ein Para- 
graph, von denen des Jahrs 1306 (S. 136 f.) blos 3 Paragraphen er- 
halten, die anderen infolge späterer Ungiltigkeitserklärung unter- 
drückt sind. Nach dem Fall von Accon trug man sich im Abend- 
land lange mit Plänen zur Wiedereroberung des hl. Landes. Dem 
eventuellen Kriegsschauplatz saß aber zunächst der Johanniterorden 
und Papst Clemens V. versäumte nicht den Rath seines Meisters für 
den neuen Kreuzzug (1306) einzuholen (S. 129f.). Welche gewal- 
tige Anstrengungen der Orden selbst mit Heeres- und Schiffsriistungen 
machte, dafür gibt vorliegender Band neue Belege, namentlich durch 
einen Brief, in welchem der Meister Foulques von Villaret dem Kö- 
nig Philipp dem Schönen von Frankreich die Kriegs- und Transport- 
schiffe aufzählte, die der Orden auf verschiedenen Werften des Abend- 
landes bauen oder fertig kaufen ließ. Es ist das Verdienst unseres 
Autors, dieses wichtige Schreiben zuerst veröffentlicht zu haben; nur 
setzte er es früher (in dem Buch La France en Orient du XIV. 
siécle, pieces justificatives p. 2 ff.) in das Jahr 1311, jetzt gewiß rich- 
tiger in das Jahr 1309 (S. 203f.). Um diese Zeit vollzog sich nun 
aber eine Wendung, welche eine neue Aera in der Geschichte der 
Johanniter eröffnete. Mit der Verlegung des Meistersitzes von Cy- 
pern nach Rhodus hörte zwar der Orden nicht auf ein Vorposten der 
Christenheit gegen den Islam zu sein, aber er kehrte fortan seine 
Front nicht mehr gegen die Aegypter, sondern gegen die Türken. 
Mit dem Eintritt in diese Epoche schließt unser Urkundenwerk ; nur 
einmal begegnet uns in diesem Schlußband der Name Rhodus, indem 
Papst Clemens V. am 5. Sept. 1307 den Besitz dieser Insel dem 
Orden für immer bestätigt, nachdem derselbe sie mit gewaltiger Hand 
den schismatischen Griechen entrissen habe (S. 144 f.). 
Stuttgart, März 1901. W. Heyd. 


Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen. 


April. 1901. Nr. 4. 


Dorner, A. D., Grundriss der Dogmengeschichte. Entwickelungs- 
geschichte der christlichen Lehrbildungen. Berlin 1899. Verlag von Georg 
Reimer. XI u. 648 S. 8°. Preis Mk. 10, 00. 


Eine neue Dogmengeschichte werden die meisten von uns nur 
mit schweren Bedenken begrüssen. Denn erstens sind die Haupt- 
gedanken einer Gesammtauffassung durch die grossen Entwürfe Baurs 
und Harnacks vorläufig erschöpft und ist der Raum nunmehr für 
die Einzelforschung eröffnet, die großenteils noch sehr unbebautes 
Feld vor sich hat und in der Arbeit an den Einzelerscheinungen 
auch erst neue Gesichtspunkte für das Ganze finden wird. Zweitens 
aber ist eben durch jene großen Werke der Begriff und Sinn der 
ganzen Disciplin ins Wanken gekommen. Baur hat die Dogmen- 
geschichte in eine Geschichte des in Religion und Dogmen sich spie- 
gelnden christlichen Bewußtseins, also in eine christliche Religions- 
geschichte überhaupt, verwandelt und damit den Rahmen der Dogmen- 
geschichte gesprengt, ohne doch die Aufgabe, die ihm vorschwebte, 
von den engeren dogmen- und theologiegeschichtlichen Fragestellungen 
zu befreien. Er geht daher von der für das moderne historische 
Denken selbstverständlichen Voraussetzung aus, daß die klassische 
Urzeit des Christentums die christliche Idee noch in unentwickelter 
und mannigfach gebundener Gestalt zeige und daß die weitere historische 
Entwickelung ihren Gehalt in tausendfachen Kämpfen, Anpassungen 
und Verwickelungen erst entfalte. Soll aber hierbei die Disciplin eine 
Bedeutung für die Frage nach der gegenwärtigen religiösen Wahrheit 
haben, so gilt es jene Urzeit und diesen historischen Erwerb so zu- 
sammen zu fassen, daß der letztere mit innerer Folgerichtigkeit 
und Notwendigkeit aus der ersteren hervorgeht und die in diesem 
ganzen Prozeß wirksame einheitliche Triebkraft aus ihm konsequent 
die gegenwärtig geltende religiöse Wahrheit hervortreibt. Das aber 
konnte Baurs historische Arbeit nur leisten durch eine starke Anleihe 
bei der logischen Entwickelungslehre Hegels, derzufolge ein großes 


geistiges Prinzip wie das Christentum seinen wesentlichen Gehalt 
Gött. gel. Ans, 1001. Nr. 4. 19 


266 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


jedesmal in spekulativen Denkbestimmungen ausspricht und diese 
Denkbestimmungen in logisch notwendigem Fortschritt der Reihe 
nach ergänzend und vertiefend hervorbringt. Harnack dagegen hat 
auf das grosse Ideal Baurs bewußt verzichtet, und sich vielmehr 
an die eigentlich dogmengeschichtliche Aufgabe haltend, den engen 
Zusammenhang der dogmatischen Begriffsbestimmungen mit der 
kirchlichen Autorisation erkannt, sich auf die Geschichte der von 
der Kirche anerkannten Dogmen beschränkt und hierbei die relative 
Verschiedenheit von Theologie und Dogma gegenüber der eigent- 
lichen religiösen Produktion betont, wodurch dann der Gedanke einer 
Religionsgeschichte des Christentums prinzipiell von der Dogmen- 
geschichte ferngehalten wird, aber andererseits diese in Dogmen- 
geschichten der einzelnen Kirchen zerschlagen wird. Seine Dogmen- 
geschichte ist im Grunde eine Monographie des katholischen Dogmas, 
was nur durch die stillschweigende Weglassung der späteren anatolischen 
und der protestantischen Entwickelung sowie durch die große Schluß- 
kulisse, die Konstruktion der »drei Ausgänge«, verdeckt wird. Unter 
diesen Umständen hat aber seine Darstellung auch darauf verzichten 
müssen, eine unmittelbare Bedeutung der Disciplin für die gegen- 
wärtige religiöse Erkenntniß zu gewinnen. Die Konstruktion eines 
spekulativen Gehaltes der Religion ablehnend und skeptisch gegen den 
logischen Progressismus, hat er vor allem den vorkirchlichen und 
vordogmatischen, grandiosen und originalen Charakter der christlichen 
Urzeit hervorgehoben, den autoritären Dogmatismus und die ver- 
wickelte Spekulation der den Dogmen zu Grunde liegenden Kirchen- 
philosophie dagegen kontrastiert und schließlich die Wiederanknüpfung 
der Reformatoren an das von Kosmologie, Spekulation und Kirchen- 
autoritat noch freie Evangelium betont. Das praktische Ergebnis ist 
also hier die wenigstens prinzipielle Anknüpfung an die Urzeit mit 
kritischer Ausschaltung der dogmengeschichtlichen Entwickelung. 
Es liegt auf der Hand, daß beide Entwürfe große und bedeutsame 
Auffassungen und Beurteilungen darstellen und jeder ein grosses in 
der Sache liegendes Interesse verficht, der eine die Wertung der 
klassischen Urzeit als des concentriertesten, stärksten und einfachsten 
Ausdruckes der christlichen Religion, der andere die Wertung des 
historischen Erwerbes als einer für die Gegenwart grundlegenden 
Ausweitung und Entfaltung des Christentums. Die hiermit auf- 
geworfenen Fragen sind lange noch nicht genügend in ihrer Bedeu- 
tung und Tragweite erkannt und die hiermit gegebenen Anregungen 
führen erst jetzt zu einer im eigentlich großen historischen Sinne 
gedachten monographischen Arbeit. Nur das eine ist klar, daß 
mit alledem die Disciplin in einen Zustand vollständiger Gährung 


Dorner, Grundriß der Dogmengeschichte. 267 


eingetreten ist, und daß die alte Dogmengeschichte, die Sammlung 
der von dem einheitlichen Subjekte der christlichen Kirche geprägten 
und von der Dogmatik zu verarbeitenden Lehrbestimmungen, end- 
giltig im Staub der Bibliotheken begraben ist. 

Unter diesen Umständen ist eine neue Dogmengeschichte von 
vornherein übel daran. Verarbeitungen der großen Dogmenge- 
schichten zu mehr oder minder verdienstvollen und selbstständigen 
Leitfäden haben wir genug, und einen solchen Leitfaden will auch 
Dorners Buch von Hause aus nicht vorstellen. Es müßte also sein 
Dasein durch die Begründung auf eine besonders reiche und originelle 
monographische Einzelarbeit oder durch eine neue Gesammtauf- 
fassung rechtfertigen. Auf das erste macht Dorner, der wesentlich 
Dogmatiker und philosophischer Theologe ist, keinen Anspruch. Aber 
auch das zweite ist nur in beschränktem Maße der Fall. Denn er 
wiederholt im Grunde nur in einer zusammendrängenden und etwas 
modificierten Weise die Konstruktion Baurs. Diese ist freilich durch 
den Einfluß der Harnack’schen Darstellung, durch die konfessionelle 
Opposition gegen jede bloß historisch -relative Behandlung und 
Schätzung der Dogmen und vor allem durch die von allerhand 
kleinen Geistern zur Schau getragene Geringschätzung Baurs zu- 
rückgedrängt, und insofern ist die Erneuerung der Baur’schen Auf- 
fassung allerdings etwas relativ Neues, dem an sich das Daseinsrecht 
nicht von vornherein abzustreiten ist. Die Frage ist nur, ob diese 
Erneuerung eine fruchtbare Erweiterung und Fortsetzung der Baur’- 
schen Erkenntnisse darstellt. 

Hier muss ich nun aber leider bekennen, dass ich dieses Ver- 
dienst dem Buche in der Hauptsache nicht zugestehen kann. Ganz 
abgesehen von der Gelehrsamkeit und der reichen Verwendung kon- 
kreter Anschaulichkeit fehlt dem Buche auch die Klarheit und 
Präcision Baurs. Ueberblickt man es als Ganzes, so erkennt man 
in ihm als Baur’sche Erkenntnis im Grunde nur die Unterscheidung 
der Urgestalt des christlichen Prinzips und seiner historischen Ent- 
faltung wieder. Aber der großartige Versuch, diese Entfaltung 
wirklich aus dem Keimgehalt abzuleiten und in ihren logisch not- 
wendigen Fortschritten inhaltlich aufzuzeigen, wird nicht mehr 
gemacht. Es treten vielmehr zur Erklärung und Beurteilung des 
thatsächlichen Verlaufes ganz andere Begriffe ins Spiel, einmal 
der Begriff rassenpsychologischer Eigentümlichkeiten und sodann der 
des Antagonismus freier theologisch - philosophischer Gedanken- 
bildung gegen die praktisch geforderte kirchliche Consolidierung. 
Der erste Begriff erstreckt seine Wirksamkeit freilich nicht weit über 
die jeweils gegebenen Ueberschriften hinaus und kommt so nicht 

19* 


268 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


dazu, seine Konsequenzen zu entfalten, die freilich den Baur’schen 
Voraussetzungen einer in den allgemein menschlichen Geistesan- 
lagen begründeten Entwickelung direkt widersprechen müssten 
und die ganze Auffassung der Dogmengeschichte gründlich revolutio- 
nieren würden. Was bei einer wirklich energischen Durchführung 
dieses Gedankens herauskäme, kann man sich in dem gegenwärtig 
viel genannten Buche H. St. Chamberlains »Die Grundlagen des 19. 
Jahrhunderts< klar machen. Aber solchen Konsequenzen steht Dorner’s 
Auffassung, die auf prinzipieller Gleichartigkeit und rein logischer 
Bedingtheit alles Denkens beruht, von Hause aus gänzlich ferne. 
Um so stärker wirkt der zweite Begriff, auf den vermutlich Har- 
nacks Aufweis der engen Entsprechung von Dogma und Kirche und 
des antinomischen Verhältnisses von Theologie und Dogma stark 
eingewirkt hat. Unter seiner Herrschaft gewinnt Dorners Dogmen- 
geschichte geradezu das Aussehen, als wolle sie die theologische 
Begrifisbildung des Christentums in dem beständigen Schwanken 
zwischen der aus dem religiösen Erlebnis hervorgehenden freien 
Spekulation und der aus den praktischen Autoritätsbedürfnissen folgen- 
den Dogmatisierung schildern. Auf der einen Seite Freiheit und All- 
gemeingiltigkeit, die von dem Anspruch des Christentums auf ab- 
schliessende Wahrheit ebenso wie von dem Vernunfttrieb nach Not- 
wendigkeit der Erkenntnis gefordert wird, auf der anderen Seite Au- 
torität, Ueberlieferung und Zwang, die Schwäche und Unvernunft der 
Menschen überall begehren. Als Lehre und Ergebnis der Dogmen- 
geschichte erscheint daher die gegenseitige Selbstaufhebung der sich 
ausschließenden Confessionsdogmen und die Gewährung voller Frei- 
heit für die philosophisch -theologische Gestaltung der christlichen 
Idee, die in diesem Streben nach Freiheit und Rationalität in den 
großen Theologen der bisherigen Kirchen Vorläufer und Zeugen immer- 
dar gehabt hat, aber in ihrer inhaltlichen Ausführung sich als lo- 
gisches Ergebnis der vorangegangenen Entwickelungen nicht zu fühlen 
und nicht zu beweisen braucht. Das ist zwar auch sehr wenig im 
Sinne Baurs, aber an sich keine üble Auffassung und darf als brauch- 
bare Ergänzung der unter einseitig kirchengeschichtlicher Behandlung 
stehenden Dogmengeschichte Harnacks zur Seite treten. In der 
Tat verdanken die besten Partien des Dorner’schen Buches diesem 
Gedanken ihren Charakter und ihren Wert. Mit bemerkenswerter 
Intuitionskraft zeichnet Dorner ein Bild der antagonistischen Kräfte 
des Dogmas und der Theologie, wobei er beide nach ihrem theologisch- 
begriftlichen Inhalt neben einander stellt und die Details der Fixirung 
des einen wie der litterargeschichtlichen Zusammenhänge der anderen 
der Kirchengeschichte überläßt. So entstehen gelegentlich anschauliche 


Dorner, Grundriß der Dogmengeschichte. 269 


Gemälde der gegeneinander spielenden geistigen Kräfte, und in der 
Analyse dogmatisch - kirchlicher Festsetzungen wie theologisch-syste- 
matischer Begriffsgebäude zeigt sich sowohl die dialektische Gewandt- 
heit des feinen Dogmatikers wie die kulturhistorische Kunst der Hegel’- 
schen Schulung. Und es ist sehr lehrreich, in diesen Bildern das 
von der konfessionellen Geschichtsschreibung auf die kanonisierten 
Lehren und die approbierten Denker konzentrierte Licht gleichmäßig 
auf sie und auf die Stiefkinder der kirchlichen Darstellungen ver- 
teilt zu sehen. Freilich muß ich von dieser Anerkennung die 
Schlußpartieen ausnehmen. Gerade hier soll das Endergebnis der 
Dogmengeschichte, die Auflösung des konfessionellen Dogmas und 
der Einsatz des freien Spiels theologischer Begriffsbildungen ge- 
schildert werden. Aber hier versagt auch Dorner’s Darstellung am 
gründlichsten. Denn erstlich sind die Motive, die zu dieser Um- 
wälzung geführt haben, viel zu ausschließlich in innerkirchlichen und 
innertheologischen Vorgängen gesucht und ist den sogenannten 
Dissenters der Reformation ein viel zu großer Einfluß auf diese 
Umwälzung eingeräumt. Dorner will die moderne freie und rationale 
Theologie direct aus dem Protestantismus als Ausdruck seiner 
wesentlichen Tendenz ableiten, und muß zu diesem Zwecke den 
Begriff des ursprünglichen Protestantismus ausweiten, indem er die 
Dissenters in ihn aufnimmt und aus dem Wegfall der unberechtigten, 
von der Lehrkirche gegen die Dissenters errichteten Scheidewand 
den toleranten, freien und nuancenreichen Protestantismus der Neu- 
zeit entstehen lässt. So soll auf dem Umweg über die Dissenters 
als genuin protestantisch erwiesen werden, was in Wahrheit eine 
Wirkung der allgemeinen, von Dissenters wie Protestantismus gleich 
unabhängigen Kulturumwälzung ist. Stammt doch die Toleranz, die 
den Dissenters allmählich Einfluß gewährte, und die historische 
Gerechtigkeit, die sie mit unter die reformatorische Bewegung 
einreihte, aus modernen ethischen und historischen Einsichten, die beide 
nicht vom Protestantismus hervorgebracht sind. Zweitens aber ist die 
Darstellung des modernen Protestantismus selbst im höchsten Grade 
ungenügend. Dorner verweist zwar die ausführliche und eigentliche 
Darstellung dieser Periode — gemäss seiner besonderen encyklopä- 
dischen Einteilung — der sog. Symbolik zu. Aber dieser Hinweis 
kann es doch nicht entschuldigen, daß uns ein so unordentliches 
Durcheinander philosophischer und theologischer Systembrocken ge- 
geben wird, welches selbst für ein Konversationslexikon zu bunt und 
summarisch wäre. Es ist ja auch ganz deutlich, dass der Grund 
dieser Dürftigkeit nicht sowohl in der Versparung der bessern Ein- 
sichten auf die Symbolik, sondern in dem Bestreben liegt, die moderne 


270 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


Situation lediglich aus Protestantismus und Dissenters abzuleiten, 
während sie in Wahrheit vor allem unter dem Einfluß der außer- 
theologischen Wissenschaft steht und bei der nötigen Rücksicht auf 
diese Einflüsse sich sehr wohl gliedern und erleuchten läßt. 

Aber diese Mängel mögen — bis auf ein gleich noch zu ihnen 
zu äußerndes Wort — auf sich beruhen. Die Hauptsache ist, daß in 
Wahrheit die Dorner’sche Dogmengeschichte ja gar nicht beabsichtigt, 
nur das Gewicht der Darstellung zwischen der kirchlich-dogmati- 
schen Arbeit und der freien, selbständig aufs Ganze gehenden 
Theologie gleich zu verteilen und als Ergebnis lediglich das schließ- 
liche Uebergewicht der zweiten über die erste zu erweisen. Sie 
will thatsächlich viel mehr, wie schon das Vorwort prinzipiell aus- 
spricht und wie dann die Schlußabhandlung es genauer im Ergebnis 
festzustellen versucht: sie will das Wesen des Christentums erkennen 
lehren und diese ihre historische Erkenntnis abliefern an die Syste- 
matik zur religionsphilosophisch - apologetischen und metaphysisch- 
spekulativen Erweisung dieses Wesens als der maßgebenden religiösen 
Wahrheit. Damit sind wir denn doch wieder bei der eigentlichen 
Tendenz der Baur’schen Arbeit angelangt. Aber wir fragen uns 
erstaunt, wie man diese Tendenz durchführen wollen könne auf Grund 
einer historischen Darstellung, die, wie die eben skizzierte, alle Vor- 
aussetzungen der Baur’schen Konstruktion, die Fassung der Religion 
als eines in metaphysischen Bestimmungen sich spiegelnden Bewußt- 
seinsvorganges und die Fassung der christlichen religiösen Idee als 
einer mit immanenter Dialektik sich vorwärtstreibenden Kraft, teils 
gänzlich bei Seite gelassen, teils direkt durchbrochen hat? Wie 
kann er seine Dogmengeschichte, die schon nach dem Titel lediglich 
eine Geschichte der Dogmen und der Lehrbildungen ist und die in 
keiner Weise wie Baur in die Tiefe der eigentlich religiösen Er- 
lebnisse zu tauchen bemüht ist, im Ernst für eine Religionsgeschichte 
des Christentums halten? Und, wenn er es thut, wie kann er 
bei seiner Führung der Darstellung einer solchen Geschichte die 
Funktion zuweisen, als Resultat des geschichtlichen Prozesses die 
explicierte, intensiv und extensiv bearbeitete christliche Idee der 
Religionsphilosophie und Glaubenslehre zu übergeben? Gewiß ist 
Baur’s Gedanke an sich ein großer und unverlierbarer. Aber wenn 
man nicht, wie er, für seine Durchführung eine Anleihe bei der 
Hegel’schen Entwickelungsidee macht, dann müssen die in dieser 
Aufgabe enthaltenen Probleme einer sehr sorgfältigen und eingehenden, 
selbständigen Untersuchung unterworfen werden. Dann ist die Frage, 
wie sich für eine unbefangene Forschung die genuine Idee des Ur- 
christentums darstelle und welche Bedeutung ihr als der naivsten, 


Dorner, Grundriß der Dogmengeschichte 271 


stärksten und unabhängigsten Aeußerung des Christentums für 
alle weitere Zukunft desselben zukomme. Weiter ist die Frage, 
worin der historische Erwerb bestehe, den die Geschichte aus der 
genuin christlichen Idee hervorgebracht und den sie in den histo- 
rischen Anpassungen und Anregungen ihm hinzugefügt hat. Vor 
allem aber ist die Frage, wie weit hierbei die klassische Urzeit 
und der historische Erwerb wirklich zu einer inneren Einheit zu- 
sammengehen und inwiefern bloß Aneignung und Gestaltung von 
ursprünglich dem Christentum fremden Kulturelementen behauptet 
werden kann. 

Alle diese Fragen haben aber Dorner so wenig Sorge gemacht 
als das Problem des von Baur vorausgesetzten Entwickelungsbegriffes. 
Er bezeichnet vielmehr einfach als Resultat die gegenseitige Auf- 
hebung der konfessiorellen Dogmatismen und die Ausbildung einer 
freien rationalen Theclogie. Diese freie rationale Theologie setzt 
sich aber zu der voratsgegangenen Entwickelung in das ganz ein- 
fache Verhältnis, daß sie lediglich das den verschiedenen Dogmen 
und Systemen Gemeinsane als »Prinzip des Christentums< abstrahiert, 
die in den verschiedenen Konfessionen besonders vorzüglich aus- 
gebildeten Elemente dies:s Prinzips vereinigt und das so verstandene 
Prinzip dann der apologe:ischen und spekulativen Raffinerie übergiebt. 
Gerade, als ob nicht deser Begriff des Gemeinsamen eines der 
schwierigsten Probleme darböte, als ob nicht der Protestantismus 
mit Recht das ganze latholische Kirchentum als eine ungeheure 
Materialisierung der Religion betrachtete und als ob nicht in anderer 
Hinsicht auch wieder «er Protestantismus weit vom Urchristentum 
abginge! Man lese nur die Formulierung des von Dorner heraus- 
gehobenen Gemeinsamen: Das Wesen des Christentums besteht darin, 
daß die Gottesgemeinschft, welche alle Religion anstrebt, in den 
ethisch bestimmten Persönlichkeiten als universal-ethische Gottmenschheit 
realisiert wird; damit i¢ einmal der Wert der Persönlichkeit in das 
Unendliche gesteigert; es ‘st aber zugleich ein ethischer Universalismus 
eingeleitet, der in der Ide des Reiches Gottes seinen Ausdruck findet, 
welches das religiös-sittline Leben der Menschheit als ein Reich von 
Geistern umfaßt, das zugeich die Harmonie von Geist und Natur um- 
schliessen soll. Mit dieer ethisch bestimmten Grottmenschheit weiß 
das Christentum sich als de absolute Religion; die Menschheit hat hier 
positiv die höchste ihrem Vesen entsprechende Stufe beschritten, und 
negativ sind die Hemmniss, welche der Frömmigkeit entgegenstehen, 
Sünde und Schuld, sowie trafe durch die Macht des den Christen 
immanenten Gottesgeistes gundsätzlich überwunden. Dieses Prineip 
ist mit Christus in die Weli getreten, und wenn die Christen dasselbe 


272 Gott. gel. Any, 1901, Nr. 4. 


in Christus anschauen, so kann das nicht ausschliessen, daß die kon- 
kreten zeitlich bestimmten Formen, in denen Christus dieses Prinzip 
dargelegt hat, nicht die gleiche Dignität mit dem Prissip selbst haben 
können. S. 622. Für keinen Kenner der Geschichte wird diese 
Formel das thatsächlich Gemeinsame bezeichnen können, und nur 
für sehr wenige werden hierin überhaupt die genuin christlichen 
Gedanken eigentlich enthalten zu sein scheinen. Sie enthält viel- 
mehr eine Verbindung des Genuin-Christlichzn mit modernen 
Elementen, die selbst ein schweres und beunmhigendes Problem 
ist. Fragen wir dann aber weiter nach den Fortschritten, die 
dieses Princip in der Geschichte gemacht haben und in denen 
es sich expliciert haben: soll, so werden uns folgende kahle Sätze 
dargeboten : Darin hat die griechische Kirche Recht, daß das Christen- 
tum auf die Gotteserkenntnis drängt und daß es nit einer theoretischen 
Skepsis nur ein lahmes Dasein führen könne. S 623. Der Romanis- 
mus vertritt die wesentliche Wahrheit, daß dis christliche Prinzip 
den Willen bestimmen und in der Gemeinscheft des Reiches Gottes 
sich realisieren will. S. 625. Der Protestantsmus hat in der Heils- 
gewißheit und in der Hervorhebung der natürlichen Ethik den ethisch 
bestimmten persönlichen Charakter der unmittebaren christlichen Gottes- 
gemeinschaft als den den Menschen naturgemäßen Zustand mit Recht 
betont. S. 625. Der neuere Protestantisnus schließlich hat das 
Glaubensprinzip aus den Zustand der Naivtät und Unmittclbarkeit 
in den Zustand bewufter Selbsterkenntnis ehoben. S. 626. Es ist 
schwer, diese vier Errungenschaften als enen sich summierenden 
Fortschritt zu betrachten, wenn sie auch allnfalls als lehrreiche Be- 
tonungen einzelner Momente des christlichenPrinzips bezeichnet wer- 
den können. Aber die Hauptsache ist, daß mi alledem die wirklichen 
Probleme der Geschichte des Christentums gar nicht gefaßt sind. 
Diese liegen vielmehr in der Frage, wie dasursprünglich gegen alle 
Kulturelemente, gegen Wissenschaft, gegen Staat, Recht und Gesell- 
schaft, gegen innerweltliche Moral und Kunt gleichgiltige Christen- 
tum thatsächlich mit diesen Mächten sich auseinander gesetzt hat 
und wie weit diese thatsächlichen Auseinanersetzungen ein in sich 
zusammenhängendes geistiges Leben ergelen haben und ergeben 
können. Davon müßte eine Untersuchug über das Wesen des 
Christentums vor allem handeln und davon handelt das Dorner’sche 
Buch so gut wie gar nicht, weil es in einer abstrakten Fassung 
des Prinzips diese Fragen schon erledigt :u haben meint und aus 
der geschichtlichen Entwickelung nur lie Bestätigungen dieser 
Fassung — wenig wählerisch genug — sih ausliest. 

Als Geschichte der Dogmen und de Theologie hat das Buch 


Dorner, Grundriß der Dogmengeschichte. 278. 


Verdienste, als Religionsgeschichte und Darstellung des Wesens des 
Christentums nicht. Und auch als erstes leidet es unter den Mängeln, 
die es als zweites hat, womit ich zum Schluß auf die oben angedeutete 
Sache komme. In der Gemeinsamkeit des Prinzips gehen alle 
charakteristischen historischen Unterschiede unter. Die oben gerügte 
Dürftigkeit und Unklarheit der Darstellung des neueren Protestan- 
tismus hat ihre tiefsten Grund gerade darin, dass seine Zustände direkt 
aus dem christlichen und näher noch aus der reformatorischen Modi- 
fication des christlichen Prinzips abgeleitet werden sollen, während 
sie in Wahrheit aus der Einwirkung rein wissenschaftlicher und 
kultureller Kräfte auf das überkommene und in kirchlicher Schale 
gefestigte Christentum hervorgehen. So kommt es zu keinem Ver- 
ständnis der doch auffallend eigenartigen Beschaffenheit des neueren 
Protestantismus. Es ist vielleicht nicht ganz unrichtig, wenn Dorner 
diese Eigenart als Erhebung aus dem »Zustand der Naivität und 
Unmittelbarkeit in dem Zustand bewußter Selbsterkenntnis« bezeichnet, 
sofern nämlich damit gesagt sein soll, daß jetzt eine historische, 
relative Auffassung des Christentums und seiner Kirchen eingetreten 
ist, die mit Hilfe von Analogie und Vergleichung die Entstehungs- 
geschichte historisch nachversteht und nicht mehr in ihm die 
absolut unvergleichbare, fertig von Gott auf überhistorische Weise 
gegebene und daher nur unmittelbar anzueignende Wahrheit sieht. 
Aber diese historische Auffassung mit all ihren Folgen ist nicht aus 
dem Prinzip selbst, etwa aus Selbstbesinnung und Selbstreflektierung 
des Prinzips, hervorgegangen, sondern aus der zunächst in der 
Profanwissenschaft erarbeiteten historischen Methode und aus der 
modernen Stellung zur Wirklichkeit überhaupt. Ohne den Einfluß 
dieser beiden hat die bewußte Selbsterkenntnis immer nur Mystik 
d. h. beobachtende und anleitende Reflexion über die individuell 
religiösen Vorgänge hervorgebracht, wobei wohl der positiv-dogma- 
tische Charakter der Religion und deren historische Grundlage zurück- 
treten mag, aber niemals historisch-kritisch erforscht wird. Aber 
nicht bloß diese der Neuzeit gewidmeten Partieen sind so verdorben, 
sondern auch die an sich sehr lehrreich und schön dargestellten Sy- 
steme der älteren Kirche. Ihnen ist die ehrwürdige Patina des 
Altertums abgekratzt und statt dessen der Firniß des Prinzips über- 
gezogen, durch den sie mit der modernen Theologie vergleichbar 
und ähnlich gemacht werden. So kommt eine Aehnlichkeit der 
alten Theologie mit der modernen zu Stande, die für das Ver- 
ständnis der geschichtlichen Entwickelung und für die Lösung theo- 
logischer Aufgaben nichts nützt, und wird auf der anderen Seite die 
wahre Eigentümlichkeit und Bedeutung jener Denker verhüllt. Es 


974 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 4. 


ist ja richtig, daß sie das Christentum als universale und rationale 
Religion schildern wollten. Allein das ist für jeden, der eine 
historische Religion als normative Wahrheit erweisen will, selbst- 
verständlich. Nur darauf kommt es an, in welcher Weise das 
geschieht, und da ist die entscheidende Erkenntnis, daß ihre 
Art, die Zusammenordnung einer natürlichen und übernatürlichen 
Theologie, durch die allgemeine wissenschaftliche Lage herbeigeführt 
wurde, für die Gegenwart aber unbrauchbar ist. Ebenso ist es 
ja richtig, daß jene Theologen die Spannung zwischen der an sich 
geltenden Wahrheit und der mit ihr verknüpften bloß historischen That- 
sächlichkeit lebhaft empfanden. Allein auch hier ist es selbstverständlich, 
daß alle lebendig gefühlte Religion auf das Gegenwärtige und Ewige 
geht und positiv historische Bestandteile von hier aus für die un- 
mittelbare religiöse Empfindung beseitigt oder irgendwie in Gegen- 
wärtiges und Ewiges verwandelt. Auch hier handelt es sich nur um 
die Art, wie das geschieht, und gerade die ist wiederum bei alten 
und modernen Theologen grundverschieden; die ersteren haben Allego- 
rese und dogmatische Exegese zur Verfügung, die neueren sind durch 
die historisch-kritische Forschung gebunden und müssen das Problem 
von hier aus angreifen. Andererseits kann das wahre Verdienst jener 
Theologie nur verstanden werden, wenn sie gemessen wird an den 
Ansprüchen und Voraussetzungen der damaligen Religionsphilosophie 
und synkretistischen Theologie sowie an dem vorausgehenden und 
begleitenden altchristlichen Gemeindeglauben. Dann wird sich zeigen, 
daß das Begriffsgemenge der Religionsphilosophie und synkre- 
tistischen Theologie der Spätantike, von christlichen Ideen ergriffen 
und durchgearbeitet, sich zu einer neuen originalen und bedeut- 
samen Denkweise wandelt, die zwar den gänzlich unexakten und 
unhistorischen Sinn des damaligen Denkens teilt, aber die alten kost- 
baren platonischen, stoischen und aristotelischen Gedanken um ein 
neues stärkeres Zentrum sammelt. Nicht minder zeigt sich von der an- 
deren Seite her, daß dieser keineswegs aus innerer Nötigung des 
Prinzips, sondern durch äußeren Zwang verursachte Aufstieg des 
Christentums aus dem unlitterarischen und halblitterarischen Dasein 
zu den Höhen damaliger Wissenschaft es vor ganz neue und 
schwierige Probleme stellt, zu wissenschaftlichen und praktischen 
Kompromissen nötigt, in denen für lange Zeit der Aneignungs- und 
Fortbildungsprozeß zur Ruhe kam, die aber den ganz anderen Ver- 
hältnissen späterer Zeiten nicht mehr dienen konnten. Alles das 
sieht ein frisches und unverbildetes Auge ohne Weiteres, und hierbei 
könnten sich die interessantesten Fragen über Wesen und Entwicke- 
lung des Christentums aufwerfen lasseu. Aber daran hindert überall 


Dorner, Grundriß der Dogmengeschichte. 275 


die unglückliche Idee von dem nur formell sich modificierenden Prin- 
zip, dem bloß überall noch eine Kleinigkeit zu seinem richtigen 
Ausdruck in einem spekulativen Gottesbegriff fehlt und das daher 
überall nur die Charakteristik gestattet, daß der ihm ganz adäquate 
ethische Gottesbegriff >noch nicht« geprägt wurde, daß dies oder 
jenes >»noch« verkürzt oder »noch einseitig« geblieben ist. Dieses 
immer wiederkehrende >noch nicht< zeigt mehr als irgend etwas an- 
deres die Unfruchtbarkeit einer derartigen Untersuchung des Wesens 
des Christentums, und es bedarf gar nicht des Hinweises auf die 
schlimmste Partie des Dornerschen Buches, auf die Darstellung des 
Urchristentums, von dem Dorner nicht viel mehr zu sagen weiß, als 
daß hier das christliche Prinzip sammt seiner Harmonie von Geist 
und Natur, seiner ethischen Immanenz und seinem ethischen Univer- 
salismus »noch< in der bloß unmittelbaren, unreflektierten Form und 
noch nicht< in der Form wissenschaftlicher Reflexion existiert habe. 
Dieses Noch-nicht war schon der Mangel der im übrigen unvergleich- 
lich viel kräftigeren und tiefer grabenden Baur’schen Darstellung. 
Wer sie wieder aufnehmen wollte, der mußte sich klar machen, daß 
nach der inzwischen gepflegten Detailforschung über das Urchristen- 
tum von einer bloß einfach, konsequent und logisch ihren Inhalt 
heraussetzenden Idee nicht die Rede sein kann, sondern überwiegend 
von einem Aneignungs- und Gestaltungsprozeß, in welchem ein von 
Haus aus aller Kosmologie und Weltwissenschaft ferner, lediglich auf die 
ewigen Persönlichkeitsgüter gerichteter eschatologischer Gottesglaube 
Kosmologie und Kulturethik zu bewältigen und sich einzuverleiben 
strebte. Wer in dieser Arbeit, die mehr Kampf und schöpferische Pro- 
duktion als logische Denktätigkeit ist, eine zusammenhängende Idee, 
ein Wesen des Christentums, erkennen will, muß sich damit begnü- 
gen, im Evangelium die Möglichkeit einer solchen Aneignung aufzuzeigen 
und im übrigen die Formel für das Wesen des Christentums als eine 
antinomische, den Gegensatz höchster Transzendenz und unbefangen- 
ster Immanenz in sich schließende zu bilden. Diesen Gegensatz 
selbst, der vielleicht von Haus aus als im Evangelium angedeutet 
betrachtet werden darf und der sich in der Aneignungsarbeit des 
Christentums unendlich verschärft hat, werden wir so wenig über- 
winden als ihn ein Origenes und Augustin, ein Thomas und Luther 
»überwunden« haben. 


Heidelberg, 14. November 1900. E. Troeltsch. 





276 . (Gott. gel. Anz, 1901. Nr. 4. 


König, E., Stilistik, Rhetorik, Poetik inBezug auf diebiblische 
Litteratur komparativ dargestellt. Leipzig 1900, Dieterichsche Verlags- 
buchhandlung. VI 421 S. Preis 12 M., geb. 14 Mk. 


In der Einleitung seines Werkes redet der Herr Verf. über den 
Begriff Stilistik; er versteht darunter die charakteristischen Züge 
der Sprachverwendung, die teils von der psychologischen Eigenart 
des Schriftstellers, teils von der literarischen Eigenart seines Stoffes 
abhängig sind. Zum Prinzip der Einteilung der zu betrachtenden 
sprachlichen Erscheinungen macht er die Anforderungen, die der 
menschliche Geist an den guten Sprachstil stellt; diese sind für die 
urteilende Sphäre der Seele (Stilistik im engeren Sinne) Deutlichkeit 
der einzelnen Ausdrücke und Klarheit der Wortzusammenhänge, — 
für die voluntative Sphäre (Rhetorik) Bestimmtheit (das behauptende, 
verweilende Element) und Lebendigkeit (das vorwärts dringende 
Element) und für die ästhetische Sphäre (Poetik) Schönheit und 
Wohllaut. 

Im ersten Teil seines Werkes behandelt der Hr. Verf. die von 
der urteilenden Sphäre geforderte Deutlichkeit und Klarheit, sowie 
deren Gegensätze. Unter dem Titel Mangel an Deutlichkeit be- 
spricht er, nach Homonymen, Archaismen etc. auch die sog. Zwei- 
deutigkeit des Ausdruckes. Ein »halbbewuftes< Beispiel davor 
sieht er m. E. mit Unrecht in dem ur» Ri. 7,13, das nach v. 14 an 
mons etc. anspielen soll. Wäre das beabsichtigt, dann hätte der Er- 
zähler 3 weggelassen und mandy in v. 14 hereingebracht. Als 
Beispiel beabsichtigter Amphibolie wird dann Jos. 13, 7° angeführt. 
»Die Hälfte des Stammes Manasse, welche östlich vom Jordan ange- 
siedelt wurde, wird am Anfang von 8 als die westlich (!sic) vom 
Jordan wohnende Hälfte aufgefaßt, wie wenn der Erzähler diese er- 
wähnt gehabt hitte<. Die Möglichkeit einer solchen Ausdrucksweise 
dürften wir nicht annehmen, auch wenn LXX uns nicht den voll- 
ständigen Text bewahrt hätten, der in MT aus sehr einfachem 
Grunde ausgefallen ist. »5wa> Joel 2,17 soll doch wahrscheinlich 
den doppelten Sinn von bekritteln (?) und beherrschen haben<, was 
angesichts des Parallelismus mehr als fraglich ist. Zu einer beson- 
deren Art der Dilogia rechnet der Hr. Verf. neben Gen. 48, 22 
Ri. 10,4 u.a. auch Jes. 58,10; aber daß dort Tops sachlich = ‘ard 
sein soll, ist unerhört. In % 141, 5 ist das unverständliche wx5, das 
nach dem Hrn. Verf. den Superlativ umschreiben soll, wahrscheinlich 
— wie öfter — Schreibfehler für 0%. Zu den beabsichtigten Dun- 
kelheiten des Ausdruckes rechnet er auch das Rätsel; genau genom- 


König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. 277 


men gehört dessen Besprechung freilich nicht hierhin, wo von 
der Dunkelheit des einzelnen Ausdrucks, nicht der Wortzusammen- 
hänge, die Rede ist. Das Rätsel scheint in der engsten Verbindung 
mit dem 5wo, Vergleichung und Allegorie, gestanden zu haben. Dafür 
spricht deutlich das uns in Ri. 14, 14 aufbewahrte Rätsel, das übri- 
gens schwerlich zu übersetzen ist »Speise kam vom Fresser und 
zwar süße Speise von einem starken (Fresser)«e! Daher das häufige 
Zusammenstehen von Sw und mm, worauf ich zu Prov. 1,1 hin- 
gewiesen habe. Die Frage, in der dort v. 18 die Lösung gegeben 
wird, ist keine »rätselhafte«, sondern ein rein rhetorische. Die litte- 
rarische Form, die z. B. in Prov. 6, 16—19 vorliegt, wird sehr miß- 
verständlich >Zahlenrätsele genannt. Von einem Rätsel hat die m 
nichts an sich, sie ist von Anfang an (Amos) nichts als eine littera- 
rische Art der Einführung gewesen, um die Aufmerksamkeit zu 
wecken. Zu den rätselhaften Ausdrucksweisen rechnet der Hr. Verf. 
auch >Spuren von diplomatischer vorsichtiger Ausdrucksweise<, die 
er z.B. in dem Dan von % 89,51 vorfindet. Der Text dieses Ver- 
ses ist aber konfus, wie die Kommentatoren beweisen; man wird 
wohl ändern müssen in D43% Day PSp “ma wnNw. Auch in Prov. 28, 3 
liegt eine solche Ausdrucksweise nicht vor, statt des sinnlosen DR" 
ist dort yw" wiederherzustellen. Wenn ferner das “asm von 
It Kön. 11,1 in ll Chr. 22,10 "an lautet, so liegt hier schwerlich 
eine ganz unerklärliche diplomatische Vorsicht vor, sondern ein 
bloßer Schreibfehler; a8 wurde "an gelesen und geschrieben und 
daraus ist "an entstanden. — Als Mittel, die Deutlichkeit des ein- 
zelnen Ausdrucks zu steigern, nennt der Hr. Verf. die Meto- 
nymie und die Synekdoche mit ihren Unterarten. Unter Metonymie 
versteht er die Umsetzung des nächstliegenden Ausdruckes in einen 
innerlich qualitativ mit ihm zusammenhängenden; so werde die Ur- 
sache für die Wirkung gesetzt, Vorfahre für Nachkomme etc. Un- 
ter den Stellen, in den “D Aussprache (? wohl Ausspruch) bedeute, 
führt er auch Gen. 41,4 an. Das dort gebrauchte pw, das Kreuz 
der Erklärer, ist verschrieben für A70p", wie noch LXX lasen; der- 
selbe Stamm liegt in Gen. 3,16 zu Grunde, vgl. diese Anzeigen 1900 
No. 11 S. 836. Auch in Jes. 11,4 bedeutet 1) sein Ausspruch, 
denn die Auffassung 'enap = niederstreckende Strafsentenz ist 
sprachlich kaum möglich. "“xp kann doch in der Verbindung ‘prxp 
nicht das Geschnittene bedeuten, das geht ja gerade aus den vom 
Hrn. Verf. angeführten Stellen deutlich hervor. na ist in Jes. 42, 6 
parallel 53 185) ebenso wenig ein lebendiger »Mittler des Bundes« 
wie yo» Micha 1,5 ein auctor rebellionis; oder soll nach der Mei- 
nung des Hrn. Verf. das "a dies etwa anzeigen? Die Sünde vertritt 


278 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


auch in Jes. 1,18 %*35% nicht ihre Urheber und auch mbw Micha 5, 4 
ist nicht auctor pacis; an dieser letzten Stelle ist wahrscheinlich 
zu lesen bw TR mu und diese Worte bilden den Abschluß der 
Schilderung in v. 3. — Unter dem Titel Metonymie der Sphäre, 
resp. der Werkstätte für den Inhalt bespricht der Hr. Verf. den Aus- 
- druck 25 59 "35, den er kaum mit Recht erklärt »reden über das 
Herz hinein<; denn man sagt ebenso IX >59 ‘7 und 'D 59 "=. Unrich- 
tig, zum mindesten irreführend, ist auch die Aufführung der %8 un- 
ter diesem Titel, als ob ®p) eine Sphäre, eine Werkstätte wäre, in 
der sich die Begierden etc. regten; nein, ©) bedeutet nicht »Seele«, 
sondern nichts als Streben, Gier. Die Stelle Kigel. 2, 22, wo ‘nw. 
nach dem H. Verf. notwendig accolas meos bezeichnet, ist falsch er- 
klärt. Das Unheil, das Jerusalem von allen Seiten ängstet, wird 
verglichen mit Gästen, die Gott wie zu einem Feste von allen Rich- 
tungen zusammenruft, so daß die Stadt keinen Ausweg mehr sieht: 
200 Tun! Die Auffassung, in Deuter. 28,5. 17 liege eine Meto- 
nymie des Korbes für den Inhalt vor, ist m. E. nicht richtig. Ob 
das Aufbewahrte länger anhält oder schnell schwindet, liegt nach 
der abergläubischen Vorstellung an den Gefäßen: ein »gesegnetes« 
Gefäß hat es an sich, seinen Inhalt lang zu bewahren, in einem ver- 
fluchten Gefäß lauert der Fluch und verzehrt das Aufbewahrte. Der 
»Segen< erstreckt sich wirklich auf das Gefäß, nicht auf den Inhalt, 
vgl. I Kon. 17,14. Hagg. 1,6. 2,15 f. In Prov. 5,9 kann — von 
allgemeinen Gründen abgesehen — wegen v. 10 unmöglich davon die 
Rede sein, daß der Ehebrecher dem Ehemann sein Leben giebt. In 
y 78,61 bezeichnet 1179 und ‘NNpn, wie öfter, das heilige Volk, aber 
nicht die Bundeslade. rm ersetzt niemals, auch nicht Jes. 30, 1 den 
Geistesbesitzer. Die Redensart »sie biß sich in den Finger<, die 
der Hr. Verf. aus der Höllenfahrt der Istar anführt, ist auch im 
Arabischen ganz gebräuchlich, vgl. Antar fasc. 2 S. 79, ich zitiere 
nach der Ausgabe Cairo 1306—11, pol Kae aS Je yası, vgl. auch 
S. 74. Zu der Metonymie Inhalt für Raum zählt der Hr. Verf. auch 
den Gebrauch von 1x2 ma, das aus der Bedeutung »die Bewohner- 
schaft Zions< zu einer Bezeichnung der Stadt selbst geworden sei. 
Diese Erklärung ist schwerlich richtig. Die Stadt wird verglichen 
mit einer Frau, die mit ihren Kindern hier Wohnsitz hat (aw im 
prägnanten Sinne von der Frau gesagt). ma, plur. m2 bekannter, 
ist weiter nichts als feinerer, poetischer Ausdruck für Frau. ‘2 ms, 
und ähnliche Ausdrücke, vgl. Klagel. 4, 21, bezeichnet ursprünglich 
weder die »Bewohnerschaft von Zion< noch die »Stadt selbst« in 
ihrer nüchternen Realität, sondern ist eine poetische Personifikation, 
wie das Hebräische (und Arabische) sie lieben, vgl. die Bildung der 


König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. 279 


Stammnamen. In Klagel. 1,6 ist übrigens aus »und auszog (! vom 
Hr. V.) aus bath Zion< nicht zu entnehmen, daß hier die Stadt selbst 
gemeint sei, denn x heißt in solchen Fällen einfach aufhören, ver- 
schwinden, ohne daß man fragt wohin? so heißt 125 x2“ nicht etwa: 
»Das Herz ging aus ihm heraus<! Aehnlich ist die Bedeutung des 
absolut gebrauchten 21%, nicht etwa = zurückkehren an den Ort, 
den man verlassen hat, sondern wieder werden, wieder funktionie- 
ren etc. Aehnlich werden >m und J!, gebraucht, vgl. auch sc in 
Ant. 1. 31 spite Slst (sol Zi disse. In I Kon. 8,21 soll mma 
zunächst Bundesmittel sein und zugleich soviel wie Bundesbuch — 
das ist eine exegetische Ungeheuerlichkeit, über die weiter nichts zu 
sagen ist. In Deut. 28, 57 wird in den Worten ‘539 ‘20 naarın 
nicht von dem weiblichen Sprößling der Frau geredet; vgl. GGA. 1900 
No. 11 S. 838. Unverständlich ist mir, wie der Hr. Verf. schreiben 
kann: »Spater wurde auch "38 »penna< ein Ausdruck für penis und 
man findet ihn z.B. in der kulturgeschichtlich interessanten Stelle 
Sanhed. 107a«e. “AN ist doch in der Bedeutung »Glied< ein ganz 
gebräuchliches Wort, vgl. z.B. MiSna Nazir 7,2 — und daß das 
euphemistisch gebrauchte "a8 auf dies ‘x — Glied zurückgeht, ist 
wohl zweifellos! Auch in der Stelle aus Sanh., die der Hr. Verf. an- 
führt, ist 8 = penna = penis sinnlos. Was den Gebrauch von 97, ein 
Weib erkennen, angeht, so glaube ich mit Schwally, daß, dem Wesen 
der hebräischen Ausdrucksweise ganz entsprechend, das selbstverständ- 
liche Objekt 11%9 oder ‘na ausgelassen ist, vgl. weiter unten. Zu den 
von dem Hrn. Verf. angeführten Euphemismen füge ich noch folgende 
aus der Mischnah hinzu, 27293 Ano, Neen wnwen, ww rıorno) 
(Ket. 1,6 und öfter). 

Unter den Beispielen der Ironie führt der Hr. Verf. wohl mit 
Unrecht den verdorbenen Text Ez. 20, 39 an, vgl. Pes. Aus % 60, 10c 
klingt kein Hohnruf, sondern der Text ist zu lesen: 9A non Py, 
Auch in Prov. 11,22 liegt wohl — für unser Empfinden — ein et- 
was überraschendes und lächerliches Bild vor, aber keine Ironie; 
ebenso wenig Prov. 28,8. Dort ist 55 pm nicht eine ironische und 
dabei witzlose Bezeichnung des Gottlosen selbst, sondern bezeichnet 
in vollem Ernste den mildtätigen Frommen, vgl. meinen Kommentar 
z. St. Beim Kapitel »Humor« kommt der Hr. Verf. auch auf I Sam. 
24,15 zu sprechen: »jedenfalls sollte dem Verfolgungszug des Saul 
der Stempel der Lächerlichkeit aufgedrückt werden, indem dieser 
Zug mit einer Flohhatz auf einen einzigen Floh verglichen wurde«. 
Uns mutet diese allerdemütigste Selbstbezeichnung Davids wohl 
lächerlich an, ob sie aber so gemeint war, darf man mit Recht be- 
zweifeln. Ein Witz, oder nur ein Scherz paßt wenig in die Lage 


280 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 4. 


und Stimmung des David. — Was fa zum Ausdruck des Komparativs 
betrifft, so stimme ich mit dem Hrn. Verf. ganz darin überein, daß 
es nicht = non ist. Aber in der Auslegung von Gen. 38, 26, I Sam. 
24,18 (Luc. 18,14) bin ich anderer Meinung. An diesen Stellen 
handelt es sich gar nicht um eine allgemeine »Gerechtigkeit«, die 
man in solcher Absolutheit natürlich weder dem einen noch dem 
andern zuschreiben kann, sondern es fragt sich, wer im vorliegenden 
Rechtsfall Recht hat, wer der px und wer der 30% ist. Pr2 mit 
Ta des Gegners sagt man, wenn es sich herausgestellt hat, daß der 
Verklagte unschuldig ist und der Kläger keine Ansprüche an ihn 
hat; vgl. den Ausdruck "389 "3% 3; mit dem jx der Verglei- 
chung hat dieser Ausdruck nichts zu thun. — Zur Synekdoche rech- 
net der Hr. Verf. zunächst das pars pro toto und seine Unterarten. 
Unter den Beispielen zählt er auch w# 21,13b auf, wo Sehne als 
Hauptbestandteil den Bogen vertreten soll; doch ist der Text hier 
sehr fraglich. Der Ausdruck per "MT y 58,8 kann nicht hierher 
gehören, weil ‘xm kein Teil des Bogens sind. Als Beispiel für das 
totum pro parte wird Gen. 14, 8. Ri. 20, 22. II Sam. 11,15 ange- 
führt, wo »Schlacht« für Schlachtreihe gesagt sei; aber diese Auf- 
fassung ist in den beiden ersten Stellen zum mindesten nicht nötig 
und wird an der letzten Stelle durch das neben rarı»a stehende Ad- 
jektiv geradezu verboten. mwx 5", das der Hr. Verf. als ein Bei- 
spiel der Generalisierung — daß nämlich ein ursprünglich allgemei- 
ner Begriff oder Attribut von allgemeinerer Bedeutung zur Charak- 
terisierung spezieller Erscheinungen gewählt wird — erwähnt, paßt 
m. E. nicht dahin; denn mex” hatte niemals und konnte niemals eine 
allgemeinere Bedeutung haben als eben Mensch; der Ausdruck ge- 
hört schon in die Kategorie der später besonders bei Gelübden etc. 
beliebt gewordenen oft etwas dunkelen Umschreibungen für Mensch 
oder bestimmte Menschen, vgl. in der Mischnah x" “TD, Wann "#7 
Nedar. 3, 7. Joa "0709 im jüdischen Gebetsbuch, vgl. im Arabischen 
Antar 2, 67 lal! in aD Ki on Kom Wm! und Antar 3,45 
wad Ay brig Out do ep SS. 

Auf S. 65 ff. bespricht der Hr. Verf. die Synekdoche des ab- 
stractum pro concreto. Die Worte amin II Sam. 9,12 man Ez. 44,5 
"nen yw 659, die er unter anderem hier aufführt, sind jedoch keine 
Abstrakta, auch der Gebrauch von 53 ist anders zu erklären, vgl. 
unten. mix steht ina 199 Jes. 12,5 ebensowenig für das Konkre- 
tum wie mis>a in "an wad Est. 5,1; auch mon Prov. 12,27 po 17, 4 
gehören schwerlich, Ma 17, 14 siche’ nicht hierher. Daß Furcht 
für Gefürchtetes stehe in Prov. 1,26 f. ist wohl eine nicht ganz ge- 
naue Ausdrucksweise des Hrn. Verf. Der Sinn ist doch dort nicht 


König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. 281 


wenn über euch kommt euer Gefürchtetese — was ihr gefürchtet 
habt, o»rıw etc. bedeutet euer Unheil d.h. das euch von Gott be- 
stimmte, ähnlich ‘x O1", der Abrechnungstag mit Edom; freilich ob- 
jektiv sind die dort gebrauchten Ausdrücke zu nehmen = Strafe, 
Unheil. An na Jes. 7,25 ist alle Mühe der Erklärung verloren, 
es giebt keinen Sinn; vielleicht ist 19% zu lesen. Unter den Hyper- 
beln führt der Hr. Verf. auch den Ausdruck an 125 xg, den er 
übersetzt »das Herz geht aus jemand heraus<. Aber »aus jemand« 
steht nie bei dem Ausdrucke vgl. oben; es bedeutet auch weni- 
ger >der Mut verläßt ihn< als »die Besinnung verläßt ihn, er wird 
starr vor Erstaunen, Erschrecken< etc. Zu der Phrase »die Erde 
spaltete sich infolge ihres Geschreies< I Kön. 1,40 bietet übrigens 
das Arabische eine treffende Parallele 
Antar 3,17 Old U rad iso a plo. 

Das dritte Mittel, die Deutlichkeit — des einzelnen Ausdrucks 
— zu steigern, ist der Hinweis auf Parallelen, die das darzustellende 
Phänomen in sonstigen Erscheinungen seiner eigenen oder einer an- 
deren Sphäre besitzt. Der größte Teil dieses Kapitels fällt aus der 
Einteilung heraus, es handelt sich hier zumeist um die Verdeutli- 
chung »darzustellender Phänomene«, nicht eines einzelnen Ausdruckes. 
Die erste Gruppe solcher Parallelen bilden Exemplum, Sentenz und 
Zitat. Während das Exemplum eine Art pars pro toto sei, bilde 
die Sentenz, der allgemeine Ausspruch, eine Form des totum pro 
parte. »Die yvoaun oder sententia will ihr Licht auf alle Fälle wer- 
fen, ohne sie einzeln vorzuführen. Dieser ideelle Ursprung der 
Sentenz zeigt sich auch in ihrem Namen Maxime, und eben dasselbe 
ergiebt sich aus dem hebräischen Sprachgebrauch, denn ein und der- 
selbe Satz ist bald dem generellen Subjekte man beigelegt und bald 
ein maSal genannt« S. 79f. Ich muß gestehen, daß mir der Sinn 
dieser letzten Begründung dunkel geblieben ist. Daraus, daß von 
einem und demselben Satz einmal gesagt wird, man gebrauche ihn 
allgemein, und das andre Mal, er sei ein masal, folgt doch für das 
eigentliche Wesen und den Inhalt des maSal gar nichts; man müßte 
denn der Meinung sein, daß aus dem allgemeinen (sprichwörtlichen) 
Gebrauch eines Ausspruches auch dessen allgemeiner Inhalt (als Sen- 
tenz) folge. Auch mit dem etymologischen Erklärungsversuch des 
Wortes >wra durch den Hrn. Verf. kann ich nicht übereinstimmen. ‘1 
bedeutet nach ihm ursprünglich nichts anderes als Urteil, Satz, weil 
darin Subjekt und Prädikat gleich gesetzt seien. Von solcher gram- 
matikalischer Reflexion über sich selbst ist die lebendige Sprache 
der Alten weit entfernt! Das Ergebnis des Hrn. Verf., maSal sei = 
Urteil, Satz, ist zwar, um einen ‘0 anzuwenden, wie ein weiter Sack, 

Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 20 


282 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 4. 


aus dem man alles holen kann, oder wie ein großer Hut, unter den 
man alle Erscheinungen der letzten Entwicklung bringen kann, aber 
gerade deshalb für den, der die sprachliche Entwicklung kennt, nicht 
annehmbar. Und wie sollte dieser so farblose ‘4 zur Bezeichnung 
für Vergleichung, Allegorie, Fabel etc. geworden sein? Eine Er- 
klärung des Vorhandenseins beider Bedeutungen und eine Verbin- 
dung zwischen beiden hat der Hr. Verf. gar nicht versucht. »Von 
der Festigkeit, die eine natürliche Eigenschaft der Urteile ist, kann 
weiter das arabische matala feststehen, abgeleitet seine. War das 
Empfinden der Alten wirklich so schwach und ihre Sinne wirklich so 
blöde, daß sie diesen Begriff vom — Urteil(!) abstrahieren mußten? 
Daran, daß Sw ursprünglich nichts anderes bedeutet wie Verglei- 
chung, insbesondere einer Person und ihres Schicksals mit einer an- 
deren, wird man schwerlich rütteln können. Einer der ältesten 
Triebe der Entwicklung ist die Redensart zum ‘© werden. Es war 
alte Sitte, die sich noch in der arabischen Zeit vorfindet, daß der, 
den der König ehren oder strafen wollte, in öffentlichem Aufzuge 
durch die Straßen geführt wurde, wobei vorauf gerufen wurde, >so 
(gutes — böses) thut der König dem, der ...«; das Schicksal des 
Betreffenden lebte im Munde der Leute fort und gab ein Beispiel 
ab für ähnliche Fälle. Die ältesten ‘0 sind solche wie “91 ‘x naprına 
— Gott segne dich wie Abraham, mit dem Segen Abrahams. — Gott 
thue Dir Böses wie dem und dem, vgl. Jerem. 29,22, vgl. auch 
Antar 1,75 Wie gus! ay „Lad. Aber auch abgesehen von solchen 
historischen Anlässen werden alle Vergleichungen — einerlei ob Me- 
taphern oder Allegorieen oder Fabeln — ‘Sw genannt. Die Bedeu- 
tung »Sentenz<, d.h. ein allgemein giltiger Satz allgemeinen Inhaltes 
mit praktischer Abzweckung, hat ‘0 erst auf der allerletzten Stufe 
der Entwicklung erlangt; in der geraden Linie der Wortbedeutung 
liegt sie nicht, vgl. meinen Kommentar zu Prov. 1,1. Warum über- 
setzt der Hr. Verf. das fehlerhafte o1a8 des MT. Prov. 14,4 mit 
Stall? “3 in M. Aboth 2,5 ist kein >rauher« Mensch, sondern einer, 
der sich um das Gesetz nicht kümmert. Ebenso wenig heißt mm 
in der Stelle Ab. 2,7 »Würmer«, vielmehr ist es ma 50 yap" “By, 
»Das Licht der Gerechten freut sich<, dürfte im Hebräischen ebenso 
unmöglich sein, wie im Deutschen; man lese nae Prov. 13,9. — 
Wenn auch in Qoh. 10,20 gerade keine »Schilderung der Fama« 
vorliegen sollte, so besorgen doch bei den Hebräern die Vögel das- 
selbe Geschäft, wie die Fama bei den Klassikern, vgl. M. Sota 6,1. 
797 bedeutet nie, auch nicht Jer. 3,15 »lehren«, sondern immer 
weiden. S2em 7197 bezeichnen dort die Art wie der Hirt sein Amt 
ausübt, gleichsam ‘om 7197 mY19%. Unter den Beispielen, die den 
>Uebergang von der körperlichen Bedeutung in die psychologische« be- 


König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. 288 


leuchten sollen, erwähnt der Hr. Verf. auch mm (Hag. 1,9 etc.), das 
er sonderbarer Weise erklärt »anblasen = als eine verächtliche 
Größe behandeln<«. Dies Wort ist doch als eine Art des Zaubers 
aus dem Aramäischen und Arabischen sattsam bekannt, vgl. auch 
Antar 3,4 re an (en 
gyn ata Lbs 

Als sichere Beispiele allegorischer Darstellungsweise führt der Hr. 
Verf. an: Gen. 49,9. Num. 24, 8b 9. Deut. 32,15. 22. 32f. Ri. 8, 2. 
I Kon. 12,11.14. If Kon. 19,3 etc. Es würde sich vielleicht em- 
pfehlen, bei den hier genannten Stellen nicht von Allegorie, nicht 
einmal von allegorischer Darstellung zu reden. Zu einer Allegorie 
gehört doch mehr, als daß sich >die metaphorische Ausdrucksweise 
durch einen ganzen Redezusammenhang hinzieht<. Dazu gehört vor 
allen Dingen, daß das eine Bild festgehalten wird und daß der 
ganze Stoff in ihm wiedergegeben wird, denn die Allegorie ist ein 
in sich abgeschlossenes litterarisches Ganze. In Gen. 49,9 etc. ver- 
mag ich nichts zu sehen als poetische Bilder und Vergleiche, die 
der Dichter schaffi und gleich wieder fallen läßt; in allen diesen 
Fällen wird das wirkliche Subjekt oder Objekt deutlich genannt, so 
daß nicht einmal die Illusion aufkommen kann, es sei von einem 
wirklichen Löwen etc. die Rede Wer denkt, wenn der Profet be- 
ginnt Jes. 11,1 "wı sa TOM REN — an eine Allegorie? ja wenn es 
hieße ‘a1 sro ‘NH REN! — Im zweiten Teil des ersten Hauptteils 
seines Buches behandelt der Hr. Verf. die Klarheit der Wechselbe- 
ziehung der Redebestandteile zu einander. Als Quelle des Mangels 
solcher Klarheit bezeichnet er den Gebrauch der Demonstrative, die 
bald voraus, bald zurück weisen, bald sogar zweigesichtig sein sollen. 
Als Beispiel dieses Gebrauches für }> weist er hin auf Sach. 14, 15. 
Dort bezieht sich j> auf die Schilderung der max in dem ursprüng- 
lich vorausgehenden v. 12 (v. 13—14 eingeschoben; vgl. Wellh. z. St.). 
Daß diese Beziehung am Schluß des v.15 mit ‘nm ‘05 noch mal auf- 
genommen wird, hat nichts zu sagen, dadurch wird die Beziehung 
auf v. 12 nicht etwa geteilt oder abgelenkt. Auch in Est. 2,12 
weist > deutlich auf das Vorhergehende allein und so wird’s wohl 
auch in % 65, 10 sein, falls der’ Text richtig ist. Man liebt es bei 
> die Beziehung auf das Vorhergehende durch Wiederholung noch 
mal ausdrücklich sicher zu stellen, vgl. Ezra 10,12 355 9. Ebenso 
ist MDD in Exod. 29,35 und Jerem. 19, 11 nicht doppelgesichtig, 
sondern die Beziehung auf das Vorhergehende ist noch mal durch 
Wiederholung nachdrücklich gehoben. In dem Abschnitte über 
Hypallage kommt der Hr. Vf. auch auf Prov. 7, 22 zu sprechen, das 
er übersetzt: und wie eine Fußfessel, die zur Züchtigung eines Tho- 


am de 


284 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


ren dient<. Abgesehen von dem Sinne, ist diese Uebersetzung gram- 
matisch unzulässig; denn sie verlangte zum wenigsten 10705, aber nicht 
‘o 5x, we 50 Amos 1,4 etc. heißt wohl weniger »Feuer schleudern 
an einen Gegenstand< als Feuer — wie ein wildes Tier — loslassen. 
Als Beispiele von Zeugma führt der Hr. Vf. neben anderen auf 0 
Gen. 3,15, wohl irrtümlich, da die beiden Stämme dort verschieden 
sind. In "may Gen. 30, 26 soll ebenfalls ein Zeugma vorliegen, vgl. 
S. 138. Jakob hat aber faktisch um seine Frauen und Kinder die- 
nen müssen. Auch das zweite Subjekt zu min Gen. 47,19 wurde 
kaum als eine Disgruenz empfunden, vgl. z.B. I Sam. 14,25 u. 6. 
Auch das mits I Sam. 1,21 ist schwerlich zeugmatisch gebraucht; 
N ‘T ist ja eine sehr gute Verbindung (= ‘3 nat ‘t). In I Sam. 26, 8 
831 liegt gewiß eine Textverderbnis vor, vgl. Pes. Den Ausdruck 
am Jes. 17,13 = wird (von hinten) gejagt und getrieben kann ich 
nicht als Zeugma empfinden. Br I» ist durchaus kein Zeugma, 
sondern eine ganz gebräuchliche und geläufige Verbindung, vgl. 
%» 107,23, auch irgendwo im hebräischen Sirach und in der Mischnah, 
z. B. Nedar. 3,6. In Deuter. 21,5 sieht der Hr. Verf. irrtümlich 
eine Art Zeugma, denn >“ soll geschehen paßt natürlicher zu 
dem vom Richter zu diktierenden Schlag (25, 3) als zu 2% Streit- 
sache«. ‘ ist Prozeß, 933 Schlägerei, Mord etc., die Beziehung auf 
25,3 ist nicht richtig. »In Hos. 5,10 geht die Ursache der Strafe 
voraus, aber in 11 geht diese voran und die Ursache folgt«, S. 147. 
Aber v. 10 kann keine Schilderung der Strafe sein, da ja dann in 
den Worten läge, daß Israel zu Unrecht so behandelt wird. Vergl. 
auch Wellhausen zu der Stelle. 

Im zweiten Hauptteil seines Werkes (Rhetorik) handelt der Hr. 
Vf. zunächst über die Bestimmtheit des sprachlichen Ausdrucks, ihre 
normale Erscheinung, ihre Vernachlässigung und ihre Steigerung. 
Ueber Jes. 63, 18a heißt es auf S. 153: »Indem dort gesagt wurde: 
für — die — Spanne Zeit haben sie okkupiert, haben unsere Be- 
dränger etc., hat der Autor die Aufmerksamkeit in erhöhtem Maße 
auf die Bedränger (ix) gelenkt<. Aber in die Schilderung der 
trostlosen Verlassenheit Israels paßt der Ausdruck "yxo> sehr schlecht; 
man wird lesen müssen: “927705. Auch in v. 19 ist der ur- 
sprüngliche Text — etwa 159 ‘Jaw Np? NS wa mbw xD os wer vgl. 
LXX — verändert und zwar mit Absicht. Als Polysyndese erwähnt 
der Hr. Vf. auch Jes. 5,13f.; warum übersetzt er aber dort 729, 
roivvv mit deswegen = 75 59? ebenso später noch einmal. Auf S. 160 
redet der Hr. Vf. von der emphatischen Zerlegung eines Begriffes im 
sog. Hendiadyoin. Der Begriff Metropolis ist aber gewiß nicht, um 
sich wuchtiger geltend zu machen, in >eine Stadt und Mutter< I Sam. 


König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. 285 


20, 19 zerlegt worden. Dem griechischen Metropolis liegt eine ganz 
andere Anschauung zu Grunde als der hebräischen Bezeichnung einer 
Stadt durch EX: jede Stadt ist eine DX und ihre Bewohner sind ihre 
Kinder. Auch die koordinierte Geltung von TH ‘NAD % 29,1. 97,7 
ist nicht unnatürlich, wenn man weiß, daß 33 13% und ähnliche 
Ausdrücke bedeuten: sprechet: N39n7 >, 0 1971 7°. So findet sich 
auch 533 15m = erkennt lobpreisend die Größe Gottes an, sagt, dir 
ist 5%, und an einer anderen Stelle des jüdischen Gebetbuches, das 
vor mir liegt, heißt es: 55 an To SNS an msn Ap ran. In 
Jes. 4, 5 liegt schwerlich ein Hendiadyoin »Rauchwolke« vor, denn jo 
gehört zum Folgenden! Hiob 10,17 ist zu lesen "5 Naz psormn. Der 
‘Hr. Vf. hat Recht, an TIER vy 17,11 Anstoß zu nehmen, aber die 
Lesart “NER, die er vorschlägt, hebt schwerlich diesen Anstoß; viel- 
leicht wäre zu lesen: “2 »>sie spannen auf mich«.. Wie kommt 
der Hr. Vf. zu der Uebersetzung sub = »Nebeneinanderstellung< ? 
M. W. hat das Wort nie diese Bedeutung; es bezeichnet das Auf- 
einanderliegen und Aufeinanderpassen, die Kongruenz und wird ge- 
braucht für das äußerliche Zusammenfallen von Ausdrücken, die 
innerlich disgruieren. — Im zweiten Teile dieses Abschnittes wird über 
die Lebendigkeit des Sprachstils gehandelt. Der Hr. Vf. bespricht 
zunächst die Erscheinungen, in denen diese Lebendigkeit zu erstarren 
droht, Pleonasmus und Palindromie; in dem hierauf folgenden ge- 
schichtlichen Ueberblicke betont er mit Recht die zunehmende Wort- 
fille und Schwerfälligkeit der späteren Litteratur. Die künstliche 
Form der Palindromie, für die er ein Gedicht von Rückert anführt, 
ist auch in der jüdischen Litteratur angewandt, vgl. im n>na "70 
mson: 
‚ax Tot Jnr Sa rer non ody Sn 
Sram Boy nos rer 5733 [IT wo ORD 


Nach Pleonasmus und Palindromie behandelt der Hr. Vf. die Ge- 
drungenheit und Lebendigkeit des Sprachstils in der Brachylogie. 
Unter den Beispielen für die Brachylogie des Subjekts wird auch 
osm Min. Berach. 5, 3 angeführt: »Wir« ist nach dem Kontexte 
das selbstverständliche Subjekt von E*T0 in M. Berakh. 5, 3. 8, 2 ff.«. 
Das letztgenannte Cap. 8 habe ich vergeblich nach einem Beispiele, 
das hierher paßte, abgesucht. Was der Hr. Vf. über "mn 5, 3 sagt, 
ist zum mindesten mißverständlich. Es ist dort die Rede davon, 
daß der Vorbeter oder -leser sich ganz genau an den Text halten soll, 
unter anderem auch nicht das Wort 810 in dem Abschnitt 
SR ‘To, der auf die MOP ANDY im Mn folgt, zweimal lesen 
soll. Von einer Brachylogie kann also an dieser Stelle gar nicht die 
Rede sein. Auf S. 195 weist der Hr. Vf. darauf hin, daß »manche 


286 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4, 


Verba ihre Ergänzung durch eine immer wiederholte Apperzeption 
gleichsam in sich aufgenommen haben<. Diese wichtige Entwicke- 
lung ist allerdings sehr weit gegangen, besonders auch in der Misch- 
nah — vgl. x = nan "To", ara = nam‘, auch Hiphile prin 
= "pın'n Aboth 1,7 etc. —, liegt aber kaum in mp I Kön. 8,9 
vor und gewiß nicht im N35 Qoh. 8, 10 (treten ein — in’s Jenseits 
oder zum Frieden). Der Text ist dort absichtlich korrigiert, für 
ano" ist mit LXX inane zu lesen, ‘m ‘p nipan ist vielleicht ein- 
geschoben und 82 ‘"3p3 zu lesen. Die Gottlosen dürfen eigentlich 
nach der Forderung der Frömmigkeit in kein ehrliches Grab kom- 
men. Auf S. 196 redet der Hr. Vf. davon, daß die Andeutung der 
Restriktion (»nur« »erst<) im Hebräischen oft dem Kontext über- 
lassen bleibt. Aber der Sinn von Gen. 33,15 ist schwerlich mit 
finde ich nur Gnade< nämlich, dann bin ich schon zufrieden, rich- 
tig wiedergegeben. ‘NM NXON steht gewöhnlich oder m. W. immer 
bei einer Bitte und macht sie freundlich dringlich, hier bei dem 
deprezierenden mt rıo> (feiner als >thu das doch nicht<). Job 29, 2 
ist der Gedanke mit der Uebersetzung: >o gäbe man mir etwas 
(d.h. hier eine Zeit) gleich den Monden der Vorzeit< kaum getroffen; 
vielmehr heißt es: >o daß ich doch wäre wie in etc.«. Im Verlauf 
der trefflichen Ausführung über die comparat. compend. kommt der 
Hr. Verf. auch auf Jes. 61,3 zu sprechen. »Eine Art comparat. 
comp. enthalten, sachlich angesehen, manche Ausdrucksweisen, die 
vom formellen Gesichtspunkt aus betrachtet, Genit. apposit. dar- 
stellen. Denn z. B. heißt es: zu geben Freuden — Oel statt 
Trauer (Jes. 61,3). Da ist Oel, welches Quelle, Mittel und An- 
zeichen des Wohlbefindens war, nicht einfach metonym. an Stelle 
der Freude gesetzt, sondern ein Genit. hinzugefügt, welcher aus- 
drückt, »das mit der Freude vergleichbar ist«. 7100 Too wird viel- 
mehr das jo aus keinem anderen Grunde genannt, als weil es in 
den Zeiten der Freude angewandt wird, vgl. unser: das Schwarz der 
Trauer. — Warum ergänzt der Hr. Vf. das op "78 a 11> Dan. 2, 35 
»wie Spreu, die von Sommertennen (?) fliegt<? in dem 7a liegt das 
doch nicht! Die Stelle, die aus der Mischnah dort (S. 222) ange- 
führt wird, ist ebenfalls falsch verstanden. Von dem »Auszug aus 
Aegypten in den Nächten (?)< steht in Berach. 1,5 nichts zu lesen, 
wohl aber davon, daß man mors non in der die ‘oa ram erwähnt 
wird, um dessenwillen auch in den Nächten lesen soll. — Zu der 
Bewegtheit der Darstellung, dem zweiten Mittel die Lebendigkeit zu 
heben, rechnet der Hr. Vf. u.a. auch den Numeruswechsel, wie er 
in den uns überlieferten Texten häufig vorliegt, und bemüht sich, 
einen Grund dafür ausfindig zu machen. Doch werden die meisten 


König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratar. 287 


derartigen Uebergänge nicht in das Gebiet der Grammatik oder Sti- 
listik, sondern der Kritik gehören; so sind z. B. alle Stellen, in de- 
nen im Bundesbuch die Anrede »ihr« gesichert ist, eingeschoben. 
Auf S. 243 kommt der Hr. Vf. auch auf Deut. 33,8 f. zu sprechen; 
er sagt — >indem das “55 8a im doppelten Sinne von »zu Levi« 
und »betrefis L.< gemeint werden konnte, war ein Uebergang von 
der Anrede Lewis (8a.b) zur Anrede Jahves möglich (9b. 10) der in 
lla wirklich genannt ist«. Hier liegt wohl nur ein Versehen des 
Hrn. Vf. vor. Gott ist ja von Anfang an in v. 8 angeredet! 

Der dritte Hauptteil (Poetik) handelt von den Anforderungen, 
die das ästhetische Empfinden an den Stil stell. Nachdem der Hr. 
Vf. die Arten der mangelhaften Beziehungen zwischen Aesthetik und 
Sprachstil — unschöne Bilder und häßliche Klänge besprochen, han- 
delt er von den Mitteln, das ästhetisch Gefällige der Darstellung zu 
heben. Die Schönheit des Stiles wird gesteigert durch Eleganz und 
Harmonie zwischen Inhalt und Form, besonders Anwendung der sog. 
höheren Diktion, der Wohllaut wird gesteigert durch verschiedene 
Arten des Gleichklanges, Allitteration, Assonanz etc. und die Euryth- 
mie. Neben der natürlichen Eurythmie der guten Prosa giebt es 
noch einen höheren Grad des Rhythmus, der in einem gewissen Gleich- 
lauf der Sätze besteht, dem parallelismus membrorum. Außerdem läßt 
sich ein gewisses Gleichmaß der Stichen in einzelnen poetischen Stücken 
beobachten und eine indirekte Symmetrie im Kinarythmus gewiß ma- 
chen. Aber es läßt sich weder eine Fixierung der Stichensymmetrie 
(Caesurencorrespondenz), noch eine strenge Beobachtung von akzen- 
tuierendem oder quantitativem Rhythmus erweisen. Als Resultat er- 
giebt sich dem Hrn. Vf.: »Der poetische Rhythmus wurde von den 
Hebräern nur in der wesentlichen Symmetrie der Gedichtszeilen 
(Stichoi) gefunden und diese Symmetrie beruhte nur auf der wesent- 
lichen Gleichheit der Hebungen korrespondierender Gedichtszeilen<. 
S. 343. Nach diesem mit der bisher herrschenden Anschauung we- 
sentlich übereinstimmenden Resultate folgt eine ablehnende Kritik der 
Arbeiten von D. H. Müller und J. K. Zenner, Bemerkungen über 
den Reim und die Akrostichie und Schluß. — — 


Die wichtigsten Materialien für die Kenntnis der hebräischen 
Spracheigentümlichkeiten sind jedenfalls im ersten Hauptteil des 
Buches zur Besprechung gekommen. Indessen ist es dem Hrn. Vf. 
m. M. nach nicht gelungen, die wichtigsten dieser Spracherscheinungen 
richtig zu erfassen und darzustellen. Als Hauptmittel der Verdeut- 
lichung des einzelnen Ausdruckes nennt er die Metonymie und die 
Synekdoche. Da erscheint zunächst die Auffassung, daß die Setzung 


288 Gött. gel. Ans, 1901, Nr. 4. 


des Vorfahren für die Nachkommen eine Art Metonymie der Ursache 
für die Wirkung sei, doch als sehr äußerlich. Wenn Sx 1 z.B. an 
vielen Stellen steht, wo wir die Israeliten erwarten, so erklärt sich 
das aus dem dem Hebräischen (Semitischen) innewohnenden Streben, 
Völker, Stämme etc. in eine ideale Einheit zusammenzufassen. — 
Wenn nxon ferner — je nach dem Zusammenhang — Sünde 
oder auch Strafe der Sünde bedeuten kann, so liegt das nicht daran, 
daß >die von der Kraft angeregte und vermittelte Handlung zum 
vielsagenden Hinweis auf ihre Konsequenz wurde«, sondern daran, 
daß das Hebräische für die feinen Beziehungen wie Folge und 
Grund keinen Ausdruck hat und deshalb deren Ermittlung aus dem 
Zusammenhang dem Hörer oder Leser überläßt. Wenn der 
Hebräer z.B. hört 119 Nw oder mars Neon DIMM, so ist ihm durch 
den Zusammenhang, speziell durch die Verba 83 und XxonN, gegeben, 
daß »Folge der Sünde« gemeint ist. Nicht der für sich stehende 
einzelne Ausdruck, wie es der Hr. Vf. durchgängig darstellt, sondern 
der Zusammenhang allein giebt diese Beziehungen an die Hand. 
Wenn also der Schriftsteller z.B. sagt p*ndw mms, so ist das nicht 
etwa zu erklären: »eine Handlung bezeichnet auch ihre indirekte 
Wirkung«. Vielmehr läßt der Hebräer in solchen Fällen das aus 
dem Zusammenhang klare Grundwort »Gabe« weg und setzt nur das 
Bestimmungswort p°n>w, das natürlich nicht aufhört, nur »Entlassung« 
zu bedeuten, und für sich niemals >auf die mit einer Entlassung ver- 
knüpften Geschenke hinweist<. So sagt man in der Mischnah 
moa jm> = Sühngeld geben für die Schändung eines Mädchens, auch 
‘a pow Ket. 3,4.8. Aus dieser Sparsamkeit in der Bezeichnung des 
aus dem Zusammenhang ersichtlichen Grundwortes etc. erklären sich 
die meisten Spracherscheinungen, die der Hr. Vf. als Arten der Me- 
tonymie und Synekdoche auffaßt. So vertritt in den Verbindungen 
Day om, a8" u.a. nicht etwa »der Besitzende seinen Besitz«, 
sondern die selbstverständlichen Grundwörter Besitz, Land etc. sind 
ausgelassen, weil sie durch das Verbum genügend angezeigt sind. 
Ganz ebenso steht es ferner mit apy» mx 558; hierher gehört auch 
der Ausdruck parm mx 558, wo nicht »die Erde als Ausgangspunkt 
für das Produkt steht<, und 723 >38, wonicht »Weinstock = Traube« 
(S. 17). In »scheren das Haupt< kommt nicht etwa >wm als Be- 
sitzer des sonst bei Tr) und m3 stehenden »Haares« oder >Bartes< in 
Betracht« (S. 24), sondern das durch »scheren< genügend bezeich- 
nete Grundwort ist weggelassen. Dem ganz parallel steht der Aus- 
druck »einen Becher trinken< — vom Hrn. Vf. auf S. 27 erwähnt 
zu dem Kapitel »Aufenthaltsort für Bewohner< — und in der Misch- 
nah 05 31a. — Unter dem Titel »Metonymie: Zeit für Zeiterschei- 


König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. .289 


nung< behandelt der Hr. Vf. zunächst den bekannten prägnanten 
Gebrauch von ov etc. und kommt dann auch auf 7*p zu sprechen. 
Dies Wort bezeichne ursprünglich Hitze, warme Jahreszeit und dann 
die Obsternte, die in diese falle und hauptsächlich deren Ertrag. 
Aber in allen Stellen, die er dafür anführt, ist das Grundwort 
»Früchte« als selbstverständlich ausgefallen. Wenn man z.B. sagt 
‘p 55m, dann ist durch das ‘x das Grundwort schon genügend ange- 
deutet, so daß nur noch das Bestimmungswort ‘p zur Deutlichkeit 
nötig ist. Diese Ausdrucksweise steht also ganz auf einer Stufe mit 
PA ODN, PINM DRIN etc., und es ist verkehrt, wenn man diese Er- 
scheinungen auseinanderreißt und unter getrennten Titeln behandelt. 
Ebenso steht es mit ‘p 3155 und ‘p ro; der letzte Ausdruck steht 
auf derselben Stufe wie ns wo Ruth 3,15. pp bezeichnet nie- 
mals den Ertrag der Obsternte; wohl aber kann dies Grundwort, so 
gut wie irgend ein anderes (z.B. Maße), weggelassen werden, 
wenn es genügend bezeichnet ist. »So konnte auch Fest für das ge- 
sagt werden, was in erster Linie zum Feste gehörte, d.h. das Fest- 
opfer« S. 29. Nein, eine so seltsame Sprache, in der Fest Fest- 
opfer heißen könnte, ist das Hebräische nicht; wohl aber ist in allen 
den Stellen, die der Hr. Vf. zum Beweis für seine Behauptung an- 
führt, das Grundwort »Opfer« als selbstverständlich weggefallen, weil 
es durch das Verb (oder sonst) genügend angezeigt war. Dem 
‚Hebräer ist 9m aan, ‘MON, am HR Ni Mom worm etc. ohne 
weiteres verständlich, weil in diesen Verbindungen das Grundwort zu 
ss deutlich gegeben ist. “Iam mx Sa8 ist ganz parallel mit 
par ne ‘x. Der Hebräer kann so sagen ohne weiteres Imm MN! N 
und mop mart (Deut. 17, 2), “2 mar etc. Aus derselben eigentümlichen 
Brachylogie ist auch Est. 5,1 zu erklären, worüber der Hr. Verf. 
sagt: >Eine Erscheinung konnte aus verschiedenem Motiv auch für 
ihr Anzeichen gesetzt werden« ; dort ist in mb ~wadrn das selbst- 
verständliche Grundwort zu miso nämlich "33 oder "wnabn, wie es 
gerade in dieser Verbindung häufig ist, weggelassen. Hierher gehört 
ferner die Verbindung "3 mm (Amos 8,5). Hier liegt nicht etwa 
die — nirgends vorkommende — »Metonymie: Inhalt für Raum« 
vor, sondern das Grundwort zu "3 ist durch das Verb genügend be- 
zeichnet und deshalb ausgefallen. Ebenso kurz drückt man sich aus 
in J" rınD, wie man andrerseits sagt J HON oder EX ‘NX. So ist auch 
in dem ächt hebräischen Ausdruck éBadov eis ta dea (Luc. 21, 4) 
das durch éBadoy bezeichnete Grundwort (etwa ma oder Mp) als 
selbstverständlich weggelassen, vgl. nam> "Sp Midna Nezir 4, 4 »das 
Geld soll in die Kasse für ‘% flieGen<. So sagt man im Arabischen 
Sled ol pd oder kürzer clad! 3, DB OS oS, oder ai |, 


290 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


Keil 5, vgl. z.B. Antar 2,14. 76. In dem Ausdruck ven 7 
(» 58,8. 64,4) und ähnlichen Verbindungen liegt nicht etwa ein 
pars pro toto vor, sondern eine außerordentlich kurze Ausdrucks- 
weise für den Bogen spannen und Pfeile (abschießen).. Aehnlich ist 
z. B. oo sp2 den Fels spalten, so daß Wasser zum Vorschein 
kommt, rap jr das Getreide mahlen, so daß es ‘p wird, eine Glatze 
scheeren, d. h. die Haare scheeren, so daß eine Glatze entsteht, auch 
im Arabischen sagt man ely Wyo d.h. ol,3t xo — das ist das 
eigentliche Objekt — so daß die ‘> entstehen, vgl. Antar 3, 45. 49. 
Diese Entwicklung geht so weit, daß in manchen Fällen die Verba 
ihr — selbstverständliches und oft gehörtes — Objekt verlieren und 
so prägnant stehen, vgl. im hebräischen "Hm und Sen; so sagt man 
im Arabischen ,4,b} = it ‘} (z.B. 1001 N. ed. Macn. 2, 205) und 
so wird auch das Objekt von ‚ss,i (Schiff) und }> (Tau) bisweilen 
ausgelassen, so daß solche Verba dann leicht als Intransitive er- 
scheinen. Andrerseits findet sich auch besonders bei häufig gebrauch- 
ten Nominalverbindungen das Grundwort ausgelassen; so ist der 
Gebrauch von m» (m1>3) an manchen Stellen zu erklären, als Verkiir- 
zung von ‘9m, nicht etwa als abstractum pro concreto. Hierher ge- 
hört auch neun = ‘nm mar, nn, 77, OWN etc., MAM etwa = “o-mdan 
und vieles der Art in der späteren Sprache. — Zu unterscheiden 
von den Fällen, in denen das Grundwort ausgelassen werden kann, 
weil es durch die sonstigen Sprachmittel, insbesondere das Verbum, 
deutlich genug gekennzeichnet war, ist eine Reihe von Fällen, in 
denen es ausgelassen werden muß, weil die Sprache es nicht be- 
sitzt. Dort konnte das Grundwort zum Ueberflusse zugefügt werden, 
hier muß der Leser oder Hörer das Grundwort ergänzen. Ich rede 
hauptsächlich von den sogen. Nominalsätzen und den Fällen, in denen 
nach der gewöhnlichen Anschauung, die auch der Hr. Vf. vertritt, 
das Abstractum pro concr. steht. Nehmen wir als Beispiel Prov. 10, 1. 
Taxrmaın 503 jai a8 ram oom ya. Ob da im ersten Glied steht 
ax ‘OM oder 'XNTrm® ist ganz einerlei, ebenso wie für ‘X-Man stehen 
könnte 'X m9. Wir übersetzen die zweite Vershälfte genau: ein 
törichter Sohn ist der Gegenstand oder der Grund des Kummers 
seiner Mutter. Der Hebräer stellt aber einfach die beiden Größen 
‘o> Ja und 'Xmaın neben einander, die nähere Verbindung zwischen 
beiden muß der Leser oder Hörer in Gedanken herstellen, denn die 
Sprache selbst hat kein nominales Ausdrucksmittel für ein so ab- 
straktes Ding wie »Gegenstand«. Aehnlich ist norın xin »Er ist 
Objekt oder Inhalt deiner ‘nn, ‘> mn nm rum sie sind die Ursache 
des Grames etc. So heißt es in Midna Ket. 8,5 maxıma rau jn 
= die Sklaven sind ein Ding des ‘w ihres Vaterhauses, gehören zum 


König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. 291 


Anstande etc. Gott ist der Gegenstand oder Grund meiner ‘nm, kann 
also gar nicht anders ausgedrückt werden als "mipm '". Gegenstand, 
Grund, Inhalt etc. sind Beziehungen zwischen Subjekt und Prädikat, 
die die Sprache dem Hörer herzustellen überläßt. Ganz derselbe Fall 
— mutatis mutandis — ist es, wenn statt des genaueren Praedikates 
Bro mar) nur oow gesagt wird in dem Satz mbw mmian 55 
Prov. 3,17. Aus der Mischnah führe ich zur Beleuchtung dieser 
Spracheigentümlichkeiten noch folgende Beispiele an. Ketub. 13,9: 
‘ain ew may er kann die Forderung (Summe) seines Schuldbriefes 
einziehen; 4, 1 mm men = Ertrag ihrer Handarbeit; Gittin 3, 2 
WAM DPD mar = Raum lassen für den Namen des Mannes; Sota 6,1 
2252 im Lichte des Mondes. Peah 8,7 pıoa mas mMeipm = die 
Einnahmen der Armenbüchse werden von zweien gesammelt; Neda- 
rim 9, 9 max9 292 ob mrp = man öffnet dem Mann (bei vor- 
eiligen Gelübden) einen Ausweg durch die Rücksicht auf seine eigene 
Ehre etc. Ket. 11,6 mama 8 mvp 851 rar p> pR — sie haben 
keinen Anspruch auf etc. So heißt es in einem Gebet: ona aro 
mao m~nw = es stand aufihnen (den Tafeln) das Gebot der Sabbat- 
feier, vgl. auch im Arabischen „Aw „I> er saß zur Entgegen- 
nahme des Salam etc. Zu welchen Ungeheuerlichkeiten käme man, 
wollte man solche — dem biblischen Sprachgebrauch ganz parallele 
— Erscheinungen in den Formeln der klassischen Stilistik aus- 
drücken! 

Unrichtig hat der Hr. Vf. auch Ausdrücke wie "2 '" aufge- 
faßt. S. 101: »Auch Schild als Ausdruck für Beschiitzer o. ä. gehört 
hierher (nämlich zur Metapher Unbelebtes und Belebtes). Denn der 
so gebrauchte Ausdruck Schild will nicht einen Schildträger, sondern 
sozusagen einen lebendigen Schild bezeichnen<. Nein, er will 
nichts andres besagen als: er leistet mir das, was ein Schild leistet. 
In dieselbe Kategorie gehören Ausdrücke wie 195 nr Oy Job 
29,15, die der Hr. Vf. unter einen anderen Titel (Metonymie Besitz 
für Besitzer) bespricht. »Ich war ihm Auge« bedeutet: ich sah für 
ihn, nicht aber ist ‘9 hier Bezeichnung des Sehenden. So sagt man 
im Arabischen von einem starken Helden: Du bist unser Schwert, 
unsre Burg etc., vgl. Antar 2, 25. 26. 30. 57; und wenn es Antar 2, 25 
heißt »Du bist uns se, so soll das heißen, Du bist uns soviel wert 
wie se, 

Demnach dürfte auch die allgemeine Auffassung des Hrn. Verf. 
von dem Zweck, dem die von ihm als Metonymie und Synekdoche 
bezeichneten Spracherscheinungen nach der Absicht des Schriftstellers 
dienen sollen, kaum richtig sein. Er behauptet nämlich, daß diese 
von ihm sogenannten Metonymien und Synekdochen (die nichts andres 


292 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


sind als Erscheinungen derselben Grundregel) dazu dienen, die Deut- 
lichkeit des einzelnen Ausdrucks zu steigern S. 15. Es sollte dem 
Hrn. Verf. schwer fallen, nachzuweisen, daß durch die Wahl solcher, 
nach seiner eigenen Darstellung inäquater Ausdrucksmittel die Deut- 
lichkeit gesteigert wird. Daß die Deutlichkeit des Ausdrucks durch 
solche Ausdrucksweise, wie sie dem Hebräer eigentümlich ist, nicht 
gewinnt, zeigen m. E. die zahlreichen Mißverständnisse, denen sie bis 
auf den jetzigen Tag ausgesetzt ist, deutlich genug. Ist etwa >sie 
aßen den Weinstock« deutlicher als >sie aßen die Frucht des Wein- 
stockes«? oder entspricht >sie schlachteten das Fest« den Ansprü- 
chen, die die »intellektuelle Sphäre des Seelenlebens< an die Deut- 
lichkeit stellt, mehr, als »sie schlachteten das Festopfer<? oder 
sollte »Er ist dein Lobgesang< den Gedanken deutlicher wiedergeben 
als »Er ist der Inhalt Deines Lobgesanges« ? doch gewiß. nicht. 

Ueberhaupt halte ich die Behandlung dieser Spracherscheinungen 
in einer Stilistik für unrichtig. Denn in den meisten Fällen, die ich 
oben dargelegt habe, liegt es gar nicht im Belieben des Schrift- 
stellers, ob er sich z.B. nach der Terminologie des Hrn. Verf. in 
der Form des abstractum pro concreto ausdrücken will oder nicht, son- 
dern er muß sich so ausdrücken, weil die Sprache ihm keine anderen 
Mittel bietet. Wie soll denn z.B. »>sie waren der Grund des Gra- 
mes« anders ausgedrückt werden als mn na mımmnı? oder wie soll 
‚er trug die Folge seiner Sünde« anders wiedergegeben werden als 
‘om Nw? oder wie soll >er ist der Gegenstand des Kummers seiner 
Mutter« anders dargestellt werden als durch: Tax man win? Stil 
ist nach des Hrn. Vf. eignen Worten die durch die psychologische 
Eigenart des Schriftstellers und die litterarische Eigenart seines 
Stoffes bedingte eigentümliche Verwendung der sprachlichen Dar- 
stellungsmittel. Jene Ausdrücke sind aber weder durch diese be- 
dingt, noch durch jene: der Schriftsteller mußte sich so aus- 
drücken, weil ihm die Sprache keine anderen Mittel gab. Jene 
Ausdrucksweisen sind fast durchgängig in der Eigentümlichkeit der 
Sprache begründet, gehören also nicht in die Stilistik, wenn diese 
die ihr vom Hr. Verf. gestellte Aufgabe hat. 

Das Buch giebt eine genaue und sehr ausführliche Zusammen- 
stellung hebräischer Sprach- und Stileigentümlichkeiten, eingeteilt 
nach dem Schema der stilistischen Terminologie. 

Was die Verwendung der Ausdrucksweise der klassischen Stili- 
stik anbetrifft, so verführt sie m. E. nur zu leicht dazu, daß man 
sich mit Worten und Formeln zufrieden giebt und die innere Eigen- 
tümlichkeit der sprachlichen Erscheinung außer Acht läßt. Die Be- 
zeichnungen wie Metonymie, Synekdoche etc. sind doch von ganz 


Kampschulte, Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf. II. 298 


äußerlichen Merkmalen hergenommen und besagen über das eigent- 
liche Wesen der sprachlichen Erscheinung so gut wie nichts; darum 
fassen sie nur zu oft das Fremdeste zusammen und zerreißen das 
Verwandte. Sie reichen nicht einmal zur Erfassung und Beschrei- 
bung des klassischen Stiles, geschweige daß sich durch sie semitische 
Eigentümlichkeiten wiedergeben ließen. Die Kriterien, die der Hr. 
Verf. zur Disposition der Stilistik benutzt — nämlich die Forde- 
rungen, die der menschliche Geist an den guten Sprachstil stellt — 
sind sehr fragwürdigen Wertes: die Ansprüche, die wir an den gu- 
ten Stil z.B. bezüglich der Deutlichkeit stellen, sind ganz andere 
als beim Hebräischen. Es mußte wenigstens heißen: die Forderun- 
gen, die der hebräische Geist an den guten Stil stellt — aber frei- 
lich, damit kann niemand was anfangen. 


Louisendorf (Hessen-Nassau). Frankenberg. 


Kampsechulte, F. W., Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in 
Genf. Zweiter Band. Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben von 
Walter Goetz, Leipzig, Duncker u. Humblot. 1899. IX u. 401 S. Preis 8 M. 


Die letzten Wochen des Jahres 1899 brachten den Reformations- 
historikern eine große, freudige Ueberraschung: den zweiten Band 
der Calvin-Biographie Kampschultes, deren erster Band einst vor 
30 Jahren erschienen war, deren Verfasser seit 1872 durch früh- 
zeitigen Tod aus rüstigem Schaffen abgerufen war. Wir wußten, daß 
er noch bis zu den letzten Wochen seines Lebens an seinen Calvin- 
Forschungen gesessen hatte (C. A. Cornelius in der Allgem. deut- 
schen Biographie, jetzt Historische Arbeiten. Leipzig 1899 S. 621); 
wir erfuhren, daß er an dem zweiten Bande bis zum Ende gearbeitet 
habe — jetzt wird uns die Kunde, daß dieser zweite Band damals 
so gut wie vollendet und testamentarisch seinem Freunde Cornelius 
zu unbedingter Verfügung vermacht worden war. Dieser wartete, 
wie er uns jetzt (a.a.O. S. V) berichtet, erst die weitere Veröffent- 
lichung der Quellen im Corp. Ref. ab, entschloß sich dann, seine 
selbständige Mitarbeit dem Werke zu widmen, in der Absicht, nach 
einer Bearbeitung der gedruckten und der noch in den Archiven in 
Genf und Bern ruhenden Quellen, wie seine bekannten trefllichen 
Calvin-Studien in den Abhandlungen der Münchner Akademie und in 
der Deutschen Zeitschr. f. Geschichtswissenschaft (seit 1886) sie zu 
bieten anfingen, in einer Schlußredaktion Kampschultes Nachlaß re- 


294 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


vidiert uns vorzulegen. Aber eignes Leiden hat ihn genöthigt, die 
Arbeit erst liegen zu lassen, dann auf die Vollendung dieser Calvin- 
Biographie überhaupt zu verzichten. Aber ein doppeltes hat der 
Kranke noch gethan: er hat seine eignen Calvin-Studien jetzt in 
seinen »Historischen Arbeiten< S. 105—557 vereinigt, vermehrt durch 
den bisher noch nicht veröffentlichten Abschnitt »Calvin und Perrin 
1546—48<, und hat Kampschultes Manuskript von Bd. II Walter 
Goetz zur endlichen Herausgabe übergeben. 

Noch wenige Wochen vor dem Erscheinen dieses Vermächtnisses 
hatte Rudolf Reuss, der einst den 1. Bd. alsbald in einer Bespre- 
chung in der Revue critique in warmen Worten gewürdigt hatte, 
aufs Neue der Trauer darüber Ausdruck gegeben, daß ce fruit de 
ses longues et patientes recherches est resté perdu pour nous — 
dabei aber zugleich das bemerkenswerthe Bekenntnis abgelegt, seine 
Hochschätzung der Leistung Kampsch.s sei nur gestiegen, depuis que 
j'ai appris 4 connaitre Calvin de plus pres encore (Bulletin histo- 
rique et littéraire 1899 p. 542). Es würde einen eigenartigen Ehren- 
kranz auf Kampschultes Grab abgeben, wenn man aus der Litteratur 
dieser 30 Jahre zusammenstellen wollte, wie oft und von wie ver- 
schiedenen Seiten her dies ehrliche Bedauern, daß seine Arbeit Frag- 
ment bleiben mußte, laut geworden ist. Nur einem Adolf Zahn blieb 
es vorbehalten, den Satz zu schreiben: »Es ist eine providentielle 
Leitung, daß Kampschulte das Buch nicht vollenden konnte« — und 
seine redliche Arbeit zu charakterisieren als ein Werk, das künstlich 
den Schein geschichtlicher Unbefangenheit und Wahrheitsliebe er- 
wecke, im Uebrigen den Katholiken und den weichlichen Humanisten 
verrathe; ja er hat sein »ernstes Bedauern« ausgesprochen, daß man 
von evangelischer Seite her ein solches reiches Quellenmaterial in 
»solche Hände« gelegt habe für Studien, die doch nur zur Kränkung 
und Beschädigung der evangelischen Kirche gemacht seien (Studien 
über J. Calvin. Gütersloh 1894 S. 18. 2. 19.). Wie Zahn hier der 
göttlichen Providenz ein falsches Prognosticon gestellt hat, so hat er 
mit diesen Urtheilen doch mehr einen Beitrag zu seiner eignen Cha- 
rakteristik als zu der Kampsch.s geliefert. 

Der zweite Band liegt jetzt vor uns — freilich damit nur die 
Zeit von 1546—1559 ; der abschließende dritte Band, der uns Genfs 
Weltstellung in den letzten Lebensjahren Calvins, oder wie Cornelius 
es ausdrückt, die Entfaltung des Calvinismus zur Weltmacht dar- 
stellen sollte, ist uns verloren. Aber wir müssen doch hervorheben, 
daß die schwierigste Aufgabe für den Calvin-Biographen die unpar- 
teiische Behandlung des Kampfes Calvins um die Herrschaft in Genf 
selbst, seines Ringens mit den dort ihm widerstrebenden Elementen und 


Kampschulte, Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf. II. 295 


Kreisen bildet. Hier bedürfen die älteren Calvin-Biographieen am 
stärksten der Revision, hier gilt es ganz besonders den Gegenstand 
dem einseitigen Eifer der theologischen Partei zu entreißen und für 
lie historische Wissenschaft in Besitz zu nehmen«. Hier kämpft 
ıber auch der Historiker am stärksten mit der Versuchung, in der 
ıothwendigen Revision der einseitigen Behandlung, die seit Beza 
ınd Colladon allen Gegnern Calvins widerfahren ist, und in der hier 
;0 leicht sich hervordrängenden Antipathie gegen die für unser Em- 
finden abstoßenden Züge in Calvins Charakterbild, den großen 
ınd erhabenen Zügen, die es auszeichnen und die ihm seine welt- 
yeschichtliche Bedeutung verleihen, nicht voll gerecht zu werden. 
Jm so dankenswerther ist es, daß Kampsch. in dem Schlußkapitel 
‚Calvins persönliche Stellung< (S. 375 ff.) noch Gelegenheit gefunden 
iat, seine Zeichnung jener z. Th. so häßlichen Kämpfe, wie Calvin 
ie in starrer Consequenz seines theokratischen Princips mit den 
nannigfachsten, an sittlichem Werth so außerordentlich verschiedenen 
3egnern geführt hat, bei denen das Mitleid mit den Unterliegenden 
inwillkiirlich dazu drängt, das für Calvin Nachtheilige mit einem 
yesonderen Accent zu notieren, abschließend zu ergänzen durch eine — 
Betrachtung des Mannes selbst und der Wurzeln jener Kraft, die 
hn emporhebt und jenen ungeheuren Einfluß erklärt, den er errang 
ınd auch zu bewahren wußte. 

Aber ist eine Arbeit, die nach 27jährigem Intervall an die Oeffent- 
ichkeit gezogen wird, nicht veraltet, durch die dazwischen liegende 
Forschung längst überholt? Der Herausgeber hat zuversichtlich diese 
ich aufdrängende Frage geglaubt verneinen zu dürfen, und ich 
neine, die Kritik wird ihm darin voll und freudig zustimmen. Gewiß 
ind wir über Einzelheiten inzwischen genauer informiert, — der 
Jerausgeber hat gewissenhaft an solchen Stellen den Leser auf die 
leueren Forschungen verwiesen, — und auch einige kleinere Ver- 
jehen sind unter dem Texte korrigiert worden. Aber Kampschulte 
tannte die entscheidenden Urkunden — den Briefwechsel und die 
Rathsprotokolle — in ausreichendem Maße, brachte historische Me- 
hode und Unbefangenheit in so erfreulicher Weise an den Stoff 
ıeran, daß er sich einen sicheren Weg gebahnt, den spröden Stoff 
;o übersichtlich gruppiert, die Richtungen und die Individualitäten 
io klar erkannt hat, daß man ihm in den Grundzügen seiner Dar- 
tellung der heißen Kämpfe zuversichtlich zustimmen kann. 

Vortrefllich zeichnet gleich das 1. Kapitel die verschiedenen 
Slemente, die in der Gegnerschaft, mit der Calvin kämpft, sich 
ınterscheiden lassen, obgleich sie in mannigfacher Mischung uns be- 
jegnen : die Vertreter des Staatsgedankens seiner Theokratie gegen- 


296 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


über, die altgenferischen Patrioten, die bernische Partei; sodann die 
Gegner seiner unbedingte Unterwerfung fordernden, keine Diskussion 
gestattenden Glaubensnormen, und die mit seiner Sittenzucht Unzu- 
friedenen. Ich hebe dabei die feinen Bemerkungen über Calvin als 
Franzosen hervor, dem Genf nicht eine neue Heimath geworden ist, 
sondern lediglich die Operationsbasis für seine Propaganda in den 
romanischen Landen bleibt (S. 6f.). Verkennt Kampschulte auch 
nicht, daß jener bunt gemischten Opposition auch gefährliche und 
sittlich anstößige Elemente beigemischt waren und daß diese sie bei 
der Mitwelt und noch mehr bei der Nachwelt discreditiert haben, so 
räumt er doch entschieden mit der traditionellen Lehrweise auf, nach 
der die pantheistisch-antinomistische Sekte der Libertins in Genf ihr 
Hauptquartier aufgeschlagen haben sollte. Ist diese fable convenue 
auch seit Kampschultes Tagen nicht mehr so uneingeschränkt vorge- 
tragen worden, wie sie ihm damals noch in der Litteratur entgegen- 
trat, so ist sie doch noch lange nicht gründlich genug beseitigt. In 
J. J. Herzogs Kirchengeschichte 2. Aufl. II 173 (1892) steht noch 
kurz und bündig geschrieben : »die Opponenten Calvins nannte man 
die Libertiner<; und der viel vorsichtigere Philipp Schaff zeichnet 
uns in seinem Kapitel von Calvins Genfer Kämpfen neben den En- 
fants de Genéve als die andre, schlimmere Art seiner Gegner »die 
Libertiner oder Spiritualen<, deren Lehrsystem er daher hier dar- 
stellt; als deren Genfer Repräsentanten nennt er uns Gruet, >a Li- 
bertine of the worst type<; Perrin wird zwar selber nur‘als »leader 
of the Patriotic party« bezeichnet, aber seine Leute sind dann doch 
einfach >the Libertines« ; die Affaire Pierre Ameaux »shows a close con- 
nection between the political and religious Libertines<; auch Van- 
dels und Bertheliers Austreibung wird uns als »the end of Libertinism 
in Geneva« vor Augen gerückt (History of the Christian Church VII 
1892 p. 501—515). Und auch R. Staehelin in seinem gehaltvollen 
Artikel Calvin in der 3. Aufl. der protest. Real-Encykl. III 669 re- 
det noch von einem Einwirken der Ideen des mystisch-pantheisti- 
schen Libertinismus Frankreichs auf die Genfer Bürgerschaft, be- 
trachtet »Libertiner< als eine geläufige Bezeichnung zunächst der 
religiösen, dann auch der politischen Gegner Calvins, und bringt 
wenigstens den Proceß Gruets mit diesem Libertinismus in Verbin- 
dung. Mit Recht macht dagegen Kampsch. darauf aufmerksam, daß 
Calvins Streitschriften gegen die Libertins gar keine Beziehung auf 
die Genfer Verhältnisse haben, — sie wollen vielmehr die gläubigen 
Brüder in Artois und Hennegau und überhaupt in den Niederlanden 
und Frankreich stärken (CR XII [XL] 66; VII [XXXV] 159). Ist 
Pocquet, einer ihrer Führer, auch kurze Zeit in Genf gewesen, so 


Kampschulte, Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf. II. 297 


weiß Calvin doch nur zu sagen, daß er seine böse Lehre dort sorg- 
faltig verheimlicht hat (VII 163). (Den Impuls, gegen sie zu schrei- 
ben, erhält C. durch Valerandus Pollanus [26. Mai 1544]. Auch 
Beza schildert hernach diese schriftstellerische Thätigkeit seines Mei- 
sters ohne alle Bezugnahme auf die Genfer Kämpfe (XXI, 136). 
Mit Recht erinnert K. ferner daran, daß weder Calvin noch die Zeit- 
genossen die Genfer Gegner jemals »Libertiner< nennen. Die erste 
Spur einer Anwendung dieses Namens auf sie findet er bei Bolsec, 
der aber nur sagt, C. habe seine Gegner vertrieben, tanquam qui 
Libertini ... fuissent. In der That, man lese die Vitae seiner älte- 
sten Biographen und achte auf all die schönen Prädikate, die seine 
Gegner erhalten: es sind monstres (XXI 23. 25. mutins et desesperes 
citoyens (34), les desbauches (38), dnuayoyol (137), wmprobs (138. 139. 
148 u. 6.), fursosi (141), factiost (145), impuri (144) u.8.w., aber 
niemals heißen sie Libertins. Kampschulte will nur zugeben, daß 
vereinzelte Anhänger der Libertiner in Genf gewesen sein mögen, 
und findet einige Anklänge an das libertinische System in Aeuße- 
rungen der Frau des P. Ameaux. Aber man wird selbst hier eine Ein- 
wirkung des Systems jener Spiritualen gar nicht anzunehmen brau- 
chen. Ist es nicht auch ganz ohne solche direkten Verbindungen 
hinreichend erklärlich, daß in einer Stadt, in der das » Wort Gottes« 
alles regieren sollte, auch die Frivolität einer »mannstollen< Frau, 
wie Cornelius jene treffend genannt hat, sich mit lüstern interpre- 
tierten Bibelstellen zu vertheidigen suchte ? Zu solchen Künsten be- 
darf es, wie die Erfahrung in religiös stark erregten Kreisen lehrt, 
gar nicht erst der Einwirkung des »Systems< einer Sekte von außer- 
halb her. 

Vortrefflich gelungen scheint mir dann weiter der Nachweis, wie 
der für Calvin klägliche Verlauf des Prozesses gegen Perrin 1547 
sein siegreiches Vordringen längere Zeit aufhielt, und wie von 1548 
an staatskirchliche Principien seinem Regimente kräftig entgegen 
gehalten werden. Er erleidet jetzt Niederlage auf Niederlage — 
auch die Proklamation des Rathes vom 18. Jan. 1549 lehrt K. nicht 
als einen Triumph Calvins, sondern als Zeugnis dafür verstehen, daß 
die weltliche Obrigkeit jetzt entschlossen ist, ihr Recht über Staat 
und Kirche in vollem Umfange auszuüben. Und diese Deutung 
bleibt auch bestehen, wenn, was K. nicht wußte, dieses Dokument 
seine Anregung dem gleichen Vorgehen des Berner Rathes verdankte 
(Roget, Hist. du peuple de Genéve III 82f.). Auch Calvins halber 
Sieg über Bolsec erweist sich bei näherer Betrachtung als eine be- 
denkliche Erschütterung seiner Autorität — in der deutschen Schweiz, 
wie in der Genfer Bürgerschaft — und auch das Verfahren des 

Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 21 


298 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


Rathes, als ihm nun C. nach Beendigung des Prozesses seine Schrift 
über die Prädestination widmen will, der erst die Durchsicht zwei 
Männern überträgt, deren einer, Trolliet, sein persönlicher Gegner 
ist, und dann von ihm fordert, daß er die mote diniures daraus 
tilge (XXI, 501), zeigt, daß seine Position jedenfalls nicht gewonnen 
hatte. So zeigt uns denn K. auch für 1552 C.s »abnehmenden Ein- 
flu8< und die »steigende Riicksichtslosigkeit der anticalvinischen 
Parteic. Erst mit Michael Servets traurigem Prozeß schnellt wieder 
seine Autorität in die Höhe, denn des Spaniers Angelegenheit vermag 
auch bei den Gegnern C.s keinen Beifall zu erringen, sie bleibt in 
der Bevölkerung unpopulär, und die Wenigen, die für den Anti- 
trinitarier aus Abneigung gegen Calvin Sympathien zeigen, compro- 
mittieren sich nur dadurch. Die angerufenen Kirchen und Magistrate 
der andern Schweizer Cantons stützen in diesem Falle Calvin. Ihre 
einmüthigen Voten überwinden die schwankende Mittelpartei im 
Rathe — und so triumphiert hier C.s Theokratie. Dieser Sieg trifft 
die ganze Gegnerschaft. Unter dieser Wendung der Dinge endet nun 
auch der bis dahin für C. ungünstig stehende Streit über das Ex- 
communicationsrecht mit einer Aussöhnung, die einen Sieg C.s und 
eine völlige Niederlage Perrins bedeutete. Die öffentliche Meinung, 
die in den Wahlen der Syndiks und des Rathes sich bezeugte, brachte 
1555 die Gewalt in C.s Hände. Und nun erfolgt der vernichtende 
Schlag gegen die Opposition in der planmäßigen Aufnahme der Frem- 
den ins Bürgerrecht und in der schonungslosen, unbarmherzigen Ver- 
folgung des Straßenlärms vom 16. Mai 1555 gegen Perrin und Ge- 
nossen. Mit vollem Rechte sieht K. in diesem Tumult weder eine 
lange vorbereitete »catilinarische« (CR XXI, 55) Verschwörung, 
noch auch umgekehrt einen von der calvinischen Partei inscenierten 
Streich. Er hält daran fest, daß die Ruhestörungen von der Oppo- 
sitionspartei ausgingen, aber unerheblich und ohne ernstliche Gefähr- 
dung waren — denn die Macht jener in der Stadt war bereits stark 
dahingeschwunden. Aber ausgenutzt wurde nun dieser Straßenauf- 
lauf von den Machthabern in entsetzlicher Weise, in der maßlosesten 
Weise für die öffentliche Meinung aufgebauscht und wahrhaft brutal 
gestraft. Dieser Aufstieg zu gesicherter Machtstellung bleibt für mein 
Empfinden einer der dunkelsten Flecken in C.s Geschichte’). 


1) Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Worte berichtigen, in denen ich 
in der 2. Aufl. von Möllers Kirchengesch. Bd. II (1899) S.168 den Sieg Calvins 
1555 charakterisiert habe: »er sichert seinen Sieg sofort durch eine Verfassungs- 
änderung in aristokratischem Sinne«. Damit sollten die Rathsbeschlüsse kurs 
zusammengefaßt sein, deren Inhalt R. Stähelin in Real-Encykl.? III 681 Z. 11 ff. 
näher bezeichnet hatte. Aber genauere Einsicht in die Quellen und eine Corre- 


Kampschulte, Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf. II. 299 


Von hier an zeigt uns K. »Genf unter Calvins Herrschaft« — 
die Ausnutzung und Sicherung seines Sieges, den Frieden mit Bern, 
die Gründung der Akademie, den Abschluß der kirchlichen Gesetz- 
gebung, — endlich in den Schlußkapiteln die Gestaltung des öffent- 
lichen Lebens nach dem vollständigen Siege C.s und seine persön- 
liche Stellung in dem von ihm beherrschten Genf. 

Es sind lebensvolle Bilder, die uns K. entrollt — freilich sehen 
sie anders aus, als Colladon und Beza sie im Ueberschwang der Be- 
wunderung einst gezeichnet haben, die in C. einfach den champion 
Gottes erblicken (XXI, 22), auf den sich Satan gestürzt hat, comme 
eal avoit oublie tous les autres tenans, pour l’assailir (ebd.). Unpar- 
teiisch sucht K. Licht und Schatten zu vertheilen. Die große Auf- 
gabe, die sich C. gestellt hat, Gottes Ehre in der rücksichtslosen 
Durchsetzung ebenso seines Lehrsystems wie seiner kirchlichen Zucht 
zur Geltung zu bringen, die Ueberzeugungstreue, Energie und Selbst- 
losigkeit, mit der er dafür kämpft, verliert der Biograph nicht aus 
den Augen. C. bleibt ihm der heldenmüthige Mann aus einem Guß. 
Aber er erkennt auch, wie gefährlich es für einen Menschen ist, sich 
als auserwähltes Rüstzeug Gottes zu fühlen, und er hat ein scharfes 
Auge, wie für die eminente politische Begabung, so auch für die 
kleinen und oft unedlen Mittel, mit denen er Gottes Ehre verficht. 
Auch bei Luther begegnen wir oft dem gehobenen Selbstbewußtsein, 
mit einer besonderen Mission von Gott für die Kirche und sein Volk 
betraut zu sein; aber es wird uns der damit so schnell sich verbin- 
dende Unfehlbarkeitsdünkel gemildert durch das echt Menschliche in 
seinem Lieben und seinem Hassen. Je einseitiger sich C.s Denken 
und Handeln um dies Bewußtsein dreht, um so peinlicher empfinden 
wir hier den Anspruch eines Menschen, in allen Lagen des Kampfes- 
lebens sein Urtheil schlechthin mit dem göttlichen zu identificieren 
und seine Feinde stets als Gottes Feinde beurtbeilen zu dürfen. 
Und um so beklemmender wirken nun die Züge seines Lebens, in 
denen die Taktik menschlicher Berechnung sich in allerlei Mitteln 
regt, die den Gegner stürzen und seinen Sieg herbeiführen sollen. 
Es zeugt von K.s Behandlung C.s in großem Stile, daß er diese un- 
schönen Dinge meist in die Anmerkungen verwiesen hat. Die Män- 
ner der Opposition hat er nicht in schönfärbender Manier idealisiert, 
aber er hat sie, frei von der grellen Beleuchtung, in der C. und 
seine Panegyriker sie uns vorgeführt haben, möglichst getreu nach 


spondenz mit dem verehrten, inzwischen verstorbenen Baseler Kirchenhistoriker 
haben mich belehrt, daß er hier in der Jahresangabe sich versehen hat, und daß 
man von einer formellen Abänderung der Verfassung nicht füglich an dieser 
Stelle reden kann. 


21* 


300 a Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


den Akten uns abgeschildert. Im Ganzen wird auch diesem Bande 
das Lob einer unbestechlichen, gewissenhaften Unparteilichkeit ge- 
zollt werden müssen. 

Ehe ich mich zu Einzelheiten wende, ein Wort über die Thätig- 
keit des Herausgebers Goetz. Pietätvoll hat er Text und Anmer- 
kungen K.s unverändert uns überliefert, und sich darauf beschränkt, 
bei den Citaten und Briefen, Rathsprotokollen u. s.w., so weit sie 
seitdem im Corp. Ref. Veröffentlichung gefunden haben, diesen Fund- 
ort zu notieren. Außerdem giebt er in eckigen Klammern hie und 
da Hinweisungen auf weitere Quellen (vgl. z.B. S. 14), desgl. notiert 
er, wo etwa Roget, Cornelius, Choisy, Buisson u. A. inzwischen die- 
selbe Materie eingehender behandelt haben und deutet außerdem 
kurz an, wo K.s Darstellung einmal thatsächlich der Correktur be- 
- darf, oder wo eine andere Beurtheilung der Thatsachen von neueren 
Forschern vertreten wird. Durch dieses Verfahren ist erreicht, daß 
K.s Leistung unversehrt in ihrer Eigenart uns vorgelegt und daß 
doch zugleich diese fast 30 Jahre alte Arbeit überall in enge Füh- 
lung mit der Forschung der letzten Jahre gebracht worden ist. Die 
Notierung der Rathsprotokolle nach Corp. Ref. XXI (soweit sie dort 
abgedruckt sind) ist freilich von Goetz nicht ganz consequent durch- 
geführt: ich vermisse z. B. S. 23 Anm. 3 XXI, 370. 371, S. 24 
Anm. 1, S. 43 Anm. 3 S. 349 und 361. War es aber wohl auch 
Pietät, daß er S. 91 Barnabas statt Barabbas im Texte K.s stehen 
ließ? und daß Trolliet bald so, bald Troillet geschrieben wurde? 
nur in letzterer Form hat dieser schließlich Aufnahme im Register 
gefunden. Auch möchte ich fragen, ob K. wirklich Worte wie »tot- 
wiirdig< (S. 139) und »Gotteslosigkeit« (S. 277) geschrieben hat. 

Im Einzelnen sei noch bemerkt: S. 26 gehört die Anführung 
des Rathsprotokolls vom 29. März doch wohl aus Anm. 2 in Anm. 3 
— §. 74 lies Herbst 1546 st. 1547. — Zu S. 75 Anm. 1 ist zu er- 
innern, daß Calvin den Gegner Perrin in seinen Briefen nicht nur 
Comicus Caesar, sondern auch umgekehrt Caesar tragicus (CR XI 
532) nennt. — S. 94 gehört der wörtlich mitgetheilte Rathsbeschluß 
in Anm. 1 vielmehr zu Anm.2. — Zu S.95 Anm. 2 erinnere ich an 
das ganz ähnliche Verhalten Calvins bei den Versöhnungsbemühungen 
im September 1546, wo er auch in demselben Briefe, in dem er sein 
versöhnliches Verhalten gegenüber Perrin so stark betont, ihn mit 
dem Spitznamen »Caesar< benennt. Aber man wird auch fragen 
dürfen, ob Calvin wirklich diese Bezeichnung, zumal ohne das ver- 
letzende >comicus<, noch, wie K. voraussetzt, als einen »Spott<namen 
empfand. War das aber nicht der Fall, dann fällt auch K.s Tadel 
dahin. Calvin hat sich aber so daran gewöhnt, in der vertrauten 


Kampschulte, Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf. IL 801 


Correspondenz Genfer Persönlichkeiten mit allerlei Decknamen zu 
nennen, daß dabei die Absicht spöttischer Herabsetzung nicht ange- 
nommen zu werden braucht. — Zu S. 154 Anm. 4 sei daran er- 
innert, daß ebenso wie Calvin nach dem Zusammenbruch seiner 
Freundschaft mit de Falais die Dedikation seines Commentars zum 
1. Korintherbrief zurückzog, so auch Gallarsius die 1546 erfolgte Wid- 
mung seiner lateinischen Uebersetzung von Calvins Schrift gegen 
die Libertins an de Falais hernach in eine solche an Olevianus um- 
wandelte (CR VII p. XXVIII). — S. 200 Anm. 4 scheinen mir Cal- 
vins für uns so anstößigen Worte über Servets letztes Gebet doch 
nicht richtig gedeutet zu sein, als ob er sich damit über ihn »lustig 
mache< ; sie sind m. E. sehr ernst gemeint und beanspruchen, noch 
den sterbenden Gegner auf eclatantem Selbstwiderspruch ertappt zu 
haben. Das Widerwärtige liegt hier auf anderm Gebiete, als wo K. 
es gesucht hat. — Zu 8. 382: das Urteil Bezas, daß Calvins that- 
sächlicher Vorrang lediglich auf seiner größeren Arbeitsleistung be- 
ruht habe, steht nicht erst in der in Anm. 2 angezogenen Schrift, 
sondern schon ganz klar in seiner Préface von 1564, CR XXI, 35. 

Von Druckversehen sind mir noch aufgestoßen: S. 105 Anm. 2 
onmes st. omnes; 146 Anm. 1 estes st. festes; 181 Anm. 2 1533 st. 
1553; 226 Anm. 3 ist doch wohl vobis st. orbis zu lesen. 


Breslau. G. Kawerau. 


Burkhardt, H., Functionentheoretische Vorlesungen. Zwei Bände 
mit zahlreichen Figuren im Text. Leipzig, Veit und Comp. gr. 8°. 
Erster Theil: Einführung in die Theorie der analytischen Functionen einer 
complexen Veränderlichen. 1897. XII und 213 S. Preis Mk. 6. 
Zweiter Theil: Elliptische Functionen. 1899. XVI und 373 8. Preis Mk. 10. 


Die Einführung in die Functionentheorie und die elliptischen 
Functionen Burkhardts stellen ein einheitliches Werk dar. Jene Ein- 
führung bereitet die Theorie der elliptischen Functionen vor, bildet 
jedoch zugleich ein vollständiges Lehrbuch der allgemeinen Functionen- 
theorie. Das ganze Werk ist sehr klar geschrieben, anschaulich, in 
allem Wesentlichen strenge, dabei knapp und für den Gebrauch der 
Studierenden besonders geeignet. Trotz der gedrängten Form ist 
das Werk ein recht vielseitiges, wie denn der Verfasser sich vorge- 
setzt hat, »nicht sowohl die herkömmlicher Weise als elementar be- 
trachteten Theile der Theorie erschöpfend zu behandeln, als vielmehr 


802 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


den Studierenden den Zugang zu allen Theilen des Gebäudes zu er- 
öffnen«. 

In der Einführung in die Functionentheorie wird 
zuerst das Rechnen mit complexen Zahlen begründet, indem diese 
als Zahlenpaare aufgefaßt werden, ohne daß dabei die Frage nach 
etwaigen aus mehr als zwei Haupteinheiten gebildeten Größen er- 
örtert würde, welche Erörterung auch im Grunde für den Zweck 
nicht nöthig ist. Im zweiten Abschnitt (S. 17) behandelt der 
Verfasser die lineare ungebrochene und gebrochene Function, aus- 


gehend von ihren einfachsten Formen s-+a, az, =, wobei immer 


zugleich die durch die Function vermittelte conforme Abbildung und 
bei dem allgemeinen Fall die Beziehung zum Doppelverhältnis er- 
örtert wird. 

Nach einer Digression (S. 47) über den Zusammenhang zwischen 
den linearen Functionen einer complexen Variabeln und gewissen 
Collineationen und insbesondere Bewegungen des Raums, wird die 
Potenz #* als Function von z untersucht. Das Argument ¢ wird hier 
in die trigonometrische Normalform r(cosg+:ising) gesetzt. Bei 
dieser Untersuchung macht der Verfasser auf einige der Theorie der 
automorphen Functionen angehörende Begriffe, wie »Fundamental- 
bereich<, »Gruppe« u.s.f. aufmerksam. Es schließt sich nun die 
Herleitung der allgemeinsten Eigenschaften rationaler Functionen an 
(Pole, Nullstellen und deren Ordnungszahlen, Verhalten im Unend- 
lichen u.s.w.), wobei auch gleich ein Beispiel einer automorphen 
rationalen Function gegeben wird. 

Der jetzt folgende dritte Abschnitt enthält Definitionen 
und Sätze aus der Theorie reeller Veränderlicher und ihrer Func- 
tionen. Es handelt sich dabei hauptsächlich um den Begriff der 
Konvergenz der Reihen und der Integrale, um die Stetigkeit einer 
Function von einer und einer Function von zwei reellen Veränder- 
lichen, um die gleichmäßige Annäherung einer Function von zwei 
Veränderlichen an eine Grenzfunction von einer Veränderlichen, um 
die Definitionen von »Linie«, »Bereich«, »Inneres<, »Aeußeres«, 
»Grenze«e u.s.f., ferner um diejenigen Lehrsätze, welche theils als 
Greensche Sätze bezeichnet werden, theils in unmittelbarer Beziehung 
zu den Greenschen Sätzen stehen und sämmtlich zwischen Integralen, 
die sich über einen flächenartigen Bereich erstrecken, und Rand- 
integralen einen Zusammenhang darstellen. Der Verfasser hat sich 
entschlossen, in diesem Abschnitt Lehrsätze ohne Beweise zu geben. 
Im Hinblick auf den Zweck des Buchs, der Einführung der Studie- 
renden zu dienen, ist dies vielleicht zu bedauern, wobei freilich zu- 


Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 808 


gegeben werden muß, daß die völlig strenge Durchführung der Be- 
weise nur durch ungemein umständliche Betrachtungen möglich ge- 
wesen wäre. 

Im vierten Abschnitt setzt nun die allgemeine Cauchy- 
Riemannsche Definition einer in einem Gebiet regulären Function 
complexen Arguments mit den zugehörigen Entwicklungen ein, die 
in Folge der vorausgeschickten Sätze über Functionen von reellen 
Veränderlichen sehr kurz ausfallen. Da gerade bei diesen wichtig- 
sten Entwicklungen die Anordnung fast vollständig durch die Sache 
gegeben ist, will ich hier nur einige, vielleicht mehr auf Neben- 
sächliches zielende, Bemerkungen machen, zunächst ein paar solche, 
die auf kleine Ungenauigkeiten Bezug haben. 

Auf S. 91 findet sich der Satz III: »Jede den Stetigkeitsbe- 
dingungen und der Laplaceschen Differentialgleichung genügende 
Function X von x und y kann als reeller Bestandtheil einer regu- 
laren Function Z = X+iY von ¢ = x+ty angesehen werden«. 
Es bestanden aber die im Vorhergehenden den Functionen aufer- 
legten »Stetigkeitsbedingungen« darin, daß jede vorkommende Func- 
tion in dem ganzen in Betracht kommenden Bereich selbst stetig 
sein und abtheilungsweise stetige Ableitungen erster Ordnung be- 
sitzen sollte. Bei dem angeführten Satz III muß man jedoch voraus- 
setzen, daß auch die zweiten partiellen Ableitungen der Function X 
existieren und, wenigstens abteilungsweise, stetig sind. Ebenso hätte 
auf eben dieser Seite bei V neben der Existenz von 


lim f(s+ {)—f(s) 
[Ss] =0 
auch verlangt werden müssen, daß dieser Grenzwerth als Function 
von z in Abtheilungen stetig sein soll. 

Auf S. 92 ist der Satz VIII ausgesprochen: >Ist w = f(s) eine 
in (einem Bereich) S reguläre Function von z, die in diesem Bereich 
keinen Werth mehr als einmal annimmt und deren Differential- 
quotient in ihm überall von Null verschieden ist, so erfüllen die 
Werthe, die w in S annimmt, einen Bereich U der w-Ebene, in wel- 
chem umgekehrt z eine reguläre Function von w ist«. Dieser Satz 
wird durch den Hinweis darauf begründet, daß der Grenzwerth dz/dw 
zu dem Grenzwerth dw/dz reciprok ist. Diese Art der Begründung 
ist nicht ausreichend. Bedeutet nämlich w, den Werth von w, der 
einem bestimmten, innerhalb S gelegenen Werth z, von z entspricht, 
so muß erst der Beweis geliefert werden, daß zu jedem nahe bei 
w, gelegenen Werth w’ ein solches 2 existiert, für das f(#) = w 
ist; denn sonst könnte von dem Grenzwerth de/dw, in dem Sinne, 


804 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


wie der Differentialquotient einer Function einer complexen Verän- 
derlichen gefaßt worden ist, gar nicht gesprochen werden. Der dem- 
nach noch zu liefernde Beweis ergiebt sich aber erst aus der von 
Burkhardt auf S. 130 gegebenen Entwicklung. 

Auf S. 109 ist der Satz III: »Wenn eine in einem bestimmten 
Bereiche reguläre Function von z längs eines Linienstücks dieses 
Bereichs constant ist, ist sie in dem ganzen Bereich constant< ledig- 
lich als specieller Fall der Thatsache hingestellt, daß zwei Potenz- 
reihen mit demselben Mittelpunkt dieselben Coefficienten haben müs- 
sen, wenn sie auf einem kleinen, den Mittelpunkt enthaltenden Linien- 
stück in ihrer Summe übereinstimmen. Genau genommen verlangt 
der Satz III, der natürlich voraussetzt, daß der Bereich zusammen- 
hängt, zu seinem Beweis die Annahme einer Reihe von Mittelpunkten, 
für welche nach dem Früheren Potenzreihen existieren, welche die 
Function darstellen. Der erste Mittelpunkt muß auf jenem Linien- 
element liegen, der um diesen Mittelpunkt beschriebene, größte, ganz 
in den Bereich fallende Kreis muß den zweiten Mittelpunkt, ein um 
diesen ebenso beschriebener Kreis den dritten Mittelpunkt enthalten 
u.s.f. Der letzte Kreis muß den Punkt enthalten, für den die 
Uebereinstimmung der Function mit jener auf dem Linienstück vor- 
handenen Constanten nachgewiesen werden soll. Eine solche Reihe 
von Mittelpunkten kann in dem zusammenhängenden Bereich immer 
gefunden werden. 

Die einfachsten Lehrsätze über Potenzreihen werden in diesen 
Abschnitt hineingezogen (S. 104), z.B. der Satz, daß die Reihe, 
welche aus einer Potenzreihe durch gliedweise Ableitung entsteht, 
denselben Convergenzbereich wie die ursprüngliche Potenzreihe be- 
sitzt; dieser Satz dient dann zu dem Beweis dafür, daß eine reguläre 
Function, d.h. eine solche, die als Function einer complexen Ver- 
änderlichen stetig ist und einen abtheilungsweise stetigen Differen- 
tialquotienten erster Ordnung hat, Differentialquotienten von allen 
Ordnungen besitzen muß. Die Partialbruchzerlegung der rationalen 
Functionen schließt sich ungesucht dem Lionvilleschen Satz an, nach 
dem eine in der ganzen Ebene, mit Einschluß des unendlich fernen 
Punkts, reguläre Function eine Constante sein muß. Für den Fun- 
damentalsatz der Algebra ergeben sich zwei Beweise. Der zweite 
beruht auf der Untersuchung der Residuen des Integrals 


' 
8 
0 [5 
Hier schließt sich (S. 130) ein wichtiger Beweis für die Um- 
kehrbarkeit der Potenzreihe an. Der Verfasser nimmt nämlich jetzt 





Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 305 


f(e) als in der Umgebung der Stelle s = 0 reguläre Function und 
zugleich so an, daß f(0) = 0, und f’(0) von Null verschieden ist. 
Es wird nun eine Fläche $ gewählt, in der f(¢) überall regulär ist, 
die ferner die Stelle z = 0 in ihrem Innern enthält, für die aber 
sonst /(e) weder im Innern noch auf dem Rand verschwindet. Neben 
dem Integral (1) wird noch 


d(f(e)—w) 
(2) few 


gebildet, wobei w eine Constante sein soll. Beide Integrale sind 
über den Rand I der Fläche S im positiven Sinn zu erstrecken und 
n bedeutet die Anzahl der in der Fläche S gelegenen Wurzeln der 
Gleichung f(s)—w = 0. Es wird nun zuerst gezeigt, daß das Inte- 
gral (2), wenn w hinreichend klein gewählt ist, gleich dem Integral 
(1) sein muß. Das Integral (1) ist aber unter den gemachten An- 
nahmen gleich 2x1, und es ergiebt sich daher, daß » = 1 ist, d.h., 
daß die Function f(¢)—w in der Fläche S eine und nur eine Ver- 
schwindungsstelle besitzt. 

Der Beweis für die Gleichheit der Integrale (2) und (1) wird 
bei Burkhardt durch Einführung einer neuen Variabeln 


= 2nm 


geführt. Er kann auch dadurch geführt werden, daß man auf die 
für den ganzen Rand I gleichmäßige Annäherung der Function 


d 
qe fa-w) _ f'(e) 
fe) -w  fle)—w 
an die Function 
f (2) 
f (2) 
hinweist, die eintritt, wenn der Modul [w| von w unendlich klein 
wird. Daraus folgt dann, daß die beiden Integrale für ein unend- 
lich kleines w unendlich wenig von einander verschieden sind, und 
da jedes der Integrale gleich 2%? mal einer ganzen Zahl ist, so er- 
giebt sich schließlich, daß die Integrale für ein hinreichend kleines 
w einander gleich sein müssen. 
Nachdem nun nachgewiesen ist, daß f(2)—w in der Fläche S 
eine einzige Verschwindungsstelle, d.h. die Gleichung 


(3) f(s) = w 





806 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


in Seine einzige Wurzel hat, kann man statt S einen beliebig kleinen 
Theil S’ von S nehmen, der nur den Nullpunkt, d.h. die Stelle e = 0, 
enthalten muß, und es gilt, wenn w hinreichend klein genommen 
wird, die durchgeführte Betrachtung außer für S auch gleichzeitig 
für S’. Es rückt also die in der Fläche S einzige Wurzel s der 
Gleichung (3), wenn w hinreichend klein gemacht wird, in eine be- 
liebige kleine Umgebung des Nullpunkts. Mit Hilfe der gewonnenen 
Ergebnisse, in welchen anstatt des Nullpunkts auch eine andere 
Stelle der s-Ebene gesetzt werden kann, läßt sich nun das von mir 
auf S. 303 unten besprochene Theorem vollends beweisen, das sich 
auf die Umkehrung einer regulären Function bezieht. 

Es handelt sich noch um die Darstellung der durch die Glei- 
chung (3) definierten Abhängigkeit der Größe 2 von w. Der Ver- 
fasser beruft sich dabei auf das eben erwähnte Umkehrungstheorem, 
wodurch sich dann schließlich die Existenz einer Potenzentwicklung 
ergiebt. Directer kann man so verfahren. Das über den Rand T 
von S erstreckte Integral (Burkh. S. 131) 


„Fa 
"Fe 


stellt das 2wifache von der Summe der Werthe z dar, für welche die 
in S regulär gedachte Function F'(s) verschwindet, wobei jeder Werth 
der Multiplicität entsprechend gerechnet werden muß. Setzt man 
nun F(z) = f(e)—w und macht man über f(z) die vorigen An- 
nahmen, so stellt 

f (2) 
(4) = #7 (3) — w de 
unmittelbar die eine, einzig vorhandene Wurzel der Gleichung (3) 
dar. Der Ausdruck (4) kann unmittelbar nach Potenzen von w ent- 
wickelt werden. 

Ich will nicht unterlassen, zu bemerken, was Burkhardt nicht 
erwähnt hat, daß die hier angestellten Betrachtungen sich auf zwei 
Arten verallgemeinern lassen. Einmal kann man zulassen, daß f(2) 
bei ¢ = 0 nicht von erster, sondern von kter Ordnung gleich Null 
wird. In diesem Fall ergiebt sich, daß die Gleichung (3) in einem 
hinreichend kleinen, um den Nullpunkt abgegrenzten Bereich der z- 
Ebene für jedes kleine, von Null verschiedene w genau % verschiedene 
Wurzeln hat, die alle in den Nullpunkt zusammen rücken, wenn w 
unendlich klein wird’). Bildet man nun die Ausdrücke 


dz 








1) Aus diesem Satz erst kann die vom Verfasser auf 5.92 Anm. angeführte 
Thatsache hergeleitet werden, daß eine in einem Gebiet reguläre Function, die in 


Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 807 


1 f'(e) 
2xi a f(s) —w ds 

fir e = 1,2,3,...%, so erhält man die & ersten Potenzsummen und 
damit auch die elementaren symmetrischen Functionen jener kWur- 
zeln, und es läßt sich nun eine in s algebraische Gleichung 
kten Grades bilden, welche die Wurzeln von (3) zu Wurzeln hat, 
und deren Coefficienten gewöhnliche Potenzreihen von w sind. 

Eine weitere Verallgemeinerung besteht darin, daß man statt der 
Gleichung (3) eine Gleichung 





(5) 9 (2,0, %,,...,%,,) = 0 
nimmt, wo 9 eine für einen 2vfach ausgedehnten Bereich conver- 
gierende Potenzreihe von v complexen Variabeln ist, und 9(0,0,0,... 0) 
= 0 ist, ohne daß 9(2,0,0,...0) in 2 identisch gleich Null wäre. 
Ist dabei das niedrigste in @(2,0,0,...0) wirklich vorkommende 
Glied von der Ordnung k, so zeigen sich wieder k kleine Wurzeln 
der Gleichung (5) für jedes kleine Zahlensystem w,,w,,...w,_ , nur 
daß diese Wurzeln jetzt nicht nothwendig verschieden von einander 
sind. Die übrigen Resultate lassen sich übertragen. 

Alle diese Ergebnisse sind zuerst von Weierstraß!) dadurch be- 
wiesen worden, daß er den Quotienten 


Ö 
359 Wr Wyy oes; W,_1) 
g (2, W,, Wy, oe w,) 


nach steigenden und fallenden Potenzen von ¢ entwickelt hat. Die 
Darstellung, welche auf die Integrale gegründet ist, ist m. E. über- 
sichtlicher, ohne daß dabei der Strenge wesentlich Abbruch geschähe. 

An die Laurentsche Reihe (S. 131) knüpft der Verfasser in ele- 
ganter Weise den Beweis eines die trigonometrische Entwicklung 
einer Function betreffenden Satzes (S. 137): »Eine periodische Func- 
tion der Periode 2” kann in eine gleichmäßig convergente und glied- 
weise beliebig oft differentiierbare Reihe der Form: 


co oO . 
a, +20, cos nt +25, sin nt 


entwickelt werden, wenn sie in einem Streifen regular ist, der zu 
beiden Seiten der Axe der reellen Zahlen eine endliche Breite hat«. 


diesem keinen Werth mehr als einmal annimmt, innerhalb des Gebiets überall 
einen von Null verschiedenen Differentialquotienten besitzt. 
1) Mathematische Werke, 2. Bd. 1895, 8. 185 ff. 


808 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


Dieser Satz wird vom Verf. später in den elliptischen Functionen zur 
Aufstellung der Thetareihe benutzt (2. Bd. S. 103). 

Der Satz von Mittag-Leffler, der die Herstellung von Functionen 
ermöglicht, die in der ganzen Ebene eindeutig, im Endlichen bis auf 
Pole regulär sind, dabei vorgegebene Pole haben, und für die an 
den Polen die gebrochenen Theile der Entwickelungen gegeben sind, 
wird in gewissen Fällen, die für das Spätere ausreichen, einfach er- 
ledigt (S. 140). 

Erwähnt werden möge noch aus diesem Abschnitt ein sehr ein- 
facher Beweis der Weierstraßschen Sätze, daß eine gleichmäßig con- 
vergente Reihe regulärer Functionen eine reguläre Function zur 
Summe hat, und daß eine solche Reihe beliebig oft gliedweise diffe- 
rentiiert werden darf (S. 139, 140). 

Der fünfte Abschnitt bezieht sich auf mehrwerthige ana- 
lytische Functionen. Der Verfasser weicht hier von den gebräuch- 
lichen Darstellungen vor Allem darin ab, daß er zuerst (S. 151) 
den »arcus einer veränderlichen complexen Größe«, d.h. die durch 
die Gleichungen 


s=ııy 9= arctg 


gesetzte Beziehung zwischen der reellen Größe m und der com- 
plexen Größe 2 genau erörtert, wobei für den arcus auch eine Rie- 
mannsche Fläche construiert wird. Es schließt sich dann der Loga- 
rithmus an, der sammt der durch ihn vermittelten conformen Abbil- 


s—@ 
2—b’ 
V@-a)@-b), We, VYi—z2, Yü-s)(1+s) und die ihre Viel- 
deutigkeit darstellenden Riemannschen Flächen. Die allgemeine end- 
lichblättrige Riemannsche Fläche wird nicht behandelt. Am Schluß 
des Abschnitts werden die der Darstellung ganzer transcendenter 
Functionen dienenden Weierstraßschen Productentwicklungen aus dem 
Satz von Mittag-Lefller abgeleitet. Die Ableitung gestaltet sich ein- 
fach in Folge der für die gleichmäßig convergenten Reihen im vori- 
gen Abschnitte gegebenen Sätze. Der Grund, weshalb die Weier- 
straßschen Producte, die sich an und für sich besser dem vorigen 
Abschnitt anfügen würden, hier erst auftreten, liegt jedenfalls darin, 
daß bei ihrer Herleitung der Logarithmus benutzt wird. 

Der sechste Abschnitt (S. 189) bringt das Riemann- 
Weierstraßsche Princip der analytischen Fortsetzung, durch das erst 
der volle Begriff der Function einer complexen Veränderlichen ge- 
wonnen wird, indem erst durch dieses Princip klargestellt wird, was 


dung erörtert wird; dann erst erscheinen die Functionen \s, 


Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 309 


man unter einem einheitlichen Functionengebilde zu verstehen hat. 
Verbunden sind damit Erörterungen über singuläre Punkte und “über 
das »Spiegelungsprincip« !), durch das der wirkliche Gang der Fort- 
setzung einer Function in manchen Fällen erkannt werden kann. 

Die Theorie der elliptischen Functionen beginnt der 
Verfasser mit einer Erörterung der zweiblättrigen Riemannschen 
Fläche mit vier Verzweigungspunkten. Der Zusammenhang dieser 
Fläche wird mit Hilfe ihrer Verwandlung in eine Torus (Ring)-fläche 
klar gemacht. Nachdem die bis auf Pole regulären Functionen ?) 
der Fläche und die Integrale dieser Functionen in ganz allgemeinen 
Umrissen behandelt sind, folgt eine genaue Erörterung der durch 
das elliptische Integral erster Gattung im Fall reeller Verzweigungs- 
punkte vermittelten Abbildung. Diese Abbildung läßt nach dem 
Spiegelungsprincip erkennen, wie die Umkehrungsfunction des Inte- 
grals sich analytisch fortsetzt, und führt so zu einem Beweis dafür, 
daß im Fall reeller Verzweigungspunkte diese Umkehrungsfunction 
eindeutig, im Endlichen bis auf Pole regulär und doppelt periodisch 
ist. Der hier zur Behandlung des Umkehrproblems eingeschlagene 
Weg ist im Wesentlichen derselbe, der von Riemann benutzt wurde, 
wie aus den inzwischen veröffentlichten Vorlesungen hervorgeht, die 
Riemann über elliptische Functionen gehalten hat*). Da der Be- 
weis für dieselben Thatsachen im Fall nichtreeller Verzweigungs- 
punkte nicht so einfach ist, wird diese Entwicklung hier abge- 
brochen. 

Der zweite Abschnitt dieses Bandes (S. 32) setzt vollstän- 
dig neu ein mit dem allgemeinen Begriff der in der ganzen Ebene 
eindeutigen, im Endlichen bis auf Pole regulären, doppelperiodischen 
Functionen, d.h. der elliptischen Functionen, deren Existenz durch 
den im ersten Abschnitt erledigten speciellen Fall des Umkehr- 
problems bereits bewiesen ist. Nachdem die allgemeinsten Eigen- 
schaften der elliptischen Functionen mit Hilfe des Liouvilleschen und 
des Residuensatzes ermittelt sind, führt der Satz von Mittag-Lefiler 
unmittelbar (S. 43) zur Bildung der Weierstraßschen Function pw, 
welche durch die Formel 


1 | 1 
“= — _— + — 

(6) pu = at Bay t 

1) H. A. Schwarz, Gesammelte Mathematische Abhandlungen, 2. Bd. 1890, 
8. 66. 

2) Dies ist so gemeint, daß eine solche Function auch in dem sogenannten 
unendlich fernen Punkt entweder regulär ist oder einen Pol hat. 

8) Elliptische Functionen. Vorlesungen von Bernhard Riemann Mit Zu- 
sätzen herausgegeben von H. Stahl. 1899. 8. 28 ff. 


310 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


definiert ist, in der w alle Perioden außer Null durchläuft. Die 
Differéntialgleichung für pu wird dadurch gefunden, daß pu, p’u, (pu)? 
und (p’u)? für kleine « entwickelt werden, wobei in der Entwicklung 
des Ausdrucks 


Een) + 60 (Se) vw) 


kein gebrochener Theil auftritt, worauf der Satz von Liouville ange- 
wendet werden kann. Die Weierstraßschen Functionen $&4 und ou 
werden dann, die erste durch Integration von pu, die zweite durch 
logarithmische Integration von £u eingeführt, und es ergeben sich 
durch bekannte einfache functionentheoretische Betrachtungen die 
verschiedenen Grundformeln der Weierstraßschen Functionen, die 
Formeln für die Vermehrung des Arguments von fu und ow um 
eine Periode von pu, die Legendresche Relation, die Additions- 
theoreme für « und pu, die Darstellung der elliptischen Functionen 
durch Product- und Partialbruchformeln, das Additionstheorem der 
Sigmafunction und die Grundformel für die Multiplication. Die in 
der Functionentheorie vom Verfasser vorausgeschickte Betrachtung 
über die Weierstraßschen Producte erlaubt für die Function ou so- 
fort das doppelt unendliche Product aufzustellen, das auch gleich in 
ein einfach unendliches Product verwandelt wird. Am Schluß des 
dritten Abschnitts wird der Begriff der elliptischen Functionen 
erweitert, indem die elliptischen Functionen zweiter Art eingeführt 
werden (S. 72). 

Der vierte Abschnitt beginnt mit Sigmafunctionen mit In- 
dex. Mir scheint, daß die Einführung der Functionen o,u, o,u, 0,4 
fast in allen Darstellungen wenig motiviert erscheint, und dies gilt 
auch von der Darstellung des Verfassers, wenn auch gelegentlich der 
elliptischen Functionen zweiter Art bereits die Function o, , (u) ein- 


geführt worden ist, welche dazu dient, die Functionen o,4, 0,4, 0,4 
vorzubereiten. Man kommt dagegen sehr naturgemäß zu diesen 
Functionen, wenn man — etwa durch die vom Verfasser im ersten 
Abschnitt gegebene Betrachtung — die Theorie der Jacobischen 
Functionen snu, cnu, dnu soweit entwickelt, daß nachher die Weier- 
straßsche Productformel auf diese Functionen angewendet werden 
kann. Es liegt dabei nahe, die Functionen sn’u, en!u, dn*u zu be- 
trachten, weil diese drei dieselben Perioden haben, und die Productfor- 
meln für diese Quadrate stellen sich von selbst als Quotienten ana- 
loger Ausdrücke dar, so daß man auf diese Weise zur Einführung 
der Functionen o,« und zu den Formeln 


Burkbardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 811 








ou u ou 
sn’u = ——, cru = +, dru = 
ou ou ou 


geführt wird. Dabei sind für die Weierstraßschen Functionen die- 
jenigen Perioden 20], 20, zu Grund zu legen, die Perioden der 
Functionen sn’u, cn*u, dn?u sind und die als Functionen eines 
Parameters, des Moduls %, speziell genannt werden müssen. Durch 
die einfache Transformation 


o, = Ado, 
o, = do; 
geht man dann zu den Sigmafunctionen über, welche aus irgend 


zwei Perioden 2o,, 2m, gebildet sind, und erhält die (bei Burkhardt 
auf S. 88 befindlichen) allgemeinen Formeln 








—— — Au —— 6u 
sn(uVe,—e,) = Ve,—e,—, cn(uVe,—e,) = — 
( 1 3) Ve, 7 o,u ( Ve, ) 6,4 
——— 6.u 
dn (u Ve, — e,) = Su” 


in denen e,, e, und e, die bekannten Weierstraßschen Constanten 
sind. Die Functionen o,, 6,, 6, werden nun vom Verf. ebenfalls in 
einfach unendliche Producte entwickelt, aus denen dann auch Aus- 
drücke für die Werthe entwickelt werden, die den Sigmafunctionen für 
die Halbperioden zukommen. 

Der fünfte Abschnitt (S. 94) beginnt mit den elliptischen 
Functionen der dritten Art. Diese führen zur Definition der Jakobi- 
schen Functionen, und die reducierten Jakobischen Functionen zu 
den Thetafunctionen, welche auf diese Weise gut motiviert erscheinen. 
Es wird dann mit Hilfe des in der Functionentheorie abgeleiteten Satzes 
über einfach periodische Functionen (S. 307 unten dieser Besprechung) 
die fundamentale Thetafunction unmittelbar aus ihrem Begriff ent- 
wickelt. Die partielle Differentialgleichung der Thetafunction ergiebt 
sich aus der Entwicklung von selbst. Es schließt sich der Hermite- 
sche Satz an, der besagt, daß n von einander linear unabhängige 
Thetafunctionen nter Ordnung und nicht mehr existieren. Die Ueber- 
gangsformeln zwischen Sigma- und Thetafunctionen werden auf den 
Satz gegründet (S. 112), daß zwei gleichändrige Jakobische Func- 
tionen erster Ordnung bis auf einen von « unabhängigen Factor 
identisch sein müssen. Die in diese Uebergangsformeln eingehenden 
»Thetanullwerthe« 9,(0), 9,(0), #,(0) und 9;(0) werden mittelst der 
Gleichung 


$12 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


MD) 143+) = I (1— A) (1 Ee) (1 +) 


und mit Hilfe der früher schon für die Halbperioden gefundenen 
Werthe der Sigmafunctionen bestimmt. Die Gleichung (7) wird da- 
durch abgeleitet, daß zuerst das endliche Product entwickelt und 
dann zur Grenze übergegangen wird. 

Es wird schließlich (S. 116) noch gezeigt, daß die Thetarelatio- 
nen, die Additionstheoreme der Thetafunctionen und die Differential- 
gleichungen der Thetaquotienten, die sich unmittelbar aus der Theorie 
der Sigmafunctionen ergeben, auch aus dem Hermiteschen Satz ab- 
geleitet werden können. Bei Gelegenheit dieser Differentialgleichun- 
gen ergiebt sich auch noch mit Hilfe der partiellen Differental- 
gleichung der Thetafunction die Relation 


9, (0) = 2, (0) a, (0) 6, (0) ’ 


die im Grund in der vollständigen Bestimmung der Thetanullwerthe 
schon enthalten war. 

Im sechsten Abschnitt wird das Umkehrproblem behan- 
delt, das der Verfasser mit Recht zum Mittelpunkt der Theorie 
macht. Das hier benutzte Verfahren läßt sich kurz dahin charakte- 
risieren, daß einerseits die Riemannsche Fläche, auf der Yf,(e) = 
\/a, (2 — 0) (# — a,) (e—«,) (s—a,) eindeutig ausgebreitet werden kann, 
sammt ihren Zerschneidungen benutzt wird, andererseits die ellipti- 
schen Functionen erster und dritter Art mit ihren gegenseitigen Be- 
ziehungen als bekannt angenommen werden. Es ist, abgesehen von 
einer gewissen Verallgemeinerung und abgesehen davon, daß die 
Weierstraßsche Form der elliptischen Functionen zu Grunde gelegt 
ist, genau der Weg, den C. Neumann {in seinen > Vorlesungen über 
Riemanns Theorie der Abelschen Integrale« gegangen ist ‘). 

Zunächst wird das Integral erster Gattung (S. 127) 


“= de 

Vi. (2) 
auf der Riemannschen Fläche untersucht. Daß seine Periodicitäts- 
moduln ein nichtreelles Verhältnis haben, ergiebt sich aus dem Satz, 


daß für eine nicht constante Function v+tw einer complexen Va- 
riabeln das Integral 





(8) 


Sodw >0 


1) 1. Aufl. 1865, S. 844 ff. 


Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 818 


ist, wenn es im richtigen Sinn über die Begrenzung eines Bereichs, 
in dem die Function regulär ist, erstreckt wird; dabei dient als Be- 
reich die zerschnittene Riemannsche Fläche. Wenn nun elliptische 
Functionen gebildet werden, deren Perioden mit den Periodicitäts- 
moduln des Integrals übereinstimmen, so ergiebt sich sofort, daß 
jede elliptische Function erster Art, wie «, als Function von ¢ auf der 
Riemannschen Fläche — mit Einschluß des unendlich fernen Punktes 
— abgesehen von Polen regulär verläuft. 

So ergiebt sich also z.B. pu—e, = g(z) als eine auf der Rie- 
mannschen Fläche abgesehen von Polen reguläre Function. Anderer- 
seits ist 
u 
ou 





mu-e = 
Wenn man jetzt auf die Integrale 


f de, u dou 


ou’ ou ' 


in denen « als Function von ¢ anzusehen ist, den Residuensatz an- 
wendet, indem man über den Rand der zerschnittenen Riemannschen 
Fläche integriert, so gelingt es, die Anzahl der Nullstellen der Functio- 
nen o,% und ou von z und damit die Anzahl der Nullstellen und Pole 
zu bestimmen, die pu—e, als Function von z auf der zerschnittenen 
Riemannschen Fläche besitzt. Diese Anzahl ist gleich 2, und sie er- 
giebt sich gerade so für jede Jacobische Function nter Ordnung 
gleich ». Im Fall noch für die untere Grenze des Integrals (8) ein 
Verzweigungspunkt, z.B. «,, gewählt wird, kann man einen auf der 
Riemannschen Fläche doppelt zu zählenden Pol und eine doppelt zu 
zählende Nullstelle von 9 (2) unmittelbar angeben. Da ferner aus 
der Anzahl sich zugleich ergiebt, daß nun alle Pole und Nullpunkte 
bekannt sind, so läßt sich die Function (2), die eine rationale 
Function von ¢ wird, bilden, und zwar ist (S. 138) 


g—a, 

a 

Man erhält jetzt sofort ¢ als rationale Function von pu, und die 
weiteren Betrachtungen ergeben \f,(s) als rationale Function von 
pu und piu. 

Diese Entwicklung kann noch in einem Punkt ergänzungsbedürftig 
gefunden werden. Es ist gezeigt, daß in (8) ein irgendwie gewähl- 
ter Werth von # bei der Annahme irgend eines nach ihm hinführen- 
den Integrationswegs einen solchen Werth von « liefert, der, in die 
eindeutige Function pu—e, eingesetzt, die Größe 

Gött. gel. Ans. 1901. Nr. 4. 22 


a 





(9) 9 (2) = pu—e, = fa, (a, — Gy) (a, — a) 


814 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 
-, &—-@ 
(10) 19, (a, u or,) (a, ~ 0) Z— rn 
1 


produciert, die in jenem ursprünglich gewählten 2 sich darstellt. Da 
(10) für verschiedene z verschiedene Werthe annimmt, so können in 
(8) verschiedene z nicht zu demselben « führen, das heißt, es ist 2 
in seiner Abhängigkeit von « in der That eindeutig. Es geht aber 
aus dem Bewiesenen nicht unmittelbar hervor, daß in (8) durch ge- 
eignete Wahl der oberen Grenze z und des Integrationswegs jeder 
endliche Werth von « herauskommen kann. Dies kann aber leicht 
folgendermaßen gezeigt werden. Es sei w irgend ein angenommener 
Werth von «. Nun werde 2’ so bestimmt, daß 





ge —a 
(11) pu'—e, = 44, (a, — a) (@, — a) Joe. 
1 


Das Integral (8) ergebe für die obere Grenze 8’ auf irgend einem 
Wege den Werth u”; es muß dann die Gleichung (9) für u = u” 
und 2 = z’ gelten. Daraus aber und aus (11) folgt, daß pu’ = pw’, 
und es ergiebt sich daher aus den bekannten Eigenschaften der 
Function pu, daß 


(12) zu’ = u'+2u,0, + 2u,0,, 


wo u, und u, zwei ganze Zahlen bedeuten. Man kann dadurch, daß 
man in (8) die Quadratwurzel eventuell umgekehrt nimmt, erreichen, 
daß in (12) das obere Vorzeichen zu nehmen ist. Es nimmt also 
das Integral jedenfalls bei geeigneter Integrationsweise einen mit dem 
vorgegebenen Werth « congruenten Werth uw’ an, und es muß so- 
mit, da man beliebige Vielfache von Periodicitätsmoduln hinzufügen 
kann, das Integral bei einer passenden Wahl des Integrationswegs 
auch den Werth w’ erhalten. 

Der erörterte Punkt kann auch durch den Hinweis darauf er- 
ledigt werden, daß man — von Singularitäten abgesehen — dieselben 
zusammengehörigen Werthe u und z bekommt, wenn man « als eine 
Potenzreihe von e—a, gegeben hat und diese Potenzreihe fortsetzt oder 
wenn man andererseits jene erste Potenzreihe umkehrt und das so 
durch Umkehrung erhaltene Functionenelement fortsetzt. 

Damit ist der Nachweis allgemein gegeben, daß die Umkehrung 
des Integrals erster Gattung eine in der ganzen Ebene existierende, 
eindeutige und im Endlichen bis auf Pole reguläre Function ist. Für 
diesen Satz giebt der Verfasser also zwei Beweise, denjenigen über 
den soeben referiert worden ist und den im ersten Abschnitt der ellip- 
tischen Functionen, der nur für reelle Verzweigungspunkte gilt. Ich 
möchte einen elementaren Beweis des genannten Satzes nicht uner- 


Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 815 


wähnt lassen, den Weierstraß in seinen Vorlesungen vorzutragen 
pflegte, und der in naturgemäßer Weise die Betrachtungen ergänzt, 
von denen die Entdecker der elliptischen Functionen ausgegangen 
sind‘). Dieser Beweis beruht darauf, daß zuerst für das Integral 
erster Gattung, das etwa in der Form 


f dz 

u= J ———— 

o VA 9,09, 

angenommen werden mag, das Additionstheorem hergeleitet wird. 
Man denkt sich dann für große ¢ die Größe « nach Potenzen von 


Fr entwickelt und durch Umkehrung dieser Reihe, wobei die hier auf 
S. 304/6 wiedergegebene Entwicklung (Burkhardt 1. Bd. S. 130 f.) zu be- 
nutzen ist, 2 als Potenzreihe Pu von u dargestellt). Für diese Function 
Pu, die wenigstens in einem gewissen Kreis definiert ist, ergiebt sich 
dann auch ein Additionstheorem aus dem Additionstheorem des Inte- 


grals. Das Additionstheorem von Pu erlaubt, Pu in PZ und P’ > 


rational darzustellen, und liefert so für Pu einen Bruch, in dem Zähler 
und Nenner in einem Bereich convergieren, der mindestens doppelt so 
groß ist, wie derjenige, für den die ursprüngliche Entwicklung von 
Pu giltig ist. Man hat damit eine Fortsetzung für die Function Pu. 
Es gelingt, dieses Verfahren zu wiederholen, und schließlich eine in 
der ganzen Ebene eindeutige Function zu definieren, die im End- 
lichen außer Polen keine singulären Stellen hat und die Fortsetzung 
von Pu darstellt. Damit ist der analytische Charakter der Function 
Pu erwiesen. Für diese Function lassen sich außerdem, falls g}— 2793 
nicht gleich Null ist, mit Hilfe des Additionstheorems zwei Perioden 
aufzeigen, die ein nicht reelles Verhältnis haben und sich in Form 
von bestimmten Integralen darstellen. Etwas schwierig ist es bei 
diesem Gedankengang, ein primitives Periodenpaar in Form von Inte- 
gralen zu geben, worauf dann alles übrige, namentlich auch die Iden- 
tität von Pu mit einer der durch (6) dargestellten Functionen py 
leicht nachzuweisen ist. 

Am Schluß des Abschnitts, an dem wir stehen, behandelt der 
Verfasser (S. 141) noch die Integrale zweiter und dritter Gattung 
genauer, zeigt, daß den in der Theorie der eindeutigen Functionen 


1) Vgl. Abel, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 2. Bd. 1827: 
Recherches sur les fonctions elliptiques, § 1 und C. G. J. Jacobi, Fundamenta 
nova theoriae functionum ellipticarum, 1829, No. 17 ff. 


2) Die Potenzreihe enthält gewöhnliche Potenzen und ein Glied a 
22* 


816 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


geltenden Sätzen von Liouville und Hermite auf der Riemannschen 
Fläche spezielle Fälle des Abelschen Theorems und des Riemann- 
Rochschen Satzes entsprechen, und bestimmt die Thetanullwerthe 
noch einmal direct mit Hilfe der Integrale. 

Der siebente Abschnitt behandelt die Reduction der ellip- 
tischen Integrale erster Gattung; dabei gelangt neben der Legendre- 
schen und der Weierstraßschen Normalform auch die Form 


02) Carts Se da 


in der A das Doppelverhältnis der vier Verzweigungspunkte bedeutet, 
zu ihrem Recht. Die drei folgenden Abschnitte beschäftigen sich mit 
der linearen Transformation, mit den Ausartungen der elliptischen 
Functionen und mit einer sorgfältigen Erörterung der Realitätsver- 
hältnisse (S. 210). 

Der elfte Abschnitt (S. 223) enthält die Theorie der Modul- 
functionen. Für diesen Abschnitt ist die Auffassung maßgebend 
gewesen, welche die von Klein und Fricke herausgegebenen Vor- 
lesungen’) beherrscht. Während ältere Autoren nur die in der 
Theorie der elliptischen Functionen gelegentlich auftretenden Func- 


tionen des Periodenverhältnisses 7 = = betrachten, den Jacobi- 


| 
schen Modul & oder das Doppelverhältnis A der Verzweigungspunkte 
oder die Invariante J, die alle bei gewissen linear gebrochenen Sub- 
stitutionen von r ungeändert bleiben, untersucht der Verf. im An- 
schluß an die genannte Auffassung alle Functionen, die gewisse Sub- 
stitutionsgruppen zulassen und einen gewissen analytischen Charakter 
haben. Um diese Functionen zu definieren, muß man vor Allem die 
»Modulsubstitutionen« kennen, die bereits in dem von der linearen 
Transformation handelnden achten Abschnitt genauer betrachtet und 
aus zwei erzeugenden Substitutionen zusammengesetzt worden sind. 
Alle diese Substitutionen, die eine Gruppe bilden, sind von der Form 


a+ Br 
y+ör’ 





wo a, ß, y, 6 ganze Zahlen sind, und ad—By = 1 ist. Die hier 
betrachteten »Modulfunctionen< sind nun solche Functionen von r, 
die bei einer Untergruppe von endlichem Index der Gesammtgruppe 
aller Modulsubstitutionen ungeändert bleiben, im Innern der ganzen 


1) Felix Klein, Vorlesungen über die Theorie der elliptischen Modulfunctionen, 
ausgearbeitet und vervollständigt von R. Fricke, 1. Bd. 1890, 2. Bd. 1892. 


Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 917 


einer Halbebene abgesehen von Polen regulär sind und im Unend- 
lichen noch ein gewisses besonderes Verhalten zeigen. 

Das allgemeine Studium der genannten Functionen, die sämmt- 
lich mit k(x), A (r), J(r) algebraisch zusammenhängen, gründet sich 
auf die Betrachtung gewisser »Fundamentalbereiche< der die Werthe 
der Variabeln + repräsentierenden Ebene, d. h. eines solchen Be- 
reichs, in den sich jeder Punkt der Ebene durch eine und nur eine 
Substitution aus der betreffenden Untergruppe überführen läßt. Jede 
der hier betrachteten Modulfunctionen ist in einem ihr zugehörenden 
Fundamentalbereich — in einem gewissen besonderen Sinne — bis 
auf Pole regulär. Die Betrachtung der allgemeinen Modulfunctionen 
erleichtert auch den Einblick in den algebraischen Charakter der 
Gleichungen , die unter dem Namen der Periodentheilungsgleichung 
(des speciellen Theilungsproblems) und der Modulargleichung (des 
speciellen Transformationsproblems) bekannt sind. Der Begriff der 
elliptischen Functionen wird in diesem Abschnitt zugleich noch mehr 
erweitert durch die Einführung von elliptischen Functionen ver- 
schiedener Stufen. Es kommt dies darauf hinaus, daß nicht mehr 
blos doppelperiodische Functionen einer Variabeln u, sondern Func- 
tionen von drei Variabeln «, ®,, ©, mit rein numerischen Coeflicien- 
ten betrachtet werden, die bei einer Untergruppe einer in 4, @,, ®, 
linearen Gruppe ungeändert bleiben (S. 250). 

Der zwölfte Abschnitt (S. 274) bringt das »allgemeine« 
Theilungsproblem und das »allgemeine« Transformationsproblem, der 
nächste eine genaue Durchführung der numerischen Berechnung von 
elliptischen Integralen und von Werthen elliptischer Functionen. 
Burkhardt erreicht hier dadurch eine Vereinfachung, daß er das 
Integral erster Gattung zunächst in die Normalform (13) überführt 
(S. 293). Die Schlußabschnitte enthalten Anwendungen auf die ebene 
Curve dritter Ordnung ohne singuläre Punkte, die Raumcurve vierter 
Ordnung erster Species, das sphärische Pendel u.s.f. Das sphäri- 
sche Pendel ist sehr vollständig durchgeführt. 

Man darf wohl sagen, daß der Verfasser in allem Wesentlichen 
sein Programm erfüllt hat, das darin bestand, den Stoff durch die 
Riemannschen geometrischen Vorstellungsweisen anschaulich zu ge- 
stalten, zugleich aber in die verschiedenen Methoden seiner Behand- 
lung einzuführen und »unter angemessener Einschränkung der Vor- 
aussetzungen diejenige Schärfe der Beweisführung zu erreichen, die 
niemand mehr entbehren kann, dem einmal in der Schule von Weier- 
straß die Augen geöffnet sind«. 


Leipzig, im November 1900. O. Hölder. 


818 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


Peter, H., Der Briefin der römischen Litteratur. Litterargeschicht- 
liche Untersuchungen und Zusammenfassungen. Des XX. Bandes der Abhand- 
lungen der philologisch-historischen Klasse der Königl. Sächsischen Gesellschaft 
der Wissenschaften No. III. Leipzig bei B. G. Teubner. 1901. 2659S. Einzel- 
preis 6 M. 


Mit dem auf den großen Zug der litterarischen Entwicklung ge- 
richteten Interesse, das ihn auszeichnet, behandelt Peter in diesem 
Buche die Geschichte des römischen Briefes. Einige Abschnitte sind 
nur ‘Zusammenfassungen’ wesentlich antiquarischen Stoffes, andere 
orientiren nur über Anlage und Inhalt gewisser Briefsammlungen ; 
das Ganze gibt eine Reihe nach den Haupterscheinungen geglieder- 
ter Untersuchungen, zuerst (nach einleitenden Kapiteln) über die 
ciceronischen Briefsammlungen (K. IIL IV), dann über die künstliche 
Epistolographie von Plinius bis Ennodius (V), über den poetischen 
Brief (VI), den amtlichen Brief (VII), den Brief als Einkleidung für 
politische, wissenschaftliche, litterarische, paränetische Erörterungen 
(VIII). Die Kapitel Il bis V werden durch den Gedanken zusammen- 
gehalten, daß der Kunstbrief, der ‘halbirte Dialog’, in Anknüpfung 
an Ciceros Briefe ‘ad familiares’ von Statius und Plinius ausgebildet 
und von den Folgenden in dieser Continuität oder auch mit Zurück- 
greifen auf Cicero selbst fortgeführt worden sei. Die letzten drei Ka- 
pitel stehen jedes für sich; nur daß die Bedeutung der Schulrhetorik 
für alle diese Spielarten der Gattung überall gebührend hervorge- 
hoben wird. 

P. geht von dem Gedanken aus, daß der individuelle Brief den 
Römern eigenthümlich sei und daß die Griechen nur einen im Grunde 
unpersönlichen Brief und daneben in der philosophischen Litteratur 
den Brief als Nebengattung des Dialogs besessen hätten, beides 
durch die Rhetorik systematisirt; bis der römische Brief auch auf 
den griechischen eingewirkt hätte (K. I. I). Wenn dem so ist, so 
ist damit freilich die Berechtigung gegeben, die Geschichte des rö- 
mischen Briefes isolirt zu behandeln. Indessen vermisse ich den Be- 
weis und finde ihn auch bei Hirzel nicht, den Peter S. 9 für das 
besondere Verhältniß des römischen Geistes zur brieflichen Ausdrucks- 
form citiert. Wenn P.s Ansicht, wie es den Anschein hat, auf der 
Existenz von Ciceros Briefen an Atticus beruht, so ist das kein 
tragendes Fundament. Man sollte diese Briefsammlung, wenn es 
sich um die Geschichte des litterarischen Briefes handelt, ganz außer 
Spiel lassen. Es ist doch nur die persönliche Bedeutung des in 
seiner Art einzigen Mannes, die zur Publication dieser nur für zwei 
Augen bestimmten Briefe geführt hat. Sie sind nichts Litterarisches, 


Peter, Der Brief in der römischen Litteratur. $19 


und die Frage, ob sie ‘Nachfolge gefunden’ haben (S. 8), ist nicht 
aufzuwerfen. Die Thatsache der Publication ist freilich merkwiirdig 
und fiir die Zeit bezeichnend; ohne sie wiirde man eine solche Pu- 
blication für so unrömisch wie ungriechisch und überhaupt fiir mo- 
dern erklären dürfen. Aber aus der litterarischen Einzigkeit folgt 
nicht, daß man vor und nach Cicero solche Briefe, als natürlichen 
Ausdruck der momentanen Stimmung, nicht geschrieben habe, wie 
P. das mit Berufung auf Ciceros Individualismus annimmt (S. 5 ff.). 
Er erinnert selbst an Ciceros Correspondenten (S. 6). Die Briefe 
des Caelius reichen aus, eine auf Gewöhnung beruhende Brieftechnik 
zu erweisen. Wann die Römer zuerst Briefe schrieben, wer will das 
sagen ? und wer will leugnen, daß Aemilianus oder sein Vater Ae- 
milius intime Correspondenzen führten? Der litterarische Brief setzt 
den intimen voraus, wie der Dialog das Gespräch. Als Isokrates 
Briefe stilisirte, gab es den Naturbrief ohne Zweifel längst. Epikurs 
Lehrcorrespondenz (S. 16) ist nicht denkbar ohne den Hintergrund 
der natürlichen, die uns jetzt wenigstens durch den letzten Abschnitt 
des Briefes an die Mutter (in Oenoanda) vor Augen geführt wird. 
Xenophon läßt Sokrates den Brief des Proxenos lesen, der ihn ver- 
anlassen soll am Zuge des Kyros theilzunehmen (Anab. II 1, 5). 
In der Komödie sind Briefe jeder Art häufig'). Dergleichen braucht 
man nicht zu suchen noch zu beweisen. Atossa (S. 13), der Hella- 
nikos neben der Erfindung der Tiara, der Hosen und der Eunuchen 
auch die des Briefes oder des Staatsbriefes zugeschrieben haben 
soll, ist ja nicht die berühmte, sondern eine unbekannte, so gut wie 
mythische. 

Es ist schon hiernach gewiß bedenklich, die litterarische Stili- 
sirung des Privatbriefes als ein specifisch römisches Gebilde anzu- 
sehn. P. sucht die Briefe Ciceros als Ausgangspunkt dieser Er- 
scheinung zu erweisen. ‘Private Mittheilungen kunstvoll zu gestalten 
haben erst die Römer angefangen’ (S. 13). Aber das ist es ja grade was 
Isokrates gethan*) und nach ihm die stilistische Kunst nie aufge- 
geben hat. Die Theorie des Briefes bei Demetrios wegi égunvelas 
ist die peripatetische; sie betrifft grade den Privatbrief, wie auch 
die in Theons progymnasmata. Unter Ciceros Briefen ‘ad familiares’ 
sind, wie P. mit Recht hervorhebt, nicht wenige rhetorisch stilisirte 
(dazu H. Bornecque La prose métrique dans la corresp. de Cic., Pa- 
ris 1898). Plinius will ihn nachahmen (S. 120), die Hinweisung auf 

1) S. 178 ‘Gepflegt worden ist der schriftliche Verkehr als Ersatz für den 
mündlichen, sobald die Schrift sich einbürgerte: Plautus läßt fünfmal Briefe vor- 
lesen’. Dies als Zeugniß für die Existenz ‘des privaten Briefes auch in Rom’. 

2) Wilamowitz Aristot. u. Athen II $92. 


$20 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


die wirklichen Briefe Ciceros dient ihm zugleich, auf seine Kunst- 
briefe etwas von der Farbe des Lebens zu werfen. Ueberhaupt ist 
ja kein Zweifel, daß Ciceros Briefe dem Plinius so sehr Stilmuster 
waren wie Ciceros Dialoge dem Tacitus. Aber das reicht doch nicht 
aus, den plinianischen Brief als eine Folge des ciceronischen in An- 
spruch zu nehmen. P. verkennt den Zusammenhang des Plinius mit 
der rhetorischen Uebung nicht (S. 113 ff.); die Spuren der Theorie 
bei Cicero selbst sind bekannt (S. 21). Jener Zusammenhang er- 
klärt den plinianischen Brief als litterarische Erscheinung zur Ge 
nüge; die Anknüpfung an Cicero ist nur stilistisch. Auch das eigent- 
lich Charakteristische in der Anlage von Plinius’ Briefen, die Be- 
schränkung jedes Briefes auf einen einzelnen Gegenstand, ist in der 
kunstmäßigen griechischen Epistolographie üblich. Es bedarf, um 
hier zu entscheiden, einer genauen Untersuchung der griechischen 
Brieflitteratur. 

P.s Ausführungen über Ciceros Briefe bringen beträchtlichen 
Gewinn. Er handelt im 3. Kapitel zunächst von der Ausgabe der 
Briefe an Atticus und ergänzt meine früheren Hinweise auf die 11 
ersten Briefe und das Verhältniß der 11 volumina zu den 16 Bü- 
chern durch die Beobachtung, daß die vom übrigen corpus abwei- 
chende Ordnung und Beschaffenheit der Bücher XII und XIII auf 
die Abfassung dieser Briefe selbst und ihre Aufbewahrung durch 
Atticus zurückgeht; er macht es sehr wahrscheinlich, daß die Briefe 
dieser Bücher in den 11 Fascikeln, die Nepos sah, nicht enthalten 
waren. Die Art des Herausgebers stellt sich hier genau so wie für 
den Anfang der Sammlung dar und es wird um so deutlicher, daß 
Atticus selbst die Briefe weder herausgegeben noch für die Heraus- 
gabe zurecht gemacht hat. Als Zeit der Veröffentlichung sieht auch 
P. die Zeit um ein Jahrhundert nach Ciceros Tode ‚an. Aber er 
beachtet so wenig wie ich (misc. Cic. 5 und Nachr. der Gött. Ges. 
1895, 446) und Andere es gethan haben (ein Mitglied unseres Semi- 
nars hat mich darauf aufmerksam gemacht) die dem Briefe Ciceros 
ad Att. U 19,3 nacherzählte Anecdote bei Valerius Maximus VI 2, 9. 
Die Abhangigkeit ist unbestreitbar. Das ist etwa 60 Jahre nach 
dem Tode des Atticus, die Hauptfrage wird also nicht dadurch be- 
rührt. _ Aber es ist auch nicht zu bestreiten, daß diese Briefstelle 
so gut wie das habeo quem fugiam vor der Publication bekannt wer- 
den und in eine Sammlung wie Valerius sie benutzt übergehen 
konnte. Die Entscheidung wird also nach wie vor davon abhängen, 
welches Gewicht man dem Umstande beimißt, daß Asconius für die 
Lösung einer Aporie (denn nur solche Fälle können zum Beweise 
dienen) sich der Briefe nicht bedient'). 

1) Indessen hat Reitzenstein (in der Festschrift für Vahlen 8. 421 ff.) nach- 


Peter, Der Brief in der römischen Litteratur. 821 


In den Briefen ad familiares sucht P. verschiedene für die 
Sammlung maßgebende Principien zu erweisen. Wie sich B. XII 
als eine Sammlung von Musterbriefen darstellt, so soll B. X bis XII 
als ein nur dem historischen Interesse dienendes Urkundenbuch, die 
meisten andern dagegen als Sammlungen angesehen werden, die mit 
verherrlichender Tendenz zugleich und Rücksicht auf das künstleri- 
sche Interesse angelegt sind; eine Tendenz findet P. auch in der 
Anordnung der Familienbriefe in XIV und XVI. Diese Erörterungen 
sind sehr einer eingehenden Prüfung werth und viele der von P. im 
einzelnen nachgewiesenen Gesichtspunkte sind gewiß bei der Anord- 
nung in Betracht gekommen. Im ganzen zweifle ich, ob nicht die 
zumeist von Gurlitt aufgezeigten Motive der Gruppirung die Ge- 
schichte und Zusammensetzung des corpus natürlicher und einfacher 
erklären. Die kleinen, den Umfang eines Buches nicht überschrei- 
tenden Sammlungen (freilich nicht sämmtliche) sind zusammengefaßt 
worden. Daß in diesen Sammlungen, wo kleinere Gruppen in einem 
Buche vereinigt werden mußten, etwa die Briefe an Marius und Tre- 
batius verbunden wurden, lag dem mit dem Ton der Briefe ver- 
trauten Sammler nahe, auch ohne daß er aus der urbanitas ein Ein- 
theilungsprincip machte; daß er das nicht that, zeigt die Verbindung 
der Briefe an Dolabella und Paetus in IX. Buch I und III sind an 
Einen (I 10 gehört zu den Briefen an Lentulus), II und IV ff. an 
Viele gerichtet, I und III haben öffentlichen, II privaten Charakter, 
in IV bis VI sind nicht ganz greifbare oder durchgeführte sachliche 
Gesichtspunkte befolgt (S. 67 ff.); wie in VII, aber auch in IV und 
sonst, eine gemeinsame Stimmung zu fühlen ist. In solcher lässigen, 
halb spielenden Art pflegen die Alten den Inhalt gemischter Bücher 
zu gruppiren. Die Bücher X bis XVI stellen sich dar als zeitliche 
(X bis XII) und sachliche Nachtragssammlungen: XIII die Empfeh- 
lungsbriefe, XIV und XVI häusliche Briefe, XV officiellen und halb- 
officiellen Inhalts oder doch an Personen öffentlichen Interesses. Die 
Stellung des VIII. Buches erklärt sich daraus, daß das Corpus in 
zwei Bänden angelegt war, wie es auch überliefert ist. Es war eine 
der Umsetzungen von volumina in tomi; daraus ergibt sich seine re- 
lativ späte Entstehung. Darin unterscheiden sich auch diese 16 Bü- 
cher von den 16 Büchern an Atticus, von denen VII bis X eng zu- 
sammenhängen. Auch sonst reichen P.s Argumente für seine Iden- 
tificirung der Herausgeber beider Sammlungen (S. 87) keineswegs 
aus. Für eine solche Annahme sehen wir doch zu deutlich die Vor- 


zuweisen gesucht, daß auch Fenestella die Briefe an Atticus benutzt habe; das 
ist ungefähr gleichzeitig mit Valerius. 


$22 Gott. gel. Aus. 1901. Nr. 4. 


geschichte beider Sammlungen: die eine ganz aus dem Nachlaß des 
Atticus stammend und einmal in dieser Ausgabe publicirt, die an- 
dere aus einer Reihe von Einzelpublicationen componirt. Den An- 
theil Tiros an diesen Publicationen bemißt P. auf Grund von Gur- 
litts Beziehung der instar septuaginta epistulae (ad Att. XVI 5) auf 
das 13. Buch, die ja manches für sich hat, aber von Bardt (Hermes 
32, 271 f.) mit sehr ernstlichen Gründen bekämpft worden ist. 

Das V. Kapitel behandelt den Kunstbrief des Plinius, Fronto, 
Symmachus, Sidonius, Ruricius, Ennodius. Das sind nicht alle; 
warum Alcimus Avitus und Venantius fehlen, ist nicht ersichtlich. 
Ueber das wichtigste historische Moment, den Zusammenhang des 
Plinius mit der griechischen Schulübung, habe ich schon gesprochen. 
An den Briefen des Plinius selbst hatten nun freilich die Römer ein 
gepriesenes Muster, an das besonders Sidonius sich anlehnte ; wäh- 
rend Symmachus nach P.s Ansicht auf Cicero zuriickgriff. Ueber die 
einzelnen Sammlungen handelt P. in ausführlichen Erörterungen, auf 
die ich hier nicht näher eingehe, da es mir darauf ankommt, einige 
Linien der den Gegenstand des Buches bildenden litterarischen Ent- 
wicklung zu verfolgen. Das Kapitel schließt mit einem kurzen Ab- 
schnitt über die fingirten Briefe (S. 168—177), über die, besonders 
was das Verhältnis zum Griechischen angeht, sich wohl mehr Wich- 
tiges hätte sagen lassen. 

Auf ein ganz anderes Gebiet begeben wir uns mit dem VI. Ka- 
pitel: ‘Der poetische Brief und die Epistel in Versen’. In diesem 
Abschnitt ist der Mangel an historischen Gesichtspunkten sehr fühl- 
bar. Gleich die Einleitungsworte (S. 178) zeigen, daß P. den Zu- 
sammenhang nach oben außer Augen läßt. Er erzählt von dem 
poetischen Brief in der römischen Litteratur nach der chronologi- 
schen Folge; das ist aber nicht die historische. So tritt ihm Horaz 
neben Catull, und das 68. Gedicht Catulls (er sagt 68*) tritt durch 
‘die persönliche Färbung des Inhalts und die Nachahmung des ge- 
wöhnlichen Brieftons’ ‘auf eine Stufe mit dem ersten Buch der Epi- 
steln des Horaz’. Nach einem Wort über Catull werden diese hora- 
zischen Episteln, dann Ovid und Properz IV 3, endlich Ausonius, 
Paulinus, Claudianus abgehandelt. Aber, was zunächst die Elegie 
angeht, es ist kein Zufall, daß jener Brief Catulls Elegie ist und 
daß die erste und auch die letzte (Venantius de excidio Thoringtae) 
römische Elegie Briefe sind. Bei Properz sind mehr Briefe als die 
Arethusa, Ovid schreibt wirkliche Briefe aus Tomi, Lygdamus 5 ist 
ein Brief; nur Tibull vermeidet diese Einkleidungsform, er setzt die 
Briefchen der Sulpicia in unbriefliche Elegien um, auch I 3 beginnt 
nur scheinbar in der Briefform; den Unterschied kann man an 


Peter, Der Brief in der römischen Litteratur. 823 


Tib. U 6 gegen Prop. I 6 ermessen. Die Uebereinstimmung von 
Catull, Properz, Ovid deutet auf griechische Herkunft der elegischen 
Epistel. Die ursprünglich im Männerkreise vorgetragne Elegie, mit 
der litterarischen Fiction an ‘die Freunde’ gerichtet (besonders Pro- 
perz I spiegelt das wieder), ging frühzeitig, in Analogie zu Hesiod, 
in die Anrede an einen Einzelnen über (Theognis); wenn der Ein- 
zelne entfernt war, so war die Fiction des Briefes fertig, den der 
Dichter an einen Adressaten richtete. Das zeigt Solon an Mimner- 
mos. Aus den Resten der hellenistischen Elegie ist mir ein Beispiel 
für die Briefform nicht gegenwärtig, aber daß sie vorhanden war 
beweisen die Römer zur Genüge. Ja es besteht ein deutliches Band 
zwischen der Briefform und dem Stil der hellenistisch-römischen 
Elegie, wie er Catull und Tibull eigen, aber auch Properz nicht 
fremd ist (vgl. diese Anz. 1898, 745, Nachr. 1898, 473), dem den 
Wallungen des Gefühls scheinbar sich willenlos hingebenden Stil. 
Das ist die natürliche Art des Briefes; Ovid hat sie sich in den 
Heroiden zu nutze gemacht. Die Wechselwirkung, die hier besteht, 
wird man nicht bestimmt definiren wollen, ob der sentimentale Stil 
der jüngeren Elegie die eigentliche und specifische Briefform, die 
den elegischen Brief von der älteren als Brief gedachten Elegie 
unterscheidet, hervorgebracht oder ob diese briefliche Elegie auf den 
elegischen Stil eingewirkt hat. Wahrscheinlich ist gewiß das erste. 
Ich deute den Zusammenhang nur an, um zu zeigen, daß man Ca- 
tulls Elegie nicht so isolirt als ‘den ältesten unter den für die 
Oeffentlichkeit bestimmten erhaltenen Briefen’ tractiren darf, wie P. 
es thut. Auf einem andern Blatt (auch als die Tristien und die 
Briefe ex Ponto) stehen Ovids Heroiden durch ihre mythologische 
Fiction; das rhetorische Element ist nicht das Bestimmende und 
Unterscheidende, es bringt nur eine rhetorische Durchbildung des 
eben bezeichneten elegischen Stils zu Wege. P. knüpft die Heroi- 
den, nach Diltheys Vorgange, richtig nach oben an; aber es ist 
außerordentlich wenig was er über sie zu sagen hat. Hier konnte 
gezeigt werden, wie ein Dichter die Gefühlsmotive, die in einer 
episch oder dramatisch gestalteten mythologischen Situation enthalten 
sind, in den Briefstil des liebenden Weibes umsetzt. Dafür bietet 
sich zunächst Ovids Dido, deren einziges Vorbild wir am sichersten 
in der Hand haben; dann Penelope und Briseis, Deianira, Hermione 
und Medea. In iynotum hoc aliis ille novavit opus (S. 189) ist die 
Bedeutung von novavit durch tgnotum aliis bestimmt; er bringt et- 
was Neues, in dem Sinne wie die andern römischen Dichter mit der 
Einführung neuer griechischer Gattungen und Spielarten als sögera/ 


324 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


auftreten. Auch die Briefe des Ausonius und Paulinus sind doch 
interessanter als sie bei P. erscheinen. 

Horaz ist in zwei Kapitel vertheilt, das sechste (ep. I) und das 
achte (ep. II und ars poetica), von denen jenes, wie wir sahen, den 
poetischen Brief, dieses den Brief ‘als Einkleidung für Flugschriften, 
wissenschaftliche und litterarische Erörterungen, Mahnungen, Wid- 
mungen’ behandelt. Dazwischen steht Kap. VII über den amtlichen 
Brief (Cassiodor), um es recht deutlich zu machen, daß die poetische 
Epistel und Horazens Litteraturbriefe nicht zusammen gehören. 
Diese werden in der Nachbarschaft von Senecas Briefen behandelt, 
das erste Buch des Horaz von Seneca weit abgerückt. Diese Dis- 
position ist nach stofllichem Gesichtspunkt gemacht, aber es handelt 
sich um die litterarische Gattung, und diese wird durch die Form 
bestimmt. P. steht unter dem Einfluß der ungenügenden Behand- 
lung dieser Dinge in Hirzels Dialog. Er scheint daher den Zusam- 
menhang gar nicht mehr beachtet zu haben, der zwischen Senecas 
Dialogen und der kynischen Diatribe besteht; aus ihm ergibt sich, 
daß wir in Senecas Dialogen den aus dem xvuvixdg rodmog erwachse- 
nen stoischen ‘Dialog’ vor uns haben. Senecas Brief aber unter- 
scheidet sich von seinem Dialog nur dadurch, daß in diesem ein 
Kreis von Zuhörern, in jenem nur der Adressat als Publicum gilt. 
Genau dasselbe gilt von den Bionei sermones des Horaz, die nur 
den Umweg über die Stoa nicht gemacht haben, und seinen Episteln. 
Wie unter den Satiren scheinbar absichtslos erzählte Geschichten, 
ohne Beziehungen auf Welt und Menschen, so sind unter den Epi- 
steln scheinbar wirkliche Briefe (S. 181); das ist Horazens Art, sein 
Handwerkszeug zu verstecken. Im übrigen ist der Unterschied 
zwischen Satiren und Episteln, daß in jenen das Publicum, in diesen 
der Freund angeredet wird; dadurch ändert sich der Ton, das war 
die Absicht des Dichters, als er die benachbarte Form wählte. Den 
Beweis geben von außen her Lucilius und Persius. Lucilius erwähnt P. 
in einer Anmerkung (S. 178) in der chronologischen Folge: ‘Lucilius 
scheint selbst Satiren in die Form von Lehrbriefen eingekleidet zu 
haben’. Vom 5. Buch berichtet Gellius 18,8: ubs est cum amico 
conquestus quod ad se aegrotum non viseret, haec ibidem addıt festı- 
viter: quo me habeam pacto, tam etsi non quaeris, docebo U. 8. W. 
(152 sq. L.); es war die Form des wirklichen Briefes, der erste Satz 
gibt den Anlaß zu der rhetorischen Erörterung, die den Inhalt aus- 
macht. Persius wird nicht erwähnt; die zweite Satire ist ein Geburts- 
tagsbrief, die sechste in bestimmterer Form ein Brief aus der Ri- 
viera an den Freund im Sabinerlande. Die Identität der Gattung 
tritt also bei Lucilius und Persius noch ausdrücklicher als bei Horaz 


Peter, Der Brief in der römischen Litteratur. 325 


hervor. Wer die Wurzeln der horazischen Epistel finden will, muß 
die der Satire suchen. 

Sehr anfechtbar ist auch was P. über die Geschichte des Wid- 
mungsbriefes sagt (S. 242 ff.). Er soll aus den griechischen o/AAvBou © 
von den Römern entwickelt und von diesen dann wieder zu den 
Griechen gekommen sein. Aber auch hier liegt ja die fast fertige 
Entwicklung bei Isokrates vor, dessen Proömien zum Theil wirkliche 
Vorreden sind: unpersönlich das der Helene, aber als Briefe, an 
Polykrates und Nikokles, gefaßt die des Busiris und Euagoras. Im 
Busiris treibt er die Fiction so weit zu sagen, daß die Rede nur für 
zwei Augen, als Muster für Polykrates, bestimmt sei (2 raür« 0 
and ool py Emioreldoı, nodg dt Todg KAdovg ds oldv Te udiıar 
aéxoxovpasia:, vgl. 44). Zum Schlusse werden die Adressaten wie- 
der angeredet; es ist also nicht eigentlich Widmungsbrief, sondern 
briefliche Einkleidung der doch ganz selbständig dastehenden Reden. 
Aber von dieser Einkleidung war der Schritt zu dem von der Schrift 
gelösten Widmungsbriefe leicht gethan. 

Die Untersuchungen über die einzelnen Briefsammlungen, auch 
die von mir nicht näher berührten, sind in vielen Stücken lehrreich 
und fördernd; aber mehr im antiquarischen als im historischen Sinne. 
Die Geschichte des Briefes in der griechischen und römischen Litte- 
ratur ist noch zu schreiben. 


Göttingen, März 1901. Friedrich Leo. 


Meyer, Leo, Handbuch der Griechischen Etymologie. Erster Band. 
Wörter mit dem Anlaut a, &, 0, n, ©. Leipzig, Verlag von S. Hirzel. 1901. 
656 Seiten in Großoctav. 


Nun sind schon volle vierzig Jahre darüber hingegangen, daß 
das erste Bändchen einer vergleichenden Grammatik speciell des 
Griechischen und Lateinischen von mir ans Licht gegeben worden, 
die nach der damaligen Eintheilung in die Lehre von den Lauten, 
von den Wörtern und darnach vom Satz sich zu einer vollständig 
abgeschlossenen und abgerundeten Grammatik zu gestalten bestimmt 
war. Die Lehre von den Lauten wurde in jenem ersten Bändchen 
schon zum Abschluß gebracht und ein erster Abschnitt der Lehre 
von den Wörtern, nämlich ein Verzeichnis der sogenannten Wurzeln, 
der pronominellen sowohl als der verbalen, sowie eine Uebersicht 
über die im Griechischen und Lateinischen ganz lebendig gebliebenen 


826 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


Verbalstäimme noch hinzugefügt. Gleichsam wie weit vorausgreifend 
schon in den dritten Theil der Grammatik, die Lehre vom Satze, wurde 
im Jahre 1862 zunächst, da man doch durch die meisten Gramma- 
tiken daran gewöhnt worden ist, recht früh etwas von der Declina- 
tion zu erfahren, ein kleines Bändchen »Gedrängte Vergleichung der 
griechischen und lateinischen Declination< angeschlossen, das den 
Fortgang des Ganzen aber nicht weiter gestört. Im Jahre 1863 er- 
schien der erste Theil des zweiten Bandes der Vergleichenden 
Grammatik, der bis Seite 320 reichend den größten Theil der un- 
abgeleiteten Nomina gebracht, während der im Jahre 1865 heraus- 
gegebene den zweiten Band abschließende zweite Theil den Ab- 
schnitt über die unabgeleiteten Nomina zum Abschluß geführt und 
noch den über die abgeleiteten Nomina (Seite 438 bis 628) hinzu- 
gefügt hat. 

Eine größere Störung in dem Fortgang der Grammatik trat 
leider durch meine im Jahre 1865 erfolgte Berufung nach Dorpat 
ein. Da die mir übertragene erst durch das Universitäts-Statut vom 
Januar 1865 ins Leben gerufene Professur an erster Stelle »Profes- 
sur der deutschen Sprache< hieß, so lag mir daran, zunächst eine 
längst ausgeführte Arbeit aus dem deutschen, meinem alten Lieb- 
lings-Gebiet, aus dem Winkel ans Licht hervorzuholen, die dann 
auch im Jahre 1869 gedruckt worden ist »Die gothische Sprache; 
ihre Lautgestaltung insbesondere im Verhältniss zum Altindischen, 
Griechischen und Lateinischen<. Noch eine andere germanistische 
Arbeit drängte sich bei meinem Aufenthalt in Dorpat gleichsam un- 
ausweichlich auf, die Herausgabe der »Livländischen Reimchronik«, 
die »mit Anmerkungen, Namenverzeichnis und Glossar« im Jahre 
1876 bei Ferdinand Schöningh in Paderborn erschienen ist, während 
alle meine früheren Arbeiten so wie dann auch noch die nächst fol- 
genden von der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin in Verlag 
genommen worden sind. Da mir vergönnt war, beide Handschriften 
der Livländischen Reimchronik, die werthvollere jetzt der Livländi- 
schen Ritterschaft gehörige in Riga, die in Folge des Eigensinns 
eines früheren Besitzers ungefähr funfzig Jahre lang völlig unzu- 
gänglich gewesen war, sowohl als die viel jüngere, aber allein voll- 
ständige in Heidelberg befindliche, längere Zeit, und zwar mehrere 
Monate lang sogar neben einander, zu benutzen und da die ältere 
von Franz Pfeiffer (Stuttgart 1844) besorgte Ausgabe den besonderen 
Dialekt des Denkmals, für dessen Feststellung später gerade Pfeiffer 
selbst das bedeutendste gethan hat, vollständig verunstaltet, so durfte 
ich die Neuherausgabe der Livländischen Reimchronik geradezu als 
eine unumgängliche Pflicht ansehen. 


Meyer, Handbuch der Griechischen Etymologie. Erster Band. 827 


Darnach aber hat mich mein wissenschaftlicher Weg doch wie- 
der in das classische Gebiet zurückgeführt. So erschien im Jahr 
1879 die kleine Schrift »Griechische Aoriste; ein Beitrag zur Ge- 
schichte des Tempus- und Modusgebrauchs im Griechischen«, die 
sich die Aufgabe stellt, insbesondere die »kürzesten Aoriste«, die in 
Wirklichkeit gar keine Spur irgend eines Tempuszeichens tragen 
und die daher an und für sich auch keinerlei Tempusbedeutung ent- 
halten können , möglichst vollständig zusammen zu stellen. Im fol- 
genden Jahre erschien noch > An im Griechischen, Lateinischen und 
Gothischen; ein Beitrag zur vergleichenden Syntax der indogermani- 
schen Sprachen« ; beides Arbeiten, die wieder als vorausgenommene 
Stücke der Syntax der vergleichenden Grammatik gelten dürfen. 

Unmittelbar zu dieser selbst aber, der vergleichenden Gramma- 
tik, führte mich die Mittheilung zurück, daß für ihre in den sech- 
ziger Jahren erschienenen ersten beiden Bände schon das Bedürfnis 
einer zweiten Auflage sich herausstelle. Ihre Ausarbeitung wurde 
sogleich in Angriff genommen und nun in der bestimmten Hoffnung, 
die ganze Grammatik nunmehr über die neue Auflage hinaus auch 
sogleich zum wirklichen Abschluß zu führen. Die erste Hälfte des 
ersten Bandes ist in der neuen Auflage, 640 Seiten umfassend, im 
Jahre 1882 erschienen und zwei Jahre darauf die den ersten Band 
abschließende zweite Hälfte, 481 Seiten umfassend, zugleich mit einem 
reichen griechischen und lateinischen Index (Seite 1112 bis 1270). 
Aus verschiedenen Gründen, denen wir hier nicht weiter nachgehen, 
wurde die neue Bearbeitung meiner vergleichenden Grammatik von 
der Kritik nicht besonders freundlich aufgenommen und so kam ich 
mit der Verlagshandlung sehr bald überein, das Ganze gar nicht 
weiter erscheinen zu lassen. Mir war diese ganze Lösung gar nicht 
so sehr unlieb, da doch die ganze Zusammengebundenheit des Grie- 
chischen und Lateinischen von vorn herein viel weniger einen streng 
wissenschaftlichen als einen mehr praktischen Grund hatte. So ge- 
staltete sich’s denn, daß, während ich schon begonnen hatte, die »Bil- 
dung der Nomina< für das Griechische und Lateinische neu zu be- 
arbeiten, nun das Griechische allein fest gehalten, aber damit zu- 
gleich auch der Plan gefaßt wurde, den Griechischen Wörterschatz, 
abgesehen von ganz Aurchsichtigen Zusammensetzungen und leicht 
verständlichen Ableitungen, nicht in einer immerhin mehr oder min- 
der wilikürlichen Auswahl, sondern in seiner ganzen Vollständigkeit, 
so weit er in der alten Litteratur (nicht etwa nur in Anführung 
bei alten Lexikographen) lebendig entgegen tritt, etymologisch, das 
heißt seiner geschichtlichen Entwicklung nach, zur Darstellung zu 


328 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


bringen. Es ist damit das »Handbuch der Griechischen Etymologie« 
entstanden, dessen erster Band nunmehr vorliegt. 

Die Anordnung des Ganzen ist einfach lexikalisch, das heißt, sie 
folgt nicht dem gewöhnlichen Alphabet, dessen Reihenfolge ja eine 
sehr bunte ist und viel nah Zusammengehöriges weit auseinander 
reißt, sondern sie ist so gefaßt, daß zunächst die vocalisch anlauten- 
den Wörter angeführt werden, dann die mit den sogenannten Stumm- 
lauten beginnenden, darauf die mit dem Zischlaut, nach ihnen die 
mit den Nasalen v und u zur Betrachtung gelangen, und daß 
die mit den sogenannten Liquiden, das ist mit e und A anlautenden, 
den Abschluß des Ganzen bilden. Daneben ist noch hervorzuheben, 
daß die mit einfacher Consonanz beginnenden Wörter zunächst mit 
Rücksicht auf ihre inneren Consonanten geordnet werden, daß aber 
innere Doppelconsonanz allen weiteren consonantischen Verbindungen 
voraus gestellt ist. 

Die einzelnen Artikel werden durch die etymologisch bedeutungs- 
volleren Wörter gebildet, die, so weit sie Nomina sind, in der Grund- 
form, daneben aber auch im Nominativ, aufgeführt werden, so weit 
sie in das Gebiet der Verba gehören, in der Grundform, oder wie 
man sie noch immer zu nennen liebt, in der Wurzelform, daneben 
aber meist auch noch des bequemeren Auffindens wegen in der 
Präsensform aufgeführt werden. Jedem Wort ist seine Bedeutung 
zugefügt, oder, wo eine einheitliche Uebersetzung weniger bequem 
war, es sind auch mehrere erläuternde Wörter zur Seite gestellt. 
Es ist dabei auf möglichst große Genauigkeit Gewicht gelegt und so 
mag zum Beispiel hervorgehoben sein, daß ich für das weitere Ge- 
biet der Pflanzenwelt alle Uebersetzungen der großen Liebenswürdig- 
keit meines lieben Collegen Rudolf Kobert verdanke und daß, als 
er Dorpat verlassen hatte, durch seine freundliche Vermittlung an 
seine Stelle der rühmlichst bekannte Uebersetzer des Hippokrates, 
Herr Doctor R. Fuchs, als liebenswürdiger Gehülfe eingetreten ist. 

Jedem einzelnen Wort ohne Ausnahme folgen zunächst, was in 
den meisten Arbeiten aus dem Gebiet der vergleichenden Gramma- 
tik durchaus vermißt zu werden pflegt, Belegstellen, die in größerer 
oder geringerer Anzahl gegeben worden sind, je nachdem das Be- 
dürfnis sich herausstellte. Insbesondere ist mit den Belegstellen da 
nicht gespart, wo die Bedeutung eines Wortes nicht so vollständig klar 
heraustritt und deßhalb genauere Beleuchtung von verschiedenen Seiten 
her wünschenswerth erschien. Zu den Haupt- oder Stichwörtern sind 
nah zugehörige Formen vielfach sogleich hinzugestellt, dann aber 
auch immer mit Belegstellen versehen. So beläuft sich denn die Ge- 
sammtzahl der Belegstellen auf ungefähr hunderttausend. 


Meyer, Handbuch der Griechischen Etymologie. Erster Band. 829 


Wo sichs geben ließ, sind zu den einzelnen Wörtern mit ihren 
Belegstellen nah- und nächstzugehörige Formen aus den verwandten 
Sprachen zugefügt, da so zur genaueren Beurtheilung der Vorge- 
schichte der in Frage stehenden Wörter der sicherste Maßstab ge- 
wonnen wird. Dabei ist nicht bloß das Altindische und Altost- und 
Altwestpersische, das Lateinische, das Keltische, Deutsche, Littaui- 
sche und Slavische berücksichtigt, sondern auch das Armenische und 
das Albanesische, das letztere meist nach Gustav Meyers Vorgang, 
zur Vergleichung herangezogen. In Bezug auf die Wiedergabe der 
Laute oder die sogenannte Transscription ist in manchen Fällen vom 
Gewöhnlichen abgewichen. Es ist damit den Kennern der einzelnen 
angezogenen Sprachen nichts Unverständliches gegeben, auf der an- 
deren Seite aber der weit verbreiteten ganz abgeschmackten An- 
schauung entgegengetreten, als ob überhaupt die ganze große 
Mannichfaltigkeit menschlicher Sprachlaute sich in mathematische 
Formeln einklemmen und durch wenn auch noch so zahlreiche ver- 
schiedenartige Zeichen sich wirklich ganz genau wiedergeben ließe. 

Zum Schluß sind dann noch in möglichster Kürze die wichtig- 
sten erläuternden Angaben über die geschichtliche Entwicklung der 
aufgeführten Wörter hinzugefügt und vielfach auch noch Andeutun- 
gen darüber gegeben, wo weitere Forschung etwa einzusetzen haben 
würde. Alles was an früheren Worterklärungen nach dem gegen- 
wärtigen Stande der Wissenschaft als ganz verfehlt angesehen wer- 
den darf, ist ganz unerwähnt geblieben, ebenso aber auch alles, was 
etwa an allzu unsicheren und verwegenen Muthmaßungen sich hie 
und da leicht hätte vordrängen mögen. Wo ausreichende Erklärun- 
gen noch fehlen, ist es unverblümt ausgesprochen ; mit Wendungen 
wie »>dunklen Ursprungs<, »etymologisch noch unaufgeklärt« und 
ähnlichen ist durchaus nicht gespart. 

Zum Schluß dieser Anzeige kann ich nicht umhin noch hervor- 
zuheben, wie der Verleger, Herr S. Hirzel, mir in jeder Beziehung 
aufs Liebenswürdigste entgegengekommen ist. Vor allem aber bin 
ich ihm von Herzen dankbar dafür, daß er den Druck des Werkes 
nicht vor völligem Abschluß des Manuscripts beginnen zu lassen 
wünschte. So liegt nun das letztere in 6458 Quartblättern fertig 
vor und der Druck des nun abgeschlossenen ersten Bandes konnte 
sehr rasch zu Ende geführt werden, und ebenso werden es nun hof- 
fentlich auch die drei Bände, die sich noch anschließen werden. - 


Leo Meyer. 





Gött, gel. Anz. 1901. Nr. 4 23 


830 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


Kayser, H., Handbuch der Spectroscopie. I. Band. Leipzig, 8. Hirzel 
1900. XXIV u. 781. Preis Mk. 40. 


Der gewichtige dem Referenten vorliegende Band eröffnet ein 
fünfbändiges Werk über Spectroscopie, das »eine zusammenhängende 
und möglichst vollständige Uebersicht< über unsere Kenntnisse des 
betreffenden Gebietes verspricht. Zieht man in Betracht, daß es 
sich hierbei um einen Gegenstand handelt, der erst seit etwa 80 
Jahren nachdrücklicher bearbeitet worden ist, so ergiebt der zur 
Aufnahme des angesammelten Materiales nöthig befundene bedeu- 
tende Raum eine Vorstellung davon, welche Intensität die wissen- 
schaftliche Production in den letzten Decennien erreicht hat. Der 
Eindruck wird nur noch verstärkt, wenn man berücksichtigt, daß 
die hier behandelten Erscheinungen so gut wie keinerlei Beziehungen 
zur Technik haben, daß also ausschließlich ein wissenschaftliches 
Interesse die Triebfeder jener Forschungen gewesen ist. 

Noch nach einer anderen Richtung erweckt der bloße äußere 
Anblick des Buches angenehmste Empfindungen. Er legt von einem 
Idealismus des Verfassers Zeugnis ab, der noch seltener ist, als der- 
jenige, der sich in eigenen wissenschaftlichen Untersuchungen be- 
thätigt. Diese Arbeiten zur Förderung der Thätigkeiten Anderer, 
insbesondere solche, die sich, wie das vorliegende Handbuch, nur 
an ein verhältnismäßig kleines Publikum wenden, gehören zu den 
undankbarsten, die man sich denken kann, und wenn ein Mann, der, 
wie der Verfasser, auf einem Gebiete erste Autorität ist, sich einer 
solchen unterzieht, so gebührt ihm ganz besonderer Dank. 

Einer weiten Verbreitung des Handbuches steht schon allein 
sein hoher Preis entgegen, der, wie es scheint, für das vollständige 
Werk 200 Mk. erreichen, wenn die weiteren Bände zahlreiche Ta- 
feln bringen sollten, vielleicht übersteigen wird. Dies ist gewiß zu 
bedauern, und man möchte glauben, daß der Verfasser der Sache 
in mancher Hinsicht noch etwas besser gedient hätte, wenn er den 
Programmpunkt der Vollständigkeit nicht so in den Vordergrund 
gestellt hätte. Bei zahlreichen Angaben über experimentelle Me- 
thoden und Resultate läßt das (stets wohlbegründete) abweisende 
Urtheil des Verfassers deren ausführliche Mittheilung eigentlich über- 
flüssig erscheinen; diesen gegenüber hätte eine Beschränkung 
auf ein bloßes Citat wohl genügt und an Text und Figuren Er- 
sparnis gebracht. 

Dem Specialforscher geben natürlich auch diese Abschnitte An- 
regung und Belehrung; Fernerstehende würden sie gerne entbehren 


Kayser, Handbuch der Spectroscopie. I. 831 


und sich mit dem durch des Verfassers Autorität als gut und richtig 
bezeichneten begnügen. 

Um alles mehr Aeußerliche zuerst zu erledigen, so ist die Dar- 
stellung durchaus klar, die Sprache bis auf ganz vereinzelte Flüchtig- 
keiten fließend und anziehend. Als einen kleinen Uebelstand empfindet 
der das Buch Durchblätternde das Fehlen von Paragraphen- oder 
Columnenüberschriften; ein Abschnitt von über 80 Seiten ohne eine 
einzige gliedernde Zwischenüberschrift hat etwas Abschreckendes. 
Das Inhaltsverzeichnis ist sehr ausführlich, mildert also diesen kleinen 
Uebelstand, ohne ihn doch völlig zu beseitigen. Die Ausstattung 
ist würdig, ja bezüglich der Illustrationen reich zu nennen. — 

Bei dem Character des Buches als einer Zusammenarbeitung 
einer ungeheuren Zahl von Originalabhandlungen verschiedenster 
Art kann eine Besprechung sich naturgemäß nur auf die Disposition 
des Werkes und auf die hier und da hervortretende persönliche 
Stellungnahme des Verfassers beziehen. 

Das erste Capitel von 126 Seiten ist der Geschichte der 
Spectroscopie gewidmet. Es ist sehr lehrreich zu sehen, wie 
schwer es den Forschern geworden ist, die einfachsten Erscheinungen 
des neu erschlossenen Gebietes richtig aufzufassen, während wenige 
Decennien vorher die höchst complicierten Phänomene der Polarisation, 
der Interferenz und der Doppelbrechung verhältnismäßig schnell ge- 
deutet worden waren. Die Ursache hiervon war wohl nicht so der 
Mangel an großen Talenten unter den Beobachtern, als der Mangel 
an theoretischen Vorstellungen, welche die Anwendung auf jene 
neuen Vorgänge gestatteten. Die Undulationstheorie des Lichtes lag 
in einer ziemlich durchgearbeiteten Gestalt bereits vor, als Fresnel 
seine Forschungen begann, und die neu entdeckten Erscheinungen 
ließen sich von ihr aus verstehen. Aber diese Theorie, so viel sie 
durch die Fresnel’schen Anwendungen an Tiefe und Klarheit ge- 
wonnen hatte, lieferte in der damaligen Gestalt zum Verständnis 
der Spectralerscheinungen nur sehr wenig Hülfsmittel, wie sie auch 
in ihrer neuesten Gestalt viele Fragen noch nicht zu beantworten 
vermag. So sind zahlreiche verunglückte Versuche der Deutung 
sowohl der Gasspectren als des Sonnenspectrums entstanden; immer 
wieder werden die Gasspectren als Absorptions-, das Sonnenspectrum 
als Emanationsspectrum verstanden, die Umkehrungserscheinungen 
werden wiederholt beobachtet, aber in ihrer wahren Bedeutung nicht 
erkannt. 

Gegenüber den mißrathenen oder unvollständigen Erklärungs- 
versuchen der Vorgänger gewinnt die That Kirchhoffs und Bunsens, 
die mit einem Schlage in das Chaos der Beobachtungen Licht und 
Ordnung brachte, erst ihr volles Gewicht. Man sieht nit Erstaunen, 

23 * 


832 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


wie nahe einige andere Forscher, z. B. Foucault, Angström, Plücker 
und insbesondere Stewart der ganzen Wahrheit waren, wie schwer 
es also sein mußte, die letzte trennende Wand zu durchbrechen. 

Der Autor hat die heikele Aufgabe, über eine große Zahl viel- 
fach äußerst ähnlicher Untersuchungen zu berichten, mit vielem 
Geschick gelöst; eine gewisse Monotonie ließ sich natürlich hier 
nicht ganz vermeiden. Bei der Darstellung der Prioritätsstreitig- 
keiten bezüglich der Kirchhoff-Bunsenschen Resultate bewahrt er 
eine musterhafte kühle Objektivität, die im Allgemeinen gewiß am 
Platze ist. Wenn direct nach der großen Entdeckung ihre Beur- 
theilung eine schiefe war, so ist das zu entschuldigen, zumal da in der 
Mitte des XIX. Jahrhunderts Deutschland doch eben erst anfing, in 
die Reihe der Großmächte auf dem Gebiete der Physik zu treten, 
und Engländer und Franzosen sich von der Gewöhnung, große Ent- 
deckungen nur allein aus den Reihen ihrer Forscher hervorgehen 
zu sehen, nicht so schnell losmachen konnten. So erklärt sich 
einigermaßen die Voreingenommenheit, mit der die neuen Resultate 
in den Kreisen englischer und französischer Gelehrter aufgenommen 
wurde, wenn es auch befremdlich ist, Männer allerersten Ranges 
dem Urtheil: das Neue sei nicht richtig und das Richtige sei nicht 
neu, beistimmen zu sehen. 

Anders liegt die Sache aber doch, wenn auch noch viele Jahre 
nach der Entdeckung sich in den Werken namhafter Gelehrter das 
Bestreben findet, Kirchhoff und Bunsen ihr Verdienst zu Gunsten 
eines Landsmannes zu nehmen; dieser wissenschaftliche Chauvinismus, 
der in Herrn Tait in Edinburgh einen besonders unliebenswürdigen 
Vertreter gefunden hat — man erinnere sich hierbei auch an dessen 
Versuche, Clausius den Ruhm seiner bahnbrechenden Entdeckungen 
in gleicher Tendenz zu nehmen — hätte wohl ein kräftig Wörtlein 
vertragen. 

Wahrhaft erquickend wirkt gegenüber solchen Bestrebungen die 
runde Ablehnung des trefflichen G. Stokes, dem von englischer Seite 
die Vorwegnahme der Kirchhoffschen Entdeckungen beigelegt worden 
war: I have never attempted to claim for myself any part of Kırch- 
hoffs admirable discovery, und cannot help thinking, that some of my 
friends have been over zealous in my cause. — 

Der Verfasser beschränkt sich in seinem historischen Bericht 
natürlich keineswegs auf die Spectroscopie im engeren Sinne des 
Wortes, nämlich auf die dem Auge wahrnehmbaren Spectralerschei- 
nungen, sondern behandelt so ziemlich Alles, was an einem pris- 
matisch zerlegten Strahlenbündel auf irgend eine Art und Weise 
wahrnehmbar gemacht ist. Die thermischen, die chemischen, die 
Fluorescenzwirkungen finden ausführliche Würdigung. Die Arbeiten 


Kayser, Handbuch der Spectroscopie. I. 833 


der letzten Decennien werden mit Recht nur kurz characterisiert, 
da ihr Inhalt ja das Material der systematischen Darstellung bildet, 
der das Buch gewidmet ist. 

Das zweite Capitel von 112 Seiten behandelt die Mittel zur 
Erzeugung leuchtender Dämpfe und zwar der Reihe nach die Flammen, 
den galvanischen Lichtbogen und die electrischen Entladungen. Bei 
jedem dieser Gegenstände werden zahlreiche experimentelle Anord- 
nungen besprochen und die Versuche zur allseitigen Aufklärung der 
betreffenden Erscheinungsklassen mitgetheilt. Daß in letzterer Hin- 
sicht noch wenig sichere Resultate erhalten worden sind, ist bereits 
oben angedeutet worden. Bemerkenswerth ist die überaus vorsich- 
tige Stellung, die der Verfasser auf Grund eigner vielseitigster Er- 
fahrungen gewissen neuesten Theorien, insbesondere der electro- 
lytischen Theorie der electrischen Entladungen gegenüber einnimmt. 

Das den Prismen gewidmete dritte Capitel von 144 Seiten hat 
Dr. Konen-Bonn geschrieben. Es bietet zunächst eine höchst reich- 
haltige Zusammenstellung aller auf die spectroscopischen Wirkun- 
gen von Prismen bezüglichen theoretischen Untersuchungen, wobei 
der Antheil der Beugung an der Erzeugung von Bildern gebührend 
berücksichtigt wird. Daran schließt sich ein practischer Theil, die 
spectroscopischen Messungen mit Prismen, die gebräuchlichen Pris- 
menmaterialien und -formen betreffend. Der erste Abschnitt des 
letzteren Theiles wird den mit Spectroscopen Arbeitenden besonders 
willkommen sein; die Uebersicht über alle in Betracht kommenden 
Justierungen und Kunstgriffe ist sehr nützlich. 

Von der Größe des bewältigten Materiales giebt der Umstand 
eine Vorstellung, daß allein für den Abschnitt über die Prismen- 
materialien 263 Originalarbeiten herangezogen sind. 

Wenn dieser Theil bei der immerhin stark verringerten Be- 
deutung der Prismen für die practische Spectroscopie die meisten 
Leser weniger anziehen wird, so darf das vierte, die Gitter betref- 
fende Capitel von 92 Seiten dagegen auf allseitiges Interesse rechnen. 
Der Verfasser beginnt mit einer Schilderung der Verdienste Fraun- 
hofers um Eröffnung und Erforschung dieses Gebietes, die er 
durch ausführliche Citate aus dessen Abhandlungen in das rechte 
Licht setzt, und wendet sich dann unter kurzer Erwähnung des 
Antheiles, den Nobert, Rutherfurd, Rogers u. A. an der Entwickelung 
der Technik der Gittertheilung haben, zu den epochemachenden Ar- 
beiten Rowlands. Was er hier giebt, erhält eine ganz besondere 
Bedeutung dadurch, daß Rowland über seine technischen Arbeiten 
nur wenig publiciert hat, und der Verfasser mit dem Bericht über 
das, was er gelegentlich eines Besuches bei Rowland gesehen hat, 
die dürftigen Originalabhandlungen in der erfreulichsten Weise er- 


384 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


gänzt. Man begreift nach dieser Schilderung, daß Rowland die Her- 
stellung von Gittern nahezu in Monopol bekommen hat, und daß neben 
seinen directen und bei aller Genialität einfachen Methoden die von 
Anderen versuchten indirecten mit Hülfe von Photographie und Gal- 
vanoplastik garnicht in Betracht kommen. 

Auch in den folgenden theoretischen Abschnitten spielt neben 
Lord Rayleighs Arbeiten über die Bilder idealer Gitter wiederum 
Rowland mit seinen Untersuchungen über die optischen Wirkungen 
von Theilungsfehlern die hervorragendste Rolle. Es kommen hierbei 
drei in Betracht: die Abweichungen der Intensitätsvertheilung von 
der normalen, das Auftreten von Nebenbildern oder »Geistern« (ghosts) 
und die focalen Eigenschaften, die das Gitter ähnlich wie eine Linse 
oder einen Hohlspiegel wirken lassen. Durch eine ausführlichere 
und in Einzelheiten berichtigte Wiedergabe dieser Theorien hat sich 
der Verfasser gleichfalls ein hervorragendes Verdienst erworben. 

In dem die Concavgitter betreffenden Abschnitt steht im Mittel- 
punkt eine ausführliche Theorie von Runge, deren Mittheilung sehr 
dankenswerth ist, da sie bisher nur in einem Auszug veröffentlicht 
war und doch den ganzen Mechanismus der Wirkung der concaven 
Gitter am tiefsten aufklärt, z. B. durch die von andern Autoren 
nicht durchgeführte rechnerische Verfolgung der Strahlen, die aus 
der Einfallsebene abweichen. 

Außerordentlich nützlich ist auch die am Ende des Abschnittes 
gegebene Zusammenstellung der Vorschriften für die Aufstellung und 
Justierung von Concavgittern, zu denen der Verfasser durch seine 
reiche Erfahrung befähigt ist wie Wenige. 

Der letzte Abschnitt des Capitels ist der Besprechung des so 
überaus geistreich ersonnenen Stufengitters von Michelson gewidmet. 
Daß der Verfasser demselben keine allgemeine Bedeutung bei- 
legt, wird Jeder billigen, der das merkwürdige Instrument auch 
nur ein Mal benutzt hat; aber selbst in Bezug auf die Erscheinung, 
für deren Studiumes es erfunden ist, nämlich das; Zeeman-Phänomen, 
scheint es durch die besten Rowlandschen Gitter übertroffen zu 
werden. 

Es folgt ein umfängliches fünftes Capitel (102 Seiten umfassend) 
über die spectroscopischen Apparate, in dem hauptsächlich 
die mit den Prismen oder Gittern zu verbindenden instrumen- 
tellen Teile besprochen werden. Bei dieser Disposition ließ sich 
nicht vermeiden, daß einige kleine Inconsequenzen unterlaufen. Es 
wird in dem Kapitel natürlich nochmals viel von Prismen und Gittern 
gehandelt, daneben treten aber auch mehr nebenbei ganz neue 
spectroscopische Wirkungen auf, z. B. die bei dem Michelsonschen 
Interferometer und dem Perot-Fabryschen Spectrometer verwendeten, 


Kayser, Handbuch der Spectroscopie. I. 835 


die man vielleicht ebenso selbstständig stellen möchte, wie die der 
Gitter und Prismen. 

Im Uebrigen ist die Zusammenstellung äußerst reichhaltig und 
lehrreich. Jeder, der Aufklärung über constructive oder theoretische 
Fragen in Betreff der Spectroscopie verlangt, wird den auf sie ver- 
wandten Fleiß dankbar rühmen. Insbesondere mag auf die ausführ- 
liche Darstellung der sehr interessanten Arbeiten von Wadsworth 
über die Theorie der Spectroscope hingewiesen werden. Ueber die 
Hülfsmittel, welche Photographie, Fluorescenz und Thermometrie 
(letztere durch Langley ganz neu gestaltet) bei spectroscopischen 
Messungen gewähren, ist ausführlich gehandelt; für die Ausmessung 
photographierter Spectren wird u. a. ein neuer vom Verfasser con- 
struierter Comparator beschrieben. 

Den Schluß des Bandes bildet ein kürzeres sechstes Ca- 
pitel (63 Seiten) über die spectroscopischen Messungen. 
Es umfaßt die zur Bestimmung der absoluten und der relativen 
Längen der Lichtwellen benutzten Messungsmethoden, erstere im 
sichtbaren Theil des Spectrums angestellt, letztere auch auf die 
ultrarothen und ultravioletten Bereiche erstreckt, wo sie dann ver- 
schiedene Hülfsmittel verlangen. Der Verfasser beginnt mit einer 
Geschichte der absoluten Bestimmung von Lichtwellenlängen durch 
Gitter, die wiederum mit Fraunhofer beginnt und mit den Arbeiten 
von Müller und Kempf, Kurlbaum, Bell ausmündet. Dann geht er 
zu den Beobachtungen von Michelson und Perot-Fabry über, die 
durch Anwendung neuer Principien eine so erhebliche Steigerung 
der Genauigkeit erzielten. 

Bei den relativen Messungen kommt besonders die Rowlandsche 
Coincidenzmethode zur Besprechung, die ebensowohl im sichtbaren, 
wie im unsichtbaren Bereich des Spectrums anwendbar ist; sodann 
wird die Methode der Vergleichung auszumessender Spectren mit 
dem Eisenspectrum erörtert und für deren Anwendung eine ausführ- 
liche Tabelle der Wellenlängen des letzteren Spectrum mitgetheilt. 
Eine Darstellung der speciell für das ultrarothe und das ultraviolette 
Spectralbereich angewandten Hülfsmittel bildet den Schluß. 

Da die Anforderungen an die Genauigkeit der Zahlenwerthe von 
Lichtwellenlängen in den letzten Decennien ungemein gestiegen sind, 
so hat die kritische Würdigung aller wichtigen Arbeiten über diesen 
Gegenstand, von so autoritativer Seite gegeben, eine erhebliche 
practische Bedeutung. 

Möge dem Verfasser beschieden sein, sein kühn und groß ange- 
legtes Werk zum glücklichen Abschluß zu führen. 


Göttingen, Februar 1901. W. Voigt. 





836 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4, 


Schweizer, P., Die Wallenstein-Fragen in der Geschichte und im 
Drama. Zürich, Verlag von Fäsi und Beer. 1899. VIII und 3548S. Preis 7 Mk. 


Nachdem einige Zeit die Ankläger Wallensteins die Oberhand 
gehabt, meldet sich in der vorliegenden Schrift wieder ein Verthei- 
diger zum Worte. Seine Auffassung ist sichtlich von der des Schiller- 
schen Dramas beeinflußt, welchem der erste, 56 Seiten umfassende 
Theil des Buches gewidmet ist. Dieser Theil ist insofern lesenswert, 
als die Frage nach den von Schiller benützten Quellen, die bisher 
vorzugsweise von Literaturhistorikern behandelt wurde, nun auch 
einmal vom historischen Standpunkte untersucht wird, wobei immer- 
hin, namentlich bezüglich des Wertes der benützten Werke als Ge- 
schichtsquellen, manche neue Resultate gewonnen werden. Das 
Schlußergebnis der auf Schillers Trilogie bezüglichen Ausführungen 
ist der Nachweis, daß Schiller, indem er Wallensteins Absichten 
und Handlungen aus ästhetischen Gründen günstiger darstellte, als 
die von ihm benützten, Wallenstein ausnahmslos feindseligen Quellen, 
unbewußt ein Vorläufer jener neueren Historiker war, welche im 
Sinne Rankes »an Stelle aburtheilender Sittenrichterei über die Ver- 
brechen und Fehler historischer Personen eine objective Untersuchung 
setzen, die Nothwendigkeit der Handlungen aus der Lage der Person 
heraus und aus der unwiderstehlichen Macht der drängenden Um- 
stände und der allgemeinen Entwicklung zu erweisen suchen«. 

Rankes Autorität wird also von dem Verf. zu Gunsten der 
neueren Vertheidiger Wallensteins angerufen, während Ranke in 
Wirklichkeit einer bestimmten Stellungnahme zu Gunsten Wallen- 
steins sich ebenso enthalten hat wie einer Stellungnahme gegen ihn. 
Die ganze auf Ranke folgende Literatur für und gegen Wallenstein 
hat vielmehr ihren Ausgangspunkt eben darin, daß man in der Schuld- 
frage im Widerspruche zu Ranke zu einem entschiedenen »Ja<« oder 
»Nein« gelangen wollte, mit einer bloßen Erklärung der Handlungen 
Wallensteins aus seiner Lage, den drängenden Umständen, der ganzen 
politischen Entwickelung sich nicht zufrieden gab. Um einen großen 
Schritt ist man ja, insbesondere durch die Entdeckungen in den 
schwedischen Archiven, doch weiter gekommen; daß von Wallenstein, 
oder von Personen aus seiner vertrauten Umgebung, mit den Feinden 
des Kaisers nicht bloß über einen abzuschließenden Frieden, sondern 
über den Abfall Wallensteins vom Kaiser und Anschluß an Schweden 
oder Frankreich verhandelt wurde, darüber kann füglich kein Zweifel 
sein, und auch der Verf. zweifelt nicht daran. Diese Entdeckungen 
waren es ja auch, welche in letzter Zeit den Anklägern Wallensteins 
das Uebergewicht gaben. 

Entscheidend ist nun für die Stellungnahme des Verfassers, wie 


Schweizer, Die Wallenstein-Fragen in der Geschichte und im Drama. 337 


er diese Unterhandlungen glaubt deuten zu müssen. Er sieht darin 
nichts weiter als Versuche Wallensteins, die Schweden und Franzosen 
über seine wahren Absichten, die auf Herbeiführung eines Separat- 
friedens mit Sachsen und Brandenburg nach Art des späteren Prager 
Friedens, also auf den Abfall der beiden protestantischen Kurfürsten 
vom Bündnisse mit dem Auslande, gerichtet waren, zu täuschen. 
Die Möglichkeit einer solchen Deutung muß zugegeben werden; 
denn, wie der Verf. richtig bemerkt, in den damaligen Unterhand- 
lungen spielt absichtliche Irreführung, ja Verlogenheit auf allen Seiten 
eine so große Rolle, daß man niemals sicher sein kann, in einer noch 
so gut bezeugten Aeußerung einer historischen Persönlichkeit den 
Ausdruck ihrer wahren Gesinnung wiederzufinden. Dennoch fehlt 
viel, daß die Anschauung des Verf. als erwiesen angesehen werden 
könnte. Zunächst welch gefährliches, ja vom Standpunkte seiner 
persönlichen Sicherheit aus geradezu einfältiges Spiel müßte Wallen- 
stein gespielt haben, wenn er, der doch wußte, wie groß die Zahl 
seiner Feinde am Hofe sei, diesen durch derartige »Täuschungs- 
versuche« Stoff zu Anklagen gab! Mindestens hätte er gerade zu 
solchen Schritten, wovon doch nichts bekannt ist, die vorherige Zu- 
stimmung des Kaisers einholen müssen, wenn er es, wie der Verf. 
voraussetzt, mit diesem ehrlich meinte. Daß auch die Schweden 
und Franzosen den Anerbietungen Wallensteins nicht völlig trauten, 
ist noch kein Gegenbeweis. Diese Anerbietungen waren so unge- 
wohnlich , konnten so weittragende Folgen haben, daß z.B. die 
Vorsicht Oxenstjernas begreiflich ist. Auch mußte ja das ganze 
zögernde, verschlossene, unberechenbare Verhalten Wallensteins, 
wie es den Kaiser mißtrauisch machte, ebenso, ja in noch höhe- 
rem Grade den Argwohn der Schweden und Franzosen erregen. 
Wenn sie übrigens die Anerbietungen benützten, um sie zu ver- 
öffentlichen und so mindestens Mißtrauen zwischen dem Kaiser und 
seinem Generalissimus zu erregen, so ist darin keineswegs eine Be- 
stätigung dessen zu erblicken, dass sie die Anerbietungen für bloße 
Täuschung hielten. Wie hätte ein Täuschungsversuch, von Wallen- 
stein im Einverständnis mit dem Kaiser unternommen, wenn er auch 
bekannt wurde, Mistrauen zwischen diesen beiden hervorrufen sollen! 
Weit eher dürfte der Veröffentlichung die Nebenabsicht zu Grunde 
gelegen haben, den zögernden Wallenstein zum Entschlusse zu drän- 
gen, seinen Bruch mit dem Kaiser zu beschleunigen. 

Richtig ist, daß Wallensteins Verhalten gegenüber Sachsen und 
Brandenburg vollkommen verständlich ist, wenn man des Verfassers 
Ansicht gelten läßt, daß es dagegen widerspruchsvoll wird, wenn 
man annimmt, er habe auch mit Schweden und Frankreich ernsthaft, 


338 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


nicht bloß zum Scheine, verhandelt. Indessen darf man dabei wohl 
an die »zwei Eisen« denken, die auch heutige Staatsmänner im Feuer 
haben, um bei sich darbietender Gelegenheit dasjenige zu ergreifen, 
das mehr Vortheil bietet. Daß das »eine Eisen« nach modernen Be- 
griffen als »Verrath« zu kennzeichnen wäre, dürfte einen Wallenstein 
nicht zurückgeschreckt haben. Schon Ranke hat darauf hingewiesen, 
daß seine Haltung nicht nach den Anschauungen der Gegenwart be- 
urtbeilt werden darf; Wallenstein war ja kein bloßer General, er war 
ein Reichsfürst, der sich den Kurfürsten gleichberechtigt, wenn nicht 
überlegen fühlte. Wenn nun z. B. der Kurfürst von Sachsen vom 
Kaiser zu den Schweden und später wieder von den Schweden zum 
Kaiser übergieng, ohne sich viel Skrupel zu machen, daß er das eine- 
mal seinen »kaiserlichen Herrn«, das anderemal seine Freunde und 
Bundesgenossen »verrieth«, wenn selbst Maximilian von Bayern mit 
Frankreich in Beziehungen trat, die man heute sehr bedenklich fin- 
den würde, so hielt sich Wallenstein ohne Zweifel zu gleichem Vor- 
gehen befugt, wenn er dabei seinen Vortheil zu finden glaubte. 

Ueberhaupt scheint der Verf. den egoistischen Zug im Charakter 
Wallensteins zu wenig zu beachten. Ueber den von Gindely und 
anderen gebrachten Nachweis, wie Wallenstein die Gütereinziehungen 
in Böhmen und die Münzverschlechterung zu seiner eigenen Be- 
reicherung ausbeutete, geht er ebenso leicht hinweg wie über die 
Aussaugung der von seinen Truppen besetzten Landesstriche. Es ist 
wahr, Wallenstein handelte in der einen Hinsicht nicht schlechter als 
die Liechtenstein, Slawata u. a., in der zweiten nicht anders als Tilly 
und andere Generale jener Zeit. Dennoch ist die Geschicklichkeit, 
mit der er diese Mittel anwendete, und im Zusammenhang damit der 
großartige Erfolg, den er erzielte, für ihn charakteristisch. Die Lite- 
ratur des Hasses, die sein Vorgehen hervorgerufen hat, ist freilich 
von Uebertreibungen nicht frei, und Gindely und andere haben ge- 
fehlt, wenn sie ihr allzu willig glaubten; aber der Haß, der sich ge- 
gen Wallenstein richtete und der ihn schließlich ins Verderben 
stürzte, hatte gewiß nicht bloß in der Bosheit eines Slawata, wie 
Schebek meinte, oder in den krankhaften Zuständen, an denen Wal- 
lenstein litt, und seiner Neigung zur Astrologie, wie der Verf. an- 
nehmen möchte, seinen Grund. 

Von Schebek hat sich der Verf. überhaupt zu sehr beeinflussen 
lassen. Wenn Schebek fast alle gegen Wallenstein gerichteten Schrift- 
stücke, die er kennt, Slawata zuschreibt, weil er diesen für den Dä- 
mon hält, der Wallenstein zugrunde gerichtet hat, so folgt ihm der 
Verf. insofern, als er die Autorschaft Slawatas in einzelnen Fällen 
als sicher annimmt, wo sie doch nur mehr oder minder wahrschein- 


Schweizer, Die Wallenstein-Fragen in der Geschichte und im Drama. 839 


lich ist. Auch der närrische Einfall Schebeks, Feucquiéres habe mit 
einem Pseudo-Kinsky, einem Strohmanne Slawatas, verhandelt, wird 
vom Verf. noch zu ernst genommen. Wie sehr der Verf. auf Sche- 
beks Ideen eingeht, zeigt die Bemerkung, Raschins Bericht aus den 
October 1631 über eine Aeußerung, die ihm Wallenstein unter vier 
Augen gemacht, lege die Annahme nahe, daß Raschin schon damals 
(1631!) Beziehungen zu Slawata oder ähnlichen Gegnern Wallensteins 
hatte. Die Behauptung des Verfassers, Wallenstein habe wegen seiner 
Absetzung gar keinen Groll gegen den Kaiser gehegt und die ent- 
gegengesetzt lautenden AeuGerungen nur gethan, um die böhmischen 
Emigranten und durch diese die Schweden zu täuschen, ist nichts 
weniger als erwiesen, erinnert vielmehr stark an die Art, wie auch 
Schebek mit Berichten, die in seine Geschichtsconstruction nicht pas- 
sen, verfährt. | 

Uebrigens urtheilt der Verf. auch über Berichte Arnims, wo sie 
die Absichten Wallensteins in ähnlichem Lichte darstellen, er erzähle 
»Märchen«, berichte mit Bewußtsein Falsches. Ebenso ungünstig ist 
des Verf. Urtheil über die Wahrheitsliebe Maximilians von Bayern, 
Schlicks, Piccolominis, kurz aller Feinde Wallensteins. In der Cha- 
rakteristik Piccolominis ist auch der Einfluß des Schillerschen Dramas 
unverkennbar. 

Und doch werden mit diesen oft recht gezwungenen Darlegungen 
nicht alle Räthsel gelöst; namentlich das Verhalten des Kaisers, sein 
anfangs unerschütterlich scheinendes Vertrauen zu Wallenstein und 
dann der plötzliche Umschwung sind schwer verständlich, wenn Wal- 
lenstein so unschuldig war, wie der Verf. glaubt. In Wirklichkeit 
dürfte, wie Wallenstein schon lange vor seinem zweiten Sturze zu 
Mißtrauen Anlaß gab, der Kaiser auch schon lange von Argwohn er- 
füllt gewesen sein, ehe er ihn auch äußerlich dem übermächtigen 
Heerführer gegenüber zu zeigen wagte. 

Von kleineren Versehen hat der Verf. eins, die Verwechslung des 
Erzherzogs Ferdinand von Tirol in der Jugendgeschichte Wallensteins 
mit dem Kaiser gleichen Namens, selbst richtig gestellt. Sonderbar 
ist, daß der Verf. die Namensformen Leutmaritz für Leitmeritz und 
Dachau für Tachau (in Böhmen) gebraucht. Unrichtig ist auch die 
Angabe, daß Gindely aus Würzburg stamme. 

Alles in allem bringt auch das Buch Schweizers nicht die »Lö- 
sung der Wallensteinfrage<, und es ist zweifelhaft, ob wir in dieser 
Hinsicht jemals zur vollen Klarheit vordringen werden. Das Ziel, 
das gesteckt ist, geht eigentlich über das, was die historische For- 
schung zu leisten vermag, hinaus; denn nicht, was Wallenstein ge- 
than und gesprochen, sondern was er gedacht und beabsichtigt hat, 


840 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


steht in Frage. Das ist aber gerade bei einem verschlossenen, 
schwankenden, zögernden, leidenschaftlichen und doch wieder berech- 
nenden, der Verstellung fähigen Manne fast unmöglich zu ergründen. 


Prag. Tupetz. 


Geib, O., Theorie der gerichtlichen Compensation. Tübingen 1897. 
Verlag der H. Lauppschen Buchhandlung. XVIII u. 357 S. 


Der Verfasser steht auf dem Standpunkt, daß die Compensation 
nach gemeinem Recht außer durch Vertrag nur durch Richterspruch 
vollzogen werden könne. Manche Anhänger dieser Auffassung halten 
zur gerichtlichen Compensation ein Urteil über die Gegenforderung 
für erforderlich und meinen, daß mit Rücksicht auf dieses gemein- 
rechtliche Erfordernis die Civilprozeßordnung zum Compensationsvoll- 
zug auch ein das Bestehen der Gegenforderung aussprechendes Iu- 
dicat vorschreibe. Diese Lehre führt nach der Ansicht des Verf. zu 
dem ebenso unannehmbaren als unvermeidlichen Resultat, daß sie eine 
gleichmäßige Anwendung der die Compensation berührenden Vor- 
schriften der Civilprozeßordnung für alle deutschen Rechtsgebiete un- 
möglich macht; denn wo bereits bisher die Tilgung compensabler 
Forderungen durch ihre Coexistenz oder durch einseitige Aufrechnungs- 
erklärung herbeigeführt wird, könne der Richter nur über die Klag- 
forderung, nicht auch über das Bestehen der Gegenforderung eine 
Entscheidung abgeben. Der Verfasser will nun den rechtlichen Vor- 
gang bei dem gerichtlichen Compensationsvollzug in einer Civilisten 
und Processualisten gleichermaßen befriedigenden Weise aufklären, 
indem er darlegt, daß weder das gemeine Recht noch die Vorschriften 
der Civilprozeßordnung zum Compensationsvollzug eine Entscheidung 
über die Gegenforderung erfordern. 

Von der Aufgabe, über den Inhalt der vom Verf. entwickelten 
Theorie zu berichten, wird Ref. sich dispensieren dürfen. Nicht des- 
halb, weil das gemeine Compensationsrecht bald seine praktische Be- 
deutung verliert, sondern weil das Studium der zwar etwas breiten 
und sich vielfach wiederholenden, aber sachkundigen und gründlich 
durchdachten Ausführungen Geibs Jedem nötig sein wird, dem an 
einem tieferen Verständnis des künftigen Aufrechnungsrechtes gelegen 
ist, und weil der Verfasser selbst sein Buch mit einer kurzen Dar- 
stellung seiner Theorie abgeschlossen hat. 

Der Wert des vorliegenden Werkes für die künftige Rechts- 
wissenschaft wird nicht erheblich durch den Zweifel beeinträchtigt, 
ob die Theorie Geibs zu dem von ihm ins Auge gefaßten Ziel führt 
und ob alle ihre Stützen tragfähig sind. 


Geib, Theorie der gerichtlichen Compensation. 841 


Geib glaubt bewiesen zu haben, daß die Compensation lediglich 
durch das die Klagforderung um der Gegenforderung willen abwei- 
sende Urteil vollzogen werde. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn 
man von einer vollzogenen Compensation da sprechen will, wo nichts 
weiter geschehen ist, als daß eine Klage um einer Gegenforderung 
willen abgewiesen ist. Wenn die Klagabweisung um einer Gegen- 
forderung willen Compensation genannt wird, so bedarf es freilich 
kaum des Beweises dafür, daß die Compensation lediglich durch das 
die Klagforderung um der Gegenforderung willen abweisende Urteil 
vollzogen wird. Anders, wenn man unter Compensation die defini- 
tive Tilgung der sich gegenüberstehenden Forderungen versteht. Die 
neuerdings in Folge der Darlegungen Stölzels viel verhandelte Frage, 
ob der Richter unter Umständen die Klage um der Gegenforderung 
willen abweisen darf oder soll, ohne sich über den Bestand der Klag- 
forderung zu äußern, braucht hier nicht erörtert zu werden. Jeden- 
falls hätte auch schon vor dem Erscheinen von Stölzels Abhandlung 
über die Eventualaufrechnung — deren erste Auflage kurz nach dem 
Buche Geibs erschienen ist — mit der Möglichkeit solcher Urteile 
gerechnet werden können. Wenn aber das Gericht die Klage um 
der Gegenforderung willen abgewiesen hat, ohne darüber zu ent- 
scheiden, ob die Klagforderung bestand, so unterliegt es schwerlich 
einem Zweifel, daß in einem neuen Prozeß die Forderung des ehe- 
maligen Beklagten eingeklagt und die Forderung des ehemaligen 
Klägers compensando geltend gemacht werden kann. Denn in sol- 
chem Falle war die Forderung desjenigen, der im ersten Prozeß als 
Beklagter auftrat, nicht satisfactione getilgt, wenn die Forderung des 
damaligen Klägers nicht bestand; andererseits hat das erste Urteil 
rechtskräftig nur entschieden, daß der Kläger wegen der Gegenfor- 
derung keinen Anspruch auf Erfüllung hat, nicht auch, daß dein Klä- 
ger keine Forderung zusteht. Daraus ergiebt sich, daß ein die Klage 
um der Gegenforderung willen abweisendes Urteil an sich noch nicht 
den Vollzug der Compensation bewirkt, wenn man darunter die de- 
finitive Tilgung der beiderseitigen Forderungen versteht. 

Was den Verf. zu der Meinung verführt hat, bewiesen zu haben, 
daß dem die Klage um der Gegenforderung willen abweisenden Ur- 
teil die Kraft des Compensationsvollzuges in dem angegebenen Sinne 
innewohne, ist leicht ersichtlich. Der Verf. hat seiner Untersuchung 
den Fall zu Grunde gelegt, daß sowohl die Gegenforderung als die 
Klagforderung unbestritten sind (S. 34). In solchen Fällen kann 
allerdings die in den Entscheidungsgründen versteckte Feststellung 
der beiderseitigen Forderungen leicht übersehen werden. 

Freilich ist selbst dann, wenn diese Feststellungen rechtskräftig 


842 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


erfolgen konnten und erfolgt sind, nicht jeder Zweifel ausgeschlossen, 
ob das gemeine Recht mit dem die Klage um der Gegenforderung 
willen abweisenden Urteil die beiderseitigen Forderungen endgiltig 
untergehen läßt. Eine Erörterung der Frage, ob oder wie der Rich- 
ter nach der Prozeßordnung die definitive Tilgung gegenüberstehender 
Forderungen in einem Rechtsgebiete herbeiführen kann, in dem — 
nach der Meinung des Verfassers — weder der einseitigen Aufrech- 
nungserklärung Wirkung zukommt noch eine Compensationspflicht an- 
zuerkennen ist, würde nicht hierher gehören, da sie mit den Ausfüh- 
rungen Geibs nicht Fühlung bewahren könnte. 

Zu bedauern ist, daß Geib das unmittelbar vorher erschienene 
Buch Leonhards über die Aufrechnung nicht mehr benutzen konnte. 
Er hätte sonst vielleicht seine Ablehnung der Compensation durch 
einseitige Erklärung und seine Wertschätzung der exceptio doli gegen- 
über den durchaus abweichenden Ausführungen Leonhards verteidigen 
können. Keiner Verteidigung fähig scheint mir die Behauptung zu 
sein, daß zur rechtskräftigen Entscheidung über das Nichtbestehen 
der Gegenforderung nach CPO. 293 (jetzt 322) eine Widerklage er- 
forderlich sei. 

Gießen, Oktober 1900. A. Leist. 


Ibrahim ibn Muhammad al-Baihagi, Kitab al-mahäsin val-masävi, hag. 
von Fr. Schwally. Mit Unterstützung der Kgl. Preußischen Akademie der 
Wissenschaften. 1. Teil. Gießen. J. Ricker'sche Verlagsbuchhandlung (A. 
Töpelmann) 1900. pff S. gr. 8. Preis 12 M. 

Dies Buch, dessen Verfasser unter dem Halifen al Mugtadir 
(908 —32) lebte, ist der älteste uns erhaltene Repräsentant der so- 
genannten Mahäsin-Litteratur. Es stellt in parallelen Abschnitten 
die Vorzüge und die Fehler historischer Personen und Ereignisse 
sowie moralischer Eigenschaften zusammen und erläutert sie durch 
Erzählung von Anekdoten und Anführung von Versen. So enthält 
das Buch manchen wichtigen Beitrag zur politischen wie zur Kultur- 
und Sittengeschichte des Isläms und verdient vollauf die von Schwally 
unternommene Ausgabe. 

Da der Herausgeber für den dritten und letzten Teil eine aus- 
führliche Einleitung über die litterarhistorische Stellung und die 
Hdss. des Werks verspricht, so begnügen wir uns fürs erste mit 
einigen Bemerkungen zu dem bis jetzt vorliegenden Teile des Textes. 
Das Buch ist in zwei Hdss. in Leiden und Calcutta erhalten. Wie 
bei den meisten Werken der älteren Adablitteratur, die fast nur von 
Gelehrten gelesen und auch abgeschrieben wurden, ist der Text im 
ganzen gut erhalten. Seine Schäden hat der Herausgeber durch- 


Ibrähim ibn Muhammad al-Baihagi von Fr. Schwally. I. 348 


weg mit Geschick geheilt, doch hätte er in der Anwendung der Con- 
jecturalkritik mehrfach uoch etwas vorsichtiger zu Werke gehn kön- 
nen. Mit der Setzung von Vocalen ist Sch. äußerst sparsam gewesen; 
nur die Verse hat er vollständig vocalisiert. Dagegen ist nichts zu 
sagen. Hamza und TeSdid aber, die von guten Hdss. und Ausgaben 
mit Recht als ein integrierender Bestandteil des Konsonantentextes 
angesehen werden, hätte Sch. mit größerer Consequenz anwenden 
sollen. Formen wie ‚ss u. 4. sollte man in europäischen Drucken nicht 
mehr begegnen. Sehr wünschenswert wäre es gewesen, wenn Sch. 
an den zahlreichen Stellen, wo er die Mahäsin des Pseudo-Gahiz als 
Textzeugen heranzieht, jedesmal die Seite der Vlotenschen Ausgabe 
vermerkt hatte, umsomehr, da diese leider indexlos geblieben ist. 
Warum hat Sch. seine kritischen Noten in oft recht ungefügem Latein 
gegeben, während doch Titel und Vorbemerkungen deutsch sind ? 
Das alles hätte sich doch deutsch ebenso kurz sagen lassen. In der 
Umschrift von Namen und Titeln hätte Sch. etwas weniger willkürlich 
oder wenigstens folgerichtig verfahren sollen; ‚%# schreibt er bald 8, 
bald sh, ‘Ain übergeht er zumeist, während er Hamza zuweilen aus- 
drückt. 

Zur Erläuterung des eben Gesagten besprechen wir nun noch 
einzelne Stellen des Textes, berichtigen gelegentlich auch einige 
Druckfehler. 28 AS ist richtig als Gegensatz zu gl Eb. 9 1. 


5. 34 1. lu Eb.s 1. gu mit G”. 51 1 pie, mit G 6%. 
612 1. st ohne Hamza, Wright Gr. ? I 19. ‘Eb. 15 giles. 84 
Ass |. neil. lle 1. gl ar ‚wenn er hört«, vgl. Nöldeke 
Zur Gramm. § 7. Eb. 5 pomndy, Eb. 18 slaw 146 neil. 18 8 
keine Lücke; der Satz mit „> ist Praedicat zu „9, vgl. Reckendorf, 
Synt. § 4,8. 1813 1. hels&. Eb. u >. 257 Die Conjectur ist 
überflüssig ; of steht gleich 53 vgl. GGA 1899, 972. Eb. s 1. Ji. 
3018 1. una ohne Teddid. 3517 1. with. 466 Die beiden Con- 
jecturen sind unmöglich; das 3. und das 6. Pferd wäre doch eine 
zu wenig schmeichelhafte Bezeichnung für ‘Ali. Lies: Is um 


unelndtia. Eb. 7 1. us. 457 1. kam) würde sie umfassen«. 
461475 esilb. 491s Die Conjectur dreht den Sinn um. Wozu n.4 
gehört ist nicht zu ersehen. Uebrigens fehlt nichts im Text. 5011 


1. Linas cys. Eb. 13 1. wal 5410. Das Metrum Ragaz verlangt 


poss Eb. n. 31. mul. 600 >. Eb. 20 Lan, 624 erstes 


td 


844 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 


Wort 1. „„1. Gegen diese bekannte orthographische Regel verstößt 
Sch. auch sonst allzu oft (s. 6416 712 976 10111 u.s.w.). 67n.2 
und 3 sind umzustellen. 68¢ I]. wJb. 699 Ose Eb. 28 da. 
711 1. a5 ues! seilte ihm entgegen<. 73 u. alasyig. 7816 1. gt. 
834 >. 87 ı7 laa’. 8814 Die LA. al Baihagis ist als pass ai 
wiederherzustellen; de Goeje’s Conjectur gilt für G’s Text. 966 
Haben CL wirklich (452 statt des von Vloten Mab. p. 158 n. k. 
bezeugten und jedenfalls allein richtigen (3542? 972 xt, 9810 
1. Wiel} ohne Hamza. Eb. |. 26 ze iuß. Eb. sfl. Nach b. Qutaiba 


‘Ujan cod. Köpr. 304" ist der Dichter 3,1,; ( JoaiJ. Eb. 1s I. Kn. 
1265 „555. 1291 Das Metrum verlangt St wie bei G. 42s. Eb. « 
Gus. 131 u. Sollten die Hdss. wirklich das unsinnige ‚Axt JNaxt 
Kat vy haben; jedenfalls ist nach G 3916 zu verbessern. 13415 
bed, 13615 oleng Sl. 1435 1. did ohne Tesdid. 1458 pale. 15115 
las. 152: 1. Iai>l; past heißt »weggehn«, Tabari II 4912. 1565 
gb für gib giebt es nicht; 1. adlb. 1599 Kal, 1614 n.1. Die 
LA von CL war beizubehalten. Eb. u. pgslen. 1648 053,6. Eb.» 
SiS. 174 all. 17812 ele 1. ee. 180 18 pes 185 14 tt: 
1865.6 rss Y; es fehit nichts; vgl. Ag. XX 7 11: dap why Gh gy! und 
“Iqd! I 29819, Mubarrad 56315: wh} ¥. 18794) wail, ist ein vollständiger 
Satz, wie in den von Noldeke Zur Gramm. § 42 gesammelten Redensarten, 
in denen ich keine Ellipse sehen möchte. 18817 Lust. 1894 aad gill. 


1907 1. wKmis3 ohne Hamza. 1952 1. any. 20410 all. 221 10 
Die von Sch. gestrichene Negation ist durchaus notwendig; sonst 
müßte es ja .,) MS statt .,J 3! heißen. Der Esel stirbt erst, wenn 
das Futter reif ist, ohne es jedoch genießen zu können. Ebenso 
starb der Kufier, als er grade nach Kermän gekommen war, ehe er 
sich dort hatte bereichern können. 

Die Ausstattung des Buches ist so schön, wie man es von der 
Drugulinschen Druckerei gewöhnt ist. 

Berlin d. 1. Aug. 1900. C. Brockelmann. 


Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen. 


Mai 1901. Nr. 5. 


Ehrhard, A., Die altchristliche Litteratur und ihre Erforschung 
von 1884—1900. Erste Abteilung. Die vornicänische Litteratur. (Straßburger 
theologische Studien hrsg. von A. Ehrhard und E. Müller. I Supplementband). 
Freiburg i.Br. Herder, 1900. XII u. 644 S. 8°. Preis 15 Mk. 


Ein musterhaftes Referat über die gesamte, in den 16 Jahren 
von 1884 bis Mitte 1900 erschienene Litteratur zur Patristik der 
ersten 3 Jahrhunderte, ebenso ausgezeichnet durch Vollständigkeit 
wie durch Klarheit und sachkundiges Urteil. In einer 2. Abteilung, 
deren Erscheinen für das laufende Jahr verheißen wird, soll in glei- 
cher Weise die Forschung der Gegenwart, die den nachnicänischen 
Jahrhunderten der alten Kirche gewidmet ist, beleuchtet werden; 
wie reichhaltig aber der vorliegende Band ist, trotzdem er bereits 
den Kirchenhistoriker Eusebius am Ende und die kanonische Litte- 
ratur des Neuen Testaments am Anfang fortläßt, kann man daraus 
ersehen, daß er von mehr als 2000 Büchern, Abhandlungen, gelehr- 
ten Notizen Kenntnis giebt, übersichtlich auf 10 Abschnitte verteilt, 
von denen der erste, umfänglichste (S. 35—198) die ältesten Denk- 
mäler der altchristlichen Litteratur — apostolische Väter, Apokryphen, 
darunter auch jüdisch-christliche, und gnostische Litteraturwerke — 
zum Gegenstande hat, 2—8, nach einleuchtender Disposition in 35 Para- 
graphen zerlegt, die Kirchenschriftsteller von den ältesten Apolo- 
geten um 130 an bis zu Lactanz, endlich 9 das apostolische Symbol 
und die Anfänge der ascetischen und der kirchenrechtlichen Litte- 
ratur, 10 die Märtyreracten. Vorzüglich versteht es E. bei aller 
Fülle der Einzelheiten seinem Buche doch den Charakter einer fest- 
geschlossenen Einheit zu wahren; in der Einleitung S. 1—34, die 
hier ihren Namen wirklich verdient, erfährt der Liebhaber patristischer 
Studien das für ihn unbedingt Wissenswerte, z. B. über die neuesten 
patristischen Sammelausgaben, den Stand der altchristlichen Dogmen- 
geschichte: auch Desiderata, wie die Errichtung eigner Lehrstühle 
für das christliche Altertum in seinem ganzen Umfange an allen 
Universitäten und, wenn möglich, an den theologischen Fachschulen, 
gelangen zur Erörterung. | 

Gott, gel. Ans, 1001. Nr. 5. 24 


346 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


Die Zuverlässigkeit des Berichterstatters verdient das höchste 
Lob: wo er ein Buch nicht hat einsehen können oder von seinem 
Inhalt nur durch einen Vermittler weiß, notiert er es genau, selten 
ist solche »Unzugänglichkeit« für uns ein Verlust; Baljons griechisch- 
theologisches Wörterbuch würde allerdings E., wenn er es kennen 
gelernt hätte, wohl aus seiner Liste S. 19 gestrichen haben. Daß 
ihm Wichtiges entgangen wäre, habe ich äußerst selten constatieren 
können: allerdings Uhlhorns Artikel über den Diognetbrief in der 
Prot. Realencyclop. IV? von 1898 und die auf Hegesippus, Barnabas, 
Justin, Ignatius bezüglichen Abschnitte in F. J. A. Hort, Judaistic 
Christianity 1894 sowie A. Links Aufsatz über die Dolmetscher des 
Petrus in den Stud. und Krit. 1896 hätten m. E. eine Erwähnung ver- 
dient. Für solche kleinen Lücken entschädigt uns E. aber durch 
Mitteilungen aus noch nicht publicierten Werken, so S. 227, wonach 
W. Widmann wieder einmal die Echtheit des pseudojustinischen Adyos 
mapaverinos tod “EAAnvag »gründlich« nachweisen wird, oder S. 348. 
422 n. 2. — Irrtümliche Angaben wie S. 344, daß Gregor von Nyssa 
— vielmehr Gr. von Nazianz! — mit Basilius zusammen die Philokalia 
componiert hat, begegnen uns ganz vereinzelt, beim Hebräerevange- 
lium S. 140 gehört zu den gesicherten Resultaten No. 2: daß es 
‚ursprünglich in griechischer Sprache abgefaßt ist unter Benutzung 
des Matthäus- und Lukasevangeliums<, No. 7 daß »es von den ka- 
nonischen Evangelien durchaus unabhängig ist<« — für mich ein un- 
lösbarer Widerspruch ! Der Druck ist wunderbar correct, namentlich 
auch in den vielen Zahlen. Namen sind eher einmal falsch geschrie- 
ben, so heißt — natürlich — der berühmte Bibliophile Phillipps S. 2 
n. 2 Philipps; S. 9 Lechner (st. Lechler), S. 74 Hatsch (st. Hatch), 
S. 192 A. F. Brooken (st. A. E. Brooke) und 593 (vgl. 642) Nietzsch 
(st. Nitzsch) gehören in diese Kategorie; 476 n. 1 lies Revue st. Etudes 
und 600 2.5 v.u. doch wol >nicht« statt »nach<? 

Die Sprache des Verf. ist dem Gegenstande gemäß schlicht und 
durchsichtig ; neben seiner Vorliebe für den »letzteren« fallen einige 
Stilfehler unangenehm auf, z.B. S. 596. 598 die »grundgelegten« An- 
lagen resp. Zweige, S. 243 Z. 24 »nachdem< st. da oder seit. Der 
letzte Satz auf S. 122 ist schlechthin unverständlich. — Selbstver- 
ständlich wird Niemand alle Urteile Ehrhards sich ohne Weiteres 
aneignen; während er mir z.B. Autoren wie Nöldechen, Freppel und 
Wehofer stark zu überschätzen scheint, findet in Bezug auf Wrede 
S. 74 oder Kattenbusch S. 509 ff. das Gegenteil statt. Die Censur 
»ungenügend« S. 331 für Weymans Arguınente zu Gunsten Novatians 
als des Verfassers der Batiffolschen »tractatus« ist zu niedrig, und 
gegenüber J. Langen klingt mir der Ton, obschon ich in der Sache E. 


Ehrhard, Die altchristliche Litteratur u. ihre Erforschung von 1884— 1900. I. 347 


beistimme, S. 58 und 172 unangenehm animos. Aber in der Regel 
trifft E. in der Ablehnung von Unwahrscheinlichem, wie in der Zu- 
rückhaltung angesichts von Hypothesen m. E. fast immer das Rechte, 
und mit gediegener Sachkenntnis geht ein gewissenhaftes Streben 
nach Objectivität Hand in Hand. Wertlose Schreibereien könnten 
wol noch häufiger als solche markiert, Hinweise auf der Erledigung 
harrende Arbeiten, wie sie sich S. 312. 530 finden, reichlicher aus- 
geteilt werden: implicite liegen sie für den aufmerksamen Leser 
massenhaft in dem Buche vor. 

Mit dem Wunsche, daß Erhards auch durch das durchweg zuver- 
lässige Namenregister S. 637—44 in Verbindung mit dem Inhalts- 
verzeichnis S. IX— XI das Auffinden jeder Einzelheit äußerst er- 
leichterndes Buch von den Arbeitsgenossen nicht blos gelegentlich 
benutzt, sondern im Zusammenhang studiert werden möchte, würde 
ich meine Besprechung schließen, wenn nicht der Verf. auf S. 592— 
635 einen Abschnitt beigegeben hätte, der als ein donum superad- 
ditum zu betrachten ist, insofern hier E. nicht mehr über fremde 
Leistungen referiert, sondern durch Aufstellung eines neuen Pro- 
gramms und durch methodologische Vorschläge der vornicänischen 
christlichen Litteraturgeschichte die richtigen Bahnen zu weisen 
sucht. Ich fürchtete mich vor diesem »Schluß« zunächst, denn in 
dem ersten, die Jahre 1880—1884 umfassenden Litteraturbericht 
Ehrhards, der 1894 erschien, war »Rückblick und Schlußwort« 
S. 220—230 lediglich geeignet gewesen, den Dank, den sich der 
Schriftsteller durch seine auch dort 'schon fleißige und gediegene 
Berichterstattung erworben hatte, in Widerwillen zu verwandeln; 
denn im Tone der gröbsten Hetzpresse hatte er dort die Auffassung 
der »katholischen Wissenschaft, dieser hehren Tochter der himmlischen 
Weisheit< in ihrem Ausgangspunkt wie in ihrem Ziel der Auffassung 
aller übrigen Mitarbeiter, die er als christus- und kirchenfeindlich 
glaubte charakterisieren zu dürfen, entgegengestellt und angesichts 
patristischer Studien über »widerliches Spiel mit der Wahrheit und 
dem christlichen Volke« unaufrichtige Angriffe auf das Erbe der Väter 
u. dgl. gejammert. Mit Freude stelle ich fest, daß E. in dem neuen 
Buche, gewiß ohne seinen kirchlichen Standpunkt zu verändern, sich 
von solchen Gehässigkeiten völlig frei gehalten hat. Er verleugnet den 
römischen Katholiken nicht, aber gerade sein Nachtrag über »die 
Entwicklungsstadien der vornicänischen Litteratur< beweist, wie wenig 
Anlaß vorliegt bei den patristischen Studien jene confessionellen 
Gegensätze aufzurollen. Die Mangelhaftigkeit der bisherigen katho- 
lischen »Patrologieen« gesteht E. rund zu, m. E. sogar zu scharf in 
Bezug auf Bardenhewer; er ist bereit in die Geschichte der kirch- 

| 24 * 


348 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


lichen Litteratur auch die Reste häretischer Provenienz aufzunehmen, 
und blos aus praktischen Gründen überläßt er die kanonischen Bücher, 
die sonst die erste Hälfte des 1. Teils füllen würden, einer besonde- 
ren Disciplin, der NTlichen Einleitung; er scheut sich nicht den 
doch von einer ökumenischen Synode verdammten Origenes den 
Großen zu nennen, der für alle Zeiten vor dem Vorwurf des Ketzer- 
tums hätte bewahrt bleiben sollen (S. 615); er hat nicht blos von 
Th. Zahn, sondern auch von Overbeck und namentlich von Harnack 
viel gelernt. Seine Vorschläge, die »altchristliche« Litteratur durch 
das constantinische Zeitalter von der im besonderen Sinne »patristi- 
schen« getrennt sein zu lassen und bei der altchristlichen wiederum 
4 Epochen zu unterscheiden, die der christlichen Urlitteratur bis 
etwa 125, die der ersten vom Kampf nach innen und außen leben- 
den Gelehrtenlitteratur 125—198, die der Entstehung einer eigent- 
lichen Wissenschaft in der Kirche 198—260 und endlich das Zeit- 
alter der Origenisten und der ersten Antiochener 260—325, werden 
wissenschaftlich motiviert, obwohl ich eine deutliche Scheidelinie 
nur zwischen der 2. und 3. Gruppe, gar keine zwischen der 3. und 
4. wahrnehme Wenn E. hier u. A. die Kirche in Schutz nimmt 
gegen den Vorwurf, sie habe bewußt die Vernichtung der meisten 
Schätze aus ihrer ältesten Litteratur herbeigeführt, dürfte er sach- 
lich im Rechte sein, ebenso mit seinem Protest gegen die Abfalls- 
und Hellenisierungstheorien in ihrer modernen Zuspitzung. Aber E. 
selber vermag uns auch nur einen interessanten Compromiß zwischen 
geläuterter wissenschaftlicher Einsicht und kirchlichem Vorurteil zu 
bieten. Daß er F. Chr. Baur nicht gerecht wird und dessen groß- 
artige historische Construction einfach auf einen circulus vitiosus 
zurückführt (S. 22), L. Lemme S. 76 zum Repristinator der Baur- 
schen Hauptthese stempelt und S. 502f. den für die patristische 
Forschung wahrlich gleichgiltigen Apostolicumsstreit in der evange- 
lischen Kirche Deutschlands zur Besprechung bringt, mag dem Be- 
rufspatristiker hingehen, — er begiebt sich da auf fremde Gebiete. 
Aber die vornicänische Zeit als »den Höhepunkt der Religionsge- 
schichte der Menschheit darstellend« zu erachten, ihre Schriftwerke 
himmelhoch über alle früheren Litteraturwerke erhaben S. 632 — also 
der erbärmliche Hermas und der dummdreiste Arnobius himmelhoch 
über Plato und Aeschylus! — das sind keine aus der Geschichte ge- 
wonnenen Urtheile, so wenig wie S. 600 der Enthusiasmus für den 
Geistesfrühling und das gewaltig pulsierende Leben in der ganzen 
Kirche des 4. und 5. Jahrh. Die Zumuthung an uns, mit der die viel- 
fachen Hinweise auf die bischöfliche Lehrverkündigung als Hüterin des 
Glaubens, besonders erbaulich in der Entschuldigung der anscheinend 


Ehrhard, Die altchristliche Litteratur u. ihre Erforschung von 1884—1900. I. 849 


zum Monarchianismus neigenden Päpste, S. 634 gekrönt werden, 
wir müßten »den wesentlichen Unterschied beachten zwischen den 
Versuchen, den Inhalt des Christentums durch geistige Arbeit zu er- 
fassen und der autoritativen Vertretung dieses Inhalts selbst durch 
die Träger der kirchlichen Glaubensverkiindigung< ist kein Schutz- 
mittel gegen Harnackschen Radicalismus, sondern eine arge Bloß- 
stellung jener angeblich autoritativ getragenen Glaubensverkündigung. 
Diese kann demnach wie der heilige Stein von Mekka auch ohne 
»geistige Erfassung< behütet werden! 

Welcher Unklarheiten E., der S. 603 ein Dogma vom Neuen 
Testament als Hinweis unbefangener Forschung stolz ablehnt, hier 
fähig ist, ergiebt sich wohl daraus, daß er zwischen »der NTlichen 
Litteratur< und dem ersten sicher datierbaren Schriftstück der nach- . 
apostolischen Zeit, dem ersten Clemensbriefe (nämlich 93—95 von 
E. angesetzt) einen Hiatus von 30 und mehr Jahren klaffen sieht, 
der zu denken gebe! Sofort nachher ist aber von der späten litte- 
rarischen Thätigkeit des Apostels Johannes, der tief in die nach- 
apostolische Zeit hineinrage, dankbare Rede: liegen dessen neu- 
testamentliche Schriften trotzdem auch noch vor dem Hiatus? Und 
wie kann man im Besitz von Evangelium und Apostelgeschichte des 
Lucas, von Marcus-Evangelium, von Hebräerbrief, um alle von Ehr- 
hards S. 603, Z. 4 offen bekannter »Voraussetzung< abweichenden 
kritischen Thesen außer Betracht zu lassen, »ewig beklagen, daß die 
erste Generation von Apostelschülern, die in der Apgsch. und den 
Paulusbriefen genannt wird, keine litterarischen Denk- 
mäler hinterlassen hat? 

So erwarte ich von der »echt kritischen Forschungsarbeit< des 
20. Jahrhunderts nicht wie E. S. 603 für die neutestamentliche Ein- 
leitungswissenschaft eine weitere Annäherung der Schulen. Auch das 
Urteil über das, was genuin-christlich, consequente Fortentwicklung 
der christlichen — in dem »der< liegt die ganze Täuschung — Ge- 
danken und Ideale, Gepräge des wahren Christentums u. s. w. ist, 
wird, wo sich Glaubensüberzeugungen einmischen, immer gebunden 
sein. Gottlob bestätigt Ehrhards neuestes Buch, daß auf weiten Ge- 
bieten ein gedeihliches Zusammenarbeiten möglich ist, ohne daß der 
principielle Gegensatz stets betont werden müßte. Werturteile kön- 
nen schwer allgemeine Giltigkeit erwerben, aber die altchristliche 
Litteraturgeschichte hat mit solchen ziemlich wenig zu thun: wenn 
sie nur erst mehr Thatsachen sicher besäße ! 


Marburg, 3. April 1901. Ad. Jülicher. 


850 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


Mitteilungen aus dem Naturhistorischen Museum in Hamburg. Jahrgang 
XIV—XVI. 2. Beiheft. Hamburg 1897—1899. Preis Mk. 28,50. 

Seit 1883 giebt das Naturhistorische Museum zu Hamburg eine 
Serie zoologischer Abhandlungen heraus, welche hauptsächlich die 
wissenschaftliche Ausbeute der reichen Sammlungen enthalten, die 
jenem Staatsinstitute zuströmen. In den dreizehn stattlichen, bis 
1895 vollständig erschienenen Jahrgängen herrschen anfangs jene 
Aufsätze vor, welche der Fauna von Süd-Georgien nach der Ausbeute 
der deutschen Station 1882—83 gewidmet sind, später die zoologi- 
schen Ergebnisse der Reisen Stuhlmanns auf Sansibar und in Ost- 
afrika. In den jüngsten Heften tritt die von Hamburg aus mit be- 
sonderer Vorliebe gepflegte Erforschung der Antarctis wiederum in 
den Vordergrund durch die reichen Sammlungen, welche Michaelsen 
aus Südpatagonien heimbrachte. Das große und vielseitige Material 
führte namentlich in neuerer Zeit eine Inanspruchnahme auch zahl- 
reicher, auswärtiger Forscher mit sich. 

Die drei mir vorliegenden Hefte zeigen einen sehr mannigfälti- 
gen Inhalt. Mit der Sammlung Dr. Stuhlmanns befassen sich: 
Michaelsen (Hamburg) Terricolen, Kolbe (Berlin) Coleopteren, 
Ehlers (Göttingen) Polychaeten, v. Martens (Berlin) Mollusken, 
May (Jena) Aleyonaceen, Weltner (Berlin) Süßwasserschwämme 
und Cladoceren darstellend. Dazwischen reihen sich Aufsätze von 
Bösenberg (Pforzheim) über die echten Spinnen der Umgebung 
Hamburgs, Michaelsen, welcher weitere Studien an Terricolen 
Ceylons, Celebes, der Südseeinseln und anderer Gebiete der Erde 
veröffentlicht, Pfeffer (Hamburg), der neue Palinuren und Krae- 
pelin (Hamburg), welcher neue Pedipalpen und Scorpione beschreibt 
und zur Systematik der Solifugen beiträgt. Bolau (Hamburg) be- 
schäftigt sich mit den Typen der hamburger Vogelsammlung und 
Sorhagen mit Wittmaaks Biologischer Sammlung europäischer 
Lepidopteren, die einen hervorragenden Schatz des Museums bildet, 
v. Brunn (Hamburg) berichtet über Parthenogenese bei Phasmiden 
auf Grund der Beobachtungen eines überseeischen Kaufmanns, Reh 
(Hamburg) über Untersuchungen an amerikanischen Obstschildläusen, 
May (Hamburg) über das Ventralschild der Diaspinen und die Larven 
einiger Aspidiotus-Arten und endlich beschreibt Breddin (Halle a.S.) 
Hemipteren der Insel Lombok. Es verbietet sich leider, auf alle 
diese interessanten Aufsätze einzugehen, indessen möchte ich einiger 
specieller gedenken. 

Michaelsens Terricolenstudien liefern wichtige Beiträge zur 


Mitteilungen aus dem Naturhistorischen Museum in Hamburg. XIV—XVL2. 351 


Thiergeographie. Die meisten Arten der Erdregenwürmer des tro- 
pischen Afrikas gehören den Endrilini und Benhamini an, welche 
beide characteristisch für dieses Gebiet sind; es ist zweifellos ihre 
Urheimat; wo sie sich sonst auf der Erde finden, wie beispielsweise 
Benhamia bolavi Mchlsn., die in Deutschland, vielen Orten Nord- und 
Südamerikas, Madagascar und Ostindien vorkommt, sind sie durch 
den gärtnerischen Verkehr verschleppt. Während die afrikanische 
Fauna der Erdregenwürmer, abgesehen vom Nordrande, wo sie innige 
Beziehungen zu der europäischen aufweist, ein durchaus eigenartiges 
Gepräge besitzt, zeigen die Wasserregenwürmer, selbst in Central- 
afrika, eine auffallende Verwandtschaft zu denen des malayischen 
Gebietes, der wärmeren Teile Nord- und Südamerikas und Europas. 
In Afrika selbst stimmt, im Gegensatz zur Verbreitung der Land- 
regenwürmer, Unter- und Mittelagypten in Bezug auf seine Wasser- 
würmer mit dem äquatorialen Afrika überein. Es sind diese Befunde 
ein weiterer Beweis für die Verschiedenheit der geographischen Be- 
ziehungen der Land- und Süßwasserbewohner selbst ein und dessel- 
ben Tierstammes. 

Jenem Aufsatze Michaelsens, welcher die Terricolenfauna 
Ceylons behandelt, liegt hauptsächlich das reiche Material zu Grunde, 
welches die Gebrüder Sarasin heimführten. Die Untersuchung der 
Formen ergab das überraschende Resultat, daß mehr als die Hälfte 
der auf Ceylon endemischen Arten einer Gattung (Megascolex) ange- 
hören, deren Hauptwohngebiet der australische Kontinent ist. Die 
ceylonischen sind aber komplicierter gebaut als die australischen. 
Außerdem weist die Terricolenfauna Ceylons auf Beziehungen mit 
Ostindien, Hinterindien und dem malayischen Archipel bis zu den 
Philippinen und Japan hin, so daß Ceylon hinsichtlich seiner Regen- 
wiirmer eine Zwischenstellung zwischen diesen Territorien und Austra- 
lien einnimmt, freilich bedeutend mehr nach Australien gravitiert. 

Die Sammlungen der Dres. P. und F. Sarasin gestatteten 
Michaelsen ferner die Regenwurmfauna von Celebes, einer bekannt- 
lich tiergeographisch hervorragend interessanten Insel, zu studieren. 
Der faunistische Character von Celebes beruht, was die ins Auge ge- 
fate Tiergruppe anbetrifft, auf der Vorherrschaft des Geschlechtes 
Amyntas, denn von den 29 dort nachgewiesenen Arten gehören 27 
zu diesem. Die Amyntas-Arten ergeben eine sehr enge Beziehung 
zwischen Celebes und der kleinen, südlich davon gelegenen Insel 
Djampeja nebst der östlich gelegenen Insel Halmahera samt den nahe 
davon liegenden Inseln Batjan und Ternate. Außerdem »läßt sich 
eine deutliche geographische Beziehungslinie erkennen, die sich von 
Borneo über das Nordgebiet von Celebes nach Sangir erstreckt« 


852 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


und wahrscheinlich nach Norden über Luzon bis in die Philippinen 
hinein fortsetzen läßt. Nicht weniger bedeutungsvoll ist für die fau- 
nistischen Beziehungen von Celebes ein negatives Ergebnis, nämlich 
das Fehlen einer Familie (der Moniligastriden), welche sich von Ost- 
indien und Ceylon, wo sie ihr Hauptquartier hat, einerseits nach 
Birma, andererseits nach Sumatra und Flores und über Borneo und 
die Philippinen bis nach Japan ausdehnt. Wir kommen also schließ- 
lich zu dem Ergebnis, daß die »Wallace’sche Linie« auch für die 
Terricolen zu Recht besteht. Dieser Satz gewinnt noch eine wesent- 
liche Bestätigung durch G. Breddins Abhandlung über die Blatt- 
wanzen der Insel Lombok, jenes Eilandes, an dem die Wallace’sche 
Linie herstreift, dasselbe, wie Celebes, dem australischen Tiergebiet 
zuteilend. Denn aus des Verf. Untersuchungen ergiebt sich, um mit 
seinen eigenen Worten zu reden: »daß die alte Wallace’sche Trenn- 
ungslinie in ihrem südliche Teile eine, wenn auch von ihrem Ent- 
decker in ihrer Bedeutung überschätzte, sicherlich aber unverkenn- 
bare und, ... wie es scheint, uralte Grenzscheide darstellt, die ein 
Gebiet von verhältnismäßig hoher faunistischer Selbständigkeit von 
der westmalayisch-indischen Hemipterenfauna abtrennt«. 

Die Abhandlungen von Ehlers und v. Martens sind in den 
Hamburger Beiheften nur auszugsweise wiedergegeben, da sie bereits 
an anderen Orten veröffentlicht wurden. 

Von allgemeinerem Interesse dürfte der Aufsatz M. v. Brunns 
sein, welcher der Parthenogenese bei Phasmiden gewidmet ist. Diese 
merkwürdige Art der Fortpflanzung durch unbefruchtete Eier 
ist als eine regelmäßige oder gelegentliche Erscheinung, gewisser- 
maßen >eingesprengt< in die zwei-geschlechtliche Fortpflanzung, bei 
Würmern, Krebsen und Insecten bekannt, aber bei den Gradtlüglern, 
zu welchen die Phasmiden gehören, erst von einem deutschen Kauf- 
mann auf Java, Herrn Wolf v. Wülfing entdeckt worden. Es ist 
v. Brunns Verdienst seine Beobachtungen in wissenschaftlicher 
Weise zusammengefügt zu haben. Herr v. W. kaufte auf Java zwei 
gewaltige Phasmidenweibchen oder Gespenstheuschrecken wie wir 
diese Geschöpfe ihres langen, schmächtigen, stabartigen Körpers und 
der immensen, dünnen Gliedmaßen wegen nennen — die Flügel feh- 
len oder sind verkümmert — und züchtete von ihnen vier auseinan- 
der hervorgegangene Generationen ohne die Mitwirkung eines Männ- 
chens. Auch der Nachwuchs waren Weibchen vielleicht mit Ausnahme 
eines Exemplares der zweiten Generation, das aber nicht zur Be- 
gattung kam und bald einging. Aus den gleichzeitigen oder späte- 
ren Beobachtungen verschiedener Entomologen geht hervor, daß die 
Parthenogenese bei mehreren Phasmidenarten existiert, und das Ge- 


Mitteilungen aus dem Naturhistorischen Museum in Hamburg. XIV—XVI. 2. 358 


schlecht in den verschiedenen, aus unbefruchteten Eiern hervorge- 
gangenen Generationen in unregelmäßiger Weise wechselt. Der Nach- 
wuchs kann nur aus Weibchen bestehen oder lauter Männchen vor- 
stellen (wie die Drohnen der Honigbiene) oder es können Männchen 
und Weibchen zusammen auftreten. Indessen scheint die Anzahl der 
sich in parthenogenetischer Fortpflanzung aneinanderreihenden Gene- 
rationen eine geringe zu sein und die Lebensfähigkeit der späteren 
abzunehmen. Die Individuen wurden kleiner und ihre Lebensdauer 
verkürzte sich. Herr v. W. hat sich auch die Frage vorgelegt, wes- 
halb Parthenogenese eintritt. Er geht davon aus, daß die Männchen 
im Kampf ums Dasein gegen die Weibchen im Nachteil sind, weil 
sie fliegen können, die Weibchen aber nicht. Indessen sind die 
Männchen sehr schwerfällige Flieger und werden somit leicht eine 
Beute der Vögel und ihrer anderen Feinde, von denen sie eine große 
Menge haben. Die Weibchen hingegen, welche nur langsam zu krie- 
chen vermögen, verlassen die Blätter und Stengel, an denen sie wei- 
den, und an die sie vorzüglich durch Form und Farbe angepaßt 
sind — nennt man sie doch auch treffend »wandelnde Stengel!« — 
kaum. Hieraus erklärt sich die relative Seltenheit der Männchen; 
und mithin wäre die Erhaltung der Art bedroht, wenn die Fortpflan- 
zung stets an die Begattung gebunden wäre. Die Natur kommt also 
der Erhaltung dieser Geschöpfe zu Hilfe, indem sie für etliche Gene- 
rationen, unbeschadet der Qualität, eine Fortpflanzung lediglich durch 
Weibchen gestattet. 

Wirtschaftliches und biologisches Interesse beanspruchen die 
Untersuchungen von L. Reh an amerikanischen Obstschildläusen, 
welche in der Station für Pflanzenschutz zu Hamburg angestellt wur- 
den. Reh stellte fest, daß für die Einschleppungsgefahr im Wesent- 
lichen nur die San José Schildlaus (Aspidiotus perniciosus Comst) in 
Betracht kommt und nur durch die Einfuhr frischen Obstes ermög- 
licht wird, da bis jetzt an getrocknetem keine Laus gefunden ist, 
»die auch nur einen Zweifel zuließ, daß sie nicht tot seic. Ferner 
dürfte die Einschleppungsgefahr der im Spätherbste ankommenden 
Sendungen eine verschwindend geringe sein, dagegen mit dem be- 
ginnenden Frühjahr wachsen, um von März bis Mai ihren Höhepunkt 
zu erreichen. Durch die Verpackung erscheint die Uebertragung nicht 
gefährlich. Auf faulenden Aepfeln erhalten sich diese Schädlinge an- 
nähernd 3 Wochen am Leben. Im Uebrigen sind sie ziemlich wider- 
standsfähig; z. B. ertragen sie Formalindämpfe, Uebertriefen mit 
Alkohol, Chloroform und anderen, im allgemeinen schädlichen Flüssig- 
keiten und gehen in einer Brütofentemperatur von 45—53°C. erst 
nach 1!/s Stunden zu Grunde. 


Göttingen. Otto Bürger. 





354 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


Gottlieb, Th., Die Ambraser Handschriften. Beitrag zur Geschichte der 
Wiener Hofbibliothek. I. Büchersammlung Kaiser Maximilians I. Leipzig, 
Verlag von M. Spirgatis. 1900 (VI u. 172 S.); 8° Preis Mk. 8.—. 

Ueber den Charakter des vorliegenden Werkes, das auf vier 
Bände berechnet ist (Vorrede S. V), eine deutliche Vorstellung und 
damit die Grundlage zu seiner richtigen Beurtheilung zu geben, ist 
nicht ganz leicht. Es ist weder eine Geschichte der Wiener Hof- 
bibliothek noch ein, etwa mit Untersuchungen über Herkunft und 
Schicksal versehenes Verzeichnis ihrer Handschriften. Zu beidem 
liefert es aber Vorarbeiten, indem die Zusammensetzung und Ge- 
schichte der berühmten Ambraser Handschriftensammlung, 
von welcher ein großer Teil im J. 1665 der kaiserlichen Hofbiblio- 
thek einverleibt wurde, durch alle Stadien auf das eingehendste ver- 
folgt werden soll. Der Verfasser, der übrigens Beamte der Hofbib- 
liothek ist und durch sein Buch über mittelalterliche Bibliotheken 
(Leipzig 1890) sich bereits auf gleichem Gebiete einen Namen er- 
worben hat, giebt selbst a. O. als Zweck seiner Arbeit an, »die ein- 
zelnen Bestände, aus denen sich die alte Hofbibliothek zusammen- 
setzt, übersichtlich vorzuführen«. Nach Behandlung der Ambraser 
Handschriften sind also noch weitere Spezialgeschichten von Samm- 
lungen, die in die Hofbibliothek gelangten, zu erwarten. Wenn dem- 
nach die Wiener Hofbibliothek doch Ziel und ideeller Mittelpunkt 
aller der geplanten Beiträge ist, so darf man die berechtigte Frage 
aufwerfen, ob nicht besser gerade sie von vorn herein zum Gegen- 
stand der Untersuchung und Darstellung gemacht und das was zu 
ibr in allzuloser Beziehung zu stehen schien, in Beilagen oder Zeit- 
schriftenaufsätze verwiesen worden wäre. Gegenwärtig ist zu be- 
fürchten, daß die Behandlung von Stoffen, die nur zum Theil die 
Hofbibliothek betreffen, zum Theil aber außerhalb ihrer Sphaere lie- 
gen, das Interesse an diesem Gegenstand ablenkt und andrerseits 
so umfangreich wird, daß eine zusammenfassende Geschichte dieses 
hervorragenden Institutes, welche gerade wegen der neuen Beiträge 
nach der von Jg. Fr. von Mosel (Wien 1835) wünschenswerth sein 
würde, schon aus Furcht vor vielen Wiederholungen so bald nicht 
zu Stande kommen kann. Wahrscheinlich hält aber der Verf. eine 
neue Geschichte der Bibliothek für entbehrlich und will nur einzelne 
Theile der Sammlung und ihrer Geschichte ergänzend und berichti- 
gend behandeln. Auf die Handschriftenbestände hat er sein beson- 
deres Augenmerk gerichtet, und die Manuscriptenabtheilung der Hof- 
bibliothek, welche mit einem Bestand von etwa 24000 Codices nur 


Gottlieb, Die Ambraser Handschriften. I. 855 


wenigen Bibliotheken an Umfang und Bedeutung nachsteht, verdient 
in der That eine sehr eingehende Berücksichtigung. 

Auch von diesem Standpunkt aus, auf den wir uns mit dem 
Verf. stellen müssen, angesehen, holt das vorliegende Buch sehr weit 
aus. Es enthält im Grunde nur die Vorgeschichte der Ambraser 
Handschriftensammlung; S. 88 ist von dieser (als Sammlung) zuerst 
im Vorübergehen die Rede. Immerhin verträgt sie, die jetzt zwar 
nicht mehr selbständig und nirgends vollständig erhalten ist, wegen 
ihrer Bedeutung auch eine ausführliche Behandlung, zumal wir in 
dieser, während die allerersten Anfänge der eigentlich erst im letz- 
ten Drittel des 16. Jahrhunderts durch Erzherzog Ferdinand begrün- 
deten Sammlung dargelegt werden, zugleich Näheres erfahren von 
den mehr oder weniger tiefen und ausgedehnten litterarischen Nei- 
gungen verschiedener Glieder des Hauses Habsburg. Daß unser 
Buch sich auf eine ganze: größere Sammlung bezieht, deren Bestehen 
sich über mehrere Generationen erstreckte, hebt es heraus vor den 
verschiedenen Einzelaufsätzen, zumal des Jahrbuchs der kunsthistor. 
Sammlungen d. Allerhöchsten Kaiserhauses (Wien 1883), in welchen 
die litterarischen Bestrebungen und Büchersammlungen einzelner 
österreichischer Fürsten oder einzelne Handschriften ihres Besitzes 
behandelt werden, obschon hier wiederum die Ausführung unbestreit- 
bare Vorzüge vor Gottliebs Buche hat’). 

Der Verf. hofft (Vorr. S. V) durch seine Untersuchungen einen 
festen Boden zu gewinnen für unsre Kenntnis von der Entstehung 
und ältesten Geschichte der Hofbibliothek; die bisherige Tradition 
darüber wird als eine »langjährige, unrichtige< bezeichnet. Noch 
bestimmter faßt er S. 122 die »belangreichsten Ergebnisse seiner 
Darlegungen< kurz so zusammen: 

1. »Die Ansicht, daß die von Friedrich III. gesammelten Bücher 
den Grundstock zu einer von Maximilian I. in Wien gegründeten 
Hofbibliothek gebildet hätten, ist aufzugeben. 

2. Nur eine Anzahl von Büchern in Wiener-Neustadt ist 
unter beiden Kaisern nachweisbar. 

3. Diese kamen schon zu Maximilians I. Zeiten in mehreren 
Transporten größtentheils nach Innsbruck, ein Theil 1577 nach 
Prag, ein anderer zwischen 1577—1586 nach Wien in die nunmehr 
schon bestehende Hofbibliotheke. 


1) Die schöne Arbeit von Heinr. Modern, Die Zimmern’schen Handschriften 
der K. K. Hofbibliothek. Ein Beitrag zur Geschichte der Ambraser Sammlung 
und der K. K. Hofbibliothek, aus Bd. 20 des Jahrbuchs (1899), wird wohl erst in 
einem späteren Theile des Gottlicb’scheu Werkes Erwähnung und Beachtung 
finden. 


356 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


Seit welcher Zeit er ihr Bestehen datiert, ist nirgends gesagt 
und läßt sich auch nicht sagen. Die Wiener Hofbibliothek theilt 
darin das Schicksal vieler alter Gründungen gleicher Art. Der Zeit- 
punkt, an welchem die Privatbibliothek des einzelnen Herrschers anfıng 
untheilbarer Hausbesitz zu werden, womit der erste Schritt zum Ueber- 
gang in ein Staatsinstitut gethan ist, läßt sich meist gar nicht fest- 
stellen; die Folgen der Unsicherheit müssen daher, sobald es darauf 
ankommt, wie z. B. bei der ehemals Königlichen Bibliothek in Hanno- 
ver, hinterher vertragsinäßig ausgeglichen werden. Während v. Mosel 
a. QO. S. 4 die Geschichte der K. K. Hofbibliothek mit der Regierung 
Maximilians I. beginnen lässt (1493), führt E. G. Vogel, Literatur 
Off. u. Corporat.-Bibl. (1840) S. 224 nur an, daß sie 1575 »eröffnet« 
sei, ohne Angabe eines Gründungsjahres. In jenem Jahr trat näm- 
lich der Jurist Hugo Blotius an die Spitze der Bibliothek. Diejeni- 
gen welche deren Anfang bereits ins J. 1440 verlegen, stützen sich 
allein darauf, daß Friedrich III. (bez. IV.), dessen Regierung mit 
dem J. 1440 begann, Aeneas Sylvius, den klugen und geistvollen 
Freund der Wissenschaften, in seine Dienste nahm (1442) und viel- 
leicht durch ihn mehrere Handschriften erwarb!). Im neuen Adreß- 
buch d. Biblioth. d. österr.-ungar. Monarchie von Joh. Bohatta und 
Mich. Holzmann (1900) wird S. 290 f. die Frage nach dem Grün- 
dungsjahr nicht aufgeworfen, aber berichtet, daß i. J. 1495 Maximi- 
lian I. dem Conrad Celtes die Aufsicht über seinen Bücherschatz 
übertragen habe. Dieser spricht bereits im J. 1504 von einer bib- 
liotheca . .. . regia (s. Gottlieb S. 32) und mag selbst sich mit der 
Idee einer dauernden, größeren Schöpfung getragen haben, ohne daß 
es zu einer solchen damals gleich gekommen ist. 

Um nun zunächst die Ausführung des besprochenen Planes im 
allgemeinen zu charakterisieren, so ist eine gewisse Breite der Dar- 
stellung, in welcher überdies das mehr oder weniger Wichtige nicht 
einmal durch den Druck unterschieden wird, nicht zu leugnen. Zum 
Theil liegt das am Stoffe selbst und dem Gange der Darstellung, 
der nothwendig einzuschlagen war. Wenn in chronologischer Folge 
Alles was über die Büchersammlungen der einzelnen Glieder des 
Hauses Habsburg an Nachrichten erhalten ist, vorgeführt wird, müssen 
vielfach dieselben Handschriften und Drucke natürlich wiederholt dem 
Leser unter die Augen treten. Ihre Identifizierung sowohl innerhalb 
der abgedruckten alten Inventare wie besonders mit den jetzt noch 


1) Für die unbelegte Angabe älterer Bücher (ähnlich z. B. v. Mosel, Gesch. 
d. Hofbibl. zu Wien, S. 2), daß Friedrich III. dem Aeneas Sylvius den Auftrag 
zur Anschaffung von Ilandschriften oder zur Ordnung seiner Bibliothek ertheilt 
habe, finde ich keine Zeugnisse. 


Gottlieb, Die Ambraser Handschriften. 1. 357 


vorhandenen Manuscripten und Drucken ist oft unmöglich, noch 
öfter sehr unsicher; denn jene Inventare sind keine modernen Hand- 
schriftenkataloge, sondern meist nur schnelle, von unkundiger Hand 
abgefaßte Aufnahmen des Bestandes, welche diesen zunächst vor 
Entfremdung sichern, nicht aber der Welt Kenntnis von dem Inhalt 
und Werthe jedes Buches geben sollten. Die räumliche Zugehörig- 
keit zu einem bestimmt bezeichneten Kasten, einer Truhe u. dergl., 
die heute nicht mehr gilt, genügte damals zur Noth die Stücke zu 
kennzeichnen und vor Verwechselung zu sichern; heute aber können 
wir uns in vielen Fällen kein klares Bild mehr von dem machen, 
was überhaupt im einzelnen gemeint ist. Der Verf. hat vieles zur 
Aufhellung gethan und hätte m. Er. vielleicht statt »lieber weniger 
als zu viel zu geben« (Vorr. S. VI) sogar unsichere Vermuthungen 
— dann aber mit dem Zeichen des Zweifels — aussprechen und 
damit weiteren Forschungen einen Fingerzeig geben sollen; denn 
dem von den Schätzen der Wiener Bibliotheken Entfernten wird eine 
Identifizierung noch weniger möglich sein. Gerade die sehr be- 
schränkte Verwendbarkeit der alten Inventare für Provenienznach- 
weise hätte auch vor ihrer Ueberschätzung bewahren und unter 
anderem dazu führen müssen ihnen schon im Druck eine geringere 
Bedeutung beizulegen. Entbehrliche Wiederholungen enthält z.B. 
auf S. 35 und 58 die zweimalige Beschreibung des Gedenkbuches 
Perpetue Maximilians I. (an erster Stelle hätte ein kurzer Hinweis 
auf die spätere genügt). Als übermäßig umständlich ist ferner S. 12 
Anm. 1 a. E. die »Ergänzung« über Georg Sigfried Zott, den älte- 
ren Besitzer einer benutzten Handschrift zu bezeichnen; S. 125 ff. 
die Beschreibung zweier Codices der Wiener Hofbibliothek; S. 143 
die Erwähnung eines in den Tabulae cod. Vind. fälschlich mit Maxi- 
milian I. in Beziehung gebrachten Codex der Hofbibliothek, da doch 
bereits im gleichen Bande der Tabulae der Irrthum berichtigt ist, 
wie Gottlieb selbst angiebt. Auch das Anführen bekannter Nach- 
schlagewerke wie des Fabricius’ Bibliotheca mit vollem Titel, Druck- 
ort und Jahreszahl (S. 23) rechne ich hierher. 

Mit Erwähnung dieses, so zu sagen redaktionellen Fehlers 
komme ich auf den Hauptmangel des ganzen Buches zu sprechen. 
Eine ungenügende Druckfertigkeit macht sich recht oft bemerkbar. 
Wenn der Verfasser, dessen große Gelehrsamkeit und allgemeine 
Vertrautheit mit seinem Stoffe außer Zweifel steht, sich damit be- 
gnügte Material zu einer künftigen Geschichte der Hofbibliothek, 
also nur Steine zu einem Bau zu liefern, so mußte er diese vorher 
in sauber behauenen Zustand bringen, der den Leser und Benutzer 
des Buches der Mühe überhebt, selbst die Fehler der Ueberlieferung 


858 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


zu verbessern, ihre Lücken auszufüllen, die Erklärung schwieriger 
oder veralteter Wörter sich zu suchen u. dergl. Gottlieb hat gegen- 
über einer scharfen Bemerkung über sein Buch in der Münch. Allg. 
Zeit. von 1900 Beil. No. 64 ebenda in No. 78 sich darauf berufen, 
daß seine Arbeit eine bibliographische sei. Dann mußte er 
aber dessen eingedenk sein, daß man gerade von Bibliographien 
Weglassen des Entbehrlichen, Hervorhebung des Wichtigeren auch 
durch den Druck, Kenntlichmachung wörtlicher Citate, Berichtigung 
des Falschen, knappe Erklärung des Zweifelhaften, kurz eine gute 
Redaktion erwartet. Darin aber leistet das Buch zu wenig. Selten 
wird durch einen erläuternden Zusatz dem Leser die Arbeit abge- 
nommen, die ihm dialektische Wortformen und mangelhafte Ortho- 
graphie oder Interpunktion der alten urkundlichen Texte verursachen, 
und ihn zwingen, anderswoher sich darüber zu unterrichten, wenn 
er nicht aus Ungeduld diese Mühe ganz aufgiebt. 

Doch ich will nunmehr den Gang der Darstellung zu skizzieren 
versuchen und einige Einzelbemerkungen daran knüpfen. Einleitend 
werden (S. 1—24) die litterarischen Neigungen der älteren Habs- 
burger vor Maximilian I. besprochen, soweit sie im Besitz von Büchern 
sich kundgaben. Hier wäre bereits S. 3 Anm. 4 (vergl. S. 20 und 24) 
die Erklärung der Buchstaben O. E. I. O. V., welche Besitzzeichen 
Herzogs Friedrich V., des späteren Kaisers Friedrich HI. sind, am 
Platze gewesen. Es sind die Anfangsbuchstaben seines Wahlspruches, 
doch wird dieser verschieden angegeben, wie sich jene auch ver- 
schieden in sinnreicher Weise ergänzen lassen; vergl. Jos. Chmel, 
Gesch. Friedrich IV. u. s. w. (1840) S. 578f. und Biogr. Lexik. d. 
Kais. Oesterr. VI, 266. Das auf S. 24 als Eintragung einer Hand- 
schrift mitgetheilte Distichon versucht im Hexameter eine Deutung 
der Buchstaben, doch ist er an dieser Stelle fehlerhaft (Zn amor 
electis iustis ordinum ultor). In der bei Chmel a. O. gegebenen 
Fassung wird der Vers berichtigt (en amor ellectis iniustis ordinor 
ultor); Gottlieb aber überlässt es dem Leser, in jenem Verse die 
Beziehung auf Friedrichs Devise zu erkennen, einen Sinn heraus- 
zusuchen und ihn zu verbessern; er begnügt sich damit, Chmels 
Buch zu citieren. — Das S.3 Anm. 4 a. E. erwähnte Stift (»Rewn 
ewer stift vergesset nicht«) ist natürlich das Cisterzienserstift Rein 
(ältere Namensform: Reun), das noch jetzt eine angesehene Biblio- 
thek besitzt. 

Der Haupttheil des Buches (S. 25—122), an den sich ein An- 
hang (S. 123--144) in mehreren Abschnitten und drei — übrigens 
nicht lückenlose — Indices anschliessen, behandelt Kaiser Maxi- 
milians I. Bücher selbst. Lambecks Angaben über das, was sich 


Gottlieb, Die Ambraser Handschriften. 1. 359 


an Handschriften aus der Ambraser Sammlung auf den Besitz jenes 
Kaisers zurückführen läßt, werden in Einzelheiten als irrig erwiesen ; 
sodann wird zur Sache selbst dargelegt, was Maximilian noch bei 
Lebzeiten seines Vaters durch seine erste Frau Maria von Burgund 
sowie durch die zweite, Blanca Maria aus dem Hause der Sforza in 
Mailand, an Codices erwarb, und was vor allem ihm als Erbschaft 
von seinem Vater zufiel. Hiervon blieb ein Theil in Wiener Neu- 
stadt; der werthvollere wurde nach Innsbruck und später nach 
Schloß Taur gebracht. In den etwas jüngeren Inventaren, welche 
der Verf. zum Beleg heranzieht, können indel, wie er selbst hervor- 
hebt, auch Stücke andrer Herkunft stecken. Weiter werden die 
Bücher besprochen, welche auf besonderem Wege in seinem Besitz 
gelangten, zunächst die von Dr. Joh. Fuchsmagen stanımenden 
(S. 46 ff.); die literarischen Reisen, welche im Auftrage des Kaisers 
zur Aufspürung von Manuscripten und andern Seltenheiten unter- 
nommen wurden (S. 49 ff.), seine vier Gedenkbücher, die mancherlei 
Notizen über Bücher enthalten (S.53ff.), und endlich (S. 65 ff.) 
die von ihm zur Herstellung von Büchern ertheilten Aufträge. Den 
Inhalt eines besondern Abschnittes bildet »Die Bibliothek Maximi- 
lians I. zu Innsbruck« (S. 68—109). Von dieser, soweit sie sich in 
einem dortigen Gewölbe befand, wurde bald nach dem Tode des 
Kaisers ein Inventar aufgenommen (um 1525), von dem sich zwei 
spätere Abschriften erhalten haben. Von der einen, Cod. 7999* der 
Wiener Hofbibliothek, etwa aus dem J. 1564, ist die zweite Hälfte 
verloren (S. 71); das erhaltene Stück (W. bei Gottlieb) liefert über- 
dies am ‘Anfang verschiedene für die Geschichte der Innsbrucker 
Büchersammlung bedeutsame Notizen (S. 73). Unabhängig davon 
ist eine andere vollständige Abschrift vom J. 1538 (J), welche Gott- 
lieb so glücklich war im Codex 909 der Innsbrucker Universitäts- 
Bibliothek ausfindig zu machen. L. C. Bethmann war auf einer 
Forschungsreise für die Monumenta Germ. hist. bereits darauf auf- 
merksam geworden, und eine handschriftliche Notiz darüber von 
ihm hatte für Gottlieb einen Fingerzeig gegeben (S. 69f.). Daneben 
muß es wenigstens noch eine dritte Abschrift gegeben haben (S. 71 ff.). 
S. 90—109 folgt ein Abdruck dieses »Inventari<; vorher sind die 
Ergebnisse des Fundes nach verschiedenen Seiten hin dargestellt. 
Trotz einer gewissen Breite — wozu dient z.B. S.81f. die Auf- 
zählung der ausdrücklich als Pergamenthandschriften u. s. w. be- 
zeichneten Nummern, nachdem diese Gruppierung vorher bereits 
besprochen ist und da doch das Verzeichnis selbst noch folgt? —, 
vermißt man in diesem Abschnitte ungern eine Zählung der Bücher 
nach ihrer Sprache. Man findet dabei, daß unter den 329 Nummern 


860 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


des Inventars etwa bei 30 sich die Sprache nicht feststellen läßt 
nach dem Wortlaut der Beschreibung oder weil es sich nur um 
Bilder handelt; daß von den andern aber 170 deutsch, 115 latei- 
nisch, 4 französisch, 3 burgundisch, 1 niederländisch, 3 böhmisch 
geschrieben sind. Das Deutsche bildet somit, abweichend von dem 
Bestande andrer gleichzeitiger Bibliotheken, bei weitem den Haupt- 
theil, und wir dürfen darin eine Bestätigung sehen der Vorliebe 
jenes Kaisers für deutsche Sprache und Kunst; eine Neigung, die 
er übrigens mit andern Fürsten und dem Adel Süddeutschlands 
theilte. | 

Natürlich steht dieser ganze Abschnitt im Mittelpunkt des Gott- 
lieb’schen Buches und ist ohne Zweifel interessant. Leider ist bei 
der Mehrzahl der Nummern des Inventars die Beschreibung, wie 
gewöhnlich, so ungenau (z.B. gleich No. 1: As» teutsche gedruckte 
Bibel in rot gepunden mit mölling [pangen groß und gar dick; 
2: Noch ain foliche), daß es meist ganz unmöglich ist aus ihrer 
Zahl sonst bekannte Handschriften oder Drucke herauszufinden. Von 
Handschriften, die Maximilian I. außerdem besessen, handelt be- 
sonders Anhang V (S. 131 ff). Zuletzt verfolgt Gottlieb (S. 109 ff.) 
noch die Schicksale jener Innsbrucker Bibliothek sowie der damals 
noch bestehenden von Wiener Neustadt in späterer Zeit, wobei der 
Zusammenhang mit der Bücherei Maximilians I. stellenweise ganz 
verloren geht. Aus ersterer kam durch Ferdinand I., aus letzterer 
durch Maximilian II. und Rudolf H. ein Theil nach Wien. Rudolf Il. 
ließ aber außer Akten und Kunstsachen auch Bücher von Wiener 
Neustadt nach Prag bringen (S. 111 ff.); später kamen durch Fer- 
dinand II. wieder manche Biicher und Handschriften aus Prag nach 
Wiener Neustadt. Dies alles wird urkundlich belegt, wenn auch 
öfters die Quellen versagen und der Verf. dann auf Vermuthungen 
angewiesen war. 

Die zusamınenhängende Belehrung über die verschiedenen Wege 
des Erwerbs, der Vererbung und Theilung der Habsburgischen Bücher- 
sammlungen in mehreren Generationen, der Abdruck aller zugehö- 
rigen alten Dokumente und Inventare, darunter einzelner noch un- 
bekannter, die Ermittelung noch erhaltener Handschriften in den 
alten Verzeichnissen und die Berichtigung irriger Ansichten Aelterer 
zur Geschichte einzelner Manuscripte wie natürlich ganzer Samm- 
lungen sind das, worauf der Hauptwerth des Buches beruht. Neues 
bieten vor allem die Inventare S. 15 ff., 36 ff. (im Auszug; ein Aus- 
zug mit mehrfach anderer Auswahl ist im Jahrb. d. Kunsts. Bd. 5 
veröffentlicht), S. 90 ff. (s. oben), S. 112 ff. 123 ff. (Anhang I), die 
Aktenstücke S. 9 ff. u. a, sowie die Mittheilungen aus Handschriften 


Gottlieb, Die Ambraser Handschriften. I. 361 


in Anhang III und IV (S. 127 ff.). An der ersten Stelle (Anhang III) 
berichtet Sebastian Ranck, gen. Greiff, über den ihm vom Kaiser 
Maximilian I. gewordenen Auftrag, die Kirchen und Klöster des 
Reichs nach Büchern über Alterthümer, Geschichte und Naturbe- 
schreibung zn durchforschen, sie abzuschreiben und einzuliefern. 

Der Abdruck der alten Schriftstücke erfolgt, auch wenn frühere 
Veröffentlichungen vorliegen, lobenswertherweise, so weit es anging, 
aus den Originalen. Daß er buchstabengetreu ist bis zur Wieder- 
gabe des langen und kurzen s sowie des v am Anfang und des « 
im Innern der Wörter (vergl. Vorr. S. VI), ist weniger zu billigen. 
Bei der Beschreibung von Wiegendrucken, wo es darauf ankommt, 
den einzelnen Druck von jedem andern, auch von Parallel- und 
Nachdrucken sicher zu unterscheiden, ist für die abgedruckten Wörter 
und Zeilen eine solche Genauigkeit durchaus am Platze, ja unbe- 
dingt zu verlangen. Beim Abdruck von handschriftlichen Stücken 
dagegen, bei denen der Inhalt allein uns interessiert, hat man be- 
reits über gewisse Modernisierungen in der Schreibung und Inter- 
punktion sich geeinigt; da dient die Sorgfalt, mit welcher die alte, 
an sich gar nicht eigenartige oder einheitliche, Schreibung von möjling, 
vnd u.dergl. wiedergegeben wird, nur dazu den Leser etwas aufzu- 
halten'). Uebrigens kommen wesentliche Abweichungen vereinzelt 
selbst in Fällen vor, wo nur eine moderne Quelle abgedruckt worden 
ist; so lesen wir bei Gottlieb S. 31 Anm. 1 aus dem Jahrb. d. kunsth. 
Samml. 1. Bd. 2. Th. S. XXXVIO: »Dazu am Rande von anderer 
Hd. bemerkt. Ist dermassen beschehn und in das vorgemelt gewelb 
kumen«, während im Jahrbuch steht: ... ist dermassen beschehn 
und in beruert gewelb in ain almar dermassen getan und nit auf 
Thaur. Hoffentlich braucht man wegen eines solchen Versehens 
keinen Argwohn zu schöpfen in Bezug auf die Genauigkeit der 
Wiedergabe von Stücken, die sich nicht so leicht kontrollieren lassen. 

Wo aus handschriftlichen Texten nur ein Auszug gegeben wird, 
wie S. 36 ff. aus dem Inventar von 1507 über Bücher und Urkunden, 
die sich in der Burg von Wiener Neustadt befanden, wird man über 
die Grenzen öfters im Zweifel sein können und im allgemeinen lieber 
etwas zu viel als zu wenig annehmen. Daß Fälle hier nicht fehlen, 
wo Ausgelassenes besser mitgetheilt worden wäre, scheint eine Ver- 
gleichung von S. 38 mit dem Auszug im Jahrbuch d. kunsth. Samml. 
5. Bd. (I. Th. S. CXXIII) zu lehren. Die Nummer »Ain scatel darinn 
ain sentbrief von khunig von Partigal an die Römisch khgl. maj. 

1) Ob hierin bei der Abschrift oder dem Abdruck nicht zahlreiche Versehen 
untergelaufen sind, scheint mir zweifelhaft; z.B. steht S.38 im gleichen Text 
wiederholt ge/chriben und geschriben, 8. 37 huebmat/ters und priesterfchafft. 

Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 5, 25 


362 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


der neugefunden insl halben<, durfte schon wegen der Beziehungen 
dieses Stückes zu dem bekannten Columbusbriefe nicht wegbleiben. 
Nicht leicht hat das vom Verf. gesammelte Material ausdrück- 
lich eine falsche Erklärung oder Beurtheilung gefunden; doch fehlt 
es auch an solchen Fällen nicht. So ist z.B. auf S. 17 Anm. 2 in 
dem Verse des Jo. Tiberinus an Sigmund (O dux Tiheutonice decus et 
spes inclyta linguae; aus A. Zingerle, De carmin. lat. saec. 15. et 16. 
[1830] S. 128) Theutomice (= -cae) nicht wohl anders als mit Iin- 
gae zu verbinden. S. 32. 34 haben wir unter erotics libri, welche 
Conrad Celtes ausser griechischen und lateinischen Büchern für die 
Königliche Bibliothek anschaffte, gewiß nicht bloß an orientalische 
Bücher (so Gottlieb), sondern ebenso an italienische, französische, 
auch böhmische u. s. w. zu denken; deutsche mögen freilich im Hin- 
tergrunde seiner Interessen gestanden haben. Recht überzeugend 
ist die Vermuthung (S. 127) nicht, daß in Cod. Vindob. 485 die 
handschriftliche Datierung (Bl. 86a) 1545 für 1455 verschrieben sei. 
Es erhebt sich zunächst die Frage, auf welche bei Gottlieb trotz 
der ausführlichen Beschreibung des Codex keine Antwort zu finden 
ist, ob die Zahl zum ursprünglichen czechischen Text oder zu den 
wesentlich jüngeren lateinischen Unterschriften gehört. Im Inns- 
brucker Inventar (Gottlieb S. 95 no. 80) ist nur von > Behemifcher 
under[chriffts die Rede. Wenn G. den Schriftcharakter der beiden 
Texte für »nicht sehr verschieden< erklärt, so stimmt dazu nicht, 
daß nach ihm selbst die lateinischen Texte »beträchtlich später fallen«. 
Eine photochemische Nachbildung der Zahl und einer Probe der 
beiden Texte wäre hier wohl am Platze gewesen. S. 136 Anm. 2 
ist in den da mitgetheilten Versen des Jo. Mich. Nagonius, >»civis 
Romunus poeta laureatus« (Caesar suscipe candidum volumen, Quod 
mittit phrygius tibt poeta Montes coritios colens et antra) bei cortttos 
nicht mit Gottlieb an Cortana (mit Fragezeichen), sondern wahr- 
scheinlich an Cori, das auf dem Westabhang der monti Lepini bei 
Velletri gelegene Städtchen, zu denken. Auch S. 143 kann ich die 
Nachricht (aus Casp. Bruschius, Monast. germ. cent. I f. 140a), daß 
der Mönch Leonhard Wirstelin, al. Hamaxurgus, librum centum 
diversarum scripturarum ... anno Domini 1522 Divo Maximiliano 
dedicavit, den zur Zeit des Bruschius der Abt noch besaß und ibm 
zeigte, nicht mit G. >unklar und in sich widersprechend< finden. 
Die Widmung galt$ wie das Jahr und das Attribut divus zeigen, 
nur dem Andenken Maximilians, dessen warme Fürsorge für Kalli- 
graphie und schöne Ausstattung von Handschriften und Drucken 
auch noch nach seinem Tode eine Ehrung zu verdienen schien. 
Ferner sind mitunter offenkundige Fehler der Ueberlieferung 


Gottlieb, Die Ambraser Handschriften. I. 868 


unverbessert geblieben; so wenn S. 31 in einer kaiserlichen Instruc- 
tion vom 30. XII. 1500 verlangt wird, man solle gewisse »piiecher 
mitsambt dem pulpret auch auf Thawr fuern und die puecher auf 
das pulpret in ain lustigs (so nach dem Jahrbuch d. kunsth. Samml. 
1. Bd. 2. Th. 8. XXXVI; vergl. oben S. 361) allmar thun und in 
sölher gestalt verwaren lassen, damit die püecher nit verderben u. s.w.« 
Natürlich ist »luftigs«e zu lesen, wie auf S. 35 eine andere Stelle 
ähnlichen Sinnes angeführt wird: »Item, die Lyberey mit lufftigen 
truchn [bei Primisser im Taschenb. f. vaterl. Gesch. 1824 S. 40 liest 
man: truchin) dannen zu richten<. Auf S. 133 ist Z.8 v. u. in dem 
Citat aus einer Wiener Handschrift natürlich transferenda in Latinum 
zu lesen statt in Latium, falls nicht einer der Druckfehler vorliegt, 
die leider ziemlich zahlreich sind. 

Vor allem häufig aber werden Erklärungen zum leichteren Ver- 
ständnis überlieferter Textstellen vermißt, die sich oft durch ein 
einzelnes, in Klammern zugefügtes Wort geben liessen. Z. B. wären 
Manche S. 22 für eine Deutung der Worte Jaro warollo uaralo wyte 
etc.; S. 31 für die der Worte »eu früchten gebracht werden<; S. 64 
des Wortes »(restäch puech« [= Turnierbuch]; S. 124 für den Nach- 
weis des libro ... intitulato Maestro Zoan Berso und (ebd.) der 
lettere impresse de Tobias; S. 144 für die Erklärung des Wortes 
[yxtwis/fien (ndtsch., wohl vom Taufnamen Sixtus) gewiß dankbar. 
S.59 2.19 ist der Sinn der Worte »Ist der Junckfrawen die Fran- 
ckenland ubergeben hat ain gewesen« wohl Manchem dunkel, bis er 
aus einer anderen Stelle (S. 62: »ob Gotbertus der Junnckfrawen vater 
gewesen sey, die Frannckn landt vergeben hat«) ersieht, daß vorher 
ain = Ahn ist. 

Abgesehen von dem was als nächstes und als weiteres Ziel des 
Buches bezeichnet wurde und erreicht ist, lernen wir aus ihm neben- 
bei über das Buchwesen der behandelten Zeiten mancherlei kennen. 
Bemerkenswerth sind so in dem S. 91 ff. herausgegebenen Verzeichnis 
der Innsbrucker Bibliothek aus dem Nachlass Maximilians I. (s. oben 
S. 359 f.) zwei Formatbezeichnungen (neben anderen gewöhnlicher 
Art), »Donatblätter« (die zahlreichen Stellen sind von Gottlieb S. 84 
zusammengestellt) und »Lateinblätter« (No. 105. 115). Die Donatblätter 
sind wohl dem Quartformat der Wiegendrucke annähernd gleich, für 
die andere Bezeichnung hat G. keine Erklärung gegeben und vermag 
ich auch keine zu finden. Die fraglichen Worte (No. 105: Ain gedruckts 
psalterlin mit rot uberzogen von latein plettlein; No. 115: Ain perga- 
meniner geschribner illuminierter Curs de beata virgine in schwars ge- 
punden von latein plettlein) stehn an der Stelle, wo sonst in der Regel 
eine Art Formatbezeichnung sich findet. Man könnte ja daran denken, 

25 * 


364 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


daß zum Einband Blätter mit lateinischem Text verwendet wurden, 
die man vorher, was nicht selten geschah, dunkel gefärbt hatte, 
weil der einfarbige Einband passender schien als die Verwendung 
beschriebener oder bedruckter Makulaturblatter. Dem widerspricht 
aber, daß in Abschrift W das Buch No. 115 durch eine Randbemer- 
kung ausdrücklich als mit Damast überzogen bezeichnet wird. 

Mancherlei fand ich auszusetzen an der Art, wie Gottlieb die 
Aufgabe durchgeführt hat, die er sich gestellt. Die folgenden Theile 
werden ihm bald Gelegenheit geben, zu zeigen, daß er des reichen 
Stoffes auch äußerlich immer fester und sicherer Herr wird, daß er 
seinen Gegenstand, über den voraussichtlich so bald kein Werk 
gleichen Umfangs wird erscheinen können, bis zu einem gewissen 
Grade abschliessend zu behandeln vermag. Hinsichtlich der weiteren 
Arbeitspläne des gelehrten Verfassers dürfen wir uns freuen, daß 
er für eine kritische Ausgabe der mittelalterlichen lateinischen Hand- 
schriftenkataloge seine Kenntnisse und die gewaltige Arbeitskraft in 
den Dienst einer planvoll bestimmten und geleiteten Aufgabe ge- 
stellt hat. 


Göttingen, 28. März 1901. Karl Dziatzko. 


von Meier, E., Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsge- 
schichte. 1680—1866. Erster Band. Die Verfassungsgeschichte. X 566 S. 
Zweiter Band. Die Verwaltungsgeschichte. VIII 647 S. Leipzig, Duncker & 
Humblot 1898 und 1899. Preis 11,60 und 13,40 Mk. 


Im Jahre 1881 bemerkte E. v. Meier in seiner Darstellung der 
»Reform der Verwaltungsorganisation unter Stein und Hardenberg«: 
»Die heutigen Franzosen sind von den Zuständen vor der Revolution 
‘sehr viel besser unterrichtet, als wir von denen vor der Reform«. 
Im Vorwort zu dem vorliegenden Werke meint er, daß dieser Satz 
für Preußen nicht mehr gelte. Wir möchten hinzufügen, daß doch 
auch für die Erforschung der Zustände in den übrigen deutschen 
Ländern in der Zwischenzeit mancherlei geschehen ist. Wir ver- 
danken z. B. viel Aufklärung mehreren von der badischen historischen 
Kommission veröffentlichten Werken, ferner mehreren Arbeiten aus 
der Schule G. F. Knapps, nicht am wenigsten der kleinen, aber 
lehrreichen Schrift von Th. Ludwig »Der badische Bauer im 18. 
_Jahrhundert« (1896)!). Indessen es bleibt richtig, daß man West- 


1) Ueber Wittichs Grundherrschaft in Nordwestdeutschland, s. unten näheres. 
Besonders möchte ich bier auch auf die verfassungs- und verwaltungsgeschicht- 


von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. 365 


und Süddeutschland nicht den gleichen Eifer gewidmet hat wie dem 
deutschen Nordosten. Und da die Litteratur über sie zu wünschen 
übrig läßt, so sind die Eigentümlichkeiten der west- und süddeut- 
schen Territorien dem allgemeinen Urteil noch nicht recht geläufig. 
Es kommt noch immer vor, daß jemand, der Zustände des ancien 
regime schildern will, sein Urteil, ohne es zu wissen, lediglich von 
den nordostdeutschen Verhältnissen abstrahiert'). Unter diesen - 
Umständen begrüßen wir es mit großer Freude, wenn uns, wie 
jetzt von E. v. Meier, eine sehr eingehende Verfassungs- und Ver- 
waltungsgeschichte eines der namhaftesten unter den nichtpreußischen 
Territorien geboten wird. 

Ueber den allgemeinen Nutzen der Beschäftigung mit den Ver- 
hältnissen der älteren deutschen Territorien habe ich mich an an- 
deren Stellen mehrfach geiuGert”). Kürzlich hat Ulrich Stutz‘) 
treffend bemerkt, daß »ohne gründliche Kenntnis der Landesrechts- 
geschichte die deutsche Rechtsgeschichte ein Messer ohne Heft ist«. 
Ich möchte an dieser Stelle noch daran erinnern, daß H. v. Sybel 
schon vor vierzig Jahren in der Münchener historischen Kommission 
den Plan einer Geschichte der baierischen Landesverwaltung in den 
letzten vier Jahrhunderten, mit besonderer Rücksicht auf die Ent- 
wicklung der Preise und Löhne und die hienach zu beurteilende 
soziale Lage der verschiedenen Bevölkerungsklassen, vorgelegt hat‘). 
Man bezeichnet heute in manchen Kreisen Sybel als Vertreter der 
»politischene Geschichte im engsten Sinne des Wortes. Wer seine 
Arbeiten und seinen Entwicklungsgang kennt, der weiß, daß seine 
litterarische Tätigkeit sehr vielseitig und seine Ziele weitausschau- 
ender Art waren. 

In einem so umfassenden Sinne wie Sybel jene Darstellung der 


lichen Partien in M. Ritters Deutscher Geschichte im Zeitalter der Gegen- 
reformation und des dreißigjährigen Krieges hinweisen und zwar um so mehr, 
als sie von Juristen und Nationalökonomen leicht übersehen werden können. Die 
neueste (17.) Lieferung enthält in dem Abschnitt »Neuordnungen in dem Reich 
und den kaiserlichen Erblanden« (S. 170—222) höchst ausgiebige Schilderungen. 
Namentlich die Darstellung der Umwälzung der Verhältnisse in Böhmen, die 
nach dem Siege des Kaisers erfolgte, ist ebenso anschaulich wie lehrreich. 

1) Ich habe mich hierüber schon im Jahre 1890 ausgesprochen. S. meine 
landständ. Verfassung in Jülich und Berg III, 1, S. 8. Vgl. dazu meine Bemer- 
kungen in diesen Anzeigen 1898, S. 927. 

2) Z. B. Territorium und Stadt S. VIII. 

3) Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, germanist. Abt., 
Bd. 20 (1899), S. 840. 

4) Vorträge und Abhandlungen von H. von Sybel, mit einer biographischen 
Einleitung von K. Varrentrapp S. 346 f. 


866 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


baierischen Verwaltungsgeschichte hat E. v. Meier eine Schilderung 
der hannoverschen Verwaltungsgeschichte nicht beabsichtigt. Er 
räumt selbst ein, daß seine Verwaltungsgeschichte »vielmehr die 
Geschichte der Verwaltungsorganisation, teils der Behörden, des Mi- 
nisteriums, der Kammer, der Kriegskanzlei, der Landdrosteien und 
der Aemter, teils der Kommunalverbände, der Städte und der Land- 
gemeinden« sei. Diese Beschränkung des Stoffes wird man ge- 
rechtfertigt finden, wenn man berücksichtigt, daß M. die Verwaltungs- 
mit der Verfassungsgeschichte verbindet. In einem solchen Rahmen 
würde die Hereinziehung der Geschichte der einzelnen Zweige der 
materiellen Verwaltung, wie der Steuergeschichte und der staatlichen 
agrarischen Verwaltung, Ungleichmäßigkeiten hervorrufen. 

Hinsichtlich des für die Darstellung verwerteten Aktenmaterials 
könnte man die Ausstellung machen, daß M. hauptsächlich Akten 
der Centralverwaltung benutzt hat und nicht genug zu denen der 
lokalen Instanzen vorgedrungen ist. Indessen wer wird bei Dar- 
stellungen aus der neueren Geschichte sofort vollständige Verwer- 
tung des Quellenmaterials verlangen! In den meisten Fällen muß 
man, wenn man überhaupt bis zur Darstellung gelangen will, seiner 
archivalischen Arbeit eine mehr oder weniger willkürliche Grenze 
ziehen. Genug, wenn sie so ergiebig gewesen ist, daß man eine 
originale Anschauung von den Dingen gewonnen hat. 

Wenn wir hiermit auf etwaige Lücken, die jemand in M.s Werk 
entdecken könnte, hingewiesen haben, so wollen wir um so ener- 
gischer auf seine großen Vorzüge hinweisen. Zunächst ist M. in 
der glücklichen Lage, die Beobachtungen und Erwägungen des 
Praktikers mit den Studien des Gelehrten zu vereinigen. Vielleicht 
stammt gerade hieraus ein weiterer Vorzug seiner Darstellung. Er 
hat ein lebhaftes Bewußtsein für die Bedeutung des persönlichen 
Elements: er erkennt, daß auch die Verfassungs- und Verwaltungs- 
geschichte, nicht blos die Geschichte der Kriege und diplomatischen 
Verhandlungen persönlich bedingt ist. Die Organisation des Aemter- 
wesens ist nicht blos ein Produkt einer Rechtsidee oder ein Aus- 
druck eines bestimmten Culturzeitalters, sondern in hohem Maße 
und in den verschiedensten Beziehungen von den Zufälligkeiten per- 
sönlicher Antriebe abhängig. Es ist ein charakteristischer Fall, 
übrigens aber blos einer unter vielen, wenn M. Bd. 2, S. 141 (vgl. 
auch S. 78) erwähnt, daß nur unter dem Gesichtspunkt, sum Em- 
pfindlichkeiten zu schonen<, eine Organisationsfrage erledigt wurde. 
Namentlich von dieser Erkenntnis aus widmet er der Frage nach 
den Familien, aus denen sich die Beamten rekrutieren, eingehende 
Aufmerksamkeit. Durch die Berücksichtigung des persönlichen Mo- 


von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. 367 


ments gewinnt die Darstellung wesentlich an Lebendigkeit ; sie hat 
nichts von dem kahl schematischen, das manchen verwaltungsge- 
schichtlichen Arbeiten, die hauptsächlich nur die Amtsordnungen und 
-instruktionen ausschöpfen, anhaftet. Großes Lob verdient es ferner, 
daß M. regelmäßig einen Vergleich der Verhältnisse Hannovers mit 
denen anderer deutscher Territorien, insbesondere Preußens, zieht. 
Und diese Hinweise auf andere Staaten sind bei ihm nicht gelehrter 
Prunk, sondern dienen dazu, die Eigenart des Landes, dessen Ver- 
fassung und Verwaltung er schildern will, wirklich anschaulich zu 
machen. Man hat an den Darstellungen, die die Vorzüge der preußi- 
schen Verwaltung in helleres Licht setzen wollten, es getadelt, daß 
ihnen eine ausreichende Kenntnis der Zustände der anderen Staaten 
fehle). Wenn jetzt M. solchen Anforderungen entspricht, so setzen 
ihn dazu namentlich die trefflichen Arbeiten, die inzwischen über 
die preußische Verwaltungsgeschichte erschienen sind, in Stand. 

Mit den eben hervorgehobenen Vorzügen vereinigen sich Gründ- 
lichkeit der Forschung, Klarheit und Sauberkeit der Darstellung. 
Es giebt Monographien und Abhandlungen, die durch die Lösung 
einzelner wichtiger Probleme aus der neueren deutschen Verfassungs- 
und Verwaltungsgeschichte mehr gewirkt und mehr Aufsehen erregt 
haben. Es giebt auch größere und darum dankbarere Stoffe in der 
neueren Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte als die Zustände 
von Hannover. Allein da der abgeschlossenen Darstellung vor der 
Monographie doch immer ein Vorzug zukommt, so dürfen wir unter 
jenen Einschränkungen M.s Werk wohl als das beste Buch über 
heuere deutsche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte ansehen. 

Ein ausführliches Referat über den reichen Inhalt der beiden 
Binde zu geben, würde viel zu weit führen. Ich begnüge mich mit 
der Namhaftmachung einiger Punkte. 

Im ersten Bande schildert M. in einem ersten Abschnitt die 
Bildung des hannoverschen Landesverbands. Hier und ebenso in 
dem zweiten Abschnitt >der Landesherr und die oberste Landes- 
fegierung«e ist von besonderem Interesse die Beobachtung der Wir- 
kungen, die die Abwesenheit des Herrschers, der während eines 

en Zeitraums ja zugleich König von England war, zur Folge 

. Am meisten Raum nimmt im ersten Bande der dritte Ab- 
“nit »Der Landesherr und die Landstände« ein. In Hannover 
lt die alte landständische Verfassung nicht, wie in andern deutschen 
Territorien, durch den Absolutismus beseitigt worden, vielmehr bis 
tr Einführung konstitutioneller Formen in verhältnismäßiger Kraft 


I) Wagner, Finanzwissenschaft Bd. 8, S. 106. 


868 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


bestehen geblieben. M. hat daher Veranlassung, den ganzen Orga- 
nismus des Ständetums mit seinem Anteil an den verschiedenen 
Zweigen der Verwaltung eingehend zu schildern. Ich bekenne 
dankbar, aus seinen Darlegungen fiir meine Darstellung der deutschen 
landständischen Verfassung (in meinem Buch »Territorium und Stadt« 
S. 163 ff.) Nutzen gezogen zu haben. Seinem allgemeinen Urteil‘) 
über die Bedeutung der alten Landstände vermag ich freilich nicht 
zuzustimmen. Er räumt zwar ein, daß die Stände ein Hindernis 
für schlechte Handlungen des Landesherrn gewesen sind. Aber er 
meint (S. 36), daß »die ständischen Institutionen zu keiner Zeit ein 
treibendes Element in der staatlichen Entwicklung gewesen sind; 
sie haben stets nur retardierend gewirkt«. Dem gegenüber ver- 
weise ich auf meine ausführlichen Erörterungen a.a.0O.*). Doch 
diese Differenz macht im vorliegenden Falle nicht viel aus: mit der 
besten Zeit der ständischen Tätigkeit haben wir es hier jedenfalls 
nicht zu tun®). Sehr wertvoll ist M.s Schilderung des Uebergangs 
vom alten ständischen zum modernen Staat. Dahlmanns Anteil an 
den Verfassungskämpfen wird von M. genauer festgestellt, zugleich 
auch ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte seiner politischen An- 
schauungen (S. 355 Anm. 2) gegeben. Sogleich an dieser Stelle mag 
notiert werden, daß Max Bär in den Mitteilungen des Vereins für 
die Geschichte von Osnabrück, Bd. 24, S. 200 ff. und 251 ff. Stüve 
gegen M.s Vorwürfe in einigen Punkten in Schutz nimmt. In den 
Erörterungen über die Verfassungsreformen stellt M. S. 354 den 


1) Gegen dieses hat sich übrigens schon Rachfahl, Histor. Ztschr. 85, S. 125 
erklärt. 

2) Neuerdings glaubt Wilh. Stolze, Zur Vorgeschichte des Bauernkrieges 
(Schmollers Forschungen XVIII, Heft 4), S. 21 Anm. 1 meinen Satz, daß die 
Landstände mit den Laudesherren zusammen an der Ausbildung des deutschen 
Territorialstaates gearbeitet haben, für Südwestdeutschland bestreiten zu müssen. 
Er stützt sich namentlich darauf, daß hier Landstände erst spät vorkommen. 
Aber sie lassen sich doch selbst nach seinen Kriterien wenigstens seit dem Aus- 
gang des Mittelalters nachweisen, und von da an hatten sie noch genug Gelegen- 
heit, sich an dem Ausbau des Territoriums zu beteiligen. Weiter reichen Stolzes 
Kriterien für die Bestimmung des Alters der Stände nicht aus. Sie brauchen kei- 
neswegs erst seit dem Moment zu existieren, von dem ab cs Berufungsschreiben 
zum Landtag und Landtagsakten giebt; in der älteren Zeit erfahren wir von 
ihnen regelmäßig aus Privilegien und gelegentlichen Erwähnungen. Weun in 
Südwestdeutschland die Territorialbildung unvollkommener als anderswo ist, so 
liegt dies zum großen Teil daran, daß sich hier oft eine Klasse, die Ritterschaft, 
vom Landtag fern gehalten hat. Darin sehe ich eine Bestätigung meines Satzes. 

3) Zu M.s Ausführungen über die lüneburgischen Stände vgl. Adolf Wrede, 
die Einführung der Reformation im Fürstentum Lüneburg (Göttinger Dissertation 
von 1887), S. 25. 


von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. 369 


Satz auf: »Noch niemals hat eine zu staatlicher Macht gelangte so- 
ciale Gruppe im Interesse der Gesamtheit freiwillig verzichtet; es 
sind immer nur Individuen gewesen, welche auf einem idealistischen 
Standpunkte gestanden haben<. Aehnliche Aeußerungen sind ja un- 
endlich oft gefallen. Indessen ich möchte ihre Berechtigung doch 
bestreiten. Die ostpreußischen Großgrundbesitzer waren in den 
40er Jahren des 19. Jahrhunderts in ihrer Mehrheit bereit, wesent- 
liche Stücke ihrer Vorrechte aufzugeben. Es lag nicht an ihnen, 
wenn die von ihnen vorgeschlagenen Reformen einstweilen nicht 
durchgeführt wurden. Im vierten Abschnitt »der Staatsdienst< kommt 
in ganz besonderem Sinne das zur Geltung, was ich vorhin über 
das Interesse bemerkt habe, das M. dem persönlichen Moment ent- 
gegenbringt. Im Hannöverschen Beamtentum herrschte der Adel, 
vermöge der Stellung, die ihm die Landtagsverfassung gab; die 
Arbeit aber fiel bürgerlichen Beamten zu, die nun freilich allmäh- 
lich auch ihrerseits auf Umwegen zu Macht gelangten. »Die üblen 
Folgen zeigten sich nicht blos in dem Herunterkommen des Adels, 
sondern auch im Charakterverderb der Sekretäre« (S. 496). Die 
Familien der »Sekretariokratie< bezeichnet man als die »hübschen« 
oder »schönen Familien<. Zur Familiengeschichte der altadligen, 
der neuadligen und der »schönen« Familien trägt M.s Buch vieles 
bei (vgl. die Zusammenstellung im Personenregister, Bd. 2, S. 642). 
In diesem Zusammenhang giebt M. sehr interessante Erörterungen 
über das Elend der kaiserlichen Adelserhebungen (Bd. I, S. 465 f.). 
‚Niemals in der Welt ist weniger als bei diesen kaiserlichen oder 
reichsvikariatischen Nobilitierungen auf irgend welches Verdienst ge- 
sehen .... Es ist unter diesen Umständen schwer verständlich, was 
es heißen soll, wenn noch heute die Eigenschaft eines Reichsgrafen 
oder eines Reichsfreiherrn in Familien-, namentlich in Todesanzeigen 
hervorgehoben wird<. Dem Vergleich mit den Zuständen anderer 
Länder!), namentlich Preußens, widmet M. in diesem Abschnitt be- 
sonders eingehende Betrachtungen (S. 501). »Der preußische Staats- 
dienst bedurfte der Talente< (S. 505). »Niemals ist in Preußen den 
Adligen vor den Bürgerlichen in gleicher amtlicher Stellung ein 
prinzipieller Vorrang eingeräumt worden< (S. 507). Uebrigens hat 
in Hannover Georg V. »eine gewisse Vorliebe für Bürgerliche ge- 
habt und solche mehrfach in auffallender Weise begiinstigt< (S. 499). 
Anders als mit dem Civildienst verhielt es sich mit dem Militärdienst. 
In diesem galt das bürgerliche Element, auch bei der Kavallerie, 


0) Nur ein lapsus calami ist es zweifellos, wenn M. S. 493 Schimmelmann 
zu den »altadligen« Familien Holsteins rechnet. 


870 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


als gleichberechtigt (S. 501). Es hing dies damit zusammen, daß 
der Civildienst in Hannover größeres Ansehen genoß als der Mili- 
tirdienst. Im übrigen heben wir aus diesem Abschnitt die richtige 
Bestimmung des Wesens der »adligen< und der »gelehrten« Bank 
im Gericht (S. 478 ff.), den Vergleich der Gehälter der hannoverschen 
und der preußischen Richter (S. 524) und namentlich die instruktive 
Schilderung des alten Sportelwesens (S. 524 ff.) hervor. Gerade 
dieses ist etwas, woran uns das alte System recht anschaulich wird). 

Der zweite Band ist ganz der Verwaltungsgeschichte gewidmet 
und stellt in einem ersten, sehr eingehenden, Abschnitt die Cen- 
tralverwaltung, in einem zweiten, kurzen, die Provinzialverwaltung, 
in einem dritten, wiederum sehr eingehenden, die Lokalverwaltung 
dar. Es sind meistens wenig erfreuliche Dinge, die M. hier uns 
vorzuführen genötigt ist; seine Schilderung wird auf viele ernüch- 
ternd wirken. Die Vorzüge der preußischen Verwaltung treten uns 
hier deutlich ins Bewußtsein. Wie in einem Brennpunkt konzen- 
triert sich die preußische und die hannoversche Art in dem Amte 
des Landrats, bez. des Amtmanns. Der Vergleich, den M. S. 412 ff. 
durchführt, ist sehr lehrreich*). Freilich läßt sich wohl einiges, was 
M. nicht dargestellt hat, zu Gunsten der hannoverschen Verwaltung 
geltend machen. Doch müßten wir, um dies zu erläutern, auf die 
materielle Verwaltung eingehen, während M.s Augenmerk auf die 
Verwaltungsorganisation und das Beamtentum gerichtet ist. Aber 
auch in einer Organisationsfrage möchten wir ihr widersprechen. 
Die Lokalverwaltung Hannovers war, wiewohl nicht in allen, so doch 
in vielen Beziehungen vor dem Erscheinen von M.s Werk schon von 
W. Wittich (s. meine Besprechung seines Buches »Die Grundherr- 
schaft in Nordwestdeutschland« in diesen Anzeigen 1898 Nr. 12, 
S. 923 ff.) ausführlich behandelt worden. Gegen dessen Behauptungen 
eröffnet M. eine entschiedene Polemik. Vgl. S. 311, 376—382, 584. 


1) Aus den Erörterungen über den Staatskanzler in Preußen und in Hannover 
(8. 210f.) ersieht man gut, wie dasselbe Amt verschiedenen Zwecken dienen, je 
nach der Persönlichkeit des Herrschers und den allgemeinen Verhältnissen ver- 
schiedene Inhalte haben kann. 

2) 8. auch das Referat in den Forschungen zur brandenburgischen und 
preußischen Geschichte 12 (1899), S. 579 über einen Vortrag E. v. Meiers über 
die in einigen Teilen Hannovers (namentlich im Fürstentum Lüneburg) seit dem 
17. Jahrhundert neben den landesherrlichen Aemtern als Organe der Kriegs- und 
Steuerverwaltung entstandenen ritterschaftlichen Landkommissarien, über deren 
Verwandtschaft mit den preußischen Landräten und über die Frage, wie es zu 
erklären sei, daß die preußische Aemterverfassung immer mehr vor der Land- 
ratsverfassung zurückgetreten sei, während die für eine solche in Hannover vor- 
handenen Keime sich nicht weiter eutwickelt hätten. 


von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. 871 


M. erhebt gegen Wittich namentlich folgenden Vorwurf: »W. schil- 
dert aus seiner theoretischen Betrachtungsweise heraus die Zustände 
des niedersächsischen Mutterbodens in den rosigsten, die des über- 
elbischen Kolonialbodens in den schwärzesten Farben; er ist von 
seinem Standpunkte aus eigentlich inkonsequent, wenn er die Exi- 
stenz einer östlichen Landgemeinde überhaupt zugiebt<. Wir be- 
grüßen jede Arbeit, die geeignet ist, die Legendenbildung über die 
»ostelbischen< Verhältnisse zu zerstören, mit Freuden'). Und so 
verzeichnen wir es dankbar, wenn M. seinen alten) Verdiensten auf 
diesem Gebiet neue hinzufügt. Aber ich glaube, daß M. sich nicht 
an die richtige Adresse wendet, wenn er Wittich angreift. Beide 
Forscher weichen im tatsächlichen gar nicht so sehr von einander 
ab. Es sind nur verschiedene Aussichtspunkte, von denen aus sie 
die Dinge ansehen. Das Verhältnis, das zwischen beiden besteht, 
scheint von der Art zu sein, daß Wittich die Thatsache, daß in 
Hannover adliges Gericht und adliger Grundbesitz sich nicht decken, 
stark betont, während M. umgekehrt darzulegen sucht, daß die 
Adligen dahin strebten, nach Möglichkeit ihre Gerichtsbarkeit über 
ihren ganzen Grundbesitz auszudehnen. Man kann sagen, daß nicht 
blos Wittich, sondern auch M. im Recht ist, wenn er seinen Ge- 
sichtspunkt energisch hervorhebt. Aber das Bild der Vergangenheit 
wird doch erst vollständig, wenn wir uns gegenwärtig halten, daß 
die Adligen jenes Ziel in Hannover nicht erreicht haben. Die Po- 
lemik M.s (S. 376) gegen Wittichs Anwendung des Wortes Selbst- 
verwaltung auf die adligen Gerichte dürfte gegenstandslos sein, weil 
Wittich hier von einem andern juristischen Begriff ausgeht als M. 
Jedenfalls hat er mit der Wahl dieses Ausdrucks kaum etwas zum 
Lobe der hannoverschen adligen Gerichte sagen wollen. Im ein- 
zelnen sei folgendes bemerkt. Seckendorffs Schilderung (M. S. 376) 
kann nicht unbedingt für Hannover in Betracht kommen, da er min- 
destens nicht blos dessen Verhältnisse im Auge hat. S. 378 2.4 
von oben wäre statt »Rittergüter«e »adlige Gerichte« zu sagen. 
S. 381 bestreitet M. Wittichs Behauptung, daß >die Güter der Edel- 
leute neben den Dörfern und neben dem Domänengute im Amtsbe- 
zirke gelegen hatten<. Allerdings »die< Güter nicht; aber ein sehr 


1) Vgl. mein Territorium und Stadt S. 83 Anm. 2. 

2) E. v. Meier, die Reform der Verwaltungsorganisation unter Stein und 
Hardenberg S. 120 ff.; Encyclopädie der Rechtswissenschaft (hrsg. von F. v. Holtzen- 
dorff), 5. Aufl., S. 1175. Vgl. zu diesen Fragen auch Loening, Verwaltungsrecht 
S. 145 und speziell über die südwestdeutsche Landgemeinde Th. Knapp, die vor- 
malige Verfassung der Laudorte des jetzigen Oberamts Heilbronn, Württember- 
gische Jahrbücher 1899, Heft 1. 


872 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


beträchtlicher Teil! Die S. 382 citierte Bemerkung Bülows spricht 
doch für Wittich. Die Privilegierung der Rittergüter in ihrem Ver- 
hältnis zur Gemeinde ist im Osten zweifellos stärker als im Westen. 
Vgl. mein Territorium und Stadt S. 131 Anm. 3. Die richtige Be- 
stimmung der Natur der Gemeindeverfassung und des Verhältnisses 
zwischen Gemeinde- und Gerichtsgrenzen ist natürlich von größter 
Wichtigkeit für die kürzlich mehrfach diskutierte Frage nach der 
Verwertbarkeit der sog. Grundkarten. Ueber Beispiele, daß Ge- 
meindegrenzen von Gerichts- und politischen Grenzen geschnitten 
werden, s. M. S. 322 und 384. Die Tatsachen, welche Fabricius 
soeben im Korrespondenzblatt der Westdeutschen Zeitschrift 1900, 
Sp. 183 ff. konstatiert, liefern doch, wiewohl es Fabricius wohl nicht 
ganz einräumen will, den Beweis, wie berechtigt Seeligers Kritik 
(Historische Vierteljabrsschrift III S. 449f.) an der »Grundkarten- 
forschung< gewesen ist. — M. S.311 Anm. 1 nimmt auch auf Wittichs 
Ansichten über den Ursprung der Grundherrschaft Bezug. Hierüber 
mich zu äußern unterlasse ich, da sie für die Schilderung des Zeit- 
abschnittes, den M. darstellt, gleichgiltig sind. Neuerdings vgl. dazu 
Heck, Die Gemeinfreien der karolingischen Volksrechte (Halle 1900). 
— Zu dem Abschnitt über die Centralverwaltung bemerke ich, daß 
sich M.s Anschauung von dem »völligen Siege« der landesherrlichen 
Gewalt, durch den zu Anfang des 16. Jahrhunderts »jeder Dualismus 
auf den Gebieten der auswärtigen, der Heeres- und der neu ent- 
stehenden innern Verwaltung beseitigt war<, schwerlich halten läßt. 
In Bezug auf die letztere mag sie gelten. Auf dem Gebiete der 
auswärtigen und der Heeresverwaltung hat dagegen, wohl in den 
meisten deutschen Territorien, ein gewisser Dualismus noch das 
ganze 16. Jahrhundert hindurch und teilweise darüber hinaus be- 
standen. S.6 läßt M. »überall in Deutschland« ein Konsistorium 
früher als eine Kammer (für die Finanzen) entstehen. Wohl die 
meisten Territorien haben gar kein Konsistorium erhalten und von 
den anderen vielleicht manche dieses später als eine Kammer. Doch 
solche Ausstellungen sind Kleinigkeiten und kommen gegenüber dem 
schönen und reichen Inhalt, den das Buch auch in diesen Partieen 
zeigt — es sei nur noch!) auf die Erörterung über die Domänen- 
verwaltung und den Einfluß des preußischen Vorbildes (S. 349 ff.) 
verwiesen — nicht in Betracht. 

1) Ucber die Frage, ob und inwiefern die administrative Justiz des 18. Jahr- 
hunderts als eine Verwaltungsgerichtsbarkeit im neueren Sinne, d.h. als eine Ge- 


richtsbarkeit des öffentlichen Rechts betrachtet werden darf, vgl. M. S. 237 ff. 
und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 12, 8. 579. 


Marburg i. H., den 27. Oktober 1900. G. v. Below. 





Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. 378 


Waitz, Georg, Deutsche Verfassungsgeschichte. Sechster Band: = 
Die Deutsche Reichsverfassung von der Mitte des neunten bis zur Mitte des 
zwölften Jahrhunderts. Zweiter Band. Zweite Auflage bearbeitet von Ger- 
hard Seeliger. Berlin. Weidmannsche Buchhandlung 1896. XIV, 625 S. 


Waitz hat auf der Hohe der verfassungsgeschichtlichen Bildung 
seiner Zeit gestanden, als er vor zwei Menschenaltern seine deutsche 
Verfassungsgeschichte unternahm. Er konnte sich an politischem 
Wissen und Verständnis mit Dahlmann und an juristischem mit 
Zöpfl und Zachariae messen; in seiner übrigen historischen Aus- 
rüstung hat er die Mehrzahl seiner Zeitgenossen übertroffen. 

Er war nicht der Meinung, daß die Geschichte eines Staats- 
wesens ohne allgemeine Kenntnis des Staats geschrieben werden 
könne oder daß der Verfassungshistoriker auf einer Stufe der Wissen- 
schaft von den beiden Seiten des staatlichen Lebens, der politischen 
und der rechtlichen, stehen bleiben dürfe, welche die fortschreitende 
Entwicklung hinter sich gelassen habe. Die Politik als Wissenschaft 
ist allerdings seit Waitz wenig und am wenigsten von Deutschen 
gefördert worden, doch ist sie bei ihnen nicht auf die Niedrigkeit 
der Vorlesungen Treitschke’s über Politik zurückgegangen. Das 
Staatsrecht hingegen ist unter stärkerer Betheiligung Deutschlands 
vollkommener geworden, obschon hier der von Albrecht eröffneten, 
von Gerber fortgesetzten und heute von Haenel vertretenen Rich- 
tung eine falsche geschichtslose Jurisprudenz entgegensteht, deren 
Art und Weise durch Rechtsgutachten wie das des Berliner Docen- 
ten Hinschius wider die Privatdocenten in Preußen vom Jahre 1895 
in weitere Kreise gedrungen ist. 

Mit der Fortbildung des Staatsrechts ist die Fähigkeit Politik 
und Recht zu scheiden so gewachsen, daß beide Gebiete auch 
in der Geschichtschreibung eine gesonderte Behandlung erfahren 
werden. Bei der Durchführung der Trennung wird freilich das eine 
im Dienste des anderen als Hülfswissenschaft verbleiben. Und die Ge- 
schichte des Staatsrechts bedarf wohl eines stärkeren Zusatzes von 
Politik, als ihr Mommsen in seinem römischen Staatsrecht hat geben 
wollen; eher könnte ein Politiker Verfassungsgeschichte schreiben, 
ohne mit dem öffentlichen Recht vertraut zu sein. 

Die Verschiedenheit der beiden Geschichtschreibungen würde 
deutlicher vor Augen treten, wenn Waitz Fortsetzer gefunden hätte. 
Juristen mag die Abneigung abgehalten haben sich mit einer Zeit 
zu beschäftigen, in welcher das Öffentliche Recht immer mehr Recht 
ohne Macht und die Verfassungen Formen ohne Lebenskraft gewor- 


374 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


den sind; wo nach Beseitigung der Landstände und der Ertödtung 
‘des germanischen Gedankens der selbstthätigen politischen Freiheit 
nur die Territorialherren als Familienfideikommißbesitzer und eine 
Regierung mit unverantwortlichen Beamten übrig blieben; wo das 
bisher von den Rechtshistorikern vergeblich gesuchte Beispiel von 
Staaten ohne Justiz zu erscheinen begann, in denen die Richter 
durch Ernennung, Beförderung und Entlassung in völlige Abhängig- 
keit von den Herrschenden kamen und das Strafrecht durch die den 
Machthabern zu Gehorsam verpflichteten Staatsanwälte zu einem dem 
Zweck unseres Strafrechts fremden Machtmittel der Politiker wurde; 
wo ein Militärbeamtenstand mit Vorrechten und Bevorzugungen über- 
häuft wurde, weil seine Gunst die Privilegierenden nothwendig 
däuchte, um sie im Genuß ihres Erbrechts zu schützen; wo endlich 
so machtlose Volksvertretungen geschaffen wurden, daß sie keine von 
ihren wenigen Befugnissen gegen die Gewalthaber zu vertheidigen 
vermochten. Ä 

Politische Verfassungshistoriker würden von einer derartigen 
Zeit schwerlich so abgestoßen werden, um sich von ihr abzuwenden, 
sie könnten jedoch nur in einem freien Lande schreiben. Oder 
dürfte bei uns das Öffentliche Leben des 19. Jahrhunderts mit der 
Wahrhaftigkeit geschildert werden, wie es Gregor von Tours im 6. 
‘Jahrhundert erlaubt war? Selbst ein Bischof dürfte bei uns nicht 
so frei erzählen und ein Docent an einer Universität würde Amt 
und Gehalt wagen. Zwar den Staatszuschuß von durchschnittlich 
3000 Mark, wenn sie überhaupt einen empfangen, könnten die mei- 
sten Docenten wohl entbehren, aber sie hängen an ihrem Beruf, so 
sehr er auch unter der Mißachtung der herrschenden Parteien leidet. 
Die feindselige Gesinnung der in Preußen und seinen Nebenländern 
machthabenden Klassen hat bereits einen allgemeinen Verfall der 
Universitäten und des durch sie vertretenen Theils der Civilisation 
zur Folge gehabt. Wir haben keinen Historiker’) und keinen Juri- 
sten ersten Ranges mehr und in anderen Fächern sieht es schwerlich 
besser aus. 

So hat die neue Bearbeitung der Verfassungsgeschichte von Waitz 
auch keinen Historiker vorgefunden, der sich im Zusammenhange 
mit unserem Staate bis in das 12. Jahrhundert oder mit einem größe- 
ren Theile dieser Zeit beschäftigt hätte. Unter solchen Umständen 
war keiner in der Lage die acht Bände oder eine ihrer Abtheilun- 


1) Die drei großen Historiker der römischen Geschichte, der Kunstgeschichte 
und der Religionsgeschichte — in Berlin, Bonn und Göttingen — sind nicht 
Historiker von Fach. Keiner von ihnen ist Preuße von Geburt. 


Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. 875 


gen so zu edieren, daß dem Werke eine wirkliche Verjüngung be- 
schieden würde. Die Herausgeber des 5. und des 6. Bandes haben 
sicherlich große Mühe an ihre Arbeit gewendet. Sie haben ver- 
schriebene oder verdruckte Citate korrigiert, Anführungen nach alten 
Ausgaben durch die neuen ersetzt, einige Irrthümer berichtigt und 
zahlreiche Zugaben aus den Quellen und aus der Literatur geliefert, 
und doch kann sich der Benutzer bei allem Dank für die gebotenen 
vielen Verbesserungen nicht verbergen, daß die zweite Ausgabe den 
heutigen Stand des Wissens nur unvollkommen wiedergiebt. 

Ich unterlasse Zusätze aus meinen vor 20 Jahren bis zum Aus- 
gang des 13. Jahrhunderts gesammelten verfassungsgeschichtlichen 
Materialien, deren einheitliche Bearbeitung ich schon 1881 wegen 
eines meiner Beförderung hinderlichen Beamten einstellen und nach 
dessen Tode in Folge der 1884 eingetretenen Zerstörung meines 
Lebens für immer aufgeben mußte. 

Da ich eine bald nach Erscheinen des 5. Bandes angefangene 
und größtentheils fertige Besprechung bald zu Ende führe, so be- 
merke ich hier nur, daß der Herausgeber den richtigen Grundsatz 
befolgt hat die erste Auflage zu wiederholen, soweit nicht Waitz 
Aenderungen hinterlassen hat. Denn weitere Abweichungen würden 
nothwendig machen zu der alten statt zu der neuen Ausgabe zu 
greifen oder beide neben einander zu lesen. Es würde für viele Be- 
nutzer von Vortheil und für die übrigen ohne Schaden gewesen sein, 
wenn im 6. Bande die erste Auflage in gleichem Maße unangetastet 
gelassen wäre, Die Aenderungen machen nicht selten eine Verglei- 
chung mit der früheren Ausgabe rathsam, die durch Angabe der 
entsprechenden Seitenzahlen erleichtert worden wäre. 

Nachdem der Herausgeber des 5. Bandes von der Bearbeitung 
zurückgetreten ist, ist die Fortsetzung an einen Docenten der histo- 
rischen Hülfswissenschaften gekommen, dessen Name in der Ver- 
fassungsgeschichte kaum bekannt war und auch später wenig und 
nicht immer vortheilhaft bekannt geworden ist. Den Vertretern der 
historischen Hülfswissenschaften ist ein Tübinger Jurist in Erinne- 
rung, welchen sie auf einem Irrgang in ihr Gebiet betroffen haben. 
Möchte Docenten der Hülfswissenschaften nicht das gleiche Mißge- 
schick in der Jurisprudenz widerfahren in dem Glauben, daß die 
Rechtssätze aufhören Gegenstand der Rechtswissenschaft zu sein, 
wenn sie aufhören in Geltung zu sein. 

Die Beigaben der neuen Auflage sind lückenhaft und soweit sie 
nicht wie die Kanzleistudien S. 346 ff. 361 ff. dem besonderen Arbeits- 
felde des Herausgebers angehören, wenigstens theilweise wie zufällig. 
Ich will sie nicht erörtern. Einzelne fehlerhafte Citate sind unbe- 


376 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


richtigt geblieben, z. B. S. 274, 3 Migne 159, 943 statt 934 und 
S. 525, 2 Adam II 25 statt III 25 (Schulausgabe 1876 S. 113 f.). Hin 
und wieder ist auch ein neuer Druck übergangen, z. B. S. 270, 6, 
Stumpf 2043: Fontes rerum Austriac. II 31 S. 78. S. 25, 5 steht 
firma ratione convaluit für f. radice c. in Vita Conradi archiepiscopi 
SS. XI 75, 26. 

Die beiden Versprechungen des zukünftigen Kaisers an die Rö- 
mer S. 240 kennt schon Josippon VI 30 (S. 670 der Ausgabe von 
1707). Da Waitz VI 240, 2 über dieses Buch nur auf Giesebrecht 
verweist, so füge ich einige literarische Bemerkungen hinzu. Der 
Verfasser hat in Italien geschrieben, Fraenkel, Zeitschrift der deut- 
schen morgenl. Gesellschaft L 421 (gegen Gregorovius, Rom IV‘ 
643, 1). Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden? 1892 
S. 159 setzt das Buch unbedenklich in das Jahr 940 und rechnet 
S. 161 das Kapitel 30 des 6. Buches nicht zu den Interpolationen; 
ihm schließt sich in der Datierung an Güdemann, Gesch. der Kultur 
der Juden in Italien 1884 S.41 f. Daß die Abfassungszeit um die 
Mitte des 10. Jahrhunderts nur äußerst geringe Berichtigung erfah- 
ren könne, ist das Urtheil von Steinschneider, Die hebräischen Ueber- 
setzungen des Mittelalters 1893 S. 898. Josippon ist schon von 
Dunash citiert, Neubauer, The Jewish Quarterly Review ed. by Abra- 
hams and Montefiore XI, 1899, S. 357, und zwar nach Munk, Jour- 
nal Asiatique IV 16, 1850, S. 15. 18 im Jahre 955 oder 956; auch 
Karpeles, Gesch. der jüdischen Literatur 1886 S. 432 setzt diesen 
Dunash ungefähr zwischen 900 und 960, vgl. Steinschneider a. a. O. 
Eine zweite chronologische Bestimmung ergiebt eine von Josippon 
benutzte Lebensbeschreibung Alexanders, auf die z. B. Levi, Revue 
des études juives III, 1881, S. 240 (mit weiteren Citaten), Hartwig, 
Centralblatt für Bibliothekwesen III, 1886, S. 165 f. und Winter und 
Wünsche, Die jüdische Litteratur III, 1896, S. 310 sich beziehen; 
nach Winter und Wünsche a. a. O0. wurde diese Alexandersage zwi- 
schen 941 und 965, nach Hartwig in der 2. Hälfte des 10. Jahrhun- 
derts geschrieben. Wie der von Giesebrecht 1836 angeführte Cassel, 
haben auch Vogelstein und Rieger, Geschichte der Juden in Rom I, 
1896, S. 138. 193. 196 die Mittheilungen auf Otto I. Kaiserkrönung 
gedeutet, Rieger S. 193 wegen der Benutzung der nach ihm um 950 
verfaßten Vita Alexandri. 

Um den römisch - byzantinischen Ursprung einiger Benennungen 
abendländischer Fürsten deutlicher als S. 151 ff. hervortreten zu 
lassen, stelle ich Angaben zusammen, bei denen ich des beschränkten 
Raumes halber auf wenige Epitheta und der Zeit nach auf die occi- 
dentalischen Nachahmungen fast nur im 9. Jahrh. eingehe. 


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Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 877 


a deo coronatus magnus pacificus sind die drei Beinamen gewe- 
sen, welche 800 bei Karls Ausrufung als Imperator Verwendung und 
801 Aufnahme in seine Kaisertitulatur gefunden haben. Ludwig I. 
hat aus unbekannten Gründen die Zusätze in seinem Titel aufgege- 
ben und seine Nachfolger haben sich an die von ihm getroffene An- 
ordnung gehalten. Aber durch die Macht der römischen Gewohnheit 
haben die Wörter, nachdem sie aus dem Sprachgebrauch der Kaiser 
verschwunden waren, in Italien, wo sie heimisch waren, fortgelebt'). 

magnus S. 153f., ein großer Herrscher, ist jeder byzantinische 
Imperator gewesen. ueyas Baordevc nannte sich z. B. Constantin IV., 
Mansi XI 196, und das Beiwort »der große« ist dem Kaiser von 
Constantinopel beständig gegeben worden ?). Ein Urtheil über den 
Werth des einzelnen Herrschers enthält das Prädicat nicht; er heißt 
groß nicht wegen persönlicher Vorzüge sondern wegen des Staates, 
den er regiert. Sein Reich ist rö ueyıorov BaaiAsıov, wie Marcian 
an Leo I. geschrieben hat, Leo, Opera I 1753, epist. 73 S. 1018. 

Den abendländischen Kaisern hat die päpstliche Kanzlei magnus 
bewahrt *), zwar nicht stetig, aber doch regelmäßiger als andere 


1) Die drei Bezeichnungen erhalten sich in Litaneien, welche bis in das 8. 
Jahrh., unter Hadrian I. und Leo III., zurückreichen. Die nächste ist eine rö- 
mische um 858, Revue Bénédictine XIV 484 = Grisar, Anal. Rom. I 280, eine 
gleichzeitige bei Goldast, Alam. rer. script. II 1661, S. 186; spätere bei Dunod, 
Hist. de l’&glise de Besancon I 1750, preuves S. VI. Chevalier, Biblioth&que litur- 
gique VIS 368. Vgl. Leges Ila 192,12. Waitz VI 154,6. 

2) Corp. inscr. graec. IV, Ind. S. 58—61. Mai, Script. vet. nov. coll. V 194; 
228. 355. Byz. Synoden 680. 787. 869. 879, Mansi XI 549. 608. 788. 742. 744. 
767. 776. 857. 887. XI 201. XVI 27. XVII 408. 417. 420. 421. 424. 456. 517. 
524. Patriarch Nicolaus I., Epist. 139, Migne, Patr. gr. 111, 364. Petrus Sicu- 
lus, Hist. Manich. c. 2. 22, das. 104, 1241. 1276. Demetrius Chomatianus c. 114, 
Pitra, Anal. sacra Solesm. VI 492. Päpste, Jaffé, Reg. pont.? 2109 f. 2157 f. 2160 f. 
2168. 2174. 2251. 2264 f. 2270 f. 2274. 2276. 2278. 2286. 2291 f. 2307. 2330. 2331 
(als Forme) Coll. Dionys. 12 S. 504,2 Zeumer). 2342. 2346. 2350. 2395. 2448 f. 
(Mansi XII 1075. 1084). 2692; die römischen Synoden 721, 745, Mansi XII 261. 
Epist, III $19, 12. 320,30 und der Eid des Bonifatius 722, Mon. Germ., Epist. IH 
265,8.10. Liudprand, Legatio c. 51. Privaturkunden Cod. d. di Arezzo I Nr. 11. 
Reg. Sublac. Nr. 111. Reg. di Farfa II Nr. 41. Muratori, Ant. III 889. Neap. 
archivi mon. Nr. 4 ff. Gloria, Cod. dipl. Padovano I Nr. 4. 7. 92. Cod. dipl. Ca- 
jetanus I Nr. 2. 5. 12. 14. 19. 21. 26. 81. 33—86. 53. Ughelli, Italia sacra V? 
4. 8687, 882? Capasso, Monum. Neapol. I 266 f. Kukuljevie, Cod. dipl. Croatiae 
I Nr. 104. Cod. dipl. Cavensis I Nr. 103. 131. 142. 178. II Nr. 250. 336. IV Nr. 
64. Morea (unten 8. 388, 2) Nr. 10f. 19. Vulgarius, Poet. Carol. IV 424. 425. 
Dieses Prädicat scheint von orientalischen Fürsten entlehnt zu sein. 

3) Jaffé 2544. 2546. 2549 (echt nach Hacke, Palliumverleihungen 1898 
8.17). 2551. 2658. 2606. 2616. 2653. 2663. 2666. 2668. 2672. 2676. 2718f. 
3033. 3052. 3104. 3109. 3389. 3401. 3429. 3465. 3473 f. 3497. 3611. 3514 f. 3529. 
3533. 3558; vgl. Lib. diurnus 108 S. 137,8. Römische Synode 826 Capit. I 370, 80. 

Gis, gel. Ans. 1901. Mr. 5. 26 


378 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


italienische Documente, in denen nach Lothar I. die Gebräuchlichkeit 
des Zusatzes abnahm '); außerhalb Italiens wurde er selten wiederholt ?). 

Eine bedeutsamere Vorgeschichte als magnus hat pacificus S. 154. 
Sie reicht bis in die Zeit zurück, als die Römer die von ihnen be- 
zwungenen Völker zum Frieden gebracht hatten. populus Romanus 
ad Caesarem Augustum totum orbem pacavit, Florus, Epit. praef. S 7; 
vgl. Wissowa, Röm. Religion 1901 S. 277 f. pace data terris, durch 
die Römer hatte die Menschheit Frieden, Ovid, Metam. XV 832: 
durch sie war auf der gemeinsamen Erde societas festae pacts ent- 
standen, Plinius, Hist. nat. XIV § 2, immensa Romanae pacts matestas 
das. XXVII § 3; zu einer Weltordnung des Friedens, eis xdopoy ef- 
orvns, waren die Nationen vereinigt, Plutarch, Fortuna Rom. c. 2. 
civitas Romana per quam deo placuit orbem debellare terrarum ed in 
unam societatem reipublicae legumque perductam longe lateque pacare, 
Augustin, Civ. dei XVIII 22. Aehnliche Aussprüche bei Aristides, 
In Romam § 103 f. ed. Keil II 122. Eusebius, Laud. Constant. c. 16, 2. 
Themistius ed. Dindorf S. 108, 24 f. Cyrillus Alex., In Esaiam I 2, 
Mich. c. 4, Opera II 38. III 428 ed. 1638; vgl. Laurent, Hist. du 


1) Karl im byzantinischen Sinne magnus imperator z.B. in Risano, Kukul- 
jevid a.2.0. I S.36. LudwigI.: Atto, Epist. V 839,21. Reg. di Farfa II Nr. 210. 
218—215. 218 f. 221 f. 227 f. 232. 240. 251. 253 f. 259. 270. 274. 283 f. Cod. dipl. 
Langob. Nr. 97. Archivio della Soc. Rom. XVI 297 ff. Reg. Sublac. Nr. 55. 
60. Mem. di Lucca IV, Nr. 12 ff.; app. Nr. 15ff., Vp Nr. 393 ff. Muratori, An- 
tig. III 1019. 1021. 1028. Cod. dipl. Langob. Nr. 107. 129. Pippin nennt ihn 
888 magnus Caesar, Bouquet VI 675 (Böhmer 2079), vgl. Capit. II 258, 836. — 
Lothar L: Jaffé 2586. 2618. Cod. dipl. Langob. Nr. 129. 143. 147. 152. 157. 162. 
185. 215. Vita Sergii II. c. 15. Reg. di Farfa II Nr. 240. Kandler, Cod. dipl. 
Istriano 847. Muratori, Antiq. III 1027. Reg. Sublac. Nr. 31. 55. 60. 853, Acta 
deposit. Anastasii, Mansi XIV 1017. Cod. di Arezzo I Nr. 27. Arch. Soc. Rom. 
XVI 301 ff. Ludwig II.: Arch. Soc. Rom. XVI 321 ff. Cod. d. Langob. Nr. 185. 
Reg. Sublac. Nr. 18. 88. 87. Fantuzzi, Mon. Ravennati I 88. Libellus SS. II 
721, 11. Karl II.: electio 876 Capit. II 99, 11 (348, 13). Synode von Ravenna 
877, Mansi XVII app. 174. Karl IIJ.: Reg. di Farfa III Nr. 329. Reg. Sublac. 
Nr. 6. Cod. dipl. Cajet. I Nr.1. Cod. di Arezzo I Nr. 50. Tonini, Rimini II 468. 
Wido: Reg. di Farfa III Nr. 338. Fantuzzi a.a.0. VI 5. Lambert: Fantuzzi I 
94. 96. Reg. Sublac. Nr. 116. Ludwig d. Bl.: Fantuzzi I 102. IV 168. Berengar: 
das. I 112. 114. 116. 117. Hartmann, S. Mariae tabul. Nr. 1. Reg. Subl. Nr. 207. 
Arch. Soc. Rom. XVI 881. Die Langobardenkönige magni 768 Troya IV Nr. 882. 

2) Die Formeln Coll. Havn. 1, Extrav. 1, Zeumer S. 522, 30. 533, 22, welche 
Ludwig I. alle drei Prädicate seines Vaters ertheilen, sind nur Nachwirkungen 
des väterlichen Brauchs und von keiner anderen Bedeutung als die Urkunden, 
welche ihm den vollen Titel seines Vaters gegeben haben. Die Erklärung, daß er 
die übrigen Sterblichen überrage (z. B. Vaissete IIb 125 [Mühlbacher? 686]; 
Form. imper. 17 8. 298, 14), geht nicht auf Vorrang vor anderen Herrschern, 
sondern gilt seinen Unterthanen, wie bei seinem Sohne Ludwig, Escher u. Schwei- 
zer, Urkb. Zürich 1 Nr.111 (Mühlb. 1434), vgl. Capit. II 436, 10. Waitz VI 159, 4. 


Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 979 


droit des gens III 1851, S. 313f. 382 ff. Diese Wirkung des Welt- 
reichs haben seine Angehörigen als das höchste Gut empfunden, 
welches sie ihrem Staat verdankten. Seine Sache war es für den 
Frieden zu sorgen, Theodoretus, Hist. eccl. II 16, 13. Ihn im Innern 
und nach außen zu hüten ist die gemeinnützigste und volksthiim- 
lichste Aufgabe des Imperators geworden, vgl. Epictetus, Dissert. 
II 13, 9. Um diesen seinen Beruf zum Ausdruck zu bringen, sind 
ihm Bezeichnungen gegeben worden, welche den Untergang der rö- 
mischen Welt und ihres Friedens überdauert haben. 

Julius Pollux, Onomast. I 41, nennt als Beinamen des Impera- 
tors elenvixds, eigmvonouds, eipnvopviAckt. Sie sind dem Wächter des 
Friedens des römischen Erdkreises, welcher den Reichsangehörigen 
nicht viel weniger als die Welt überhaupt bedeutete, oft zu Theil 
geworden'). In demselben Sinne, daß paz saecli quam fovet indid- 
gens terrae regnator apertae (Juvencus, Evangel. IV 805 f.) betont 
wurde, war pacificus ein verbreitetes Epitheton des Imperators, das 
der eine oder andere in seinen Titel aufgenommen hat, z. B. Mau- 
ricius (Gregor I., Reg. I 165 S. 22,2 und Mon. Germ., Epist. II 
148, 21) und Justinian II., Mansi XI 737; auch als pacator tritt er 
entgegen?) Er war paz orbis terrarum (Cohen, Monnaies VIII? 413), 


1) elenvexog im Titel eines Kaisers Nov. Coll. I 12. 22, Zachariae, Jus 
graeco-rom. III 24. 34. 680 Mansi XI 201. 697; in der Ueberschrift von Leo, 
Tactica, Migne 107, 672; in den Adressen Theophylactus Simocatta ed. de Boor 
IV 11, 1.8 und 879 Mansi XVII 460. — elonvonouös: 787, 879 Mansi XII 1006. 
XIII 201. 416. XVII 440. 477. 520. In der Acclamation Constant. Porphyr., 
Cerim. II 43 S. 650, 20, in der Anrede das. II 47 S. 685,12. Ferner bei Petrus 
Siculus a. a.0. c. 22 8.1276. — elenvopdiaé: Philo, Leg. ad Gaium § 21 p. 567. 
— Synoden riefen 451,787 weis 7) elonvn rs olnovuesns, Mansi VII 169. XIII 
353. Die Kaiserherrschaft friedet, rae navreyod elenvederar, Socrates, Hist. eccles. 
I 34,9. duds» Paoılele eignvogyos, 821 Mansi XIV 400. Nur der Perserkönig 
erhebt neben dem Imperator der Römer den Anspruch Erhalter des Weltfriedens 
zu sein, &ignvorargıos, 562 Menander fr. 11, Müller IV 209; Chosroes II. eionv- 
doyns, Theophylactus Simoc. IV 8,5 S. 164, 18; vgl. Braun, Das Buch der Syn- 
hados 1900 S. 38. 

2) pacificus ist Gratian, Corp. inscr. lat. VIII 995. Diese Eigenschaft des 
Imperators erwähnen mit demselben Ausdruck Mai (oben S. 377,2) V 228. 
Mansi XI 887. XVI 27. 36. 43. 53. 74. 81; 721 die Synode in Rom das. XII 261. 
Jaffé 2286. Reg. di Farfa, Gloria und Cod. dipl. Cajet. (ausgenommen Nr. 21. 58) 
oben S. 377,2. Ughelli V* 41. 1200. orbis pacalor ist ein Kaiser Corp. inscr. 
lat. II 1669. 1670. 1969. VIIL 1579. 7003. 10072. XII 5549. 5561; fundator 
pacis ebd. VI 1145. 1146. VIII 7008; conservator pacts ebd. IX 5942; conser- 
vator orbis das. V 4319. VI 5, 760*; conservator t(otius orbis) ebd. VIII 7010 mit 
S. 1055. Münzen zeigen ihn gleichfalls als pacator gentium, pacator orbis, Eckhel 
VIII? 547. Cohen VIII? 411. Mit diesen staatlichen Idealen hängen auch reli- 
giöse Vorstellungen der Heiden und der Christen zusammen. elenvaiog ist ein 


26 * 


880 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


mundı servator (Propertius IV 6, 37), nach den Worten eines Dogen 
von Venedig 814—820 conservator totius mundi, Font. rer. Austriac. 
H 12 8. 2. Die Geschichtschreiber achteten auch darauf, ob er dem 
Frieden diene'). 

In diese Vorstellungswelt ist das karolingische Kaiserthum ein- 

getreten. Karl ist nach seinen großen Kriegen Kaiser geworden 
und jetzt schien unter ihm der Friede hergestellt und gesichert, 
welcher seit vielen Menschenaltern seinen Völkern gefehlt hatte. 
Durch sein Kaiserthum ließ Modoin der Welt den Frieden bringen: 
una datur toto requies moderamine mundo, um 805, II 85, Neues 
Archiv XI 89; Karl war paz orbis opima, Hibernicus III 5, Poet. 
Carol. I 399. obit Karolus imperator pacificus, Chron. Moiss. 813 
SS. I 311, 11. IL 259, 40. Aber dieser kaiserliche Weltfriede war 
nicht mehr eine politische Kraft sondern ein überkommenes Attribut, 
welches in den Denkmälern des 9. Jahrh. nach und nach ungewöhn- 
lich wurde. Nur Ludwig I. ist der Titel pactficus bei vielen Zeit- 
genossen, die ja dem antiken Imperium noch nahe standen, verblie- 
ben. Und um 820 schrieb ihm Amalar in byzantinischer Fassung: 
pax mundi vos estis. deus pacificet regnum vestrum. lumina pacis, 
Domine, serva. vita vestra tutela omnium est, Epist. V 259, vgl. 
Mansi XII, 170f. XIII 354. Carm. Cenom. V 31 (Poet. Carol. II 626) 
nannten ihn um 845 puctfer orbis. Ludovicus imperator pacificus 
obiit, Ann. Lob. 840 SS. XIII 232°). 
Epitheton des Zeus, Studemund, Anecdota graeca 1886 S. 265. 266. pacifer ist 
Mars, Corp. inscr. lat. VII 219. IX 5060, Apollo das. VI 37, Hercules das. X 
5885, der ebenso auf Münzen vorkommt (Cohen VIII? 389. 390) wie Mars puca- 
tor, Cohen VIII? 406. Johannes II. gedachte 1126 dem Papste gegenüber rod 
elonvınoö Baoıldog Xoıoroö, Theiner et Miklosich, Monum. ad unionem eccles. 
1872 8. 4; so ist Gott 6 Paaulebg rijg eionvns, Goar, Euchologion*® 733. Ka- 
rolingisch ist Christus rez pacifer, Petrus, Carm. 16, Poet. Carol. I 73, oder rez 
pacificus das. Il 247 wie später bei Thietmar, Chron. IX 17 ed. Kurze, vgl. 
Hrotsuit, Gesta Odd. 17, SS. IV 319. 

1) Aelius Spartianus, Hadrian c. ‚5,1: adeptus imperium tenendae per orbem 
terrurum pact operam intendit. Flav. Vopiscus, Probus c. 1,3: cutus imperio 
ortens occidens mertdies seplentrio ommesqyue orbis partes in totam securitatem 
redactae sunt. Aurelian schreibt bei Flav. Vopiscus, Firmus c. 5,3: pacato un- 
dique gentium toto qua late patet orbe terrarum. 

2) Karl wurde gemäß seinem Titel auch als pacificus angeredet z.B. von 
dem Patriarchen von Aquileja, Epist. IV 537,10, er heißt pacificus bei Hiberni- 
cus V 12, Poet. I 401 und in Privaturkunden, z.B. Mem. di Lucca IVb Nr. 1.3ff. 
Vb Nr. 298. Die päpstliche Kanzlei, die ihn seit Jaffé 2510 so titulierte, hat 
das Beiwort bei seinen’ Nachfolgern im Kaiserthum fortgeführt, Jaffé 2544. 2546. 
2549. 2551. 2558. 2668. 2672. 2676. 2718—2720. 3465. Ludwig I.: Candidus, 
Vita Aegili II 8,1, Poet. Carol. II 100. Reg. di Farfa II Nr. 210. 213—215. 
218f. 222. 227. 232. 240. 253 f. 274. Cod. dipl. Langob. Nr. 97. Archivio della 


Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 881 


Den Glaubenssatz des alten Orients, daß der Staatsgott die 
Staatsgewalt verleihe, haben die Christen sich angeeignet, ehe ihr 


Soc. Rom. XVI 300. 301. 307. 309. Muratori, Antiq. III 1021. 1023. Mem. di Lucca 
TV> Nr. 12 ff., app. Nr. 15ff., V> Nr. 393 ff. — Lothar I.: Kandler, Muratori 
und Mansi ob. S. 378,1. Die Urkunde auf seinen Namen mit pacifico imperatore 
Muratori, Antig. IT 197 (Mühlbacher? 1093) ist Fälschung. Ludwig IL: Cod. dipl. 
Langob. Nr. 198. Fantuzzi I 88. Karl. II.: electio und Mansi oben S. 378,1 
Karl III.: Reg. Sublac. Nr. 6 S. 12. Tonini, Rimini II 468. Wido: Fantuzzi 
VI 5. Lambert: Fantuzzi I 94. 96. Ludwig d. Bl. das. I 102. Berengar das. I 112. 
116. Muratori, Antiq. II 969 (echt?). — Der Sinn von pacificus kann nicht 
aus dem Worte für sich bestimmt werden, vgl. Waitz III 241. Dahn, Könige 
VIII6, 264, 10; im römischen Zuruf 800 gibt Poeta Saxo IV 17 (Poet. Carol. 
IV 46) pacificus mit pacem ferens wieder. Karl hat sich als König nicht so genannt, 
Marini 71 S. 107 ist unecht, Mühlbacher? 340. Hingegen wird er und mancher 
andere Fürst pacifieus nicht in seiner Eigenschaft als Weltherrscher, sondern 
etwa in der biblischen Bedeutung (beats pactfici, Matth. V 9) genannt. So schreibt 
Alcuin 799 und 800 seinem Könige pacifico David regi, epist. 174, 197, Epist. 
IV 288, 1. 325,19 und 798 epist. 186 S. 205,13: vestram pacificam et amabilem 
potentiam. pacificus bei Godescalc, Fardulf I 12 und im Carmen de Carolo et 
Leone 66, Poet. Carol. I 94. 353. 367. Als pacificus belobt Leo III. Karl, Epist. 
V 88, 16} (Jaffé 2515) und Ludwig I. Ermoldus, Hlud. II 60. 108 pacificusque 
ptus; III 111 pactfieus; IIT 119 pace fideque prior; Pippin II 191: pactficus pru- 
dens doctus. Hier ist er pacts amator, Poet. Carol. II 673, 25, pactficus cultorque 
dei, Carmen de exordio Francorum 118, Poet. II 144. Wer mit den Franken 
verbündet ist, lebt pactficeque pie, Ermoldus, Hlud. III 158, das Frankenvolk 
pacem semper umat das. III 155. So predigt Sedulius, De rectoribus christianis 
c. 9, Mai, Spicil. Rom. VIII 27 über den rez pacificus in gloria regni sut. rez 
tustus et pacificus laeta facie bona dividit — iudicio vera tudicia loquitur. — 
Christus paz est et in pace requiescere cupit (Worte des Basilius von Caesarea, 
Admon. c. 5, Migne, Patr. lat. 108,688). porro ubi par est, in disputationibus 
veritas et in operibus suslitia inventtur; S. 28 spricht er von der clementia et pa- 
cifiea serenttas römischer und karolingischer Imperatoren. Unter Karl nach Modoin 
II 94, Neues Archiv XI 90 civtbus una manet cunctis concordia pacis. Die Fried- 
fertigkeit des Fürsten meinen 832 epitaphium Siconis 35, Poet. Carol. II 650: 
pacificus, milis, prudens und 852 epitaphium Radelchis 14 das. II 657: pacificus, 
veraz. So war rex pacificus Karlmann (Regino 880), der Bretonenfürst Alanus 
(de la Borderie, Hist. de Bretagne II 339, 2), Ludwig III., Wolfhard, Mir. 
Waldburg. c. 6 SS. XV 553,5. Ludwig IV. erscheint 938 als pacificus augustus 
invictus rex mit zwei kaiserlichen Beiwörtern, Brucl, Chartes de Cluny I 499 
S. 483 f. — Karolingische Hofdichter haben ihre Herrscher dem Könige Salomo 
gleichgestellt, dessen Eigenschaft als pacifeus Wigbod und Alcuin, Carm. 69, 117 
(Poet. Carol. I 96, 19. 290) schon im 8. Jahrh. und ein Unbekannter 846 das. II 
656, 15 gerühmt haben. Ludwig I. pacificus sapiens Salemonis ad instar, Theo- 
dulf, Carm. 76,13; Lothar I. alter Salemon redolens charisma pacis, Sedulius U 
54, 8; pacificus princeps hie tuus (est) Salemon das. II 59, 26; pactfer ductor Sa- 
lemonis instar, das. Il 60, 18, Poet. Carol. I 577. III 213. 216. 217. Auch ein 
König — Karl Il. — ist pacifer ut Salemon sceptra paterna tenens, pacifer ut 
Salemon regia sceptra tenens, Sedulius II 12,12. 28,52, S. 180. 194. — Die grie- 


382 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


Gott der Gott des römischen Reiches wurde. Den Imperator, be- 
hauptete Tertullian, erwählt unser Gott, er setzt ihn ein: dominus | 
noster elegit, a nostro deo constitutus, Apol. c. 33; Christianus sciens 
a deo suo constitu: (imperatorem), Ad Scapulam c. 2, Migne I 510. 
773. Valerian und Gallien, so lie& Eusebius, Hist. eccles. VII 11, 3 
einen Bischof sagen, sind durch unseren Gott Kaiser geworden, und 
ihm selbst war außer Zweifel, daß er Konstantin die Herrschaft ge- 
geben habe, das. VIII 13,8 und Vita Constantini I 24. 

Seit das Christenthum die Reichsreligion geworden war, hat der 
Glaube, daß der Gott der Christen den Kaiser bestimme, die By- 
zantiner nicht wieder verlassen. Er wurde von Allen angenommen 
und von Vielen laut verkündet. «deus vobis Romanum imperium de- 
dit, sprach die Synode von Aquileja 381 aus, Mansi III 615. Die 
Kaiser selbst theilten diese Ansicht. Marcian bekannte 451: divino 
iudicio ad imperium sumus electi (Spicil. Casin. I 53), durch Gottes 
Vorsehung, Senat und Heer bin ich Kaiser geworden, an Leo lI. 
epist. 73 oben 8.377; Justin I. schrieb 518 an Hormisda, er sei zu- 
nächst durch die Gunst der Dreieinigkeit und sodann durch Palast, 
Senat und Heer gewählt worden, Guenther, Epist. imperatorum pon- 
tificum II 586. Justinian I. schloß sich der Lehre der Kirche in 
seinen Gesetzen an, z. B. De concept. Dig. pr. = Cod. I 17, 1 pr.: 
deo auctore nostrum gubernantes imperium, quod nobis a caelesti maie- 
state traditum est; Cod. VII 37, 3,5 ist er mutu divino Kaiser; 
vgl. Cod. I 27, 2 pr. Nov. 8, edict. pr. Nov. 81 pr. 86 pr. 148 pr. 
163 pr. Konstantin IV. erklirte dem Papst, Gott habe ihm die Herr- 
schaft anbefohlen, Mansi XI 196. Nach Leo, Tactica Epil. 7, Migne 
107, 1077 bestellte Gott den Herrscher, denn er sprach: durch mich 
herrschen die Herrscher. Wahler flehten zu Gott, dem Reiche einen 
Kaiser zu geben, Constant. Porphyr., Cerim. I 92 S. 419, 7. 16 (bei 
Anastasius I.). Schriftsteller der verschiedensten Art sagten dasselbe 
aus. deus fecit imperatorem, Optatus III 3 ed. Ziwsa S. 75, 11; deo 
regnat auctore, Vegetius IL 5; (deus) tabi regna dedit, Priscian, Anast. 6 
(Baehrens, Poet. lat. min. V 265); von ti Peoeddtm cov Paoıdeia 
redete Theodor von Studion in einem Briefe an Irene 801, Epist. I 7, 
Migne 99, 933 und Patriarch Nicolaus I. ließ Gott den Kaiser auf 
den Thron erheben, Epist. 16, vgl. 86, Migne 111, 112 vgl. 292. 
Aber auch die Absetzung eines Kaisers konnte ovv ded geschehen, 
wie Konstans II. anerkannte, Theophanes 342, 16; Irene wurde um 


chischen Kaiser hingegen haben, als sie Ludwig I. 824 mit pacificu gloria und 
als pacificus amteus (Mansi XIV 417. 419) anredeten, ihn sich, den wahren römi- 
schen Imperatoren und Weltherrschern, nicht gleichstellen wollen. 


Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 388 


der Siinden ihrer Unterthanen willen und durch Gottes unerforsch- 
lichen Rathschluß gestürzt das. 476,5f. Denn schlechte Kaiser 
setzte Gott nicht ein, sondern er ließ sie nur zu durch eine Ent- 
scheidung, deren Gründe den Menschen verborgen bleiben das. 412, 
29 f. 439, 15f. Vermittelst einer solchen noch von Johannes VI. 
Cantacuz. III 56 S. 340 f. behandelten Unterscheidung wurde eine 
Entthronung mit dem göttlichen Willen in Einklang gebracht. 

Die kürzeste und sinnfälligste Formulierung der von Gott ver- 
liehenen Kaisergewalt war die, daß Gott die Krone, das Sinnbild der 
Herrschaft, gegeben habe. Diese Fassung hat eine freiere Wieder- 
gabe desselben Gedankens nicht verdrängt!), jedoch im Laufe der 


1) a deo dominationem sortitus, Mansi VII 581. regnum oder imperium 
a deo concessum, 591, Istrische Bischöfe bei Gregor IL, Reg. I 168 8. 18,1. Mansi 
XII 1057. 1076, Jaffé 2448. 680 Mansi XI 660: 6 Baodedoag ce Badg. imperium 
largitus est, Metrophanes von Smyrna, Baronius 870 Nr. 50. a Christo suscipiunt 
imperis dignitatem , Constantin und Irene an Hadrian I., Mansi XII 984. odd 
#e0d Baolets, Theophilus bei Cedrenus II 102,24. Constant. Porphyr., Admin. 
imp. S. 65,4. 67,2f. Du hast mich zum Herrn über deine Geschöpfe gesetzt, 
spricht ein Kaiser zu Gott bei Joh. Mauropus 75,1 S. 38 Lagarde. Nicetas 
Acom. S. 59,3—6. Joh. VI. Cantacuz. III 77 S. 481, 17. IV 2 8. 17,20. nv 
Baoılelav xaga Deod elAnpdhs, Psellus, Epist. 4, Sathas, Bibl. graeca V 227. Die 
Dreieinigkeit gab mir das Imperium, sagt ein Kaiser bei Phrantzes III 11 
8. 306,4 f. Gott hat den Imperator erkoren, electos vos praedestinatione divinitatis, 
Guenther, Epist. Il 595,23 (Jaffé 806), wobei er seine Absicht auch wohl im 
voraus offenbarte, z.B. Nicetas Acom. S. 61; Cedrenus II 192. eleetus a deo et 
purpura ezornatus, Mansi VII 524. electos vos caelesti constat esse tudicio secun- 
dum apostolum dicentem: non est potestas nist a deo, Guenther II 687,3 (Jaffé 
801). Nicht nur der Wille des Volkes habe einen sta deo placitum principem 
zur Herrschaft berufen, te sidi divinus favor ante formaverat, Thiel, Epist. I 877 
(Jaffé 819). det gratia disponente ad culmen impert pervenisse, Gregor I. an Pho- 
cas, Reg. XIII 41 S. 404,5 (Jaffé 1906). deus vos in impertals culmine eligere 
dignatus est, Mansi XV 173. XVI 68 (Jaffé 2692). Gott erwählte ihn wie David, 
Synode 1166 I 1, Mai, Script. vet. nova coll. IV 2. Constant. Porphyr., Admin. 
imp. c. 13 S. 82,14: 6 Beög Baoılda exotnoe. Er ist Heorpnpıorog, 787, 879 Mansi 
XII 1130. XVII 401; Baoılsdvoas yipo Heod, Michael Attal. S. 3,10; yıpo piv 
Peso, wiga dt rg ovyxdtirov, Nicetas, Vita Ignatii, Migne 105, 489. Nicht nur 
po Ge0d, sondern auch durch das Heer, Vita Stepbani jun., Migne 100, 1086. 
Joh. VI. Cantacuz. III 27 S. 169,16 f. wijgm nal Bovdf Bela thw Paaılelav 
&yyeıpıodels, Johannes Docianus, Hopf, Chroniques gréco-romanes 1873 S. 249. 
Basilius I., zum Kaiser ausgerufen, betete: Herrscher Christus, durch deine Ent- 
scheidung habe ich das Imperium erhalten, Theophanes cont. S. 255. Die Herr- 
schaft ist éx ®soö, Tardif, Monum. histor. Nr. 102. Mansi XVI 425. XVII 429. 
468; Romanus I., Jeirlov rijg 'EMadog I 658. II 399. 400. Pitra, Anal. noviss. 
spicil. Solesm., Cont. II t. 1, 474. Petrus Siculus, c. 2, Migne 104, 1241. Joh. 
Mauropus 31,37 S. 17. Miklosich et Müller, Acta graeca IV 330. Vgl. Nice- 
phorus Gregoras II S. 1282. Beödev, Vita Germani Constant. patr. c. 28, Migne 
98, 65. Manuel I. bei Cinnamus III 3 8. 98,24. 824 Mansi XIV 417. 418, 


384 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


Jahre so überhand genommen, daß sie formelhaft geworden ist. Sie 
ist auch in die Kaisertitulatur eingedrungen. 

Die feste Weise, den Kaiser als Hsdorentog!) oder Feosrspns *) 
und a deo coronatus*) zu bezeichnen, geht in frühe Zeit des christ- 


1) Corp. inscr. graec. IV 8658 (Heraclius I.) 8742 (Constantin. I.). Mir. De- 
metrii Thessalon. II 5, 206, Acta SS., October IV 184. Theoguostus an Leo V., 
Cramer, Anecd. Oxon. II 2. Theodor von Studion an Michael II., Epist. II 86, 
Migne 99, 1329. Constant. Porphyr., Cerim. I 9 S.59f. Petrus Siculus a.O. c. 2. 
22 S. 1241. 1276. Joh. Mauropus 125 ed. Lagarde S. 68. Theorianus, Disp. I. 
II, Migne 183, 121. 213. 233; Mai, Script. vet. nova coll. VI 316. 338. Psellus, 
Epist. 3, Sathas, Bibl. graeca V 226. Byzantinische Synoden Mansi XI 549. 608. 
XII 1119. XIII 209. XIV 400. XVI 309. 344. 345. 357. 389. 397. XVII 429. 461. 
1156, Mai, Spicil. Rom. X 58. 83. 1166, Mai, Script. vet. nova coll. IV 37. 54. 
68. 69. 1169 Mansi XXII 37. 40. Vgl. Du Cange, De numismat. § 37, ed. Favre 
X 136. Daß Gott ihn krönte, sagen von dem Kaiser ohne jene Formel aus 
Mansi VII 595 (a deo infulas imperiales adeptus). Mansi XI 201. 718. Patriarch 
Nicephorus, Mansi XIV 56. 879, Mansi XVII 432. Joh. Catholicus, Hist. d’Arménie 
c. 101. 107 trad. 1841 S. 266. 270. Michael Attal. S. 4, 21. Constant. Porphyr a, 0. 
Joh. Mauropus $1, 56. 54,115 S. 17. 31. Johannes II., Berichte der sachs. Ges, 
der Wissensch., phil.-hist. Cl. XIII 19 Vers 10. Vgl. Ducas c. 5 S. 23,21 über 
die Anwendung auf einen Ausländer. Gott ist orspoöörns, Ignatius, Vita Tarasii 
212>,11 her. von Heikel, Acta soc. scient. Fennicae XVII 411 (Acta SS., Februar 
III 584 § 33). 6 gersroorepns nuwv Baoleds, Mir. Demetrii Thessalon. II 4, 191, 
October IV 175. orépavog é Sc00, Ermahnungsschrift bei Migne 107, XXXII. 
Gott gab das Scepter, Ignatius, Vita Nicephori c. 10, Migne 100, 52; Vita Josephi 
Hymn. c. 28 das. 105, 968. Vgl. Nicolaus I, Epist. 156, Migne 111, 385. He- 
lena heißt Hedorsnros, Corp. inscr. graec. IV 8742. Theophanes 26, 4; Irene 787, 
Mansi XII 1114. XIII 1. 157. 204. 364. 369. 413; Eudocia das. XVII 432. #s0- 
orente ist die gekrönte Kaiserin anzureden, Titularbuch bei Migne 107, 408. 

2) 616 Heraclius, Greek papyri in the British Museum ed. by Kenyon II S. 324, 
vgl. I S. 222. 787 Mansi XII 1130. Photius, Nomoc., Migne 104, 976. Patriarch 
Nicolaus I, Migne 111,169. 184. 189. 285. 308. 309. 864. Genesius S. 114, 21. 
Anna Comnena XIII 12 S. 328, 2 ed. Bonn. Theorianus, Disput. I, Migne 133, 121. 
1156 Mai, Spicil. Rom. X 62. 86. 1166, Mai, Script. vet. nova coll. IV 37. 91. 
Theodorus Hyrtacenus, Notices et extraits V (1798) S. 723. 724. Im Titel nen- 
nen sich so Manuel I. (Theorianus, Disput., Migne 133, 120. 233; Mai, Script. vet. 
nov. coll. VI 314. 338), Isaac II., Miklosich et Müller, Acta graeca III 1. 24. 37), 
Alexius III. das. III 46. Justinians Gemahlin Theodora ist Beoorepns, Corp. 
inscr. graec. 1V 8639 und desgleichen Anna, die Gattin Andronikus II., Nice- 
phorus Gregoras II S. 1282. 

3) Leo I, Mansi VII 552. 553. 555. Phocassäule, Corp. inscr. lat. VI 1200. 
666 spricht Constans II. von a deo coronatis filiis, Script. rerum Langob. 351, 45. 
Anastasius, Passio Cyri et Johannis c. 14, Mai, Spicil. Rom. IV 261. 681, 869 
Mansi XI 887. XVI 27. Zugleich mit a deo electus das. XI 778. 798. 857. 882. 
889. 892. 894 f. Die Privaturkunden Arezzo, Reg. Subl., Farfa, Muratori, Gloria, 
Cod. dipl. Cajet. (ohne Nr. 2. 53), Ughelli, Kukuljevid und Jaffé Nr. 2110 bis 2449 
oben S. 377,2; Neap. archivi mon. II Nr. 108f. 114. Die römische Synode 721 
S.377,2. Mai ob. 379,2. Der Eid des Bonifatius, Epist. III 265, 8. Lib. diurn. 73. 85 


Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 385 


lichen Römerreiches zurück und hat bis zu seinem Untergange be- 
standen. Noch ein Titularbuch des 15. Jahrhunderts schrieb vor, den 
Kaiser Hedorente anzureden, Migne 107, 405. 

Daß ihr Gott den Imperator auserwähle, hatten die Römer ge- 
glaubt, ehe sie an einen karolingischen Imperator dachten. Sie 
änderten ihre Ansicht nicht, als sie Karl erkoren. Indem sie ihn 
als a deo coronatus ausriefen und indem er sich so betitelte und 
seine Nachfolger von anderen so betitelt wurden, galt es nur ein 
überliefertes Prädicat auf den Imperator aus karolingischem Ge- 
schlechte anzuwenden, ohne mit dem Epitheton — sowenig als mit 
magnus und pacificus — einen neuen, abendländischen Gedanken zu 
verbinden und zum Ausdruck zu bringen '!). Auch nach Karl haben 
die Karolinger und ihre Franken keine eigenartige Auffassung von 
dem Verhältnis ihrer Herrschaft zu Gott ausgebildet. Weder der 
Unterschied, daß sie das Imperium als göttliche Veranstaltung und 
das Frankenreich als Menschenwerk ansahen, noch der Gegensatz, 
daß sie die kaiserliche Gewalt durch eine Handlung des Imperium 
und die königliche Gewalt durch Erbrecht erwarben, hielt sie und 
ihre Zeitgenossen ab, den König in seiner Beziehung zu Gott dem 
Imperator gleichzustellen. Zwar war a deo coronatus nur bei dem 
Kaiser üblich *), jedoch nicht um seine besondere Verbindung mit 


8.73,9. 109, 13. — divinitus coronatus et a deo electus Mansi XI 737 f. 742. 744. 776. 
171. — a deo coronatus betitelt sich Alexius IV. 1203, Font. rer. Austriac. II, 
12 8. 496; divinitus coronatus Manuel I., Radulfus de Diceto ed. Stubbs II 418; 
‘nn, Stad, 1179 SS. XVI 349,18. Isaac II., Ansbert, Fontes I 5 S. 38. Alexius 
IL 1199, Innocenz IIL, Reg. II 210 (Migne 214, 765). Michael VIII. 1277, Font. 
Ter. Austriac. II 14 S. 134. 

1) Phillips, Kirchenrecht III 55 erklärte a deo coronatus 800 und divino 
"su coronatus 801 Capit. I 204,27 aus Karls Willen das Kaiserthum aus den 
Hinden des Stellvertreters Christi (was übrigens der Papst in diesem Sinne im 
J. 300 noch nicht war) zu empfangen. Docent W. Uhl, Der Kaiser im Liede 
189 3. 14 hat den Aberwitz oder Unfug begangen Königsbergern vorzureden, 
daß Leo II, indem er Karl mit der Krone schmückte, den Begriff des Kaiser- 
tkams von Gottes Gnaden schuf. — Alcuin schrieb 798 a deo coronato regi 
eiva im Anschluß an Hadrian I. Litanei und gleichbedeutend 798 a deo electo 
reg. epist. 149. 148. S. 242,4. 237, 27. a deo coronato datiert die Fälschung 
Epit. III 96, 32 f. (Jaffé 2412). Paulinus von Aquileja an Karl 791 divina coro- 
sanle clementia regs, Epist. IV 517,4. 813 gegenüber Michael I. bediente sich Karl 
tur der Worte divina largiente gratia imperator ohne seine sonstigen Epitheta, 
Spist. IV 556, 1. 

2) a deo coronatus in Jaffé oben S. 377,83 und 2587. 2952. 3110. 3499. 3532. 
fone. Rom. ebd. — Ludwig I. Reg. Subl., di Farfa — ausgenommen Nr. 251 
= und Mem. di Lucca oben S. 378,1. Arch. della Soc. Rom. XVI 297 ff. Mu- 
fori, Antiq. III 1021. 1023. Wartmann, Urkb. St. Gallen I Nr. 214. Amalar 





986 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


Gott auszusprechen, sondern weil im 9. Jahrh. keine Ursache ge- 
geben war, von der hergebrachten Formel abzuweichen'). In den 


an Ludwig I. um 820, Epist. V 257, 32. Lothar I. bei Kandler, Muratori, Reg. Subl., 
Mansi, Arezzo oben S. 378,1. Ludwig II.: Acta dep. Anastasii, Mansi XIV 1017. 
Fantuzzi I 88. Reg. Sublac. Nr. 18. 83. 87. Karl II.: das. Nr. 196. Capit. II 99, 11. 
Karl II. Reg. Sublac., di Farfa, Cod. Cajet., Tonini oben S. 378,1. Wido: Fan- 
tuzzi I 92. VI 5. Lambert oben S. 378. Ludwigd. Bl. Fantuzzi I 102. Berengar 
ob. S. 378,1, ohne Fantuzzi I 114. 117. — Karl in Privaturkunden 806 und 812 
a deo electus et coronatus, Brunetti, Cod. dipl. Tosc. IIs Nr. 70. Muratori, Antiq. 
V 599. Ludwig I. 819 divina protectione coronatus, Marca, Marca Hisp. 1 S. 761. 
divino nulu coronatus, 816 Capit. I 267,41. Lothar I. in der Fälschung bei Mura- 
tori, Antiq. II 197 (Mühlbacher? 1093). Eine Kaiserin a deo coronata, Floss 81 
(Mühlbacher 1433). Waitz VI 152. 160. 

1) Der Glaube, daß Gott den König bestelle, hatte sich schon im 8. Jabrh. 
weiter Kreise im fränkischen Reiche bemächtigt. Die dem Cod. Carol. seit 757 epist. 
11 S. 505, 12 (ed. Gundlach) geläufige Zurückführung der karolingischen Herrscher 
auf Gott (s. Weyl, Beziehungen des Papstthums zu den Karolingern 1892 8. 36) fand 
in der fränkischen Geistlichkeit einen günstigen Boden, s. Waitz III 231f. Alcuin, 
Carm. 45,56 (Poet. I 258) an Karl: rectorem regni te deus institut, in einem 
Briefe an den König 800: vestra a deo ordinata potestas und an den Kaiser 
801—804 imperatoriam potestatem a deo conlatam, epist. 202. 308 S. 336, 20. 
471,16 f. Karl in der Ueberschrift der Libri Carol. nutu det rex und im Vor- 
wort in regno a deo nobis concesso, Migne 98, 999. 1005. regnum a deo nobis 
concessum, 806 Capit. I 127 Z. 4f. Ludwig I. urkundete: tmpersum und regnum 
a deo nobis collatum, Bouquet VI 499. Tardif Nr. 107. a deo nobis potestatem 
conlatam, Bibl. de l’&c. des chartes 59, 250; imperium a deo nobis conlatum, 
Mohr I 22 8S. 37; imperium nobis divinitus conlatum, celitus, a deo commissum, 
Dronke Nr. 489; divinitus nobis imperiali solio sublimatis, Vaissete IIb, 200 (Mühl- 
bacher? 541. 554. 875. 952. 954. 969). Bischöfe erwähnten 829 imperium vobis 
divinstus commissum, Capit. II 27, 31. Karl II. hat seinen Vater imperatorem a 
deo ordinatum genannt, 867 Bouquet VII 557. Jonas von Orléans, Transl. Huc- 
berti c. 1 SS. XV 235,22: sceptra imperialia sibi debita utque a deo tradita post 
eum (Karl) suscepit. Gott oder Christus läßt Ermoldus die Herrschaft geben, 
Hludov. II 60. 64. 71. 293 f. 296; Pipp. II 182. Agobard schrieb ihm 826 
oder 827: deus vos ante tempora prescivit et preordinavit rectorem, aber auch dem 
Hofmann Matfred sagte er 818—828: (deus) elegit vos ante mundi constitutionem 
Juturum ministrum imperatoris et imperii, Epist. V 182,15. 201,33f., ein Ge 
danke, welcher auch in einer Formel bei Zeumer S. 532,15 erscheint. Lothar I. 
erklärte 852 Leo IV.: deus stbi principem et imperatorem elegit, Epist. V 606,3 
(Jaffé 2619), bei dessen Ernennung zum Kaiser Agobard 833 Gottes Eingebung 
betonte, Epist. V 224. Ueber Ludwig IJ. äußerte Andreas von Bergamo 877: 
deus qui d. imperatore ad regni gubernacula imperialis ordinaverat, cum tpso 
erat (871), Script. rer. Langob. 229,2f. Karl II. a deo electus, a deo constitutus 
877, Mansi XVII, app. 171. 172. Berengar 920, Muratori, Antiq. Il 123: ben» 
gnilali divinae deputare debemus, quod sua ineffabili clementia immeritos ad hoe 
imperiale fastigium provexit. Daß ihn Gott auserwählt habe und ihm die Herr- 
schaft verleihe, riefen die Römer dem zur Krönung einziehenden Fürsten za, 
Josippon VI 30 S. 668. — Diesen kaiserlichen Aeußerungen stehen ähnliche könig- 


Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 387 


Ländern, in welchen eine Königskrönung noch nicht eingeführt war, 
mochte dieser Umstand der Aufnahme der Formel a deo coronatus 
Widerstand leisten. 

Auch die Vorstellung, daß Kaiser und Reich unter besonderer 
Obhut Gottes stehen, ist auf Abendländer übergegangen '). 

Die Heiligkeit des Kaisers (Waitz VI 155) ist aus zwei Quellen 
entsprungen, einer römischen und einer christlichen. Durch die von 
ihm übernommene Gewalt des Volkstribunats ist der Princeps sacro- 
sanct geworden, eine Eigenschaft, die seine Unverletzlichkeit unter 
den Schutz der Götter stellte”). Seine Person und alles was kaiser- 
lich war, haben in diesem Sinne als geheiligt — sacrum°) oder 


liche zur Seite. 823—825 sind schon die Könige im 8. Jahrh. a deo electi, 
Capit. 1308,15; 829 lehrten die Bischöfe: regnum a deo dari, Paris II 5, Mansi 
XV 580; Jonas, Instit. regia c. 7, Migne 106, 295f., und auch 844 machten sie 
zwischen dem Kaiser und den Königen der Franken keinen Unterschied: Christus 
vos elegit et exaltavit, Capit. II 115,21. Pippin 838, Bouquet VI 675 (Böhmer 
2079), und Karl II. hatten regnum a deo commissum, Nithard II 2. Dhuoda lehrte 
ihren Sohn 843, daß deus eos (die Karolinger) ut credimus elegit et praeelegit in 
regno, Manuel c. 19, publ. p. Bondurand 1887 S. 104. Hraban hat 855 oder 
8%6 dem Könige Lothar II. kaiserliche Epitheta gegeben: magno et pacifico atque 
eoronato regi Lotharto, Epist. V 515,1, wobei er a deo ausläßt. Ludwig den 
Ostfranken nannte sein Hofhistoriker regem a deo eleetum et ordinatum, Ann. 
Fuld. 878 S. 77. Auch Pippin von Italien war a deo electus et sublimatus rez, 
Coll. Dionys. 18, Zeumer 505,28 und Arnulf per Dominum electus, Tribur 895, 
Capit. 11 210. Hierzu Waitz VI 160f. Boso 879 nutu Dei, Capit. II 368, 30. 
Vgl. die Krönungsformel Capit. II 457,23. 461, 32. 

I) Wie die Synode von Aquileja 381 den Imperatoren schrieb: Christus 
reguum vestrum custodit (Mansi HII] 615) und der Kaiser oft Hsopviaxrog (Corp. 
inser. graec. IV 8659. 8740. 8789. 9543) vgl. Mansi VIII 983. XII 1130 oder a deo 
eustoditus (Metrophanes oben S. 383, 1) hieß, auch die byz. Kaiser Mansi XIV 418, 
824 Ludwig I. versicherten: deus noster semper adiutor et protector imperii nostri est, 
0 sprach Karl 806 von a deo conservatum et servandum imperium vel regnum 
nosirum oder a deo conservatum reynum atque imperium istud (Capit. I 127 Z. 6. 
130 Z. 12) und behielt 821 Reg. di Farfa I Nr. 251 a deo conservatus und die 
Päpstliche Kanzlei die Formel vestrum divinitus protectum imperium (z. B. Mansi 
AVI 28, Jaffé 3077) bei. Vgl. Brunetti a.a.O. Nr. 80. 82. 85. 88 (809f.). 

2) Mommsen, Rom. Gesch. 17 273 f.; Staatsrecht II? 236. 286f. 753. 872 f. 
874. 879; Strafrecht 581 f. sancti (tribuni) sunto, Cicero, Leg. III § 9. 

3) Ich trenne hierbei nicht genau die heidnische und die christliche Zeit, 
weil der Unterschied zunächst ohne Bedeutung geblieben ist. Zu sacer Hallier, 
De ordinationibus III? 474. Gothofredus, Cod. Theod., Gloss. Nom. v. sacra, 
sacri, Mommsen, Cassiodor S. 581. Vollmer, Statius 1898 S. 21]. Guenther, 
Epist, imp. pontif. II 948. sacratissimus Corp. inscr. lat. XII 410. 594. Paneg. 
ed.Baehrens S. 90,11. 101,22. 102,5. 160, 5. 179, 26. 180, 11; sacrum palatium 
das. 162,19. sacrae pisces, Martial IV 30,3; sacra auris das. VII 99,4. sacra 
mona, Cohen VIII? 429. Vgl. Iuvencus, Evangel. IV 408f.: Constantinus solus 
regum sacri sibi nominis horret imponi pondus. 


388 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


sanctum!) — gegolten. Auch die Christen bezeichneten den christlichen 
Imperator als heilig‘), nicht nur weil er es nach der alten staat- 


1) sanctus, Martial IV 2,4. sanctissimus, Plinius, Epist. X 1,1. Corp. inscr. 
lat. 113413. 6278, 18. VIII 1628. 5699. 5700. 6340. 8411. 8710. 9283. 10570. Ephem. 
epigr. VIII 190. Trebellius Pollio, Valeriani c. 6, 7; Claudius c. 10,7. Dig. 40, 
11, 3. Auch sunctissimi milites et sacralissimi quirites, Vopiscus, Tacitus c. 7, 3. 

2) Es war nicht nur amtlicher Sprachgebrauch (z. B. Cod. Justin. VI 30, 22 
pr. vgl. X 11,8,12 sacratissimus, Constantinopel als Residenz sacra urbs das. 
1, 5, 8 pr., sacratissimae constilutiones, 451 Spicil. Casin. I 60. De emendat. co- 
dicis pr.; auch noch sacntissimi patres, De emendat. codicis § 6, wie an Leo I. 
sacratissimus senatus, Mansi VII 586 und 787, 869 cyte ovyxdnrog das. XII 1154. 
XVI 357), sondern der allgemeine. sanctissimus imperator, Lactantius, Div. inst. 
VII 27 S. 668 (ed. Brandt, eine Handschrift). Ausonius, Gratian 227 Augustus 
sunctitate, 371 sacratissime imperator. sagri imperatores Form. Bituric. 15. Le- 
ges IV 662,18. In der Urkundensprache wurde sanctus oder sanctissimus stän- 
dig, z.B. 814—820 Font. rer. Austr. IJ 12 S. 3. Morea, Chartul. di S. Benedetto 
di Conversano I Nr. 2ff. (seit 889). Trinchera, Syllabus graec. membran. 1865 
Nr. 3—5. 10. 17—19. 23. 25 (seit 892). Cod. dipl. Cavensis I Nr. 111. 143. 200. I 
Nr. 229. 348. 407. III Nr. 525. IV Nr. 626. 648 f. 668. 679 (899—1014). Cod. 
d. Barese I Nr. 1 ff. Kukuljevid (oben 8. 377,1) I Nr. 114. Beltrani, Doc. Langobardi 
e Greci 1877 S.5. 13. 14. 17—21 (965— 1053). Epist. V 630, 10. Liudprand, Ant. I 11. 
IV 9. 35. Legatio c. 20. 35. 38. 47. 50, der um der Gleichheit willen auch sei- 
nem Kaiser dasselbe Prädicatgab, Hist. Ott. c. 1. 4. 6—8. 10 f. 16f. 19— 21; Legatio 
c. 26. 53. 1163 wurde Manuel I. von seinem Gesandten sanctus genannt, Delaville 
le Roulx, Cart. des Hospitaliers de S. Jean de Jerusalem I 321 S. 230. — äyıog 
heißt der Kaiser z.B. Corp. inscr. graec. III 4447. Synoden 869. 879. 1054. 
1169, Mansi XVI 312. 380. XVII 388. 483. 517. 521. XIX 820. XXII 37. 40. 
1156, Mai, spic. Rom. X 86. 1166, Mai, Script. vet. nova coll. IV 37f. 54 f. 68f. 
86. 91. Migne, Patr. gr. 152, 1155. 1157. 1350 Mansi XXVI 150. 187. 190. 198. 
Photius, Nomoc. pr.; I 2, Migne 104, 976. 981. Constant. Porphyr., Cerim. II 47 
S. 680,18. 681,14. 682, 10. 13. 684, 18. 20. 685, 5. De velitatione bellica Ni- 
cephori c. 19. 24 S. 239, 9 f. 22. 240, 12. 21. 241,2. 256,9 ed. Bonn. Joh. Mauropus 
125 ed. Lagarde S. 68. Petrus Siculus, Hist. Manich. c. 22, Migne 104, 1276. 
Joh. Tzetzes, Epist. ed. Pressel S. 39. 51. Michael Italicus, Cramer, Anecd. 
Oxon. III 176. Nicetas Acom. S. 437, 12. Manuel I. Theorianus, Disp., Mai, Script. 
vet. nova coll. VI 388; Migne 133, 121. 280. Matthaeus Cantacuz., Migne 152, 
1387 f. Theodorus Hyrtac., Notices et extraits V 723, 724. Andronicus IV. 
1381, Wiener Sitzungsber. VO 345. 346. Johannes Docianus, Hopf, Chroniques 
256. Phrantzes II 15 S. 188,3. ayl« nepgain, 879 Mansi XVII 432. N on dacd- 
ns, Vita Nicolai Stud., Migne 105, 918. +d feed» naldrıov, 801 Theodor 
von Studion an Irene, Epist. I 7 das. 99, 929. — Die Kaiserin ist feedwuzos 
das. I 7 S. 932; cyte Theophylactus von Bulgarien das. 126, 501. Joh. Tzetzes 
2.2.0. 8. 39. 45. 46. Nicephorus Gregoras II 1282. Titularbuch Migne 107, 408. 
Ein Cäsar ist &yıog bei Theophylactus a.a.O. 126, 377. 512. 517. — Constantin 
und Helena sind kirchliche Heilige geworden, Helena jedoch nur in der griechi- 
schen Kirche, Martinov, Annus eccles. graeco-slav. 1863 S. 133 f. zum 2]. Mai; 
ihrer gedenkt als tay ayiav Baotlewy Corp. inscr. graec. IV 8694. 8742. 8765. 
9070; Coustantin ist @yıos Constant. Porphyrog., Cerim. Il 15 S. 587,7; sanctus, 
Liudprand, Legatio c. 5l. Tillemont, Emp. IV 271 ed. Ven. 


Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 389 


lichen Ordnung war, sondern auch weil ihr Gott ihn unter der 
Menge des Volkes zum Herrscher auserkoren hatte. Schätzten sie 
ihn in diesem biblischen Sinne als heilig, so konnten sie auch sein 
Verhältnis zu Gott durch eine Salbung zum Ausdruck bringen und 
bekräftigen. Das geschah wahrscheinlich erst ein halbes Jahrtausend 
nach der Zeit, wo der Gott der Christen der Reichsgott geworden 
war. Seitdem wurden Stimmen in der Literatur laut, daß es die 
kirchliche Verrichtung sei, welche die [leiligkeit verleihe; der Kaiser 
werde durch das Chrisma nicht nur ein Gesalbter des Herrn, son- 
dern heilig. So erklärte der theologischen Neigungen zugängliche 
Pachymeres VI 30 S. 507, 3f., der Kaiser sei heilig, weil er gesalbt 
sel. Diese Verbindung von Ieiligkeit und Salbung ist nicht allge- 
mein angenommen worden'). Nach einem Adressenbuch des 15. 
Jahrh. war der noch ungekrönte Kaiser &og zu titulieren (Migne 
107, 405) und der ungekronte war auch ungesalbt. 

Aus der Heiligkeit des Kaisers ist die Heiligkeit des römischen 
Reiches hervorgegangen, wohl in der Weise, daß an die persönliche 
Eigenschaft des Imperators sich die Vorstellung anschloß, auch der 
von ihm regierte Staat sei ein heiliger Staat, ohne daß diese neue 


1) In einem Schreiben armenischer Bischöfe war schon Leo I. — bildlich — 
6 deo unctus in regem, Mansi VII 587. Männer, welche Kaiser Michael II. — 
medy xvefov, Cedrenus II 100, 23 — getödtet hatten, richtete Theophilus ge- 
nib zoig woderexoig vduors hin, das. II 100, 20 (nach Theophanes cont. S. 86); 
la II. sagte zu Normannen, sie hätten in ihm den Gesalbten des Herrn, zeı- 
ar byte xvedov, beleidigt, Nicetas Acom. S. 477,6. Wer das Leben ta #2@ 
“zeopévov nehme, sei nicht nur unter Menschen ohne Sühne, sondern auch Gott 
Verde, wie wir glauben, seine That mit der härtesten Strafe vergelten, Joh. VI. 
Cantacuz. 1,9 S. 45, 17—21, nach jüdischer Vorstellung, z.B. 1 Sam. 24, 7. 26, 9. 
Der Kaiser war freilich durch das Chrisma in Wirklichkeit ein Gesalbter Gottes, 
wie z.B. Demetrius Chomatianus (bei Leunclavius, Ius graeco-rom. I 317) und 
Symeon von Thessalonich c. 214 (Migne 155,429) sich ausdrücken, vgl. De- 
merits Chomatianus c. 114, Pitra, Anal. sacra Solesm. VI 493 ff. Die Salbung 
Vest anf den biblischen Sinn der Heiligkeit des Kaisers hin, vgl. Goar, Eucho- 
lg" 126. Daß er jedoch auch heilig durch das Chrisma werde, d.h. daß die 
Eigenschaft der Heiligkeit durch eine gültige Salbung entstehe, hat Allatius, De 
teelesine oceid. atque orient. consensione 1648 S. 219, vgl. auch Du Cange, Gloss. 
tec, 14. mit Quellen beweisen wollen, die es schwerlich ergeben. Rechtliche 
Wirkung hatte die Salbung nicht. Mit der von Theodor Balsamon aufgestellten 
Beauptung, der Kaiser habe durch die Salbung die Fähigkeit die Christen zu 
erweisen (wohl im Hinblick auf 1 Johann. II 20), bei Rhalles und Potles, 
& can. IV 544, würde Symeon von Thessalonich c. 207 S. 417 nicht ein- 
"erstanden gewesen sein. Unter Justinian I., vor der Einführung der Salbung, 
oe Paulus Silentiarius, Descriptio s. Sophiae 53 f. S. 5, wer diesen Kaiser 
a? en lassen wolle, erhebe sich gegen Gott. Aber wie begrindete er 
Kaiser ist tauglich und mild. Vgl. Smend, Religionsgesch.? 66 f. 147. 





390 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


Staatseigenschaft bei den Griechen die persönliche Heiligkeit des 
Kaisers beseitigt oder auch nur in den Hintergrund gedrängt hätte. 
Der neue Begriff des heiligen römischen Reiches ist, soviel ich be- 
merkt habe, erst in christlicher Zeit und wahrscheinlich auch durch 
christliche Ideale geschaffen worden '). 

Bevor Karl Imperator wurde, war der Ausdruck sacrum palatium 
in seine Kanzlei eingedrungen ?) und hatten Männer wie Alcuin ihm 


1) 7 ayla Poolete ist gleichbedeutend mit 6 &yıos Baotlevs, z.B. Mansi XVII 
432. 461. 517. 521 (ebenso rö &yıov xearog XVII 464). Constant. Porpbyrog,, 
Cerim. I 2. 83 S. 38, 22. 334, 9. 1092 Coll. Nov. IV 31, Zachariae, Ius III 376. 
378. 1166 Synode, Mai, Script. vet. nova coll. IV 37. 55. Panag. cum Azym. 
disput., Vassiliev, Anecdota graeco-byz. I 179. Demetrius Chomatianus c. 26 bei 
Pitra a.a.O. VI 109. 111. Theorianus, Disput. I. II ebd. VI 316. 318; Migne 
133, 121. 213. Eustathius von Thessalonich, Regel, Font. rer. byzant. I 126, 14. 
Michael Acominatus ed. Lampros I 311, 14. If 150, 2. Theodorus Hyrtac., Notices 
et extraits V 723. 724. Adressenbuch, Migne 107, 405. Joh. Docianus, Hopf, 
Chroniques 256. Phrantzes III 1 S.211,3f. In einem Schreiben an die Kaiserin 
1306, Miklosich et Müller, Acta III 242. Vgl. DuCange ed. Favre X 143 8 51. 
In demselben persönlichen Sinne sagen Lateiner vestrum sanctum imperium, z. B. 
Johann VIIL, Mansi XVII 187 (Jaffé 3323). 1118 Alexius I: notum est sancto 
imperio nostro, Trinchera a.a. O. Nr. 86. smperium tuum sanetum Liudprand, 
Antap. I 11, vgl. Legatio c. 15. 32. 33. 35. Eine byzantinische Prinzessin nennt 
filiam sancti impertt 988 Gerbert, Epist. 111 8. 102 ed. Havet. Die Uebertragung 
der leiligkeit auf das römische Reich verbreitete sich von Italien aus, wenn sie 
nicht gar dort ihren Ursprung hatte. Der Exarch Smaragdus schrieb 585 oder 
590 an Childebert II. von sancta Romana respublica, Mon. Germ., Epist. II 
147, 4 und sancta respublica S. 147, 30; Mauricius sprach von sacratissima res- 
publica nostra das. III 148,26 f. Die Bischöfe Istriens an Mauricius Gregor L, 
Reg. I 168 S. 18,6. 21, 4 sancta respublica vestru; 18, 29. 34. 20, 1f. 17 sancta 
respublica. Gregor I. 591, 592, Reg. I 73. II 34 8.94, 2. 130, 20 (Jaffé 1142. 1189) 
sancta respublica; ebeuso Gregor III., Epist. IIL 702, 13. 29 (Jaffé 2177 f.), zu dessen 
Briefen s. Monticolo, Bullet. dell’ Ist. stor. ital. Nr. 9 S.184—199. Vita Gregorii IIL. 
c. 15 versteht unter sancta respublica das römische Reich; so auch Duchesne, 
Lib. pontific. I 424, 32. Schnürer, Kirchenstaat 1894 S, 28. Gundlach, Kirchen- 
staat 1899 S. 21f. Hingegen nehmen den Ausdruck im Sinne von Ducat von 
Rom Thelen, Verhandlungen Pippins mit Stephan II. 1881 S. 13. 15. Armbrust, 
Territoriale Politik der Päpste 1885 S. 61. 62. Hauck, Kirchengesch. II? 29, 1. 
Lindner, die Schenkungen Pippins 1896 S. 23. Hamel, Territorialgesch. des 
Kirchenstaates 1899 S. 5. Beide Bedeutungen hält Gregorovius, Rom II* 242 für 
zulässig. sanctum Romanum imperium 814—820 in einer Urkunde des Dogen 
von Venedig, Font. rer. Austriac. II 12 8.2. 879 Johann VIII: vos imperatores 
qui sanctae reipublicae gubernatis imperium, Mansi XVI 482. XVII 138 (Jaffé 
3271). sanctum imperium ist das byzantinische Reich Ann. Januenses ed. Belgrano 
S. 235,16. 236,1. sancta dominatio augusts Vulgarius, Poet. Carol. IV 428, 14. 

2) 794 sacri palacıı capella, Capit. I 74,18; a sacro palatio das. I 203, 2. 
Aber tudex sacri palates neben caudex d. imperatoris ist nicht 790 (Brunetti, Cod. 
dipl. Tosc. II 30 5S. 282), s. tmperti notartus neben Karl und Pippin magni impe- 


Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 891 


seit einigen Jahren von seiner geheiligten Person geschrieben '). 
Durch das Imperium ist die Heiligkeit eine von der Persönlichkeit 
des Herrschers unabhängige Bezeichnung des karolingischen Impe- 
rators geworden, welche in der ersten Hälfte des 9. Jahrh. in weitem 
Umfang Anwendung gefunden hat’). 


ratores nicht 800 (Tiraboschi, Nonantola II Nr.17), sacra auctoritas in G. abb. Fontan. 
c. 14 8. 42 nicht im 8. Jahrh. geschrieben. sanctum palatium schon Exhort. ad Franc. 
regem, Digot, Hist. d’ Austrasie III 352; sacrum palatium, Pardessus, Dipl. II Nr. 348 
= Chronique de S. Pierre de Béze 1875 S. 242; außerdem sind merovingisch sa- 
erae litterae, Marculf 19. Auch der Westgothenkönig hatte 653 sanctae animae vo- 
luniatem als sacratissimus princeps (Conc. Tolet. VIII pr.) und 599 sacra regalia, 
Bruns, Canones I 266. II 66. sacrum palatium, Liutprand, Leges IV 109, 14. 
149, 4. 443. Romuald II., Troya IV Nr, 384. Gisulf Il. sacratissimum p. das. 
Nr. 568. 582. 592. 601. 604. 639, vgl. Nr. 618; sacrum p. Arichis das. IV Nr. 903 
— sacralissimum nostrum p. befahl er seiner Kanzlei zu schreiben, Leo Marsic. I 8 
SS. VII 586,19 — und Grimoald, Ughelli VIII? 38. Muratori SS. Ib 374; später 
Maratori SS. Ib 387. Seit 9. Jahrh. schlossen sich ihnen darin die Fürsten von 
Salerno an, das. Ib 393. 394. Cod. dipl. Cavensis I Nr. 55. 106. 111. 115 f. 120. 
174. 179. 202. VI Nr. 875. Vgl. Gattola, Access. I 44. 

1) 796-800 Epist. IV 110 8. 158, 4 sanctissima pietas; 148 S. 241,22 sancta 
pietas; 121 S. 176,3 sancta dilectio; 203 S. 336, 20 sancia voluntas; sanctissima 
136. 178 S. 208,36. 294, 17 voluntas, 136 S. 209,8 saptentsa; 171 S. 281, 24. 32 
soliteitudo; 203 S. 336, 33 auctoritas; 211 S. 352,2 (vor 801 ?) consideratio, 200 
S. 381, 7 sacratissimae imperii aures, 261 S. 419, 4 (vor 801?) sacratissima 
sollicitudo. — sacra praecepla, sacrum palalium, Libell. sacrosyll. c. I, Paulinus 
ed. Madrisius S. 1. sacri syllabi, Paulinus 800, Epist. IV 523,6. 

2) Karl I.: 801 und 802 Alcuin, Epist. 240 S. 386,4 sancta mens; 245 
S. 397,27 sanctissimus animus; 245 f. S. 393,36. 398,13 sanctssima presentia; 
257 S. 414, 35 sanctissima auctoritas; 414,23 sanctus tmperator; 229 S. 878, 16 
sacratissimum pectus. Leidrad an Karl um 813 das. IV 542,8 sacer imperator. 
Amalar an Karl um 811, Epist. V 243,16 sanetum regimen, 244,1 sanclissima 
gubernatio. 811, Baluze, Capit. II 1402, 22 sacra epistola. Dungal an Karl 811 Epist. 
IV 578, 1 sacra progenies; das. IV 543,2. 552,27, Formulae ed. Zeumer 455, 25. 
632,15 und Angilbert, Eccles. Centul. c. 2 SS. XV 175,42 sacrum palatium. 
Venerius, Epist. V 315,2 sua sancla anima. Gesta abb. Fontanell. c. 16 S. 47 
sacra auctoritas. Sedulius, De rectoribus c. 9, Mai VIII 28 sacratissimus au- 
gustus. Privaturkunden 804 (Neues Archiv XIII 155, 12) und Trad. Lunael. 
11. 14. 21. 36 6. (Urkb. Enns I) saeré palacti capellanus; das. 84 sacrı palacti in- 
perialis custus. — Ludwig I. sacratissimus imperator, Epist. V 414,31. 419, 45. 
sacer das. V 160, 1. 166, 29. Ermoldus, Hlud. Il 204. 418. Hraban Ill 11, Poet. Carol. 
11 164. sanctus Amalar, Migne 105, 1243. Poet. Il 634. sanctissimus Form. Senon. 
9 S. 215,9. Epist. V 310,45. 626,25 (um 851). sacratissimus, Transl. Viti, Jaffé 
I 14. Radbert, Epitaph. Arsenii II 9,17 S. 71. 85, sancta paternitas das. Il 17 
8. 87. sanctitas vestra, Epist. V 389,24 f. 340,6. sacrum nomen das. 183, 3; 
Walahfrid 24,25 f., Poet. II 379. sancta imperialis potestas, Epist. V 314, 7. 38. 
sancla pielas das. 309,35. sanctisssma sollicıtudo das. 182, 26, excellentia 301,30, 
honorificentia 419,46, voluntas 324,39. sacrum acumen das. 155,8, preceptum 
226,30, regimen 309, 20. sacra sollscitudo 311,15, vestigia 314,9. 815,27. sacri 
pedes, Formulae 522,31. sacratissima serenitas, Epist. IV 597,27. sacri palati 


392 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


Die abendländischen Kaiser!) und Synoden?) haben von ihr 
sparsameren Gebrauch als die byzantinischen gemacht und auch 
die päpstliche Kanzlei hat sie nicht häufig aufgenommen). Bei 
dem seit unvordenklicher Zeit bestehenden kaiserlichen Prädicat 
haben die Abendländer nach Grund oder Wirkung wenig gefragt. 
Von einer Salbung war es nach ihrer Meinung nicht abhängig, denn 
sie haben es weder Karl, der als Kaiser nicht gesalbt worden ist, 
noch seinen zwei nächsten Nachfolgern bis zu ihrer Salbung vorent- 
halten. Der Ausdruck heiliges Reich hat sich im abendländischen 
Imperium erst später eingebürgert; er ist weder für den von Karl 


antistes das. V 179, 29, archicapellanus das. 402, 6. Vita Hludow. c. 26 SS. II 620, 39, 
archidiaconus Epist. V 424,15, ostiarius das. 233, 18. 292,9. sacrorum serintorum 
praelatus, Vita Hludow. c. 40 SS. II 629,45. — Lothar I. sanctissimus tmperator, 
Hraban 840—842, Epist. V 444,22. sanctus Caesar, 841 Walahfrid 76,75, Poet. 
II 415. sanctu voluntas, Epist. V 444, 28, sunctae tusstones das. 626,33. sagra 
tussio imperialis, 847 Mem. di Lucca V> 643 S. 383. sacrum palatium Epist. 
V 625, 26. sacri palatu capellanus, Neues Archiv XIII 154,9. Catal. ep. Mett. 
SS. IL 269, 41; comes 852 Cod. dipl. Langob. Nr. 180. — Ludwig II. 871 dreimal 
sanctus, Poet. Carol. III 404. sacrs palatii capella, Cod. dipl. Langob. Nr. 236; 
comes Mabillon, Dipl. 117. 544. Muratori SS. Ilb 506. 938. 944; iudtces Cod. 
dipl. Langob. Nr. 234. Cod. dipl. di Arezzo I Nr. 39. Mem. di Lucca V> 742 
S. 446. Später nennt sich auch ein Gerichtsschreiber noturıus sacri palatsi, 
Cipolla, Mon. Novalic. I S. 94 (Mühlbacher 1562 vgl. 1569). — Der Kaiserin 
Judith sacra vestigia, Formulae 526, 23, deren sacrae iussiunes und sacratissimum 
nomen Freculf um 829 Epist. V 319, 36. 320,2 erwähnt. Lothars I. verstorbene 
Gemahlin Irmingard ist sanctissima das. 625,37. Hier und sonst können solche 
Prädicate auf Gottesfurcht gehen; so ist Ludwig I. sacer vir, ein frommer Mann, 
bei Ermoldus, Hlud. [ 588, Ludwig II. sanctissimus, Erchempert, Hist. Langob. 
Benev. c. 34 S. 247,25 ed. Waitz; Sico, Grabschrift 832 Poet. Carol. H 650, 35 
sanctus. Liudprand, Antapod. II, 52. Hugo sanctisstmus rez, Ughelli V? 229. 

1) in sacro palatio, fir Grado 803, Mühlbacher? 400. sacr# palatii capellanus 
das.? 691. 746f. 803 f. 844. 846f. 952, cancellurtus das.? 726. L111 f., notarius 
das.? 946. 988. 996. 1132, iudsces das.! 1228, 1569, minister das.! 1163. Capit. 
II 99, 38. 104,2. Bouquet VIII 656. So urkundeten auch Könige, bei Kaplanen 
der ostfränkische Ludwig schon 830 (Mühlbacher! 1302) und Karl II. (Bouquet 
VIIE 481. 490), bei Notaren 931,935 Hugo, Bullet. dell’ Ist. stor. ital. Nr. 21 
S, 147. Ficker, Forschungen IV Nr. 23. Karl II. hat seinen Vater sacratissimus 
genannt, Bouquet VIII 658. — Ilincmar, Ord. pal. c. 1. 16, Capit. II 518, 14. 
523,18 sacrum palatium; de praedestin. c. 2, Op. 1 21 Aeneas notarius sacrı 
palatii. — 725 Romuald II., Troya IV Nr. 388 sacri palatii iudex. 

2) Mainz 813 pr., Mansi XIV 64 Hildebuldus sacri palais archiepiscopus. 
Pavia 850 c. 15, Capit. II 121, 13 sacrutissimus imperator, c. 16 2. 16 sacrum palatium. 

3) sacra iussio imperalis, Epist. V 228, 37. 229,8 (Jaffé 2578) nach älterem 
Sprachgebrauch, z. B. imperialia sacra, Vita Hadriani I c. 88 und sacra, Mansi 
XII 1073 (J. 2448). 853 sacratissimi imperatores, Acta deposit. Anastasii das. 
XIV 1017. sacratissimam caput das. XVII 30 (J. 3079); sucrae uures das. XVII 43 
(J. 3093, wie das XVIII 12, J. 3403) imperator sanctissimus, Bouquet IX 211 (J. 3532). 


Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 893 


beherrschten Theil des Romerreiches noch fiir den Kaiserstaat unter 
Ludwig I. noch auch für das unter Lothar I. entstandene neue Im- 
perium Sitte gewesen'). 

Ob das von dem Kaiser bei seiner Krönung abgegebene Ver- 
sprechen, die römische Kirche zu schützen (Waitz VI 234) schon 
karolingisch ist, gestattet unsere Ueberlieferung kaum mit Bestimmt- 
heit zu bejahen oder zu verneinen. Karl lassen die Quellen des 
9. Jahrh. bei seiner Krönung 800 unthätig bleiben, nur vielleicht 
Agnellus nicht. Er schrieb c. 94 S. 338: cum Karolus Romanorum 
percepisset a Leone papa imperium, postquam ad corpus b. Petri sa- 
cramentum praebuit, revertens Franciam. Wenn die Mittheilung mit 
Dahn, Urgeschichte III 1081 Anm. vgl. Könige VIII 6, 240 und 
Mühlbacher, Reg.? 370° S. 165, Deutsche Gesch. unter den Karo- 
lingern 1896 S. 201 dahin zu verstehen ist, daß der »Eid< am 25. 
December 800 vor der Krönung geleistet sei, so ist an ihrer Un- 
richtigkeit kein Zweifel. Eine derartige Aeußerung Karls ist durch 
die Thatsache ausgeschlossen, daß die Krönung ihm unvermuthet 
und gegen seinen Wunsch zu Theil geworden ist?). Allein es ist 
nicht nöthig, den Bericht so auszulegen, daß er einen Irrthum ent- 
hält. Möglicher Weise war die Meinung des Schriftstellers die, daß 
Karl an einem früheren oder an einem späteren Tage als dem, an 
welchem die Krönung stattgefunden hat, an der Gruft des h. Petrus 
eine Zusage gemacht habe. Auch Agnellus bezieht postquam bald 
auf das Vorhergehende, bald auf das Nachfolgende, s. z.B. c. 39. 
95 f. 154 S. 304, 2. 338, 32. 341,6. 377,30. Daß Leo III. vor dem 
Krönungstage von Karl eine durch seinen Eid bekräftigte urkund- 
liche Versicherung verlangt und erhalten habe, Rom nie feindlich 
zu sein, ohne päpstliche Aufforderung nicht nach Rom zu kommen 


1) Wie bei Alcuin um 798 Epist. 1V 136 S. 205, 14 sacralissimi gubernacula 
imperss, auch Amalar um 811 oben S. 391,2, ist sanctum imperium bei Venerius 
um 826 das. V 315,11 und sucrum imperium bei Radbert, Epitaph. Arsenii II 
10 8. 76 der tmperator. Auch sub ipsius (Karls) sancto imperio mag Venerius 
a.0. 315,5 persönlich meinen wie Victor II. von Chur 823 das. 309, 20 f. sub 
sacro vestro regimine. 829 ist Lothar I. sancté spes regnı, Walahfrid 23, 158, 
Poet. II 3756. Bei Benedict Lev.. Leges Ilb 41,36 ist smpertum sacrum Gottes 
Reich. Später Otto III, Dipl. II S. 700, 25. Otto Fris., Gesta Frid. II 50. Wei- 
land, Constitutiones I 519,17. Vgl. Bryce, Holy Rom. empire ed. 8 S. 8192. 

2) Sigonius, Hist. de regno Italiae 1575 S. 161 (Opera II 1732, S. 252) hat 
das Krönungsversprechen im Ordo Rom. auf Karls Kaiserkrönung bezogen ; ebenso 
Baronius 800 und nach ihm z.B. Cenni, Mon. domin. pontif. II 1761, S. 40. 
Carli, Antichita Italiche IV 1790, S. 37; hingegen war Leibniz, Ann. 800 § 22 
8. 216 geneigt, die Formel auf Karl Il. zu deuten. Marcellino da Civezza, I 
romano pontificato I 1886 S. 486 läßt Karl sogleich nach der Kaiserkrönung 
der römischen Kirche seinen Schutz geloben. 

Gött, gel. Ans. 1901. Nr. 5. 27 


394 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


und dem Papste stets beizustehen erzählt zwar 1143 Nilus Doxo- 
patres (Hierocles, Synecdemus ed. Parthey S. 379 f. $ 379—382), 
aber seine Angabe ist nicht nur zum Theil inhaltlich unmöglich, 
sondern kann auch nicht als Zeugnis für- die an sich mögliche Er- 
klärung, die römische Kirche beschirmen zu wollen gelten; sie ist 
in allen ihren Stücken zu verwerfen. Indeß die Aussage des Ra- 
vennaten ist die eines Mannes, welcher in der Lage war, von dem 
Vorgang sichere Nachricht zu erfahren und sich an Leser wandte, 
die von dem Ereignis, wenn es ihnen unbekannt war, sich unter- 
richten konnten. Obschon er nicht sagte, welchen Inhalt Karls 
Verheißung gehabt habe, so ließ er doch aus der Stätte, die er 
angab, schließen, daß sie zu Gunsten der römischen Kirche gethan 
sei; er stellte sie hierbei nicht als ein Leo III. geleistetes Ver- 
sprechen oder als Verlautbarung eines mit ihm eingegangenen Ver- 
trages hin, sondern als ein Gelöbnis, das Gott mündlich und so 
feierlich gemacht wurde, daß es sacramentum heißen mochte. Und 
da Karl vor oder nach dem Tage seiner Kaiserkrönung wegen der 
Thätigkeit, die er im Begriff stand vorzunehmen oder ausgeführt 
hatte, ein Anlaß nicht fehlte, in der Peterskirche sich förmlich zum 
Vertheidiger der römischen Kirche zu erklären, so verdient unser 
Gewährsmann wohl Vertrauen). 

Im J. 818 erinnerte Paschalis den Kaiser Ludwig an sein in 
Gegenwart von Reliquien, Klerikern und Laien zu Ehren des h. Pe- 
trus vor kurzer Zeit abgegebenes Versprechen — votiones sanctae —, 
um auf Grund desselben die Beschützung römischer Patrimonien und 
eines päpstlichen Legaten zu begehren; bei Nichterfüllung würde 
ihn das Volk für einen Meineidigen halten, Epist. V 68, 22—26 
(Jafié 2550). Hampe, Epist. V 68 Anm. 3 bezog die Zusage auf 
das von Ludwig mit Paschalis 817 erneuerte Pactum; Simson, Lud- 
wig | 70,5 hielt für möglich und I 213 für wahrscheinlich, daß der 
Papst seinem Vorgänger 816 in Reims ertheilte Verheißungen im 


1) Simson, Karl II 241 spricht nur von einem angeblichen Eide bei Agnellus. 
Die Annahme, daß Agnellus ein anderes Krönungsversprechen irrthümlich als 
von Karl gethan vorausgesetzt und auch ihm zugeschrieben habe, scheint mir nicht 
haltbar. Von der byzantinischen Kaiserkrönung konnte er seine Meldung nicht 
entlehnen, obschon ein Versprechen des zu krönenden Imperators über 800 zu- 
rückreicht, s. Bury, Later Rom. Empire II 390, vgl. Gibbon ch. 53 n. 74 ed. 
Bury VI 90. Inhalt und Form haben — abgesehen von dem Ort — das byzan- 
tinische und das abendlindische Versprechen unterschieden. Mühlbacher, Ge- 
schichte 201 vermuthete bei seiner Auffassung, daß Agnellus das sacramentum 
als Bestandtheil der Krönungshandlung meinte, er habe ein späteres Krönung» 
versprechen eines karolingischen Kaisers auf Karl übertragen. Dieser Kaiser 
könnte für Agnellus nur Lothar I. sein. 


Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 395 


Auge hatte. Gegen 817 fällt ins Gewicht, daß Paschalis sich auf 
eine mündliche Erklärung Ludwigs stützte, durch welche er zu der 
geforderten Thätigkeit verpflichtet sei. Wenn der Kaiser das Pac- 
tum, ehe er es dem päpstlichen Gesandten aushändigte, nach einer 
Verlesung vor einer Hofversammlung gutgeheißen hatte, so würde 
Paschalis, falls er für sein Verlangen diese Aeußerung geltend machte, 
sich auf eine Handlung berufen haben, aus welcher sein Recht auf 
Schutz sich nicht ableiten ließ. Denn nicht die der Uebergabe der 
Urkunde vorausgehenden Worte, sondern die Uebergabe der Ur- 
kunde war der Verpflichtungsgrund und jene mündliche Bestätigung 
würde auch nicht eine besondere Verpflichtung neben dieser be- 
gründet haben. Allein der Fehler in der Begründung seiner An- 
sprüche beweist noch nicht, daß ihn Paschalis nicht begangen hat, sei 
es mit Kenntnis der Unrichtigkeit seiner Argumentation, aber in der 
Erwägung, daß es zweckmäßiger sei, den Kaiser zu ermahnen, jener 
Worte eingedenk zu sein, oder sei es, daß er sich in der Begrün- 
dung vergriff. Die falsche Beweisführung würde daher 817 unwahr- 
scheinlich, jedoch nicht unmöglich machen. Die Behauptung, daß 
der Bruch der mündlichen Zusage den Vorwurf des Perjurium recht- 
fertige, mochte in deren Form einen Anhalt haben’). 

Das »heilige Gelübde« könnte auf eine Handlung von 816 gehen, 
entweder auf ein einseitiges nur vor Gott verpflichtendes Versprechen 
die römische Kirche zu schützen, welches einen Bestandtheil der 
Krönungsfeier in Reims bildete, oder auf eine andere damalige Zu- 
sicherung des Kaisers an den Papst und zwar wohl auf eine unab- 
hängig von dem 816 abgeschlossenen Pactum ausgesprochene Willens- 
äußerung, weil Paschalis schwerlich ein älteres Pactum statt des 
in Geltung befindlichen angerufen hätte. Im ersteren Falle wäre 
das Krönungsversprechen als Theil der kirchlichen Weihe des zweiten 
karolingischen Kaisers in die Geschichte eingetreten und aus der 
Zeit der päpstlichen Kaiserweihe anscheinend in seinem Wesen un- 
verändert in die Zeit der päpstlichen Kaisercreirung übergegangen. 
Gegen diese und gegen eine sonstige Verlegung des Gelöbnisses in 
das Jahr 816 spricht jedoch der Umstand, daß Paschalis unter denen, 
vor welchen Ludwig I. sein Wort verpfändet habe, den Papst Ste- 
phan IV. nicht namhaft gemacht, sondern sich begnügt hat als 
Zeugen Kleriker überhaupt zu erwähnen. Wägen wir die Gründe 


1) 878 brachte Johann VIII. Karl III. das pactum in Erinnerung, quod aus 
et paires vesiri s. Romanae ecclesiae wureiurando promiserunt, Mansi XVII 92, J. 
3205. patres sind hier Vorfahren überhaupt, sodaß Ludwig I. in den Schwur 
nicht einbezogen werden muß. Es sind die sacramenta quae Pippinus et Carolus 
obtulerunt b. Petro, 878 das. XVII 347 c. 4. 


27” 


896 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


für und wider 816 und 817 ab, so dürften die für die Einführung 
des Krönungsversprechens 816 und zwar bei der durch die Krö- 
nungsfeier gegebenen Gelegenheit überwiegen, aber mehr als Wahr- 
scheinlichkeit wäre nicht erreicht'). Daß ein späterer karolingischer 
Kaiser bei seiner Krönung gelobt habe, die römische Kirche zu ver- 
theidigen, kann ich aus den Quellen nicht erweisen ?). 

Der römische Patriciat kommt früher zum Vorschein als S. 252 
eingeräumt wird. 

Nach Karl I. ist kein König der Franken Patricius der Römer 
gewesen. Es ist nicht nur der Titel, welcher aus ihren Urkunden 
verschwunden ist, oder die zufällige Thatsache, daß sie staatsrecht- 


1) Ludwig I. sagte nach Radbert, Epitaph. Arsenii II 17 S. 86, er habe den 
Schutz der römischen Kirche vorlängst übernommen; die Uebernahmehandlung 
nennt er und auch Vita Hludovici c. 55 SS. II 641,15 nicht. Die väterliche 
Ermahnung 813 richtete sich auf allgemeine Regentenpflichten ohne besondere 
Beziehung auf die römische Kirche, Thegan c. 6 SS. II 591f., vgl. Capit. II 54 
c. 1. 816 erneuerte Ludwig I. vor der Kaiserweihe das Pactum; Ermoldus II 
889 ff. hat die beiden zeitlich und örtlich geschiedenen Vorgänge mit dichte- 
rischer Freiheit zusammengerückt, vgl. Simson, Ludwig I 70f. — Der Zusats 
des Ueberarbeiters der Reichsannalen 754, daß der Papst Pippin salbte, postguam 
a rege ecclesiae Romanae defensionis firmitatem accepit, legte Armbrust (S. 890, 1) 
67 dahin aus, daß Pippin unmittelbar vor der päpstlichen Verrichtung ein neues 
Versprechen, die römische Kirche zu schützen, mündlich leistete, was Waitz 
III 87,2 für wahrscheinlich hielt. Eher dürfte die Meinung des Schriftstellers 
sein, daß der König Stephan Il. vor dem Tage der Salbung die beiden Urkunden 
ausgehändigt hatte; so faßt Gundlach, Kirchenstaat 73 die Mittheilung auf. 

2) Radbert a. O. erzählt nur, was Paschalis I. 823 that, und erstreckt dessen 
Handlung sowohl auf die römische Kirche als auf das Reich. Auch von Lud- 
wig II. wird bei seiner Kaiserkrönung m. W. keine Erklärung über den Schutz 
der römischen Kirche gemeldet. Er erhielt dabei nach Nicolaus I. vom Papste 
machaerue usum contra infideles, Mansi XV 290, J. 2774, vgl. Waitz VI 214. 
Karl II. wurde Kaiser, postquam solemniter vota regsa persolvisset ad sepulcrum 
b. Petri, Sloet, Oorkb. Gelre en Zutien I 55 S. 56, J. 3022, d.h. er betete an 
einem Tage vor der Krönung wie Berengar, Gesta Bereng. IV 156f. Sein Ver- 
sprechen der Vertheidigung, auf das Johann VIII. sich berief (Ann. Bertin. 877 
S. 134 f.), ergibt kein Krönungsversprechen; ebensowenig Neues Archiv VIII 363 
(Jaffé 3029), falls das Schreiben sich auf Karl II. bezieht (so das. VIII 606) und 
verläßlich ist, s. Jaffé, Nachtrag zu 3029. Für die Vermuthung von Schwarzer, 
daß die Karolinger ein später wieder abgekommenes Glaubensbekenntnis ab- 
gelegt hätten (Forsch. z. d. Gesch. XXII 189, vgl. Waitz VI 245, 2f.), finde 
ich keinen Grund. Den Ring (Waitz VI 300) kennt bereits Josippon VI 30, 25 
8. 671 und wohl als annulus fidei, wie Nicolaus I. den Bischofsring nannte, 
Mansi XV 699, J. 2785. Das Kirchenamt des byzantinischen Kaisers — er 
wurde deputatus, ein Amt, dessen Thätigkeit Clugnet, Revue de l’Orient chre- 
tien IV 122 bespricht — ist seiner Entstehungszeit nach noch weniger be- 
stimmt (s. Hallier, De ordinationibus II]? 475) als das des abendländischen Kaisers. 


Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, VI. 897 


liche Befugnisse über die Römer auch sonst nicht erwähnt haben, 
sondern sie haben kein Herrschaftsrecht im Gebiete der römischen 
Kirche gehabt und sind selbst während der Erledigung des Impe- 
rium nicht an die Stelle des Kaisers getreten, um den Römern per- 
sönlich oder durch Bevollmächtigte Rechtshülfe zu gewähren. Die 
Römer haben keinen von ihnen zu ihrem Schutz aufgefordert oder 
eine Oberhoheit durch Aufnahme der königlichen Regierungsjahre 
in ihre Urkunden anerkannt. Die Päpste haben die Freiheit des 
Kirchenstaates von den Karolingern, die nicht Kaiser waren, fest- 
gehalten. Sie haben nur mit den Jahren des Imperators geurkundet, 
weil sie keinem anderen Herrscher eine Gewalt in ihrem Lande zu- 
gestanden !), und sind Versuchen einzelner, hier Rechte zur Geltung 
zu bringen, entgegengetreten. Die erste Gelegenheit bot sich schon 
844. Ludwig II., der als Langobardenkönig einen Eid von den 
Römern und mit ihm eine Herrschaft im Kirchenstaate neben der 
seines kaiserlichen Vaters begehrte, hat sich eine Zurückweisung 
seines Anspruchs durch Sergius II. zugezogen, der er sich in Aner- 
kennung, daß sein Verlangen unberechtigt sei, gefügt hat. Und 
ein späterer Papst, der ihn zum Kaiser gekrönt hatte, hat ihm ge- 
schrieben, bloß dem Kaiser und dem Papste dürften die Römer 
Treue schwören (Epist. V 585, 24 ff., Jaffé 2620). Wenn nur sie 
ein Recht auf den Eid hatten, so hatten auch nur sie ein Recht 
auf Herrschaft. Ludwig II. erklärte selbst 871, Rom und die Römer 
ständen unter dem Kaiser, SS. III 523,26. Einem anderen Karo- 
linger gebührte weder als König noch als Patricius Gewalt über sie ?). 


1) 988 Bouquet IX 220 (Jaffé 3604) hat den falschen Zusatz Ludovico Fran- 
corum rege. Nicht selten sind Datierungen wie das. IX 212 (Jaffé 3527) post 
obitum imperatoris oder in Privaturkunden 889 bei Fantuzzi I 90: nomen d. im- 
peratoris non habemus; vgl. 937 das. I 119: imperatore nemine. 

2) Während der Reichsvacanz nach Karl II. 878 haben zwei Unterthanen 
König Karlmanns, der Kaiser zu werden wünschte, nachdem sie den Papst ge- 
fangen genommen hatten, die Optimaten Roms durch ihre Uebermacht genöthigt 
dem Könige Treue zu schwören. Der Annalist von Fulda, der den Hergang er- 
zählt, unterrichtet uns nicht, wie Karlmann sich hierzu verhalten hat. Seine 
Beamten beriefen sich nach einem gleichzeitigen Briefe Johanns VIII. (Mansi 
XVII 77, J. 3138) auf einen Befehl des Königs, aber auch wenn er ihn nicht er- 
theilt hätte, würden sie, da sie aus eigenem Recht in Rom nicht zu gebieten 
hatten, als seine Geschäftsführer eine. ihm nach ihrer Meinung günstige Hand- 
lung vorgenommen haben, auf deren Genehmigung sie hofften, mochten sie auch 
bei dem Entschluß zu der Maßregel oder bei ihrer Ausführung von ihren Sonder- 
interessen geleitet oder beeinflußt werden, vgl. Mansi XVII 60. 72—76. 79, 
J. 3119. 3122—3124. 3137. 3142. Die Bedeutung jenes Schwurs ist fraglich. 
Gregorovius, Rom 3‘, 191 dachte an die Verheißung Karlmann zum Kaiser zu 
wählen; die Vereidigung sollte ein Mittel sein um seine Bewerbung um das Im- 


398 . Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


Unter Ludwig II. stellte Hadrian II. Karl Il. die Kaiserkrone 
mit den Worten in Aussicht: te optamus ducem et regem, patricium 


perium, über welches er mit dem Papste in Unterhandlungen stand, dadurch zu 
unterstützen, daß er sich der Hauptstadt bemächtigte, um das Uebrige leichter 
zu erlangen, und der Männer sich versicherte, deren Zustimmung bei der vorigen 
Kaiserwahl bemerklich geworden war. Die Treupflicht kann sich jedoch nicht 
wohl auf ein einzelnes Recht und eine zukünftige Handlung beschränken, sie 
geht auf eine allgemeinere und gegenwärtige Befugnis, welche allerdings Karl- 
manns Kaiserwahl erleichtern mochte, ohne doch den Rechtsinhalt der Verpflich- 
tung der Römer auszumachen. Jung, Forsch. z. d. Gesch. XIV 446 erklärte, 
daß die Römer Karlmann als künftigem Kaiser schwuren. Sie schwuren nicht 
ihm zum Kaiserthum zu verhelfen, sondern im voraus für den Fall, daß er Kaiser 
würde. Diese Deutung vermeidet einen Fehler der vorigen, verfällt aber in den 
anderen, die Wirksamkeit des auf eine sofortige Gewalt gerichteten Treuschwurs 
an eine Bedingung zu knüpfen, die übrigens nicht eingetreten ist, denn Karlmann 
ist nicht Kaiser geworden. Dümmler, Ostfränk. Reich III 74 läßt dem Könige 
als Patricius den Eid leisten, wobei er den Patriciat als Schirmherrschaft über 
die römische Kirche nimmt. Der Beschützer der Kirche war jedoch nicht Lan- 
desherr; der Schutzvertrag ist nicht nur ursprünglich von dem Patriciat ver- 
schieden gewesen, sondern auch später nicht mit ihm zu Einem Recht vereinigt 
worden. Die durch den Eid gesicherte oder erworbene Gewalt über die Römer 
leitete Leopold Ranke, WG. VI 1,231 weder aus dem Kaiserthum noch aus dem 
Patriciat, sondern aus der Beerbung Ludwigs II. ab, aber außer dem Königreich 
Italien hatte Karlmann von Ludwig Il. nichts geerbt , insbesondere keine Herr- 
schaft im Kirchenstaate. Doch dürfte Rankes Urtheil soweit den Tendenzen der 
Abnehmer des Eides entsprechen, als sie zwischen dem Königreich Italien und 
dem Kirchenstaate eine neue Verbindung herstellen wollten, die weder durch 
Erbrecht noch durch Ernennung noch durch Gewohnheitsrecht bei Karlmann be- 
gründet war. Wenn diese MuthmaBung richtig ist, so wären sie die Vorläufer 
jener Politiker, die unter Kaiser Lambert in der Schrift über die kaiserliche Ge- 
walt in Rom eine literarische Vertretung gefunden haben, vgl. zu der Ausführung 
von Lapötre Kehr in diesen Anzeigen 1899 S. 379 und Schirmeyer, Kaiser Lam- 
bert 1900 S. 80ff. Es war wohl nicht ohne Absicht, daß Johann VIII. 878 
gegenüber Lambert von Spoleto hervorhob, Rom sei von jeher eine kaiserliche 
Stadt gewesen. Aber in jedem Falle ist das Vorgehen für Karlmanı 878 nicht 
karolingische Herrschaftsübung, sondern eine rechtswidrige Gewaltthat gewesen, 
durch welche Rom nicht eine Stadt des Königs geworden ist, auch wenn der 
Treueid auf die Herstellung einer solchen Macht abzielte. Karlmann hat sie 
nicht weiter fortgesetzt, er hat keine staatsrechtlichen Befugnisse, weder kaiser- 
liche noch königliche oder patriciale, in Rom wahrgenommen, sondern sich mit 
dem Papste verständigt, den er im nächsten Jahre mit der Sorge für das König- 
reich Italien, welches er in seine Gewalt gebracht hatte, betraute, Mansi XVII 
175, J. 8297. Auch sein Nachfolger im Königreich ist von einer Herrschaft im 
Kirchenstaate ausgeschlossen geblieben. Da er kein Theil des Königreichs Italien 
oder des Frankenreichs war, da der König von Italien dort ebenso wenig als ein 
anderer König der Franken oder ein sonstiger König zu befehlen hatte, war der 
Papst berechtigt das Betreten seines Landes Karl Ill, der nicht zur Erfüllung 
seines Kirchenschutzes kam, zu untersagen, das. XVII 192, J. 3838. Der König 


Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VL 899 


et imperatorem, Mansi XV 858, J. 2951. Als König war er so wenig 
patricius, als er imperator war, er soll beides erst werden und an- 
scheinend nicht nur gleichzeitig, sondern auch zusammen durch eine 
und dieselbe Handlung, durch die Krönung, sollte er die vom Papste 
aufgezählten Gewalten erwerben. dux und rex, Leiter und Beherr- 
scher, gehen wohl auf die kaiserliche Oberhoheit im Kirchenstaate, 
die von dem iibrigen Inhalt des Imperium gesondert werden konnte; 
in diesem Sinne dürfte die in dem Briefe vorhergehende Erklärung 
gemeint sein: nunguam sponte suscipiemus alium in regnum et im- 
pertum Romanun nisi teipsum. Neben der das ganze päpstliche 
Gebiet umfassenden Herrschaft bleibt für den Patriciat eine welt- 
liche Gewalt in Rom, welche neben die in dem übrigen Lande der 
Kirche gestellt werden konnte, weil sie durch städtische Vorgänge 
eine abweichende Ausbildung erfuhr. Jedoch nahm Hadrian I. an, 
daß Karl II. auch ihr Träger werden würde. Unter Lothar I. hatte 
Benedict primatum et dominium Romae, Vita Sergii II. c. 41; zu 
Ludwigs II. Zeit Gratianus plures ad suam fidelitatem per Tusiuran’ 
dum constrinzit, 852? Epist. V 585, 24 (Jaffé 2620), er maßte sich 
eine Herrschaft in Rom an. Die römische Nobilitat war bei der 
Kaiserwahl Karls II. thätig, ohne daß ein einzelner aus ihrem Kreise 
als Führer hervortritt. Da in dem Menschenalter seit Karl II. die 
Kaiser nur geringe, durch Reichsvacanzen unterbrochene und beein- 
trächtigte Macht über Rom besaßen, erlangten Weltleute eine Stadt- 
herrschaft, für welche später der Name Pafriciat aufgekommen ist. 
Er war nicht amtliche Bezeichnung , sondern eine volksthümliche 
Benennung der Machthaber in undeutlicher Erinnerung an die by- 
zantinischen Patricier, von denen Libellus SS. IH 719, 52. 720, 1 
sagte: tunc Roma per patricios principabatur, und an die karolin- 
gischen Patricier der Römer. Seit Ausgang des 10. Jahrh. werden 
die Wirkungen der nachlassenden Kaiserherrschaft in Rom deutlicher 
sichtbar ).. Es wurde behauptet, Formosus habe 891 nicht Papst 


mißachtete das Verbot, jedoch nicht um in Rom als König von Italien oder in 
anderer Eigenschaft zu herrschen, sondern um den Papst zu zwingen ihn, den 
Karolinger, zum Kaiser zu krönen. Nur insoweit als er auf diese päpstliche 
Handlung ein Recht hatte, war er zum eigenmächtigen Ueberschreiten der päpst- 
lichen Grenze befugt. 

1) Le Blanc, Monnoyes de Charlemagne 1692 S. 83 folgerte aus Urkunden 
im Chron. Farf., in denen Patriciat und Imperium unter Ludwig I. und Ludwig II. 
neben einander ständen, daß der karolingische Patriciat durch das karolingische 
Imperium nicht beseitigt sei. Vermuthlich ein Irrthum aus falscher Lesung. 
Reg. di Farfa II Nr. 215. 219. 222. 228 (815—817) datierte nach dem Postcon- 
sulat, gemäß dem byzantinischen Brauche, s. z. B. Marini, Papiri S. 368. Beda, 
Hist. V 7 (Grisar, Anal. Rom. I 103). Rossi, Inscr. urbis Romae I S. L. 516. 


400 .. Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


werden können nist cum imperatore, patricio vel tiranno Roma cap 
et imvadı impossibile videtur, Vulgarius, De causa Formosiana ed. 
Diimmler S. 120, wonach Invectiva in Romam pro Formoso, ed. 
Diimmler S. 145: nz timperiali aut regali vel patriciali aut tirannica 
potestate suffultus. Der Kaiser, der König von Italien, der Stadt- 
herr von Rom und ein Tyrann wie Markgraf Adalbert (Liudprand, 
Antapod. I 30) können einem Manne das Papstthum verschaffen. 
Die patriciale Gewalt ist hier eine rechtmäßige, läßt jedoch die 
Möglichkeit offen, daß ein anderer als der Imperator Patricius sei 
oder werden könne. Um jene Zeit, etwa 901, hat ein Privatmann 
Karl III. den Titel rex Germanorum et patricius Romanorum atque 
imperator Francorum gegeben, Visio Karoli, Hariulf III 21 publ. p. 
Lot S. 145. | 


666, Script. rer. Langobard. 351, 44. 680, Mansi XI 738. 742. 744. 776. 722, 
Mon. Germ., Epist. III 265, 9. 830, Cod. dipl. Cajet. I Nr. 2. Diese Datierung 
hat auf die karolingischen Kaiser Anwendung gefunden, 821 Archivio della Soc. 
Rom. XVI 298 und in der päpstlichen Kanzlei, welche sie aus der byzantinischen 
Zeit (Jaffe 1434. 1436. 1827. 1829. 1836. 1848. 2020. 2172. 2264. 2307. 2331) in 
die karolingische Kaiserzeit hinübernahm, das. 2616. 2663. 2672. 2717. 2904. 
2947 (echt ?). 3053. 3110. $111 (echt?). 3473 f, wohl auch das. 3465. Durch 
falsche Auflösung der Abkürzung PC hat der Patriciat zuweilen die Stelle des 
Postconsulats eingenommen, s. Marini a. O. S. 219f. Mabillon, De re dipl. 
S. 73 f. Jaffe, Bibl. III 17. Beispiele bieten Epist. ID 98, 15 (Jaffé 2549), s. Ma- 
billon a. O. 183. Hacke, Palliumverleihungen 17 f. 8$f. Dronke Nr. 575 (J. 2676), 
8. Tangl, Oesterr. Mittheil. XX 233. Marini 18 S. 27 (J. 3052), ist irrig post 
coronationem gesetzt, s. Mabillon 183. In der Urkunde 917 Dronke Nr. 665 
(J. 3558) wird der zweimalige Patrictus aus Eberhards Feder stammen, der erste 
statt perpetuus, 8. Tangl a.0., gl. Dronke Nr. 574 f, (J. 2668. 2676), der zweite 
statt Postconsulat, a. M. Giry, Manuel de diplomatique 1894 S.85, 2. Vgl. Bresslau, 
Urkundenlehre I 830, 9. Noch länger als die päpstliche Kanzlei haben Private 
nach dem Postconsulat datiert, so 968, Reg. Sublac. Nr. 52, vgl. aus Sutri Ri- 
vista storica italiana 1900 S. 339. Ob die Angabe von Gregorovius, Rom ILI* 
208 richtig ist, daß Wido »seine Decrete mit dem Postconsulat zeichnete«, 
weiß ich nicht; ich kenne kein solches Document, habe jedoch ein paar Urkunden 
dieses Kaisers nicht einsehen können. — Lothar I. heißt Romanorum patricius in 
der Fälschung oben S. 386 und Eberhard von Fulda hat Karl III. Karls I. Kö- 
nigstitel gegeben, Waitz VI 141,1, den auch König Karl Il. bei Vaissete IIb 326 
hat, eine Interpolation das. oder nach Pückert, Aniane und Gellone S. 44 f. eine 
späte Fälschung; falscher Titel 874 mit romunorum patriciatio, Chartael Nr. 32. 


Nachtrag zu S. 378,1 Ludwig II. Cod. de Langob. Nr. 196. 206. 210. 
217. 232. 242. 250. Chartae I Nr. 31. — Zu S. 391,1: sacralissimus fiscus 771, 
775, Jahrb. f. lothring. Gesch. X 379. 381. 


Straßburg, 31. December 1900. W. Sickel. 


Pieper, Die päpstlichen Legaten nnd Nuntien in Deutschland etc. I. 401 


Pieper, A., Die päpstlichen Legaten und Nuntien in Deutschland, 
Frankreich und Spanien seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. 
I. Theil. Die Legaten und Nuntien Julius III., Marcellus II. und Pauls IV, 
(1550—1559) und ihre Instruktionen. Münster, Aschendorff, 1897. VII 218 S. 
Preis 5 Mark. 


Der Verfasser hat in einer früheren Arbeit i. J. 1894 die Ent- 
stehungsgeschichte der ständigen Nuntiaturen dargestellt und beab- 
sichtigt in der vorliegenden Schrift deren weitere Entwicklung zu 
verfolgen und das Eingreifen außerordentlicher Missionen darzulegen. 
Dieser Aufgabe hat er sich mit großer Sorgfalt unterzogen; er giebt 
überall genaue Mitteilungen über die vorhandene Litteratur, und 
er stellt was noch werthvoller ist, in dem Anhange die Liste der 
vorhandenen Instruktionen und ihre Fundorte zusammen und giebt 
für die bereits publicierten aus den Originalen oder besseren Hand- 
schriften zahlreiche Lesarten. Dadurch wird sein Buch zu einem 
sehr erwünschten litterarischen Hilfsmittel für den behandelten Zeit- 
raum. Eine ziemlich ansehnliche Reihe bisher unbekannter Instruk- 
tionen hat er als Einlagen selber veröffentlicht. Er hat für diese 
Zusammenstellungen außer dem vatikanischen Archiv die bekannten 
römischen Bibliotheken der Nepotenfamilien und die seit Ranke 
viel benutzten, namentlich für Druffels Publikationen ergiebigen 
Sammlungen in Berlin und München zu Grunde gelegt; er ver- 
hehlt sich nicht, daß das Nachsuchen namentlich in italienischen 
Archiven und Bibliotheken noch manchen Fund ergeben werde. 
Namentlich scheint mir dies vom Florentiner Archiv fast sicher zu 
sein. Die Arbeit Duruys über den Cardinal Carlo Caraffa hat erst 
kürzlich wieder gezeigt, wie reichhaltig dieses Archiv für diese 
Epoche ist, in der der klügste Politiker Italiens, Großherzog Cosimo, 
seine Fäden nach allen Seiten spann. Außerdem befindet sich der 
reiche Schatz der Carte Cerviniane, der Nachlaß Papst Marcellus II. 
aus der Zeit seiner Legaten- Wirksamkeit in Florenz. Pieper zieht 
von dem Florentiner Material außer dem, was Duruy bietet, nur die 
bereits gedruckten Depeschen des Gesandten Cosimos, Serristori, an. 
Ich glaube aber nach den beiläufigen Einblicken, die ich früher in 
diese Florentiner Materialien genommen habe, daß aus ihnen eine 
viel größere Abhängigkeit Julius III. von Cosimo hervorgeht als 
Pieper annimmt, der auch hier bei dem schlaffen Papst vor Allem 
Ruhebedürfnis und Neutralitätswünsche annimmt. Cosimo war für 
Julius III. der bequemste Nachbar, auf dessen politische Virtuosität 
er sich am Liebsten verließ; und soweit der Papst überhaupt eine 
politisch - selbständige Stellung einzunehmen suchte, sprach sie sich 


402 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


in dem Wunsch aus, das italienische Kleinfürstentum nach Möglich- 
keit zu erhalten und zu kräftigen, wobei noch der beste Anhalt an 
Toskana war. Es wäre aber natürlich unbillig von einer Arbeit 
eines Privatmannes zu verlangen, daß sie eine archivalische Voll- 
ständigkeit erreicht. 

Die Darstellung legt sich eine außerordentliche Selbstbeschrän- 
kung auf. P. ist weit davon entfernt eine Geschichte der päpst- 
lichen Politik zu geben, obwohl er einige Male hierzu einen Anlauf 
zu nehmen scheint; er erklärt vielmehr selber, daß er die Vorgänge 
nur so weit berühren wolle, als sie Instruktionen oder besondere 
Sendungen von Seiten des Papstes veranlaßten. Das beeinträchtigt 
natürlich das Interesse des Buches nicht unwesentlich, macht es 
aber wohl für seinen besonderen Zweck brauchbarer. Das Urteil ist 
durchweg gemäßigt, fast möchte man sagen zu gemäßigt, und im 
Ganzen unbefangen. Ueber den Charakter Julius Ill. und über seine 
Giinstlingswirthschaft macht sich P. gar keine Illusionen; nur möchte 
er gern wenigstens für die ersten 1?/s Jahre eine Ausnahme machen. 
Julius III. sei, so meint P. mit seinen großen Aufgaben gescheitert; 
dies habe so niederdrückend auf ihn gewirkt, daß er sich jetzt erst 
von ihnen zurückgezogen habe, um der Ruhe und des Wohllebens 
zu pflegen. Schon psychologisch ist das nach Allem, was wir von 
dem bequemen und lässigen Mann wissen, nicht grade wahrschein- 
lich; der Versuch aber, den Pieper macht, seine Thätigkeit während 
des Anfangs des Pontifikats als eifrig und ernsthaft darzustellen, ist 
recht wenig gelungen. P. polemisiert gegen Druffel, der der übri- 
gens allgemein angenommenen Meinung ist, daß es Julius HI. mit 
dem Concil recht wenig Ernst gewesen sei, und daß er nur dem 
Drängen Karls V. nachgegeben habe. Hierfür sprachen nicht nur 
die bekannten Thatsachen, sondern auch ein ausdrückliches Zeugnis 
des Cardinals Otto von Augsburg, der als Entschuldigung, weshalb 
er nicht zum Concil komme, schreibt: sunderlich aber, das die B. 
Heil. durch den Herrn cardinal Mapheum mir schreiben lassen, mich 
amheinbs, bis B. Heil. mich und andere cardinal erfordern, zu ent- 
halten (Druffel I.n. 812). Hieraus liest doch wohl jeder, daß 
Julius II. nach Möglichkeit die deutschen Besucher fern halten 
wollte, denn Otto Truchseß war ganz unzweifelhaft der Führer der 
ganzen streng-katholischen Partei in Deutschland, und sein Beispiel 
für diese von großer Bedeutung. Einen solchen Schluß zieht denn 
auch Druffel. P. glaubt ihn widerlegen zu können durch die Be- 
merkung: Dr. übersieht dabei, daß es in dem Schreiben ausdrück- 
lich heißt »mich und andere cardinäl.< Um seine Anklage zu be- 
gründen, müßte er Briefe der Kurie an Bischöfe auffinden. Denn bei 


Pieper, Die päpstlichen Legaten und Nuntien in Deutschland etc. I. 403 


der Sonderstellung der Cardinäle und angesichts der Thatsache, daß 
man beim Tode Pauls III. eine schismatische Wahl in Trient be- 
fürchtete, lassen sich doch wohl andre Erklärungen für obiges Schrei- 
ben beibringen.< P. scheint also anzunehmen, daß Julius III. auch 
nach erfolgter Wahl ein Cardinal-Schisma in Trient befürchtete, daß 
er Otto Truchseß beargwohnte, daß er aber den Beargwohnten zu- 
gleich bat fern zu bleiben, daß er in ihm nur den Cardinal und 
nicht den deutschen Bischof, während er doch nur als solcher jenen 
Titel erhalten hatte, erblickte. Das ist doch alles so unwahrschein- 
lich wie möglich und nur der Ansicht zu Liebe geschrieben, daß es 
durchaus dem Papst Ernst sein muß. Uebrigens findet sich in den 
von P. selbst im Anhang herausgegebenen Instruktionen eine recht 
offenherzige Aeußerung des Papstes über seine Stellung zum Concil, 
wie das überhaupt eine seiner guten Seiten war, daß er seine Mei- 
nungen unverstellt heraussagte. In der Instruktion für den Legaten 
Muzzarelli vom 21. Jan. 1554, äußert er seine Unzufriedenheit mit 
dem Verhalten der Spanier auf dem Concil, die ja auch in den spä- 
teren Sessionen der Curie immer am Unbequemsten waren, und 
lehnt strikt jede Wiederaufnahme des Concils ab, obgleich doch that- 
sächlich die unter ihn fallende Epoche der Kirchenversammlung wie 
die unbedeutendste so auch die stillste gewesen war '). 

In derselben Instruktion spricht sich Julius III. auch über den 
Krieg gegen die Farneses aus. Sehr unbefangen äußert er sich da- 
hin, daß der Ungehorsam dieses Lehensmannes gegen den päpst- 
lichen Stuhl ein bloßer Vorwand gewesen sei und daß man in Wirk- 
lichkeit nur Vorsorge habe treffen wollen, daß von jenem Orte 
(Parma) den Staaten des Kaisers in Italien kein Schaden zugefügt 
werde. Das habe der Legat zu betonen, wenn etwa der Kaiser den 
Sachverhalt umgekehrt darstellen wolle. Deutlicher kann denn doch 
der Papst seine Unselbständigkeit nicht aussprechen. Auch hier hat 
er nie daran gedacht, eine eigene Aufgabe aufzunehmen. Dasselbe 
Ergebnis würde auch bei einer genaueren Betrachtung des Ver- 
haltens: des Papstes in dem letzten Freiheitskampfe Silvas ergeben. 
Neutral wollte er freilich bleiben, schon damit dem Kirchenstaat 
keine Unbequemlichkeiten und Lasten erwüchsen, aber nach Möglich- 
keit hat er auch hier Karl V. und Cosimo begünstigt. Der Kaiser 
hat nie mit einem gefügigeren Papst zu thun gehabt; freilich nützte 


1) p. 173. Quest’ avvertimento ha da servire, se mai accedessi di parlarsi 
di resumere il Concilio, o d’indirlo in qualite altro luogo, per una prefatione et 
unu massima che dua Bre non vi se lasourcbbe mai indurre per non cognoscervi 
alcun benefitto per ıl ben publico, massimamente per la religione, et potersene as 
rettare maggiori dieturbi et inconrenients, 


404 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


auch die Gefügigkeit eines so schlafen, unthätigen Mannes nicht 
viel, zumal gerade in sein Pontifikat die Katastrophe der Politik 
Karls V. fiel. Aus diesen bei P. veröffentlichten Instruktionen sieht 
man recht deutlich, wie auch die Nothlage Karls den Papst nicht 
einen Augenblick in die Versuchung führte, sich der Abhängigkeit 
von ihm, bei der er sich offenbar ganz wohl befand, zu entziehen. 
Beinahe empfindsam bittet er König Heinrich II. seine Vorteile nicht 
weiter zu verfolgen, da es dem Kaiser doch schon schlecht genug 
gegangen sei; namentlich der Gedanke, daß es in Italien Unruhe 
geben könne, ist ihm begreiflicher Weise sehr peinlich. In diesen 
Instruktionen des nach Frankreich gehenden Legaten zeigt sich Ju- 
lius’ subalterne Natur noch deutlicher als in den übrigen. Es kommt 
ihm namentlich darauf an, Heinrich zu versichern, daß er ihm nie 
Vorwürfe über jenen Bund mit Türken und Ketzern machen werde, 
ihn vielmehr immer gegen den hieraus entspringenden Tadel in 
Schutz genommen habe’). Er will eben auch da alle Dinge laufen 
lassen und selber in seinem behaglichen Leben, seinem Kunstdilet- 
tantismus, man mag sagen im alten Schlendrian, nicht gestört wer- 
den. Das meisterhafte Bild, das Ranke von ihm gezeichnet hat, 
findet thatsächlich nur überall seine Bestätigung !). 

So wenig sich P. für die Person des Papstes erwärmt, so sehr 
ist ihm doch im Ganzen seine Politik sympathisch, denn er stellt 
sich ganz unbedingt auf den kaiserlichen und spanischen Standpunkt. 
Das ist einmal alter Gebrauch der specifisch katholischen Geschichts- 
schreiber, und das persönliche Recht zu einer solchen Auffassung 
soll ihnen nicht bestritten werden; man möchte ihnen aber doch 
einmal bemerklich machen, daß sie bei dieser Einseitigkeit der poli- 
tischen Beurteilung gerade den originellsten Naturen der Gegen- 
reformationszeit gar nicht gerecht werden können, wie es Ranke und 
die, welche in seiner Bahn weiter arbeiten, viel leichter vermögen. 
Die Darstellung der Politik Pauls IV. bei P. ist demgemäß nichts 
als eine fortgesetzte Anklageakte. Daß dann Paul IV. zur persön- 
lichen Entlastung als weltfremder Asket dargestellt werden soll, ist 
ganz verfehlt. Es gab doch thatsächlich damals keinen Cardinal 
— Ildrone stand noch in seinen Anfängen —, der von Jugend an ein 
langes Leben hindurch in so viel bedeutsamen Stellen und Lagen 
gewesen wäre und solchen politischen Einfluß — man denke nur an 


1) p. 179. A tutte Vhore & interpellata S. Sta di risentirst per questa venula 
ogni anno de’ Turchi nelli mari nostri et per tl fomento che at da alli heretici et 
ne sono state fatte parole publicamente in Concistoro: non dt meno S. Bre non 
ha fatto demonstratione alcuna contra Uhonor del re, ma Cha diffeso opportuna- 
mente gui, quando & bisognato. 


Pieper, Die päpstlichen Legaten und Nuntien in Deutschland etc. I. 405 


seinen venetianischen Aufenthalt — ausgeübt hätte, wie Caraffa. 
Daß dieser furchtbare Greis eine der gewaltigsten Naturen war, die 
auf dem Stuhl Petri gesessen haben, daß er in allen Punkten der 
Gegenreformation die Bahnen gewiesen hat, daß er der letzte Papst 
gewesen ist, der zugleich ein geistlicher Weltherrscher und ein ita- 
lienischer Patriot gewesen ist, daß auch rein ınenschlich betrachtet 
sein Pontifikat eine der eigenartigsten Tragödien, die die Geschichte 
kennt, gewesen ist, davon bekommt man hier keine Ahnung; denn 
P. schreibt als Anwalt Philipps II., abgesehen freilich von den Diffe- 
renzen, wo es sich um die innere spanische Kirchenpolitik Philipps 
und der Bischöfe handelt, die zugleich die Domkapitel und die 
päpstlichen Befugnisse einschränkten. Die spanischen kirchlichen 
Verhältnisse werden ja nach dieser letzten Richtung hin geradeso 
wie später die französischen unter Ludwig XIV. von katholischer 
Seite sehr streng beurteilt. Das mag aber jeder halten, wie er will, 
wenn nur das Material sorgfältig verwerthet ist, und dies muß man 
P. entschieden nachrühmen. Für das Pontifikat Pauls IV. hat er 
nicht so viel Neues beibringen können wie für dasjenige Julius II. 
Ueber Duruy geht er meistens nur durch die ausgiebige Verwen- 
dung der zum großen Teil erst seitdem veröffentlichten venetiani- 
schen Papiere hinaus. Von hervorragender Bedeutung unter den 
von P. neu gegebenen Aktenstücken ist aber die Instruktion für 
Zaccaria Dolfino, den für Deutschland Januar 1556 bestimmten Le- 
gaten. Sie ist eine der merkwürdigsten Urkunden zur Geschichte der 
Gegenreformation in Deutschland, besonders was die Weisungen, die 
der Legat für Herzog Albrecht von Baiern erhielt, anlangt. Er sollte 
ihm die Reformbestrebungen, die von Knöpfler sorgfältig behandelt 
worden sind, ausreden. Es ist bezeichnend, wie der Papst Baiern 
die Stellung an der Spitze der deutschen Katholiken anträgt ’). 
Uebrigens sind die Instruktionen Pauls IV. sofort weit geistreicher 
und lebhafter geschrieben, hat doch der liebenswürdigste Schrift- 
steller jener Tage, Casa, bei ihnen die Feder geführt; und unter 
den mancherlei Seltsamkeiten dieser an Widersprüchen reichen Zeit, 
bleibt es eine der seltsamsten, daß der Verfasser des Galateo zu- 
gleich der Geheimsekretär Pauls IV. war. 

1) Nostro Sre et questa santa sede le restera con perpetuo obligo et cercara 
sempre di favorirlo, honorarlo et esaliarlo; Sa Ecc® ancora quasi come capo tra 
principi secondari dalla parte catholica ne acquistura gran reputatione, et con pro- 
cesso di tempo grand’ utile: perche li principi ecclesiastict ragionevolmente saranno 


astrotti colligarsi insieme, et in tal caso facilmente torcara tl carico a S, Ecca 
_ della lor protettione. 


Bonn, 18. Marz 1901. E. Gothein. 


406 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


Beiträge zur Romanischen Philologie. Festzabe für Gustav Gröber 
von Ph. A. Becker, D. Behrens, E. Freymond, M.Kaluza, E. Kosch- 
witz, H. R. Lang, F. E. Schneegans, H. Schneegans, C. This, 
G. Thurau, K. Vossler, H. Waitz, L. Zéliqzon, R. Zenker. Halle, 
Niemeyer 1899"), V 541 S. Preis 16 Mk. 


Gustav Gröber, der 1873 zum ordentlichen Professor in Breslau 
ernannt worden war, haben zur fünfundzwanzigsten Widerkehr 
dieses Tages vierzehn seiner Schüler den vorliegenden Band ge- 
widmet, aus dem man übrigens den Tag des Festes gar nicht er- 
fährt. Es war, um diese Angabe hier nachzuholen, der 31. Dezember. 
Gröber hat von diesen fünfundzwanzig Jahren sechs in Breslau und 
neunzehn in Straßburg gelehrt. Er ist als Lehrer wie als Forscher 
einer der vielseitigsten unserer Romanisten, und kaum ein andrer 
hat so viele neue und fruchtbare Gedanken in unsere Wissenschaft 
hineingetragen, die den verschiedensten Gebieten, die sie umschließt, 
zu Gute gekommen sind. 

Als ich im Herbst 1868 als jüngerer Student die Universität 
Leipzig bezog, lernte ich dort Gröber ais Famulus Adolf Eberts 
kennen, doch ohne ihm persönlich näher zu treten, der bereits vor 
dem Abschluß seiner Studien stand. Erst nachdem ich Gröbers 
Nachfolger als außerordentlicher Professor in Zürich geworden war 
(Herbst 1874), bahnte sich zwischen uns eine Freundschaft an, die, 
der Verehrung für den gemeinsamen Meister entsprossen, seitdem 
niemals eine 'Trübung erfahren hat, vielmehr im Laufe der Jahre 
durch mancherlei neu gefestigt worden ist). 

Für ein Vermächtnis Eberts, der bekanntlich weit mehr Litterar- 
historiker als Sprachforscher gewesen ist, an seine Schüler darf eine 
Richtung auf das Encyclopädische gelten, die besonders durch seine 
Vorlesung über die lateinische Litteratur des Mittelalters vertreten 


1) Besprochen von A. Tobler in der Deutschen Litteraturzeitung 1900 Sp. 44, 
von G. Paris in der Romania XXIX 38.117, von O. Schultz-Gora in der Zeit- 
schrift tir Französische Sprache und Littteratur, 1900, S. 72, von A. Wailenskéld 
in der Revue des langues romanes XLIII S. 161. 

2) Von akademischen Lehrern sind aus der Schule Adolf Eberts noch fol- 
gende Romanisten hervorgegangen: Gustav Körting (in Kiel), Heinrich Körting 
(gest. 1890 in Leipzig), Alfred Odin (gest. 1896 in Sofia), Adolf Birch-Hirschfeld, 
Franz Settegast, Gustav Weigand (alle drei in Leipzig). Ferner sind als ge- 
lehrte Forscher auf dem Gebiete des Romanischen hier zu nennen: Ludwig 
Fränkel (in Aschaffenburg), Otto Knauer (in Leipzig), Hermann Knust (gest. 
1889 bei Clarens), Max Mann (in Leipzig), Richard Otto (in München) und gewiß 
noch andre. Von Germanisten, wie Eduard Sievers und Richard Wülker, darf 
hier abgesehen werden. 


Beiträge zur Romanischen Philologie. 407 


war. Diese Richtung findet sich wohl am ausgesprochensten bei 
G. Körting und bei Gröber, von jenem mehr nach der pädagogischen 
Seite und mehr in die Breite, von diesem mehr nach der streng- 
wissenschaftlichen Seite und mehr in die Tiefe gehandhabt. 

Im »Gröberband« eröffnet den Reigen 1) 8.1 Koschwitz, 
Ueber einen Volksdichter und die Mundart von Amiens. 
Man liest gern die Erzählung von K.s Aufenthalt in Amiens, die 
mitgetheilten von Pierre Dupuis verfaßten Dichtungen, deren Autor 
in einem Armenhaus aufgesucht werden mußte, die angehängte 
Formenlehre der Mundart von Amiens. Die Texte sind in der 
Graphie, in der sie früher veröffentlicht wurden, und daneben in 
phonetischer Umschreibung gedruckt. Beim aufmerksamen Lesen 
fallen manche Schwankungen auf. Die Priiposition dans, Patoisform 
da, tritt im ersten Lied mit 4 verschiedenen « auf, das Wort Hotoie 
im zweiten mit 3 verschiedenen 0, von denen eins 5 mal, eins 4 mal, 
eins 3 mal vertreten ist. Solche Unterschiede kommen selbst da 
vor, wo eine Refrainzeile lediglich widerholt wird. Offenbar soll 
hier die Aussprache jeder Silbe möglichst getreu reproduziert werden. 
Nur wüßte man gern, ob auch Vorkehrungen getroffen wurden, um 
ganz zufällige Entgleisungen der Aussprache als solche zu ermitteln, 
um zu vermeiden, daß Lautformen verewigt werden, die möglicher 
Weise durch eine ganz vorübergehende Störung in der Disposition 
der Sprachwerkzeuge hervorgerufen sind. Es fällt ferner auf, daß 
die für den Gesang bestimmten Lieder keineswegs immer in den 
einander entsprechenden Strophenzeilen die selbe Silbenzahl aufweisen; 
wenigstens ist dies nicht immer ersichtlich. So muß gleich in der 
zweiten Zeile 10 zweisilbig gesungen werden, während es nach K. 
einsilbig gesprochen ist. Es handelt sich hier um subtile Unter- 
scheidungen ; doch kann man kaum glauben, daß der Dichter diesen 
Zwiespalt so gewollt hat. Er streut zwar französische Formen und 
Phrasen ein (z. B. du, au, soit, eux, on, dise), will aber offenbar seine 
Versbildung auf dem rein volksmäßigen Niveau halten, sie keines- 
wegs dem litterarisch-klassischen Typus anpassen. Im ersten Liede 
hätte V. 14 s’mi pante ruhig mit sa demi-pinte widergegeben werden 
dürfen. In V.50 weiß ich nicht, was der Accent in kerél* bedeutet. 
Druckfehler scheinen vorzuliegen in 17, 39 Variante (é statt 2), 19, 39 
(l statt Zi), 23,32 (s statt 2), 24,7 (ge statt ge), 29,50 (/’ fehlt). 

Auf Edouard Paris, le Saint Evangile selon st. Matthieu, tra- 
duit en picard amienois, London 1863, ist gar kein Bezug genommen 
worden, und doch hätte man einige Unterschiede gern erläutert 
gesehen. So lautet die Form des lat. veniant bei K. vient, im 
Matthäus vg@nst (um bei K.s Transscription zu bleiben). Für Fehler 


408 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


in K.s Formenlehre müssen gelten bidmrue statt blamre S. 33, ve- 
ducm statt veduem S. 34, wohl auch pärt lab. partiant statt parst 
S. 36. 

2) S. 39 Hugo Waitz, Der kritische Text der Ge- 
dichte von Gillebert de Berneville mit Angabe sämt- 
licher Lesarten nach den Pariser Ilandschriften. Eine 
kritische Ausgabe Gilleberts ist auch nach Scheler dankenswerth. 
Waitz hat dazu das gesammte handschriftliche Material verwerthet. 
Weshalb er aber die graphischen Varianten auch solcher Texte aufs 
Neue verzeichnet, die bereits nach der Handschrift in extenso ge- 
druckt waren, ist nicht einzusehen. Auch wäre Sonderung der Sinn- 
varianten von den graphischen zu empfehlen gewesen. Einen Nach- 
trag zu seiner Ausgabe veröffentlicht Waitz in Gröbers Zeitschrift 
XXIV. 310 fg. 

3) S. 119 Max Kaluza, Ueber den Anteil des Raoul 
de Houdenc an der Verfasserschaft der Vengeance 
Raguidel. Kaluza führt sehr beachtenswerthe Gründe dafür an, 
daß Raoul de Houdenc — um bei seiner Schreibung zu bleiben — 
die von einem andern unvollendet gelassene Vengeance Raguidel 
überarbeitet und fortgesetzt hat. Auch werden über die Reihen- 
folge, in der Raoul seine Werke verfaßte, Betrachtungen angestellt, 
die die Sache fördern. 

4) S. 149 Behrens, Zur Wortgeschichte des Fran- 
zösischen. 22 etymologische Artikel, die meist entlegenere Worte 
betreffen. Bei allen bis auf zwei handelt es sich um germanische 
Etyma. Die gegebenen Erklärungen sind fast durchweg überzeugend. 
Ich füge hier ein Paar Bemerkungen linzu. S.153 lifecop (bei 
Godefroy) ist schon mittelniederländisch (vgl. Verwijs en Verdam, 
Middennederlandsch woordenboek) vorhanden. — S. 159 die Ver- 
wendung von laban im Sinne von »Faulpelz« ist wohl erst durch 
volksetymologischen Zusammenhang mit lubben (schwätzen) hervor- 
gerufen, wie man in Hessen eine ungeschickte (/ahme) Person >du 
Lama!« schimpft. — S. 161 /urelle »Windel« ist jetzt auch im 
Bretonischen nachgewiesen, Revue critique 1900, LU 221, wie auch 
Behrens gesehen haben wird. — Auf S. 165 sagt B.: »So weit ich 
sehe, ist lat. stimulus sonst auf galloromanischem Gebiet in volks- 
tümlicher Gestalt nicht erhalten<. Ich weiß nicht, ob er Meyer- 
Lübke I S. 53 hier übersehen hat, oder ob er Oberitalien nicht 
zum galloromanischen Gebiet rechnen will, zu dem es unzweifelhaft 
gehört. — Zu varlope 8. 167 hätte eine werthvolle Bemerkung Tob- 
lers angeführt werden sollen (Sitzungsber. der Berliner Ak., philos.- 
histor. Klasse, 1896, 869). 


Beiträge zur Romanischen Philologie. 409 


5) 8. 171 Zenker, Die historischen Grundlagen der 
zweiten Branche des »Couronnement de Louis« Die 
zweite Branche des Couronnement de Louis erzählt, wie Guillaume 
d’Orange Rom und Unteritalien von den Sarrazenen befreit und von 
einer Verletzung seiner Nase den Beinamen »Kurznase« erhält. Seit 
einiger Zeit nehmen die Gelehrten ziemlich allgemein an — auch 
der neueste Herausgeber, Ernest Langlois, vertritt diese Ansicht 
mit wahrhaft epischer Breite —, daß historische Ereignisse des IX. 
Jahrhunderts, der Zeit von 871—-873, die Sagenbildung hervorgerufen 
haben. Indessen hatte Paulin Paris (Hist. litt. XXII 487 Manu- 
scrits franc. III 126) die Ansicht vertreten, daß die historische Grund- 
lage der Chanson vielmehr in den Kämpfen der Jahre 1016—1042 
zu suchen sei, und Zenker vertheidigt diese Ansicht, ohne die er- 
ste ganz fallen zu lassen: er nimmt an, daß das XI. Jahrhundert 
den Hauptstoff der Branche geliefert habe, daß aber auch ein Wider- 
schein der ältern Begebenheiten des IX. Jahrhunderts darin zu er- 
kennen ist. Ich war unabhängig von Zenker zu dem gleichen Er- 
gebnis gelangt, nur daß ich diesen Widerschein nicht einmal für 
ganz sicher hielt, und hatte die Absicht, über den Gegenstand eine 
Untersuchung zu veröffentlichen, als Zenker mir mit der seinigen 
zuvorkam. Obwohl nun meine wichtigsten Ergebnisse von Zenker 
vorweggenommen sind, möchte ich doch hier auf die Sache kurz ein- 
gehen, einmal weil Gaston Paris in der Romania XXIX S. 119—121 
Zenkers Ansicht angegriffen hat, und weil ich einige Beobachtungen 
meinerseits den von Zenker beigebrachten hinzufügen möchte. Was 
gegen die Herleitung der zweiten Branche aus Ereignissen des 
XI. Jahrhunderts von Jonckbloet und Langlois vorgebracht war, 
hatte Cloétta als zum guten Theil auf Irrthum beruhend widerlegt 
und bereits dadurch der jetzt von Zenker und mir vertretenen Auf- 
fassung den Weg bereitet. Dienlich war mir besonders das ausge- 
zeichnete Werk Lothar von Heinemanns, meines frühern, seitdem 
nach Tübingen berufenen Kollegen, Geschichte der Normannen in 
Unteritalien und Sicilien, Band I, Leipzig 1894, an das auch Zenker 
anknüpft. 

Wenn wir die Thatsachen des IX. und die des XI. Jahrhunderts 
neben die Erzählung unserer Branche stellen, so sieht man leicht, 
daß die Uebereinstimmung mit dem XI. Jahrhundert eine weit größere 
ist. Im neunten Jahrhundert leitete König Ludwig persönlich den 
Feldzug; in der Chanson bleibt er ruhig in Frankreich. Dieser 
Unterschied muß stark in die Wagschale fallen. Für das IX. Jahr- 
hundert läßt sich nicht viel mehr als der Name Gaifier anführen, 
der als der bekanntere und episch ältere, zumal bei der Aehnlich- 

Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 98 


410 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


keit von Waifarius und Waimarius, leicht an die Stelle des letztern 
gesetzt werden konnte. Die Vertauschung ähnlicher Namen findet 
sich ja im Leben des Epos nicht selten. Ich erinnere nur an die 
Verwechslung von Childertch und Chilperich in der Geschichte, an 
die von Rainfroi und Hainfros in der Sage von Karl Martell. Man 
könnte etwa noch die Kämpfe um Capua und die Bedrängung Gai- 
fiers durch die Sarrazenen auf das IX. Jahrhundert deuten. Doch 
hat Capua auch in den Kämpfen des XI. Jahrhunderts zwischen 
Normannen und Griechen eine Rolle gespielt, und Waimarius IIL, 
dessen Regierung ohnedies für das Epos mit in Betracht kommen 
muß, ist von den Sarrazenen ähnlich wie einst Waifarius bedrängt 
worden. Ich halte daher die Beziehung der zweiten Branche auf 
das IX. Jahrhundert für ganz unsicher, will aber freilich die Möglich- 
keit nicht bestreiten, daß die Branche den Einfluß eines ältern Liedes 
erfahren haben kann, da die Ereignisse von 866—872, wie Zenker 
zeigt, in anderen Epen Spuren hinterlassen haben'). Dagegen liegen 
unzweifelhaft der zweiten Branche Ereignisse des XI. Jahrhunderts 
zu Grunde, und da dieses bestritten wird, stelle ich hier die wich- 
tigsten Züge des sagenhaften Berichts neben die Angaben der Ge- 
schichte. 


Angaben der Sage: Guillaume Historische Thatsachen: Guil- 


genannt Fierebrace vertheidigt in 
Unteritalien den König Gaifier 
gegen die Sarrazenen und wird 
mit der Halfte von Gaifiers Reich 
und mit der Hand seiner Tochter 
belohnt. Der Führer der Sarra- 
zenen heißt Galafre. 


laume de Hauteville genannt Fera- 
brachius oderFerreabrachia kämpft 
in Unteritalien für den Fürsten 
Waimarius IV., Mitregenten seines 
Vaters seit 1018, gegen die Sarra- 
zenen und Griechen und erhält 
1042 mit der Grafschaft Apulien 
die Hand von W.s Nichte. Zwei 
seiner Brüder heiraten Töchter 
des W. Der Führer der Sarra- 
zenen heißt Apolaffar. 


Daß der Guillaume dieser Sage zunächst ein ganz anderer ge- 


wesen ist, als Guillaume d’Orange, mit dem er in der Chanson nicht 
ohne Gewaltsamkeit identifiziert wird, gibt auch Gaston Paris zu. 
Dagegen bestreitet dieser sowohl die Identität des Guillaume de 
Hauteville mit dem Guillaume des Couronnement de Louis als auch 
die Identität des historischen Apolaffar mit Galafre. In beiden 
Puncten muß ich ihm widersprechen. 


1) Sollte dahin nicht auch die Erwähnung der Stadt Bar im Munde König 
Ludwigs gehören? Vgl. Enf. Vivien 2857. 2863. 3100. 


Beiträge zur Romanischen Philologie. 411 


Zenker hat nicht erwähnt, daß, wie Drogo, so auch ein zweiter 
Bruder Wilhelms, Robert Guiscart, eine Tochter Waimarius des IV. 
zur Frau erhielt. Weiter hat Rajna, Romania XXVI 65, auf eine 
Chronik von Faenza hingewiesen (sie ist vor 1219 verfaßt, von dem 
1226 gestorbenen Magister Tolosanus), wo Bohemund von Tarent, 
der älteste Sohn Robert Guiscarts, ein Nachkomme oder Verwandter 
des Guillaume d’Orange genannt wird: 

Abuiamons de stirpe G. de Orenga. 

Nun stammte allerdings Bohemund aus erster Ehe, und die Tochter 
Waimarius des IV. von Salern war seine Stiefmutter; doch hat die 
Sage (oder der Chronist) diesen Umstand ignoriert. Die behauptete 
Verwandtschaft aber wird auf unserer zweiten Branche beruhen und 
die Identität des Guillaume Fierebrace mit Guillaume Ferabrachius 
zur Voraussetzung haben. Damit ist die von Gaston Paris be- 
strittene Identität zwar nicht erwiesen, aber doch wenigstens so viel 
wahrscheinlich gemacht, daß sie schon im Mittelalter angenommen 
wurde. 

Zenker bespricht die Herleitung von Galafre aus Apolaffar auf 
S. 217. Daß man Galafre früher aus El Fehri herleiten wollte 
(Rajna, Origini S. 222), läßt er unerwähnt, und ist bemüht, die laut- 
lichen Uebergänge von Apolaffar in Galafre nach Kräften plausibel 
zu machen. »Wenn man bedenkt«, sagt er schließlich, »welche arge 
Entstellungen gerade arabische Namen zu erfahren pflegten, so wird 
man urteilen, daß Galafre dem Apolaffar — welche Form freilich 
selbst schon aus Abu-Giafar verderbt ist — noch verhältnismäßig 
sehr nahe steht«. Ich gebe zwar Zenker Recht; doch genügt mir 
seine Begründung nicht; denn die Zwischenstufen zwischen Apolaffar 
und Galafre sind noch erhalten. So kennen lateinische Chroniken 
eine Form Abulafer - (Reinaud, Invasions des Sarrazins en France 
S. 111 Anm. 2), und in den Chansons de geste findet sich Agolufre 
(Fierabras S. 130, Narbonnais V. 7441, Aliscans ed. Rolin V. 373, 
ed. Jonckbloet Bd. II S. 289, ed. Guessard. S. 192) und sogar Aba- 
lafre (vgl. Siele, Ueber die Chanson Guibert d’Andrenas, Marburg 
1891, S. 34 letzte Zeile). Gaston Paris richtet allerdings seine Po- 
lemik nicht sowohl gegen den etymologischen als gegen den histori- 
schen Zusammenhang, den Zenker annimmt; ich glaube aber, daß 
beide nicht getrennt werden können. 

Wenn der Guillaume der Chanson als Vertheidiger des Papstes 
auftritt, so kann dieser Zug nicht auf Guillaume de Hauteville be- 
zogen werden: er rührt wahrscheinlich von Guillaume de Montreuil 
her, der in der That im Dienste des Papstes kämpfte. Er war eine Zeit 
Jang der Fahnenträger des Fürsten Richard von Capua. Seine Heimat 

28 * 


412 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Montreuil wird — allerdings mit unrichtiger Lokalisierung — später 
(V. 2649) in der Chanson genannt, was gegen die Annahme zu spre- 
chen scheint, daß in der zweiten Branche ein älteres Lied fast un- 
verändert dem Couronnement de Louis einverleibt worden sei. Auch 
V. 391 ist offenbar nur im Hinblick auf die von dem letzten Redac- 
tor erfundene Doppelehe des Helden gesetzt. Der Name Fierebrace 
wird dem Helden Guillaume d’Orange schon früher gehört haben 
und nicht erst aus der zweiten Branche stammen. 

6) S. 233 This, Zur Lehre der Tempora und Modi 
im Französischen. Die These, die This hier verficht, läuft dar- 
auf hinaus, daß zu den drei anerkannten Modi des Französischen 
noch zwei neue hinzukommen sollten: der Narrativ und der Condi- 
tional (so schreibt This). Jener ist durch das Défini und das um- 
schriebene Perfect, dieser durch das Futurum und das Condicionale 
vertreten. Ich halte die These nicht für erwiesen. Weder vermag 
ich einzusehen, was damit gewonnen ist, wenn écrivais und écrivis 
als zwei verschiedene Modi getrennt werden, noch glaube ich, daß 
das Futurum »ein Geschehen als (durch ein oder mehrere als wahr- 
genommen gedachte Geschehen) bedingt gedacht hinstellt«. Die Aus— 
sage »>ich werde den Brief beantworten< stellt den Eintritt dieser 
Handlung fest und unbedingt in Aussicht. Wer dabei mit This eine 
reservatio mentalis macht, kann sich ebenso wenig auf den Sprach— 
gebrauch als auf die Entstehung der Verbalform des Futurums be— 
rufen. Daß der so Sprechende nicht Herr über die Zukunft ist undl 
z.B. durch den Tod an der Ausführung der Handlung verhindert 
werden könnte, ist zwar richtig; doch ist dies bei der erwähnters 
Aussage nicht in Betracht gezogen, die über den Eintritt der voraus- 
gesagten Handlung keinerlei Zweifel ausdrückt. This äußert siche 
über das Gebot Zu ne tueras pas — ich kenne nur Tu ne tueras 
point — mit den Worten: »Hiermit soll doch wohl nicht auch ge- 
sagt werden, daß man in einer spätern, einer kommenden Zeit nicht 
töten werde; vielmehr hat man sich als wahrgenommenes Sein, das 
zu jenem Geschehen die Bedingung ist, etwa zu denken: »Du willst 
den Geboten Gottes folgen<: also hast du nicht zu töten, hast nicht 
‚einen Schritt breit« die Disposition zu töten. Das als wahrgenom- 
men gedachte Befolgen der Gebote Gottes bedingt das Nichttöten«. 
Hier scheint mir weder berücksichtigt zu sein, daß das französische 
Gebot auf dem lateinischen No vccides beruht noch auch, daß es 
Gott selbst in den Mund gelegt ist. Gottes Gedanke ist nicht an 
die Bedingung geknüpft: »wenn du meine Gebote befolgen willst«, 
sondern lautet vollständig ausgedrückt: Mit meinem Willen wirst du 
nicht töten. Damit ist allerdings die temporale Bedeutung des Fu- 


Beiträge zur Romanischen Philologie. 418 


turums zu einer modalen verschoben, wie denn solche Verschiebungen 
in den Sprachen überaus häufig sind; aber diese modale Bedeutung 
ist hier keine condicionale. 

Auch sonst wird von This Manches geäußert, was ich bean- 
stande. »Vor allem«, sagt er, »kennen wir die Syntax der in Frank- 
reich geredeten lateinischen Sprache gar nicht«. Er dürfte sich hier 
in einem Irrthum befinden. Denn seit Anfang des VI. Jahrhunderts 
zahlreich vorhandene Urkunden und Texte der Merowingerzeit zeigen 
eine ganz romanische Syntax, und Diez hat bereits mit Recht be- 
tont, daß wir die Syntax des Galloromanischen an der Hand der 
Quellen weit höher hinauf verfolgen können, als die Laute und For- 
men. — >Man muß sich wundern«, sagt This einige Zeilen weiter, 
»wenn in neuern Grammatiken noch von Verben und Adjektiven mit 
einem Accusativ-, Dativ- oder Genitiv-Objekt die Rede ist«. Ich 
stehe immer noch auf dem hier für veraltet erklärten Standpunkt, 
der in 2 lut tend la main von dem Dativobject Zus und dem Ac- 
cusativobject Ja main zu reden gestattet, und werde This sehr ver- 
bunden sein, wenn er mich über meinen Irrthum aufklären will. 

7) S. 252 P. Becker, Der Siege de Barbastre. Ana- 
lyse des Gedichts auf Grund der Pariser Handschrift fr. 24369, de- 
ren zwei Blätter umfassende Lücke aus fr. 1448 ergänzt ist. 

8) S. 267 Heinrich Schneegans, Groteske Satire 
bei Moliére? Der verdienstvolle Verfasser der Geschichte der 
grotesken Satire stellt fest, daß sie bei Moliere kaum eine Rolle 
spielt. Ist mit diesem negativen Ergebnis nicht viel gewonnen, so 
scheint mir auch der Weg, der dahin geführt hat, nichts von Belang 
zu bieten. Die Art, wie dabei das Wesen des Komischen und des 
Witzes definiert wird, dürfte den Kern der Sache nicht getroffen 
haben, und geradezu protestieren muß ich gegen den Ausspruch 
(S. 275): »Das Schürzen des Knotens ist ja überhaupt nie Moliéres 
starke Seite gewesen<. Bisher waren alle Urtheile darin einig, daß 
Moliére im Schürzen des Knotens Meister ist, während er allerdings 
die Lösung des Knotens öfter gewaltsam oder unvermittelt herbeiführt. 

9) §. 311 Freymond, Artus’ Kampf mit dem Katzen- 
ungetüm. Die merkwürdige Sage von Arthurs Kampf mit einer 
Riesenkatze wird hier mit einer wahrhaft erschöpfenden Gründlich- 
keit behandelt. Freymond geht von der Darstellung des Merlin- 
fortsetzers aus, die er nach der Darmstädter Handschrift heraus- 
giebt'). Die Geschichte ist hier bereits in der Nahe des Genfer 

1) Vielleicht hatte er besser gethan, pisson, utr, courchies nicht in poisson, 
weir, courouchies zu ändern, da es sich um ganz übliche Formen der Pikardischen 
Mundart handelt. S. 325 Z. 1 ist für chas zu setzen cas. 


414 Gött. gel. Anz, 1901. Nr. 5. 


Sees, am Mont du Chat in Savoyen, lokalisiert. Einen bestimmten 
Namen führt die Katze hier nicht, wohl aber in andern Texten, in 
denen sie Chatpalu oder Chapalu heißt. Freymond zeigt, daß diese 
‚Benennung kymrischen Ursprungs ist und sich bereits in dem unter 
Heinrich II. geschriebenen schwarzen Buch von Caermarthen (als Cath 
Palug) findet. Etwas Wesentliches wüßte ich dem von Freymond 
beigebrachten nicht hinzuzusetzen. Auf den Chapalu der Bataille 
Loquifer ist schon oft hingewiesen worden. Daß dieser Text auch 
im Ogier eine Nachahmung gefunden hat, darauf hatte Harry Ward 
in seinem Catalogue of Romances in the British Museum I 607 auf- 
merksam gemacht, einem Werke, das für die mittelalterliche Litte- 
raturgeschichte eine Fülle der Belehrung bietet. Der Name ist mir 
auch sonst einige Male vorgekommen. Eine Anspielung an Capallu 
findet sich in Hugues Capet S. 159. In einer Version des Schwanen- 
ritters heißt das Pferd Gottfrieds von Bouillon Capalu (Franc. Mi- 
chel, Charlemagne, London 1836, S. LIII). Ein Gaufridus Chatpalu 
wird von Wilhelm von Tyrus erwähnt (Buch XIV Kap. 25). Beson- 
ders richtig, weil besonders eingehend ist die Schilderung des Cha- 
palu in der Bataille Loquifer, die bekanntlich von dem Spielmann 
Grandor de Brie in Sizilien verfaßt ist. Grandor hat dabei Bretoni- 
sche Sagen mit Sizilischen Lokalsagen verkniipft. Zu den letztern 
rechne ich die Gestalt des Loquifer, dessen Benennung von Engli- 
schen Gelehrten aus dem Kymrischen hergeleitet wird (Lock Ifern, 
dieses = infernus). Ich halte diesen Zusammenhang mit kymri- 
schen Worten, wenn er iiberhaupt anzunehmen ist, fiir eine nach- 
trägliche volksetymologische Deutung ; denn ich glaube, daß Loguifer 
nichts andres ist als Lucifer. In der Chanson Renier wird Loquiferne 
ausdrücklich als die Gegend um Messina erklärt, und da Loquifer 
Flammen speit, so wird man mit Nothwendigkeit auf den Aetna ge- 
führt. Die Griechen Unteritaliens versetzten Lucifer in den Aetna; 
ihre Aussprache des c zeigt sich noch in dem k-Laut von Loqutfer. 
Es ist mir sehr wahrscheinlich, daß Dante, wenn er Lucifer in den 
Mittelpunct der Erde versetzt hat, durch die Sizilische Lokalsage 
dazu veranlaßt wurde, wobei er freilich das Flammenspeien wegließ. 

Freymond stellt auch Betrachtungen darüber an, auf welchem 
Wege die Sage von Arthurs Kampf mit der Riesenkatze nach Sa- 
voyen gelangt sein könnte. Er weist hier auf allerlei Beziehungen 
hin zwischen dem Grafengeschlecht von Savoyen und dem französi- 
schen oder englischen Königshause, zumal verwandtschaftlicher Art. 
Das Richtige ist wahrscheinlich aus der von Freymond aus dem 
Briefe eines Lokalforschers angeführten Thatsache zu entnehmen, 
daß noch heute an einem Felsen des Mont du Chat eine Vertiefung 


Beiträge zur Romanischen Philologfe. 415 


vorhanden ist, die dem Bas-Relief eines riesigen Katzenkörpers nicht 
unähnlich sieht. Da nun eine vielbetretene Pilgerstraße, die von 
Frankreich nach Italien führte, über den Mont du Chat ging und 
der Katzenfelsen von dieser Straße aus sichtbar war — er ist es noch 
heute! — so kann kein Zweifel obwalten, wie man dazu gekommen 
ist, Arthurs Kampf gerade hier zu lokalisieren. Arthur schleuderte 
das Ungethüm mit solcher Gewalt gegen den Felsen, daß sich der 
Körper in diesem abgeprägt hat! Schade daß Freymond sich — und 
uns — nicht eine Photographie des merkwürdigen Felsen verschafft 
hat! (Auch Gaston Paris hat bereits diese Erklärung angegeben). 

10) S. 397 Schneegans, Zur Chanson de geste Aiol 
et Mirabel. Verf. gibt eine gute Characteristik der Chanson Aiol 
und macht Riickschliisse auf die Vorstufe des erhaltenen Textes, 
denen man zustimmen kann. Das Epos Aiol ist nach seiner Ansicht 
(S. 407) »nicht wie andre Epen aus einem ursprünglichen Kern durch 
Zuthaten fremder Episoden allmählich herausgebildet worden .. ., 
sondern es ist das Kunstproduct eines geschickten Dichters, der mit 
Benutzung bekannter epischer Motive etwas neues geschaffen hat«. 
Das ist durchaus annehmbar. Allein dann verstehe ich nicht, wie 
Verf. S. 411—412, von dem alten Sagenstoff reden kann, den der 
Dichter neu zu beleben suchte. Also hat er doch den Stoff nicht er- 
funden ? Wie ist dies mit dem Vorhergesagten in Einklang zu brin- 
gen ? In den Eingangsworten über die Anfänge des Epos in Frank- 
reich wird als Ausgangspunct eine zusammenhängende poetisch ge- 
färbte Erzählung eines Dichters angenommen, also eine litterarische 
oder litteraturfähige Prosa vor der Zeit der Kreuzzüge angesetzt. 
Nichts ist unwahrscheinlicher ! 

11) S. 414 Karl Vossler, Benvenuto Cellinis Stil 
in seiner Vita. Versuch einer psychologischen Stil- 
betrachtung. Cellinis Stil wird im Einzelnen charakterisiert. Die 
Einzelbeobachtungen scheinen mir ihren Werth zu haben. Von einer 
neuen psychologischen Stilbetrachtung legt jedoch nur die allgemeine 
Gruppierung des Stoffs Zeugnis ab. An den Aufsatz hat sich eine 
Polemik angeschlossen, wofür auf das Giornale storico della lettera- 
tura italiana XXXVI. 232—234 und auf Monaci e de Lollis, Studj 
di filologia romanza VIII. 416 verwiesen sei. 

12) S. 452 Gustav Thurau, Geheimwissenschaft- 
liche Probleme und Motive in der modernen französi- 
schen Erzählungslitteratur. So abstoßend auch der Gegen- 
stand ist, muß man doch demVerf. Dank wissen, daß er uns darüber 
eine so vielseitige und gründliche Orientierung giebt. Doch sollte er 
Gautiers Spirite nicht als Masculinum behandeln (S. 472) und so 
fehlerhafte Wortbildungen wie »initiert« (S. 478) lieber vermeiden. 


416 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


13) S.484 Lang, The Descort in Old Portuguese and 
Spanish Poetry. Der gelehrte Herausgeber des Dom Diniz be- 
handelt die wenigen Gedichte, die hier in Betracht kommen: 4 Por- 
tugiesische, die er zum Abdruck bringt, und drei Spanische, von de- 
nen nur die metrische Form veranschaulichende Proben gegeben werden. 

14) S. 507 Zéliqzon, Mundartliches aus Malmedy 
(Preussische Wallonie). Den phonetisch-transscribierten Tex- 
ten ist von dem auf diesem Gebiet bereits mehrfach bewährten Ver- 
fasser eine französiche Uebersetzung und, soweit dies in Betracht 
kam, auch die Melodie hinzugefügt. Auf S. 509 sollte es in der 
Uebersetzung heißen recommenga. S. 510 torat? wäre wohl besser 
mit naguere oder tantöt übersetzt, dümyes’ (domesticus) mit priv. 
S. 513 in Strophe V. 2 fehlt ze. S. 514 tritt die Patoisform für 
ronds in drei verschiedenen Formen auf, während solche Schwankungen 
bei Zéliqzon sonst kaum vorkommen. S. 521 wird es heißen müs- 
sen: A la facon de Barbari. Es sind lauter Texte, die für die Volks- 
kunde Interesse bieten. 

Möge es Gustav Gröber vergönnt sein, noch viele Jahr im aka- 
demischen Hörsaal wie in dem weltweiten Kreis wissenschaftlicher 
Leser fruchtbar und segensreich zu wirken! 


Halle a.S., 21. Okt. 1900. Hermann Suchier. 





Delitzsch, Fr., Assyrische Lesestücke mit grammatischen Tabellen und 
vollständigem Glossar. Einführung in die assyrische und babylonische Keil- 
schriftlitteratur bis hinauf zu Hammurabi, für akademischen Gebrauch und 
Selbstunterricht. Vierte durchaus neu bearbeitete Auflage. Leipzig, Hinrichs 
1900. XII und 193 S. in Autographie und Buchdruck. 4° Preis kart. Mk. 18. 

Auch unter dem Titel: Assyriologische Bibliothek herausgeg. von Fried- 
rich Delitzsch und Paul Haupt. Band XVI. 


Im Interesse der assyriologischen Studien ist es mit großer 
Freude und vielem Dank zu begrüßen, daß Delitzschs bekannte 
»Assyrische Lesestücke« nunmehr in vierter Auflage fertig vorliegen. 
Um mit einer Aeußerlichkeit zu beginnen, die aber gerade bei einem 
für den Anfangsunterricht bestimmten Buche von nicht geringer Be- 
deutung ist, so zeichnet sich die neue Auflage gegenüber ihrer Vor- 
gängerin schon durch ihren wesentlich niedrigeren Preis aus — 18 Mk. 
gegenüber 30 Mk. der dritten Auflage —, so daß es jetzt wie- 
der möglich ist, Delitzschs Lesestücke beim akademischen Unter- 
richt ohne zu große Schwierigkeit zu Grunde zu legen, was bei 
dem hohen Preis der dritten Auflage wenigstens auf deutschen Uni- 
versitäten kaum mehr angieng. Dadurch ist jetzt beinahe ein em- 


Delitzsch, Assyrische Lesestücke. 417 


barras de richesse für den Anfangsunterricht im Assyrischen ent- 
standen, da neben Delitzschs Lesestücken, abgesehen von einigen 
für deutsche Verhältnisse kaum in Betracht kommenden auslän- 
dischen Elementarbüchern, ja auch noch Abel und Wincklers Keil- 
schrifttexte zum Gebrauch bei Vorlesungen und Meissners Assyrisch- 
babylonische Chrestomathie zu Gebote stehen, zwei Publikationen, 
die auch fernerhin, trotzdem sie durch die neue Auflage von De- 
litzschs Lesestücken voraussichtlich ziemlich in den Hintergrund ge- 
drängt werden, doch neben diesen in Folge ihrer noch umfängliche- 
ren Mitteilung von Textstücken immerhin eine gewisse Stellung be- 
haupten werden. 

In der vorliegenden Neubearbeitung sind nun endlich Delitzschs 
Lesestücke wirklich ein Elementarbuch geworden, wie man es für 
den Anfänger braucht, mit einem einigermaßen ausreichenden Mate- 
rial an historischen Texten versehen und vor allem auch mit einem 
Glossar, das nicht, wie bei der vorhergehenden Auflage, ohne Rück- 
sichtnahme auf die Texte des Buches, sondern im engen Anschluß 
an dieselben zusammengestellt ist. Man darf wohl in diesen Aende- 
rungen eine segensreiche Frucht der durch das Abel - Wincklersche 
und das Meissnersche Buch hervorgerufenen Konkurrenz, erblicken. 
So hat es demnach auch nicht als Tadel, sondern nur als Lob zu 
gelten, wenn sich von dieser vierten Auflage sagen läßt, daß sie für 
den assyriologischen Fachgelehrten viel geringere Bedeutung bean- 
spruchen kann, als die vorhergehenden Auflagen. War es doch 
bei diesen gerade das Verhängnisvolle, daß sie rein praktische 
und rein wissenschaftliche Bedürfnisse gleichzeitig befriedigen wollten. 
So sind und bleiben auch fernerhin in der früheren dritten Auflage 
eine ganze Anzahl von Texten, namentlich Vokabularen, für den 
Fachgelehrten von großer Wichtigkeit, die aber für den Anfänger- 
unterricht einfach nicht zu gebrauchen sind und darum auch mit 
Fug und Recht in dieser neuen vierten Auflage ausgeschaltet worden 
sind. 

Ja ich hätte gewünscht, daß Delitzsch hierin noch etwas weiter 
gegangen und z. B. von der Mitteilung der vollständigen Syllabare 
S* und SP? Abstand genommen, dafür lieber noch etwas mehr histo- 
rische Texte gegeben hätte. Für den Fachmann ist jetzt ja ohne- 
hin durch die mittlerweile erfolgte Neuveröffentlichung dieser Sylla- 
bare in den Cuneiform Texts Part XI, die Delitzsch allerdings kaum 
voraussehen konnte, genügend gesorgt und auch manche bei De- 
litzsch in S® noch klaffende Lücke ausgefüllt. Immerhin kann die 
neue Ausgabe von S* und SP? durch Delitzsch schon wegen ihrer 
wertvollen scharfsinnigen Ergänzungen und auch durch die Heran- 


418 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


ziehung einiger in der Publikation des British Museum nicht berück- 
sichtigter Fragmente ihren selbständigen Wert gegenüber der ge- 
nannten Londoner Veröffentlichung beanspruchen. Schade übrigens, 
daß Delitzsch von dem von mir in der Zeitschr. f. Assyr. IV (1889), 
S. 394 veröffentlichten kleinen Fragment aus der Sammlung Müller- 
Simonis keine Notiz genommen hat, da dieses für Col. VI von S* 
einige Ergänzungen und interessante Varianten bietet, die nun in 
Delitzschs Neuausgabe wieder unberücksichtigt geblieben sind. Als 
recht willkommen für den Anfangsunterricht ist dagegen der neuein- 
gestellte »Auszug aus sonstigen Syllabaren und Vokabularen« auf 
S. 105—111 zu bezeichnen, da hier fast durchgängig nur bekannte 
assyrische Wörter zusammengestellt sind, deren Lektüre für den 
Anfänger darum erfreulicher und nutzenbringender ist, als diejenige 
mancher Partieen von S* und Sb. 

Auch anstatt der auf S. 76—80 mitgeteilten Briefe hätte ich 
in einem solchen Einführungsbuche lieber noch einige weitere histo- 
rische oder poetische Texte aufgenommen gesehen. Denn wie soll 
ein Anfänger mit diesen teilweise recht schwierigen Briefen zurecht 
kommen, wenn selbst ein Meister auf lexikalischem Gebiete, wie 
Delitzsch, bei einzelnen Formen sich so gründlich irren kann, wie 
2.B. bei issakis S. 76, c. 9, das Delitzsch im Glossar S. 179 
als Nifal eines Verbums s«ahäsu auffaßt, während es in Wirklichkeit 
eine Vulgärform für itt (isst) akamis ist. Vgl. z.B. K. 626 (Leh- 
mann, Sama&sumukin Taf. XLIV), Z. 30: Sin Samas is-sa-ki-'-i5 
innamerünt. 

Bei dem aus IV R 21* entnommenen »Gebet zu Marduk<« auf 
S. 81 hat Delitzsch leider übersehen, daß in Kings Babylonian Ma- 
gic and Sorcery, London 1896, Nr. 9 ein Duplikat zu diesem Texte 
vorliegt, das erstlich eine metrisch richtigere Zeilenabteilung bietet, 
sodann auch nicht unwichtige Varianten (wie z.B. ki-ma für e-ma 
Z. 16) und für Z. 11 die Lesung H-(?)-ru u na-an-za-eu, die ich 
übrigens auf Grund von IV R 55, No. 2, 6f. 10a auch schon vor 
dem Bekanntwerden des Kingschen Duplikats für IV R 21* stets 
angenommen hatte. Es ist schwer verständlich, wie Delitzsch im 
Glossar S. 191 die Worte schreiben konnte: »ti-ru 81, 11, noch un- 
gewiß (ru phon. Kompl.?)<, zumal er doch auf derselben Seite 
ganz richtig firu (mit dem Ideogr. GAL. TE) als syn. manzaz pans 
aufführt. 

Auch sonst gibt das in Rede stehende im Großen und Ganzen 
natürlich sehr treffliche Glossar im Einzelnen doch zu mancherlei 
Ausstellungen Anlaß. Zwar hat hier Delitzsch in einer Reihe von 
Fällen Ausführungen von anderer Seite, namentlich von Jensen, 


Delitzsch, Assyrische Lesestücke. 419 


Meissner, Winckler und dem Referenten Rechnung getragen. So ist 
auch bei Delitzsch z. B. binu jetzt »>Tamariske<, nicht mehr »Samen- 
korn«, bassu »Sand« statt »feste Lehmmauer«, kür-su émid »er segnete 
das Zeitliche< statt ma@ta-su mid »sein Land unterwarf ich«, anzillu 
»Frevel« statt an sillö »Kerker«. Hierbei sieht man übrigens nicht 
recht ein, weshalb in dem einen Falle Bemerkungen, wie »so zuerst 
Zimmern< hinzugefügt werden, in andern Fällen nicht. Entweder 
hätten, was für ein solches Glossar wol das Richtigste ist, derartige 
Prioritätsangaben durchgehends wegfallen sollen, oder aber sie 
mußten mit gleichmäßiger Konsequenz gesetzt werden. Abgesehen 
aber von solchen mehr vereinzelten Fällen, die ein anerkennenswertes 
Eingehen Delitzschs auf die Forschungen Anderer bekunden, begeg- 
nen wir jedoch auch zahlreichen Angaben, die wieder deutlich zeigen, 
wie schwer es bei Delitzsch hält, bis von anderen Fachgenossen aus- 
gehende Berichtigungen hergebrachter falscher oder schiefer lexika- 
lischer Aufstellungen bis zu ihm durchdringen. So wird uns z.B. 
wieder ein »%ablatu Verbrechen, Frevel< vorgeführt, ein »nisu (zwei- 
konson. Subst.) urspr. viell. Wesen, dann: Geist, Persönlichkeit: 
(Schwurpartikel) bei<, ein »pirist« Entscheidung«, ein >pati leicht- 
sinnig<, ein sénu »gut, fromm (opp. raggu), gleichen Stammes mit 
scnu Kleinvieh, Schafe und Ziegen, die als die sanften Haustiere so 
benannt seien von einem Stamme 7Xı3 gut, sanft fromm sein«, ein 
ramaku »ausgießen, libieren«, ein saqummatu »Wehe, Leid«, ein tba 
»kommen, herankommen, anriicken<, ein Zalimu »Zwillingsbruder« 
u. 8. w., obwol in diesen wie in zahlreichen andern Fällen von an- 
dern Fachgenossen längst das Richtige ausgesprochen worden ist. 
Hoffen wir, daß es Delitzsch wenigstens vor Drucklegung seiner an- 
gekündigten Supplemente zu dem Assyrischen Handwörterbuch mög- 
lich wird, den im Vorwort zu diesem ausgesprochenen löblichen 
Vorsatz auszuführen, »mit um so größerem Eifer es sich jetzt ange- 
legen sein zu lassen, die Arbeiten der Fachgenossen zu studieren und 
zu prüfen, um mit ihrer Hülfe, wo dies nöthig erscheint, die eigenen 
Aufstellungen zu modifizieren, nachdem leider während der Vorbe- 
reitung und Ausarbeitung des Handwörterbuches der assyriologischen 
Fachlitteratur eingehendere Beachtung nicht geschenkt werden 
konnte.< 

Sehr dankenswert ist es vom pädagogischen Gesichtspunkt aus, 
daß Delitzsch im Glossar möglichst durchgehends die hebräischen, in 
bestimmten Fällen auch die araınäischen und arabischen Aequiva- 
valente anführt. Nur hätte ich eine noch häufigere Hinzufügung der 
Bezeichnung »Lehnwort« oder »wahrscheinlich Lehnwort< gewünscht, 
da der Anfänger gar zu leicht an Urverwandtschaft denkt, wo solche 


420 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


sicher oder aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vorliegt. Und warum 
fehlt gerade bei ipru »Botschaft, Brief« das für den Ursprung der 
alten palästinensischen Kultur so äußerst bezeichnende alte Lehn- 
wort "20? Oder sollte etwa Delitzsch an der Erklärung von “80 
als altem Lehnwort aus babyl. Sipru wirklich noch Zweifel hegen? 

In der Schrifttafel hat Delitzsch in praktischer Weise manchen 
unnötigen Ballast aus der dritten Auflage ausgeschieden , vor allem 
auch nur solche Ideogramme und Ideogrammgruppen beibehalten und 
teilweise neu hinzugefügt, die in zusammenhängenden assyrischen 
Texten auch wirklich gebraucht werden und sich nicht etwa blos in 
Vokabularen oder in sumerischen Texten finden. Sehr dankenswert 
ist die auf S. 120—135 diesmal getrennt von der Schrifttafel und 
in größerer Ausführlichkeit gegebene babylonische Zeichenliste, die 
zugleich die Texte in specifisch babylonischer Schrift einleitet, welche 
mit Recht einen breiteren Raum als in der dritten Auflage ein- 
nehmen. Insbesondere ist die vollständige Aufnahme der sog. baby- 
lonischen Chronik nach dem Vorgange von Abel und Winckler in 
deren Keilschrifttexten und von Meissner in dessen Chrestomathie 
eine gute Neuerung. Auch hat gerade die Neuveröffentlichung 
dieses Textes einen gewissen eigenen wissenschaftlichen Wert, inso- 
fern sie auf einer erneuten Kollation der Originale durch Delitzsch 
beruht. 

Die Elemente der Grammatik endlich, die Delitzsch in dankens- 
werter Weise voranstellt, hätte ich wohl gerne um eine Reihe der 
wichtigsten Erscheinungen aus der Lautlehre, wie auch um Einiges 
innerhalb der Formenlehre bereichert gesehen. Doch entschädigt 
Delitzsch hoffentlich recht bald auch den Anfänger hierfür durch die 
Veröffentlichung der zweiten Auflage seiner Assyrischen Grammatik, 
nachdem deren erste Auflage ein so rarer Artikel geworden ist, daß 
sie selbst bei hohem Angebot im Buchhandel einfach nicht mehr zu 
beschaffen ist und darum für Unterrichtszwecke einstweilen leider 
ganz ausgeschaltet werden muß. 

Trotz der mancherlei kleinen Ausstellungen, die vorzubringen 
nun einmal zum Geschäft einer ehrlichen Kritik gehört, wiederhole 
ich doch noch einmal gerne ausdrücklich, daß die neue Auflage von 
Delitzschs Lesestücken als Ganzes eine äußerst erfreuliche und will- 
kommene Erscheinung ist und daß dieses Buch gegenwärtig ohne 
Zweifel als das empfehlenswerteste Hilfsmittel zur ersten Einführung 
in das Studium des Assyrischen zu gelten hat. 


Leipzig, 20. Februar 1901. H. Zimmern. 


King, The Letters and Inscriptions of Hammurabi. I. III. 421 


King, L. W., The Letters and Inscriptions of Hammurabi, King of 
Babylon, about B. C. 2200, to which are added a series of letters of other 
kings of the First Dynasty of Babylon. The original Babylonian texts, edited 
from tablets in the British Museum, with English translations, summaries of 
coutents, etc. Vol. II. Babylonian texts, continued. Vol. Ill. English transla- 
tions, etc. London, Luzac 1900. XVIII S. u. 1085. in Autographie, LXXI u. 
385 S. in Buchdruck. 8°. Preis Mk. 18 pro Band. 

Auch unter dem Titel: Luzac’s Semitic Text and Translation Series. 
Vol. WI u. VILL 


Dem im Jahrgang 1899 dieser Anzeigen, S. 499—504 von mir 
besprochenen ersten Bande obiger Publikation sind nach verhältnis- 
mäßig nicht sehr langer Zeit jetzt zwei weitere, das Ganze zum Ab- 
schluß bringende Bände gefolgt. In Band II, der wie Band I noch 
ausschließlich Originaltexte in Keilschrift enthält, bringt King zu- 
nächst noch eine Anzahl weiterer Briefe Hammurabis, sodann solche 
von Samsuiltina und insbesondere von Abesu’. Es folgen die beiden 
sog. Louvre-Inschriften Hammurabis, ferner u. a. ein allerdings ziem- 
lich fragmentarisches Londoner Duplikat zu der Berliner Samsuilüna- 
Inschrift in semitischer Version, darauf die schon früher bekannt ge- 
machte sumerische Version der gleichen Inschrift, nebst einem neuen 
Duplikate derselben. Endlich bietet King, abgesehen von einigen 
kleineren Inschriften, eine nochmalige, in einzelnen Punkten ver- 
besserte, Veröffentlichung der vor zwei Jahren von Pinches in den 
Cuneiform Texts from Babylonian Tablets Part VI publizierten für 
die ältere babylonische Chronologie so äußerst wichtigen Tafel Bu. 
91—5—9, 284 (jetzt Brit. Mus. No. 92702), die eine fast über zwei 
Jahrhunderte von Sumuabi bis Samsuilüna einschließlich reichende 
chronologische Liste der hervorstechendsten Jahresereignisse enthält, 
nach denen man in primitiver Weise auch noch in jener Zeit der 
ersten babylonischen Dynastie zu Ende des dritten vorchristlichen 
Jahrtausends anstatt wie später nach Königsjahren datierte. Daran 
reiht sich nun aber bei King in erstmaliger Veröffentlichung eine 
zweite, leider nur sehr fragmentarisch erhaltene Tafel Brit. Mus. 
No. 16924, die zunächst ein ergänzendes Duplikat zu jener ersten 
Tafel bildet und sodann eine Fortsetzung bis in das zehnte Jahr 
Ammizadugas darstellt. Daß die Veröffentlichung der Texte durch 
King auch in diesem zweiten Bande als mustergiltig anzusehen sein 
wird, bedarf nach den jetzt so zahlreich vorliegenden Leistun- 
gen Kings in dieser Richtung kaum einer ausdrücklichen Hervor- 
hebung. 


499 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


Der dritte Band bringt nun zunächst eine längere Einleitung, 
in welcher in recht geschickter und ansprechender Zusammenfassung 
der Inhalt der Briefe, der Königsinschriften und der oben erwähn- 
ten chronologischen Listen für die Geschichte, speciell auch für die 
Kulturgeschichte Babyloniens im Zeitalter Hammurabis verwertet 
wird. Ob freilich King hier die z. T. sehr komplicierten historischen 
Fragen alle richtig beantwortet hat, ist eine andere Frage. Dies 
gilt namentlich davon, ob, wie King auch hier wieder meint, der 
Siniddinam, an den die Korrespondenz Hammurabis gerichtet ist, zu 
trennen ist von dem aus eigenen Inschriften bekannten Siniddinam, 
König von Larsa. Ich habe bereits bei der Besprechung des ersten 
Bandes meine Bedenken gegen diese Ansicht Kings geäußert. Ich 
kann es mir aber um so eher versagen, hier näher auf diese sehr 
weitschichtige Frage einzugehen, als erst vor kurzem Jensen in die- 
sen Anzeigen (Jahrg. 1900, S. 975—984) ausführlich über diese 
Dinge gehandelt hat und zwar gleichfalls in dem Sinne, daß er den 
König Siniddinam von Larsa für identisch mit dem Adressaten der 
Hammurabi-Briefe hält. Freilich lag dabei Jensen die Publikation 
Kings offenbar noch nicht vor, auch nicht der bereits vor zwei Jah- 
ren erschienene erste Band. Indessen würde Jensen z. B. in der 
Bezeichnung Siniddinams als rab Amurr@ in dem Briefe an dessen 
Frau (Nr. 48 bei King) nur eine Bestätigung seiner dort vorgetrage- 
nen Ansicht gefunden haben, da ja auch Kudurmabug einen ähn- 
lichen Titel führt. 

Es folgt Transscription und zumeist auch vollständige Ueber- 
setzung der sämmtlichen Briefe und der übrigen in den beiden er- 
sten Bänden im Originaltext veröffentlichten Inschriften. Man kann 
hier King die Anerkennung nicht versagen, daß er sich bei den 
stellenweise gar nicht leichten Briefen sehr in seinen Gegenstand 
hinein vertieft hat und im Großen und Ganzen durchaus seiner 
Herr geworden ist. Freilich war für ihn hier die Schwierigkeit, die 
etwa ein einzelner herausgegriffener von diesen Briefen bietet, durch 
die Menge des gleichartigen Materials bedeutend erleichtert. Es 
zeigt sich eben hier wieder an einem eklatanten Beispiele, daß das 
beste Hilfsmittel, um eine schwierige Gattung von babylonisch - assy- 
rischen Texten zu bemeistern, darin besteht, eine möglichst große 
Anzahl von gleichartigen Texten zur Hand zu haben. Im Gegen- 
satz zum ersten Bande sind hier in der Transscription und Ueber- 
setzung die Briefe, wie ich es seiner Zeit als wünschenswert be- 
zeichnet hatte, nach Möglichkeit dem Inhalte gemäß geordnet. Das 
hat nun freilich einige Unbequemlichkeit im Gebrauch der Ausgabe 
zur Folge. Doch kommt die Vergleichungstabelle auf S. 315 ff. dem 


King, The Letters and Inscriptions of Hammurabi. I]. II. 428 


Leser hiilfreich entgegen. Von einigen Kleinigkeiten, die mir beim 
Durchlesen aufgestossen sind, mögen folgende erwähnt werden: Nr. 
72 (S. 52), 25 ist i-ri-ik-ku sicher Pras. von rdqu >leer sein«, nicht 
von araku »lang sein< , wie die Uebersetzung und das Glossar an- 
nehmen. — SA.UD (s. S. 57, Anm. 3 und Glossar S. 308) ist na- 
türlich sa-tam, satammu zu lesen. — Nr. 40 (S. 60), 16f. und Nr. 8 
(S. 66), Rev. 3 ist verkannt, daß.die Redensart (una) tapp# .... 
aläku »Jemand zu Hilfe kommen« vorliegt, die auch Nr. 46 (S. 82), 11 
zu ergänzen sein wird. — Nr. 75 (S. 63), 26 ist doch gewiß einfach 
Suframma »schreib!< zu lesen statt sudramma »befiehl!« von einem 
für das Assyrische überhaupt äußerst problematischen sadaru »be- 
fehlene. — SU.GEu TUR Nr. 27 (S. 83), Rev. 3 ist natürlich 
Sibu u sehru »Alt und Junge. — Die KA. BAR (pl.) Nr. 3 (p.101) 
werden doch wohl kaparr@ »Hirtenknaben« vorstellen. 

Für die Uebersetzung der Königsinschriften von Hammurabi 
hatte King schon sehr gute Vorarbeiten, namentlich durch die 
trefflichen Uebersetzungen von Jensen in der Keilinschr. Biblioth. 
Bd. II 1. King konnte daher naturgemäß hier weniger Neues 
bieten. Als beachtenswert hebe ich hervor seine Zusammenstellung 
von EN. LIL DA.GA. NI mit [ ]-mu Be und die Ergänzung 
dieses Ausdrucks zu [se]-mu Bel S. 182, Anm. 3; S. 187, Anm. 1. 
Warum ist aber girritu S. 182 und im Glossar bei King wieder 
»Scepter« anstatt Jensens sicher richtigem »Zügel«? Hier wirkte 
offenbar Delitzschs Handwörterbuch nicht fördernd auf King ein. — 
Bei der Bearbeitung der Samsuiliina-Inschrift auf S. 199 ff. ver- 
mochte King, gestützt auf die neuen Duplikate, naturgemäß ein 
gutes Stück über die Uebersetzung von Winckler in Keilinschriftl. 
Bibl. III 1, S. 131 ff. hinauszukommen. In Z. 19 dieser Inschrift ist 
übrigens nach dem Sumerischen sicher [ilu ba-ni] ne-me-ki-im zu er- 
gänzen und so, [ilu] ba-nz, sicher auch im Berliner Exemplar statt 
[a]-pr-ir zu lesen. — Z. 28 ist schwerlich zu [sa-pa]-ra-am, vielmehr 
wol sicher zu [i-tar]-ra-am zu ergänzen; vgl. dazu die beiden in 
Brünnows Liste freilich nicht verzeichneten Stellen IV R 9, 49/51a 
und IV R 12, Obv. 21/22, von denen namentlich die letzte unserer 
Samsuilüna-Stelle im Ausdruck sehr nahe steht. — Z. 51 liegt nicht 
eine obskure Gottheit Lugal-diri-tu-gab vor, vielmehr, wie auch der 
sumerische Text von Nr. 98 noch ganz klar zeigt, der Gott Lugal- 
gts-a-tu-gab-lis (Bél-sarbi). — Die angebliche Variante zu Z. 72 
i-Sid-si-na im Berliner Exemplar existiert nur in der Transskription 
Wincklers in der Keilinschr. Bibl., während die Wincklersche Ori- 
ginaltextausgabe gleichfalls zSda-si-na bietet. — Zu HAR = Suatu 
2. 84 vgl. die so häufige Schreibung HAR-t« für suatu in assyrischen 


424 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 


Texten bestimmter Gattung. Die Bemerkung >»possibly TU< ist 
darum zu streichen. 

Recht dankenswert ist die Bearbeitung der oben erwähnten 
chronologischen. Tafeln mit zahlreichen Ergänzungen und Nachweisen 
aus Datierungen von Geschäftsurkunden aus dieser Zeit. Endlich 
sind die ausführlichen Glossare und Indices eine sehr erwünschte 
Beigabe. Freilich haben mich Stichproben zu der Ueberzeugung 
geführt, daß die Glossare auf die Bezeichnung »complete vocabularies«, 
die ihnen in der Vorrede gegeben wird, doch nicht ohne Einschrän- 
kung Anspruch erheben können. So fehlen z. B., offenbar durch 
ein eigenartiges Versehen, die sämmtlichen Vokabeln der Nummern 
103 (S. 36), 104 (8. 126), und 105 (8. 128), mit Ausnahme der Eigen- 
namen; desgleichen sonst vereinzelte Vokabeln, z. B. die Form tu- 
ub-lum No. 82 (S. 141), 6, u-sa-us-ga-lu-ku-nu-[5i] No. 93 (S. 143), 27. 
Wenn schon einmal eine Vollständigkeit in solchem Falle beabsichtigt 
wird, dann sollte sie auch mit der peinlichsten Genauigkeit durch- 
geführt werden. 

Es sei endlich noch aufmerksam gemacht auf das möglicher 
Weise Hammurabi darstellende Porträt, das King als Titelbild zu 
bringen im Stande war. 

Auch hier möchte ich zum Schlusse gern ausdrücklich betonen, 
daß die kleinen Ausstellungen im Einzelnen, die ich im Obigen vor- 
gebracht habe, den hervorragenden Wert der Publikation im Ganzen 
nicht irgendwie erheblich in Frage zu stellen vermögen. 


Leipzig, 22. Februar 1901. H. Zimmern. 


Far die Redaktion verantwortlich: Prot. Dr. Georg Wentzel in Göttingen. 


Juni (901. Nr. 6. 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. Festgabe für Richard Heinzel 
von F. Detter, M. H. Jellinek, C. Kraus, R. Meringer, R. Much, 
J. Seemüller, S. Singer, K. Zwierzina. Halle a/S. Max Niemeyer 
1898. VIII, 534 S. gr. 8°. Preis Mk. 14. 


Unter den zahlreichen Festschriften, die bei verschiedenen An- 
lässen auch auf dem Gebiete der deutschen Philologie innerhalb des 
letzten Jahrzehnts sich aufgethan haben, nimmt die vorliegende, neben 
der 1894 für Rudolf Hildebrand gestifteten Festgabe, eine besonders 
ausgezeichnete Stellung ein. Zuvörderst wegen der Persönlichkeit 
dessen, dem sie gewidmet wurde, eines Mannes, der seit nah einem 
Menschenalter als Lehrer an der ersten Universität Oesterreichs 
einem ausgebreiteten Schülerkreise durch die lautere Sachlichkeit 
seines Wesens und seiner Forschung ein Vorbild für Leben und Ar- 
beit geworden ist. Ferner, weil sich hier der engste Kreis jüngerer 
Genossen um den Meister schaart, Gelehrte, die von seinen Zög- 
lingen sich zu seinen Mitforschern emporgearbeitet haben. Dadurch 
erhält der gewichtige Band eine seltene und schätzenswerte Einheit- 
lichkeit, ja man möchte ihn fast als eine Manifestation der Schule 
Heinzels bezeichnen, wofern nicht gerade ihr Haupt selber einem 
solchen Ausdrucke am lebhaftesten sich widersetzte. Der Inhalt 
knüpft diese Verbindung freilich nicht, denn die acht Abhandlungen 
streben nach sehr verschiedenen Richtungen auseinander, und Heinzel 
hatte gewiß recht, wenn er gutem Vernehmen nach bei dem feier- 
lichen Anlaß sich angesichts des ihm vorgelegten Werkes dahin aus- 
sprach, es kündige ihm den Unterschied zwischen einem älteren und 
einem jüngeren Geschlechte deutscher Philologen: ihn treibe die 
Neigung und zwinge die Amtspflicht, das gesammte Fach immer 
wieder von Neuem zu durchmessen, auch über die gewöhnlichen 
Grenzen hinaus, bis ins Altfranzösische ; seine jüngeren Freunde hät- 
ten sich, wie das Buch ausweise, jeder in seinem Sondergebiete zur 
Einzelforschung dauernd festgesetzt. Auch bei solcher Aufteilung 
umfaßt der Band nicht alle von Heinzel betriebenen Studienfächer, 
nicht die Sagenforschung, vor Allem aber nicht die Syntax, der To- 

Gött, gel. Ans, 1901. Nr. 6. 29 


426 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


manetz viel zu früh weggestorben ist, und über die wir von Heinzel 
selbst eine zeitweilig abschließende Arbeit gespannt erhoffen. 

Das Verbindende zwischen diesen acht Gelehrten, die sich zur 
schönsten wissenschaftlichen Huldigung zusammengethan haben, liegt 
in einer gewissen Uebereinstimmung der Arbeitsweise. Vielleicht 
drücke ich mich am wenigsten mißverständlich aus, wenn ich sage: 
im Mittelpunkte der Bestrebungen dieses Forscherkreises steht ein 
Ideal philologischer Statistik. Dem einzelnen Problem nähert man 
sich durch gewissenhafteste Aufnahme aller äußeren Momente, des Wor- 
tes, der Ueberlieferung, der Thatsachen: daraus werden allgemeine 
Schlüsse geschöpft, die über das Wesen der Aufgabe neues Licht 
verbreiten. Von der Peripherie aus, sozusagen, wird das Ziel, so 
sehr es möglich ist, eingeengt, dadurch bestimmt umschrieben und 
zuweilen auch erreicht. Wie förderlich dieses Verfahren ist, lehrt 
die Geschichte der Wissenschaft während der jüngsten Decennien, 
wir könnten ohne den schwersten Schaden die Forschungen der Wie- 
ner Germanisten nicht vermissen. 

Vielleicht ist es gerade mir gegönnt, das hohe Verdienst dieser 
Arbeiten unbefangen und dankbar zu würdigen, weil ich die Dinge 
von einem anderen Punkte aus zu sehen mich gewöhnt und erzogen 
habe. Für mich ist beim Studium des geschöpften Werkes altdeut- 
scher Litteratur der schöpfende Mensch, der darin oder dahinter 
steckt, das zu erstrebende Ziel aller wissenschaftlichen Bemühung. 
Textkritik, Metrik, Syntax, Einsicht in die poetische Technik, kurz, 
sämmtliche philologische Mittel, dienen, meinem Ermessen nach, nur 
dem einen Zweck, der Verlebendigung des Menschen der Vergangen- 
heit. Selbst dort, wo es sich um einen Einzelnen gar nicht handelt, 
sondern um eine dunkle Mehrheit, bei den Problemen der Sagen- 
und Mythenforschung, ist es mir das Bedeutendste, den Athemzug 
menschlicher Seelen zu belauschen, der die flatternden dichterischen 
Gebilde belebt und sie treibt, wie sie über den Völkern dahin schwe- 
ben. Das höchste Ziel philologischer Arbeit schiene mir zum Beispiel 
— meiner schwachen Kraft kaum jemals wirklich erreichbar — aus 
seinen Predigten Berthold von Regensburg so für mich und alle vor- 
stellbar zu machen, im Kern seines Wesens wie in seinem ganzen 
Gehaben, daß seine litterarische Erscheinung uns den Eindruck einer 
lebenden und wirkenden Persönlichkeit hervorbrächte. Der ganze 
Umgrund seiner Zeit und seines eigenen Lebens muß erforscht wer- 
den und dazu dienen, die Umrisse seines Charakters deutlich er- 
kennen zu lassen; der Abstand ihres Lichtes von dem, das aus dem 
Inneren seiner Werke kommt, muß sein Bild so mannigfach abge- 
stuft durchleuchten, daß sein bloßes Dasein uns überzeugend seine 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. 427 


Wirklichkeit verbiirgt. — Allerdings müssen wir — denn andere 
Forscher schreiten schon lang auf demselben Wege — es uns ge- 
fallen lassen, wenn solche Aufgaben überhaupt gar nicht mehr als 
philologische, sondern als historische gelten gelassen werden, wenn 
die Philologie strengster und jüngster Observanz uns als Abtrünnige 
aus dem Tempel weist. Nun denn, es sei: im Hause des Vaters 
gibt es, gemäß dem edelsten Herrenwort, viele Wohnungen, und da 
wird sich doch wol noch ein Kämmerchen für die philologischen 
Schwarmgeister finden, die mit dem Aufgebot alles Vermögens die 
Welt des deutschen Mittelalters und ihre Menschen lebenerfüllt uns 
heute vors Auge stellen wollen. — 

Es ist aber hohe Zeit, diese Betrachtungen abzubrechen, die 
schon zu weit gediehen sind, und zu dem Werke zurückzukehren, 
von dem sie ausgiengen. Den acht Theilen, aus denen es sich zu- 
sammenfügt, gleichermaßen gerecht zu werden, geht weit über meine 
Fähigkeit. Es muß mir genügen, wenn ich den Inhalt der einzelnen 
Stücke vorführe, und zu dem einen oder andern, wie es die Sache 
ergibt, Bemerkungen mitteile. 

Ferdinand Detter erklärt S. 1—30 die Lausavisur der Egils- 
saga. Gerade bei diesem, einem der schönsten Werke altnordischer 
Prosa, bereiten die eingeschalteten Einzelstrophen besondere Schwie- 
rigkeiten. Detter, auf diesem Gebiete erprobt, sucht sie nach Fin- 
ur Jönssons Vorarbeiten mit eindringendem Scharfsinn zu bewälti- 
gen, und das gelingt ihm öfters, soweit ich es zu beurteilen vermag. 
Ueberrascht wird der Leser wiederholt durch die Kühnheit der Er- 
klärungen vielmehr als durch die der Conjecturen. Es scheint zur 
Stunde noch wenig Schranken für die combinatorische Phantasie 
innerhalb dieser Gattung altnordischer Poesie zu geben. So ist es 
möglich, für die Interpretation einer dunklen Stelle Mythen zu sta- 
tuieren, die sonst noch gar nicht bezeugt sind. Die starken Ge- 
dankensprünge, welche die überlieferten Kenningar bereits aufweisen, 
die Abbreviaturen und Verdichtungen von Bildern, verlocken unwill- 
kürlich zur Annahme ähnlicher Vorgänge dort, wo der Zusammen- 
hang bloß erraten werden muß. Ich glaube, daß die Erklärung die- 
ser überaus schwierigen Strophen nicht eher sicheren Boden unter 
die Füße bekommt, als bis einmal sämmtliche Kenningar der altnor- 
dischen Saga eines gewissen Zeitraumes in zwei Verzeichnisse ge- 
bracht sind: eines nach den gebrauchten Ausdrücken geordnet, im- 
mer mit Angabe ihrer Verbindungen, ein zweites nach den um- 
schriebenen Begriffen gesichtet. Erst dann wird man wirklich sehen 
können, was an Tropen überhaupt möglich ist und welche Gruppen 
von Möglichkeiten bestehen. Ferner wird man dann erst die Auf- 

29 * 


428 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


gabe angreifen können, eine historische Entwicklung innerhalb der 
Kenningar zu beobachten. Denn, so weit meine Kenntnis überhaupt 
reicht, zweifle ich nicht, daß ältere und einfachere Umschreibungen 
den jüngeren und complicierteren vorangegangen sind und von die- 
sen vorausgesetzt werden. Ich meine sogar, daß vielleicht das zeit- 
liche Verhältnis, das zwischen den einzelnen Sogur noch so vielfach 
dunkel ist, durch eine Geschichte der Kenningar in den Strophen 
möchte in etwas aufgehellt werden können. Aber ich bin zu wenig 
über den Stand der gegenwärtigen Fachlitteratur unterrichtet (und 
kann es in Graz auch nicht sein), um zu wissen, ob solche Arbeiten 
nicht vielleicht schon im Gange sind. Jedesfalls sind Detters Er- 
läuterungen förderlich und lehrreich. 

M. H. Jellinek legt S.31—110 ein Kapitel aus der Geschichte 
der deutschen Grammatik vor, das die Schicksale des auslautenden 
-e im Neuhochdeutschen behandelt. Er hat damit, nach Burdachs 
Aufsatz »Zur Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache< in 
der Festgabe für Hildebrand, einen schweren Stand, denn dort ist 
in weitgreifender Untersuchung die Genesis der Bemühungen von 
Opitz um die Regelung des auslautenden -e dargestellt und ist ihr 
internationaler Zusammenhang aufgezeigt. Jellinek beschränkt sein 
Problem und sucht es von seinem linguistischen Interesse aus zu 
vertiefen. Er nimmt zunächst den wirklichen Bestand in den Wie- 
ner Drucken des 16. Jahrh. auf und vergleicht damit die Aeußerun- 
gen der süddeutschen Grammatiker. Im zweiten Abschnitt bespricht 
er die Haltung der norddeutschen Grammatiker, vornehmlich Schot- 
telius und Gottsched, ihre Theorien und die der Poetiken, dann im 
dritten Gegnerschaft und Zustimmung der Süddeutschen. Adelung 
und seinem euphonischen e wird der vierte Abschnitt gewidmet, dem 
eine Wortliste beigegeben ist und den ein Verzeichnis der bisher 
wenig ausgenutzten und seltenen Grammatiken und Lehrschriften 
beschließt. Die mühsame und, wie von dem Herausgeber des Me- 
lissus nicht anders zu erwarten war, sorgfältige Arbeit bringt nicht 
bloß eine Menge neuer Einzelheiten, sondern weist auch auf die Ver- 
knüpfungen zwischen den verschiedenen Grammatiken, und lehrt uns 
das Verhältnis zwischen Theorie und praktischer Regel, zwischen Mund- 
art und Schriftsprache, in Bezug auf wichtige Punkte der neuhoch- 
deutschen Formenlehre genauer kennen. 

An vierter Stelle S. 173—188 trägt R. Meringer »Etymolo- 
gien zum geflochtenen Haus< vor. Die Deutungen und Vergleichun- 
gen germanischer Ausdrücke für das Haus, seinen Bau und seine 
Theile zielen auf die Vorstellung ab, das älteste Haus der Germanen 
sei aus Flechtwerk aufgerichtet gewesen. Den Schülern Müllenhoffs 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. 429 


ist bekannt, daß in dessen Vorlesungen verschiedentlich eine solche 
Ansicht ausgesprochen worden ist, und jetzt findet sich im vierten 
Band der Deutschen Altertumskunde (1900), den wir Roediger ver- 
danken, bei der Erklärung des 16. Kapitels der Taciteischen Ger- 
mania S. 280—291 Manches von den Ergebnissen der Untersuchung 
Meringers bereits niedergelegt. Ueber die Etymologien selbst, die 
der Verfasser hübsch mit den Sachen zu verbinden weiß, steht mir 
kein Urteil zu; erwähnt muß werden, daß v. Grienberger in seinen 
neuesten »Untersuchungen zur gotischen Wortkunde« (Wiener SB. 
1900) S. 45 unter baurgswaddjus der Deutung Meringers nicht zu- 
stimmt, während er S. 162 unter mibgardawaddjus zwar Meringers 
Auffassung des Wortes an seiner Stelle teilt, aber die mögliche Be- 
ziehung auf Räume des älteren gotischen Hauses läugnet. — Für 
Meringers Ansicht vom geflochtenen Haus der alten Germanen scheint 
die Bedeutung zu sprechen, welche dem Flechtwerk in der germa- 
nischen Criminaljustiz zukommt, wo gewisse schwere Verbrecher in 
einen Sumpf versenkt und durch eine übergelegte Hürde die Lei- 
chen in der Tiefe festgehalten werden. Darüber spricht bekanntlich 
Tacitus im 12. Kapitel der Germania, vgl. Miillenhoff, DAK. 4, 245 f. 
Grimm, RA? 2, 274—277. Die Vorstellung, daß auf diese Weise be- 
sonders üble Verbrechen dem Sonnenlicht entzogen werden, erbte 
sich bis auf Berthold von Regensburg fort, vgl. meine Studien z. 
Gesch. d. altd. Predigt 2, 115 ff., wo ich die »gelehrte Ueberlieferung«, 
aus der Berthold schöpft, bestimmt auf das römische Recht hätte 
einengen sollen. — Unter den von Meringer angeführten Worten 
vermisse ich mhd. glet = mlat. cleda, wahrscheinlich ein slavisches 
Lehnwort, das eine schlechte Hütte aus Flechtwerk bezeichnet (im 
Wigalois des Wirnt von Grafenberg gibt es davon eine anschauliche 
Schilderung) und wegen seiner Bequemlichkeit als Reimwort sich zu- 
weilen auch in spätere Dichtungen verirrt. — Meringer nennt in 
seiner verdienstlichen- Studie keine Litteratur, sonst wäre wol die 
Arbeit von E. Rautenberg, Sprachgeschichtliche Nachweise zur Kunde 
des germanischen Altertums, Programm des Johanneums in Hamburg, 
1880, zu erwähnen gewesen. 

Es folgt der umfangreichste der Aufsätze, von R. Much S. 189 
—278: »Der germanische Himmelsgott<. Diese Ueberschrift bezeich- 
net aber nicht den Inhalt der schwer gelehrten Abhandlung genauer, 
sondern nur, möchte ich sagen, das Leitmotiv für sie. Much knüpft 
seine Darlegungen an Müllenhoffs Entdeckung, >»daß Wödan erst in- 
folge einer Umwälzung der Herrscher im germanischen Götterstaate 
geworden ist an Stelle eines älteren in urgermanischer und vorger- 
manischer Zeit verehrten Himmelsgottes«. Von diesem Punkte aus 


430 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


bespricht er germ. *Trwaz, dann die verschiedenen eruierbaren 
“ Beinamen des alten Himmelsgottes, der nachmals sich auf die Funk- 
tionen des Kriegsgottes einschränkt, und durchmustert mit bestän- 
diger Rücksicht auf die internationalen Kulturverhältnisse des mitt- 
leren und westlichen Europa vor der römischen Occupation alle Be- 
züge der germanischen Mythologie, in denen der alte Gott und sein 
Nachfolger Wödan vorkommen. Es gibt kaum eine Hauptfrage der 
germanischen Mythengeschichte, die hier nicht wenigstens gestreift, 
für die jedoch mehrmals neue Lösungen vorgeschlagen werden. Be- 
sonders die Betrachtung des Krieges zwischen Asen und Vanen, der 
als eine Parallele zum Titanenkampfe aufgefaßt wird, empfiehlt sich 
der Aufmerksamkeit. Allerdings vermag ich auch bei dieser schönen 
Untersuchung, die von dem Scharfsinn Muchs und der ihm eigenen 
Beherrschung des weit ausgebreiteten Materiales neues Zeugnis gibt, 
das mißliche Gefühl nicht ganz zu unterdrücken, wie unfest noch 
heute die Forschung in germanischer Mythologie auf ihrem Boden 
steht, wenn es innerhalb ganz kurzer Zwischenräume immer wieder 
möglich ist, von einem gewählten Fixpunkte aus, den ganzen Com- 
plex bisher aufgestellter Deutungen und Hypothesen aus den Angeln 
zu heben und durch andere, wenn auch glänzende, so doch jedesfalls 
recht lockere Combinationen zu ersetzen. Bevor nicht noch einige, 
zum mindesten, Thatsachen aus der Geschichte der germanischen 
Mythen, wie die von Müllenhoff aufgeklärte Verschiebung zwischen 
Tiu und Wödan, an den Tag gebracht werden und die Beweglichkeit 
und Vertauschbarkeit der Motive und Personen innerhalb der ger- 
manischen Mythenwelt stärker einengen, haben doch die redlichsten 
Bemühungen keinen höheren Wert denn die wechselnden Figuren 
des Kaleidoskops als Illustration optischer Gesetze. Nun stelle ich 
gar nicht in Abrede, daß es nicht wichtig sei, bei den immer er- 
neuten Versuchen zusammenhangender Erklärung germanischer My- 
then wenigstens zu allgemeinen Grundsätzen der Observation zu ge- 
langen, oder andere und verfehlte bestimmt auszuschließen, und in 
diesem Betrachte sind die Sätze gewiß wertvoll, die Much S. 277 
am Schlusse seiner Abhandlung aufstellt: >»Eine heidnische Religion 
ist eben kein naturwissenschaftliches System. Verschiedene Orte 
und Zeiten liefern für dieselben Dinge immer neue mythische Bilder, 
die dann neben einander zu stehen kommen. Und an Stätten ihres 
Kultes, im Kreise ihrer Verehrer hebt sich das Ansehen , erweitern 
sich die Befugnisse einer einzelnen Gottheit leicht so sehr, daß sie 
in den Bereich anderer übergreift und mehr oder weniger allein dem 
religiösen Bedürfnis ihrer Diener genügt. Der eine oder andere 
Gott ließe sich deshalb leicht aus unserem Heidenglauben aus- 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. 431 


schalten, ohne daß eine Lücke bemerkbar wäre, und ein wichtiger 
Naturvorgang eines mythologischen Vertreters entbehren würde. —« 
Diese trefflichen Sprüche klingen mir nicht ganz unbekannt, ähnlich 
hatte sich schon Müllenhoff verschiedene male (vielleicht am bestimm- 
testen in der Vorlesung über die Nibelungen) vernehmen lassen ; 
aber gerade in dieser unwillkürlichen Uebereinstimmung zwischen 
dem Altmeister und dem jüngeren Forscher liegt für diesen meines 
Erachtens eine ehrenvolle Bezeugung der Richtigkeit seines Arbeits- 
ganges. 

Von S. 279—352 reicht J. Seemüllers »Studie zu den Ur- 
sprüngen der altdeutschen Historiographie<. Verstehe ich den Autor 
recht, so wünscht er durch seine Arbeit verschiedene Ziele zu er- 
reichen: er möchte erstens, so weit es möglich ist, aus den Resten 
althochdeutscher Ueberlieferung das Erwachen des historischen Be- 
wußtseins und Interesses bestimmen ; zweitens aus einer erneuten 
Ueberprüfung der Quellenverhältnisse den Grad des Verständnisses 
für historische Dinge bei den ältesten Dichtern bemessen ; drittens 
die vorhandenen Gattungen ahd. Lieder historischen Inhaltes mit 
denen der entsprechenden lateinischen Denkmäler vergleichen und in 
Beziehung bringen. Die erste Aufgabe war die schwierigste und ich 
gestehe, daß ich Seemüllers darauf bezüglichen Erörterungen nicht 
immer habe folgen können. In Bezug auf die zweite hat er durch 
sorgsame Behandlung der einzelnen Stücke, besonders der Biogra- 
phien des h. Gallus, des Ludwigsliedes und des Gedichtes de Hein- 
rico, mannigfachen Gewinn erbracht. Die dritte Aufgabe hat ihre 
besonderen Schwierigkeiten, welche mit dem Inhalt und der Form 
der lateinischen historischen Lieder zusammenhängen, für die beide 
wir hoffen, daß den bisher schon so ergebnißreichen Untersuchungen 
Wilhelm Meyers weitere folgen werden. — Bei dem Dichter des Ie- 
liand unterschätzt Seemiiller, wie ich glaube, die Stärke des histo- 
rischen Bewußtseins. Ein gewisses Maß für den Abstand von Zeit 
und Ort setzt ja bereits die Umstilisierung voraus, die sich im He- 
liand von den Quellen bis zur Inszenierung ins Germanische voll- 
zieht, und die ohne Ueberlegung nicht bewerkstelligt sein kann. An 
verschiedenen Stellen zeigt der sächsische Dichter ein sachliches 
Interesse an der Beschaffenheit des Locales sowie an den äußeren 
Umständen der evangelischen Handlung, und befriedigt dieses Inter- 
esse, indem er präcise Angaben aus Quellen entlehnt, die er sonst 
nicht, sondern nur bei dieser Gelegenheit benutzt. Und ferner: der 
Heliand steht ja doch nicht in der Luft, er war doch nicht das erste 
altsächsische Dichtwerk, er hat seine ganz sicheren historischen 
Voraussetzungen in der angelsächsischen Poesie, der er in so vielen 


482 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


technischen Dingen gefolgt ist; es wird daher die Frage nach seiner 
Auffassung der Geschichte um die eine Instanz wenigstens, auf alt- 
englischen Boden hin zurückgeschoben werden. Doch muß ich hier 
diese Erwägungen verlassen, wo ich ihnen ausreichenden Raum nicht 
verstatten darf, und sie auf später versparen, was ja doch in mei- 
nen längst geplanten und zugerüsteten Studien zur Geschichte der 
ags. und as. Bibeldichtung noch wird geschehen können. Nur eines 
merke ich hier an: die Versus de poeta möchte ich nicht als ein 
Zeugnis selbständiger Beurteilung des Heliand anführen, denn das 
ist eine ganz stümperhafte Schülerarbeit, die ihre Vorlage mit Hilfe 
kürzlich aufgenommener Lektüre der Klassiker in schlechte Verse 
umsetzt. — Was Otfrid anlangt, wünschte ich, daß Seemüller es der 
Mühe wert erachtet hätte, sich mit den von mir vorgetragenen An- 
schauungen über die Entstehung des Evangelienbuches auseinander- 
zusetzen, und zwar deshalb, weil, je nachdem man diesen zustimmt 
oder sie ablehnt, sich auch notwendiger Weise die Einschätzung von 
Otfrids Verhältnis zur Historie ändern muß. An dem Endergebnis 
meiner »Otfridstudien<, wie ich es Zeitschr. f. d. Altert. 40, 121 f. 
formuliert habe, halte ich ebenso fest wie an der Richtigkeit des 
von mir in den voraufgehenden Abschnitten eingeschlagenen Weges, 
und lasse mich davon auch durch die seither erfolgten, stark per- 
sönlich gefärbten und ohne wirkliche Sachkenntnis unternommenen An- 
griffe nicht abbringen; der Tag für die Abrechnung wird ja wol 
nicht ausbleiben. — Darf ich in Seemüllers Abhandlung den Vor- 
läufer einer Geschichte der Historiographie des Mittelalters in deut- 
scher Sprache begrüßen, vielleicht doch bis zum 14. Jahrh. hinauf, 
so wäre das eine ganz besondere Freude: denn Jemand, den man 
besser gerüstet und mit größerem Vertrauen an der Beschäftigung 
mit dieser großen und schönen Aufgabe sähe, wäre unter den Fach- 
genossen schwerlich namhaft zu machen. 

Die Abhandlung von S. Singer, »Zu Wolframs Parzivalc, 
S. 353—436, zerfällt in drei Abschnitte. Im ersten sucht der Ver- 
fasser zu zeigen, indem er von dem Eingange des Epos seinen Stand- 
punkt nimmt, daß Wolfram den darin ausgesprochenen ersten Plan 
bei der Ausführung des Werkes nicht eingehalten habe. Dieser 
ursprüngliche Plan wäre eine Erzählung von weisen Lehren gewesen, 
die der Held wie im Ruodlieb erhalten hätte, denen er dann teil- 
weise gefolgt sei, die er aber auch teilweise übertreten habe. Diese 
Rahmenerzählung habe schon in der gemeinsamen Vorlage von Chre- 
stien und Wolfram gestanden, von beiden jedoch selbständig zer- 
schlagen worden. Singer sucht seine Combination dadurch wahr- 
scheinlicher zu machen, daß er auf andere Punkte hinweist, in denen 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. 433 


Wolfram von einem ersten Entwurfe seines Werkes nachmals abge- 
wichen sei (Feirefiz wäre anfangs als Ausführung des elsterfarbigen 
Mannes geplant gewesen) und erörtert im Zusammenhange damit 
die viel discutierten neutralen Engel, über die er aus seiner unge- 
mein weitgreifenden Belesenheit viel Nützliches und Belehrendes bei- 
bringt. In dem Hauptpunkte, daß nämlich der Dichter und nicht 
Trevrizent später die irrige zuerst geäußerte Ansicht widerruft, muß 
ich Singer S. 371 durchaus gegen Heinzel beistimmen. Die Frage 
von den neutralen Engeln überhaupt ist durch Singers Material we- 
sentlich gefördert, aber noch nicht abgeschlossen worden: vielleicht 
dürfen wir von neuen Funden in ungedruckter theologischer Litte- 
ratur etwas erwarten. Was den Eingang des Parzival anlangt, 
scheint mir Singers Auffassung jetzt durch Noltes besonnene und 
einschneidende Interpretation überholt, obschon auch dieser gegen- 
über noch Reste bleiben. Keinesfalls vermöchte ich zuzugeben, daß 
Wolframs Lehre vom unsteten eine Polemik gegen Jacob. 1, 18 
enthalte (S. 360); daß ihm die von den Predigern häufig erörterte 
Briefstelle dabei in den Sinn gekommen sei, kann ich nicht völlig 
ausschließen, doch widerspricht Singers Beurteilung Allem, was ich 
über Wolfram zu wissen glaube. — Zu S. 362 merke ich an, daß 
der Vergleich (hier der gestürzten Engel) mit dem Schneefall nicht 
gar so selten ist; das sehr weit beliebte Speculum Exemplorum 
entnimmt Dist. 9, cap. 80 dem Liber de ortu Carthusiensium die Vi- 
sion eines Eremiten, der darüber erzählt: ductus ad infernum vidi 
incidere animas sicut nives densissimas, aérem obnubilantes; ad pur- 
gatorium vero sicut nivem rarissimam; sed ad paradisum tantum tres 
introire vidt animas, illius scilicet episcopi, et illius prioris Carthu- 
siensis, ac tllius vidue Romane, singulas nominans personas. — Im 
zweiten Abschnitt legt Singer Proben vor aus Collectaneen von einem 
schier uniibersehbaren Umfang. Sie beziehen sich auf verschiedene 
bei Wolfram begegnende religiöse Vorstellungen, hauptsächlich über 
Schöpfung und Sündenfall und schließen sich zumeist an biblische 
Namen an. Es ist mir nicht ganz klar geworden, welchen Zweck Singer 
mit dieser mühsamen Stellenlese zu erreichen beabsichtigt. Paralle- 
len oder Belege zu Anschauungen bestimmten Inhaltes, die ein dich- 
terisches Werk enthält, kann man sammeln erstens, um in ihnen 
die Quelle für diese ausfindig zu machen oder wenigstens ihr erstes 
Vorkommen festzulegen; so habe ich es bei meinen »Otfridstudien< 
gehalten und den Kreis der Vergleichung mit voller Absicht weiter 
gezogen, als es der unmittelbare Bezug zwischen Otfrid und seinen 
Quellen erforderte (das übrigens auch ausdrücklich gesagt). Z wei- 
tens kann man solche Stellen aus der Zeit des Dichters selbst bei- 


484 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


bringen, um zu zeigen, in welchem Grade er an den Vorstellungen 
seiner Zeitgenossen beteiligt ist. Drittens endlich mag man auf 
diese Weise die Nachwirkung eines Dichters aufzeigen. Keine von 
diesen Arten des Sammelns kann für Singer in Betracht kommen, 
denn die große Mehrheit der Vorstellungen, um die es sich in sei- 
nem zweiten Abschnitt handelt, sind Gemeinplätze der biblischen 
Ueberlieferung, und auf die Erörterung von Wolframs theologischen 
Kenntnissen wird Verzicht geleistet. Und nicht einmal Wolframs 
Religion überhaupt vermögen diese Stellen zu illustrieren, denn Sin- 
ger behandelt davon nur einen ganz kleinen Ausschnitt. Ich kann 
mir höchstens denken, daß Singer bei dieser Gelegenheit Proben aus 
umfassenden Sammlungen über «die Behandlung biblischer Stoffe in 
der altdeutschen Litteratur überhaupt (Predigten mit eingeschlossen) 
geben wollte, und insofern diesen Proben eine Geschichte der Ent- 
wicklung dieser Stoffe innerhalb der Litteratur des deutschen Mittel- 
alters folgen sollte, müssen sie mit aufrichtigem Danke begrüßt wer- 
den. Der gebührt auch dem dritten Abschnitt, in welchem Singer 
eine Reihe von Parzivalstellen bespricht, interessante Vergleichungen 
anbringt und geistreiche Einfälle gelegentlich zu Excursen aus- 
weitet. Möchte es dem gelehrten und feinsinnigen Verfasser ge- 
fallen, der Fachwelt einmal statt der zierlichen Pröbchen und Kunst- 
stücke eine derbe, große Hauptarbeit vorzulegen! — 

Bis hierher habe ich mir die Besprechung der Studie von 
C. Kraus: »Das sogenannte II. Büchlein und Hartmanns Werke«, 
S. 111—172 gespart, weil diese Arbeit mit dem letzten Stücke der 
Festschrift, der Abhandlung von K. Zwierzina: »Beobachtungen 
zum Reimgebrauch Hartmanns und Wolframs«, S. 437—511 zusam- 
men gehört. Es geschieht Niemandem Unrecht, wenn ich diese bei- 
den Nummern als die bedeutendsten des schönen Sammelbandes be- 
zeichne: sie greifen alte Probleme mit neuen Mitteln an, stellen 
neue Probleme auf und bringen mit zielbewußter Energie eine neue 
Methode auf die Bahn deutscher Philologie, von der wichtige Er- 
gebnisse zu erwarten sind und mit der man unter allen Umständen 
in Zukunft wird rechnen müssen. 

Daß diese Forschungen auf Lachmann zurückgreifen, scheint mir 
sowol glückverheißend für sie als ein gutes Zeichen für den Stand 
der heutigen deutschen Philologie überhaupt. Der Kampf wider die 
Lachmannsche Schule ist zu Ende, sie selbst hat schon lang als ge- 
schlossener Kreis zu bestehen aufgehört, und der Eifer, der, bis 
zum Fanatismus gesteigert, sich gegen Lachmann kehrte, häufig 
mehr gegen eine selbstgemachte Scheibenfratze als gegen die große 
und reine Persönlichkeit, dieser Eifer hat sich bis auf vereinzelte 


- Abhandlungen zur germanischen Philologie. 435 


Spuren allgemach abgekühlt. Es ist die Zeit für eine objektive Wür- 
digung der Verdienste Lachmanns nunmehr gekommen, und ich 
glaube, es wird unter den lebenden Germanisten wenige geben, die 
heute geneigt wären, ihm den Kranz zu versagen, der dem größten 
Philologen des 19. Jahrhunderts bedingungslos zukommt. Seine 
Lehren sind uns keine Dogmen mehr, weder im guten noch im bö- 
sen Sinne, wir halten von seinen Anschauungen aufrecht, was uns 
zutreffend scheint, und lehnen ab, was uns als überwunden gilt; 
lernen können wir von ihm allzeit und mit Staunen die Schärfe und 
Energie des Geistes bewundern, die aus dürftigstem Material, aus 
Texten, die zum guten Teil nur in Abschriften und schlechten 
Drucken bestanden, die Reihe von Ausgaben altdeutscher Klassiker 
geschaffen hat, deren wir uns jetzt als eines Grundstocks unserer 
Wissenschaft noch immer bedienen. Und gerade ein Hauptergebnis 
von Lachmanns Forscherarbeit kommt in der Gegenwart wieder zu 
Ehren: der vielumstrittene Begriff der mhd. Schriftsprache, den 
Lachmann aus den Reimen der Dichtungen klassischer Zeit geschöpft 
hatte, steht heute fester denn je und gehört zu den wenigen großen 
Thatsachen, welche die Geschichte der altdeutschen Litteratur in das 
neue Jahrhundert hinübernimmt. Lachmann legte seinen Beobach- 
tungen ein umfassendes Reimwörterbuch zu grunde, dessen Vorteile 
schon Jakob Grimm vom zweiten Bande der Grammatik ab dankbar 
und neidlos rühmte. Die Observationen verdichteten sich dann zu 
Regeln, die Lachmann in Anmerkungen zusammenfaßte, deren knappe 
Form viel Anstoß erregte und die man, häufig weil man sie nicht 
verstand, auch dem Inhalte nach für falsch hielt. Der Erste nun, 
der Lachmanns Forschungsweise wieder aufnahm, war Steinmeyer, der 
frühzeitig ausgebreitete Beobachtungen über die mhd. Dichtersprache 
anstellte, ferner umfassende Reimwörterbücher hauptsächlich zu litte- 
rarhistorischen Zwecken anlegte und Proben davon in Recensionen 
sowie in seiner Erlanger Rectoratsrede veröffentlichte, die es auf das 
lebhafteste bedauern lassen, daß er mit diesem Zweige seiner Stu- 
dien sich seit längerer Zeit nicht mehr befaßt. Zwierzina hat dann, 
als er von seinem eindringlichen Studium der Ueberlieferung des 
Gregorius aus sich mit Hartmanns Werken beschäftigte, nicht nur den 
bleibenden Wert von Lachmanns Darstellung des Sprachgebrauches 
kennen, sondern auch das Verfahren Lachmanns schätzen gelernt. 
Seine Recension von Henricis Iwein, Anz. f. d. Altert. 22, 180—196 
(1896) und sein Aufsatz »Allerlei Iweinkritik<, Zeitschr. f. d. Altert. 
40, 225— 242, stützen sich bereits auf ein vollständiges Reimworter- 
buch über Hartmann von Aue. In einem wichtigen Punkte gieng er 
jedoch über sein Vorbild Lachmann hinaus. Dessen Lexikon war, 


486 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 6, 


so weit wir wissen, nur aus den Reimworten selbst zusammengestellt. 
Zwierzina aber hatte sich überzeugt, daß nicht bloß die Beurteilung 
der Formen an sich es erforderte, die Stellung des Reimwortes zu 
seinem Verse genauer zu betrachten, sondern daß auch alles Studium 
der Reimtechnik des Dichters und ihrer Entwicklung, z.B. die Er- 
örterung der Frage, ob ein Wort gemieden oder bevorzugt wurde, 
nur von der Berücksichtigung des vollständigen Verses, ja des gan- 
zen Reimpaares, ausgehen könne. Darum legte er von jetzt ab 
seine Reimwörterbücher dergestalt an, das er sie aus Zetteln zusam- 
mensetzte, deren jeder den Wortlaut eines Reimpaares enthielt, d.h. 
das Gedicht wurde eigentlich ganz abgeschrieben und sein Inhalt 
nach den Reimworten aufgeteilt und geordnet. Mit solchen Hilfs- 
mitteln war die Rolle des Reimes in der poetischen Technik erst wirklich 
abzuschätzen. Zwierzina versuchte sich zunächst an dem Problem, 
das in dem Verhältnisse der Sprache Veldekes zur mhd. Reimkunst 
gegeben war, und hat darüber seine Habilitationsvorlesung an der 
Universität Graz gehalten. Im Herbst 1897 trug er dann seine 
Theorie der Reimwörterbücher auf der Philologenversammlung in 
Dresden vor und beleuchtete sie durch einige Beispiele, vornehmlich 
aus der Praxis Hartmanns. Inzwischen war aber auch Kraus in 
Wien auf ähnlichem Wege zu ähnlichen Ergebnissen gelangt und 
hatte auf derselben Philologenversammlung über Veldekes Sprache 
gehandelt, seine Untersuchungen sind bekanntlich 1899 als selbst- 
ständiges Buch erschienen. 

Die Abhandlungen der Festschrift für Heinzel gewähren uns das 
erste mal genaueren Einblick in das Verfahren, durch welches die 
beiden Gelehrten dem Reimvorrate mhd. Dichter neue Ergebnisse 
abzuzwingen gedenken. Der Anlage und dem Aufbau nach sind 
beide Arbeiten ziemlich verschieden, schon das Problem hat jeder 
Autor auf seine Weise gestellt. Kraus erörtert die Frage, ob das 
von Haupt aus der einzigen Ambraser Handschrift herausgegebene 
namenlose Gedicht, das er »zweites Büchlein« nannte und Hartmann 
von Aue zuwies, wirklich auch von diesem verfaßt sei. Das Problem 
hatte, da es den Besitz eines mhd. Klassikers betraf, schon eine an- 
sehnliche Litteratur hervorgerufen und war von Zeit zu Zeit immer 
wieder mit neuen Mitteln angegriffen worden. Eine besondere 
Schwierigkeit lag darin, daß es an äußern Zeugnissen gänzlich ge- 
bricht und daß die volle Last des Beweises denen zufällt, die das 
Gedicht für Hartmanns Eigentum erklären. Zuletzt hatte ich in 
meinem Buche über Hartmann von Aue S. 343—373 ausführlich 
darüber gehandelt und mich für die »Echtheit« entschieden. Kraus 
verneint sie. Wenn ich nun im Folgenden auf seine Gründe eingehe 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. 487 


und seine Beweisführung bespreche, so ist es wol nicht nötig, daß 
ich mich gegen den möglichen Einwurf besonders verwahre, ich sei 
gegen die neue Methode voreingenommen, weil ihr Ergebnis dem 
meinen widerspricht. Ob das zweite Büchlein Hartmann gehöre oder 
nicht, darüber habe ich lange geschwankt — wäre das erforderlich, 
so könnte mein Freund und Amtsgenosse Seuffert es mir bezeugen — 
und mich zuletzt durch den vorteilhaften Gesammteindruck des Ge- 
dichtes sowie durch seinen Bezug auf Hartmanns Lyrik bestimmen 
lassen, denn ich bin verwegen genug, es auch heute noch für ein gutes 
Gedicht zu halten. Gelingt es jetzt, zu erweisen, das zweite Büch- 
lein sei Hartmann abzusprechen, nun, dann habe ich eben geirrt und 
bin sehr froh darüber, daß die Wahrheit zum Vorschein gekommen 
ist. Ich mache meine Arbeiten so gut ich kann, und stelle keine 
Ansicht leichtsinnig auf, um sie alsbald wieder leichtsinnig bei seite 
zu schieben; so weit habe ich mich aber doch zur Freiheit wissen- 
schaftlichen Denkens durchgerungen, daß ich auf keine Meinung 
schwöre und mein Herz weder an ein Problem hänge noch an dessen 
bestimmte Lösung. Von nichts bin ich mehr überzeugt als von dem 
Wandel der Dinge in der Wissenschaft und davon, daß wir unseren 
Nachfahren Resultate überliefern, damit ein großer Theil von neuen 
Gesichtspunkten aus, durch erweiterte Kenntnis wiederum aufgenom- 
men, abgeändert und die Aufgaben selbst in andere Bahnen gewiesen 
werden. Bleibt von den Ergebnissen meiner Studien etwas übrig 
und wird von dem nachwachsenden Geschlecht deutscher Philologen 
als Werkstück für den stolzen Bau unserer Disciplin brauchbar ge- 
funden, so ist mir der Gedanke sehr erfreulich; wenn nicht, dann 
habe ich eben ehrlich gewollt, aber meine Kräfte haben nicht aus- 
gereicht, und ich meine selbst in solchem Fall nicht ganz vergebens 
gearbeitet zn haben. Darum mag für die nunmehr darzulegende 
Discussion die Frage nach der »Echtheit< des zweiten Biichleins als 
abgetan gelten, ich gebe die Autorschaft Hartmanns preis, mich 
interessiert hier nur der Weg, auf welchem Kraus zu seinem Resul- 
tat gelangt ist. 

Dieses stelle ich mit den eigenen Worten des Verfassers S. 171 f. 
voran: »Die vorstehende Untersuchung hat in ihrem ersten Theil 
eine Reihe von Erscheinungen ergeben, die sich in Hartmanns Wer- 
ken nicht finden, oder gegen den Sprachgebrauch des Dichters un- 
mittelbar verstoßen (die Conjunctivform zerunne, die unflectierte jo- 
Form here, ferner daz ein für daz eine, der Reimtypus ze klagenne : 
ge sagenne, swern und doln in übertragener Bedeutung, sneller list). 
Der zweite Theil bringt den Nachweis, daß Erscheinungen, die bei 
Hartmann nur in genau bestimmten Perioden seiner dichterischen 


438 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Entwicklung auftreten, im zweiten Büchlein ganz einträchtig neben 
einander stehen. Wer das Werk für Hartmanns Eigentum hält, 
müßte es wegen der Parallelstellen und wegen der Form miige neben 
mege unmittelbar vor oder nach dem Iwein entstanden sein lassen, 
wegen ich entstän und dd von neben dd vone vor dem Iwein, wegen der 
Adverbialendung -liche vor dem armen Heinrich, wegen vervät und 
wegen des adjectivischen gar vor dem Gregorius, und wegen fruot 
vor dem Erec«. Wer die Arbeiten von Kraus kennt, dem braucht 
nicht gesagt zu werden, daß auch diese vortreflich disponiert ist, 
mit Schärfe ihr Ziel ins Auge faßt, mit Strenge darauf losgeht und 
mit vollem Recht auf kein Mittel verzichtet, das überzeugend wirken 
kann, auch wenn es den Leser von außen packt, wie die Reihen von 
Versziffern statt zusammenfassender Zahlen und die erschöpfende 
Vorführung von Belegen. 

Im zweiten Büchlein reimt v. 17 der Conj. prät. zerunne : sunne. 
Kraus meint, dieser Reim sei »ganz gegen die Sprache Hartmanns, 
der ausschließlich die umgelautete Form zerünne kannte«. Damit ist 
aber dem Ergebnis der folgenden Untersuchung eine größere Trag- 
weite verliehen, als ihm zukommt, denn tatsächlich begegnet, so viel 
ich weiß, ein Conj. prät. von zerinnen und ebenso von rinnen und 
seinen andern Compositis überhaupt weder in noch außer dem Reime 
bei Hartmann. Es ist also nur möglich, die von dem Dichter ge- 
brauchte Form durch Analogie aus den Reimbindungen solcher Con). 
prät. zu erschließen, die wu oder ö vor doppeltem » haben können. 
Kraus stellt S. 115f. diese Fälle zusammen; es zeigt sich, daß in 
Hartmanns sämmtlichen mehr als 25000 Versen drei Fälle begeg- 
nen, in denen zweifellose Formen des Conj. prät. auf ö vor n+n 
gereimt sind. Vor 2+9g reimen 6 Conj. prät. mit u, vor n+d 
nahezu 50 (die neutralen Fälle ausgeschlossen) ohne Umlaut, vor g 
steht im Conj. prät. in zwei sicheren Fällen &, darnach in vier neu- 
tralen. Darf man bei solcher Sachlage den Abstand zwischen den 
verschiedenen Verbindungen von Consonanten so hoch anschlagen, 
daß ein zerunne gegen Hartmann beweist? Dazu kommt, daß auch 
die S. 116f. verzeichneten Fälle von « und & vor verschiedenen 
Consonantengruppen keine volle Sicherheit gewähren, (die Thätigkeit 
der Schreiber außer Betracht gelassen), ja es ist, genau genommen, 
dort wo nur neutrale Fälle begegnen, gar nicht einmal sicher, ob 
Hartmann nicht Schwanken zuläßt. Und, abgesehen von einer höchst 
wahrscheinlichen Interpolation im Gregor, gibt es noch eine Stelle in 
einem Liede unter Hartmanns Namen (MSF. 212, 37 f.), wo der Con). 
prät. fünde auf künde und tinde reimt; gerade dieses Lied stimmt 
mit dem Inhalt des 2. Büchleius überein, es steht mit diesem in 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. 439 


enger Verbindung und ich habe es sogar (vgl. mein Buch über 
H. v. A. S. 359. 369f.) als Veranlassung des 2. Büchleins aufge- 
faßt. Kraus erklärt nun dieses Reimes halber auch das Lied für 
unecht und stützt sich darauf, daß aus andern Gründen schon ver- 
schiedene Kritiker Hartmann dieses Lied abgesprochen hätten. Wie 
viele Lieder Hartmanns — mit Ausnahme eines, wo sich der Dichter 
nennt — sind denn überhaupt nicht schon von einem Kritiker als 
unecht bezeichnet worden? Und daß Kraus des unerfreulichen fünde 
halber das Lied Hartmann abspricht, das ähnelt doch fast dem kri- 
tischen Betriebe der klassischen Philologie vor einem Menschenalter 
und darf als ein starkes Stück gelten. 

Es muß hier bei dem einen Beispiel sein Bewenden haben. Im 
Ganzen scheint es mir mit allen übrigen von Kraus vorgebrachten 
Fällen abnormer, von Hartmanns Weise abweichender Reime im 2. 
Büchlein sich nicht anders zu verhalten. v. 822 steht die jo-Form 
here im Reim, die sich bei Hartmann nicht findet; aber es findet 
sich auch einsilbiges héy im Reim bei Hartmann nicht und flectierte 
Formen auch nicht (S. 132), und somit läuft die Sache darauf hin- 
aus, ob man in einem Gedicht von 800 Versen ein &xag Asydusvov 
annehmen dürfe oder nicht. — V. 409 des 2. Büchleins steht zu le- 
sen: ichn mtieze mir nemen dag ein under übelen dingen ewein und 
Kraus weist darauf hin, daß Iw. 4881 das eine geschrieben wird 
(der eine Er. 5446. 5506 ist damit nicht zu vergleichen); es steht 
also einmal ein gegen einmal eine, wo bleibt da das Urteil? Denn 
daß es viele Reime gibt, in denen daz ein hätte stehen können, so- 
fern Hartmann gewollt hätte, das hilft uns um gar nichts weiter: 
Hartmann hat ja auch daz eine nur einmal gesetzt, obschon es da- 
für genug Möglichkeiten im Reim gegeben hätte. Im 2. Büchlein 
hat das ein der Stelle entschieden formelhaften Charakter. — Am 
schlimmsten steht es mit dem Reimpaar 519f. des 2. Büchleins, wo 
Kraus, um eine Parallele aus Gregor 865 f. wegzuschaffen, dort liest: 
an der richeit und an der tugent, an der schoene und an der jugent, ein 
Verspaar, das in dieser seiner hölzernen Beschaffenheit auf jeden 
Fall bei Hartmann eine Ausnahme bildet. — Die Fälle von swérn, 
doln und {ist kann ich an sich nicht gelten lassen, denn wir müßten 
zuerst genau wissen, wie es mit dem Uebergange von sinnlicher zu 
abstracter Bedeutung überhaupt bei Hartmann sich verhält; erst 
dann wäre zu ermessen, ob diesen Beispielen Gewicht zukommt oder 
nicht. 

Nur die letzterwähnten Punkte gehören zum »Sprachgebrauch«, 
alle vorangehenden zum »Formengebrauch im Reim<, und das ist doch 
etwas wesentlich anderes und engeres. Die Anwendung des Reimes 


440 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


ist für den höfischen Dichter ein Zwang; seine poetische Sprache, 
die sonst sich aus dem zusammensetzt, was der Stoff fordert, und 
dem notwendigen Ausdruck seiner Persönlichkeit und seines Kön- 
nens, hat noch einen dritten Anspruch zu befriedigen, den des Rei- 
mes. Und das war kein geringer, denn das Reimen ist den mhd. 
Dichtern gar nicht leicht gefallen. Man kann dies aus der Rasch- 
heit erschließen, mit der bestimmte Reimbänder in die Mode kom- 
men, aus der Durchsichtigkeit des Materiales, das (allerdings bei 
relativ geringem Umfang der in Betracht gelangenden Werke) die Reim- 
vorbilder bald erkennen läßt. Der Reimzwang wirkt also haupt- 
sächlich dahin, daß der Dichter an verschiedenen Stellen Reime ge- 
braucht, welche ihın von der vorhandenen Ueberlieferung und der 
angestrebten Schriftsprache nahe gelegt werden, die er aber nicht 
verwendet hätte, wofern er vollkommen frei und im Stande gewesen 
wäre, den Stoff nach seinem Belieben und Gutdünken zu gestalten. 
Es verhält sich ganz in derselben Weise bei der Allitteration, wo 
die formelhaften Bindungen auch dann ruhig fortgebraucht werden, 
wenn sie ihres ursprünglichen Inhaltes schon völlig entleert sind: 
die Entwicklung vollzieht sich bei der altenglischen und altnordischen 
Poesie in zwei ganz getrennten Richtungen. Der Reim ist also die- 
jenige Stelle des mhd. Verses, wo der persönliche Charakter der 
Sprache des Dichters am wenigsten zum Vorschein kommt, zumal nur 
in den allerseltensten Fällen altdeutsche Poeten den Reim mit Frei- 
heit als künstlerischen Schmuck verwerten; zumeist gilt er ihnen als 
Schwierigkeit, die überwunden werden muß. Wollen wir den »Sprach- 
gebrauch« eines mhd. Dichters als Ausdruck seiner Individualität 
fassen und die gewonnenen Sonderzüge zu litterarhistorischen Folge- 
rungen ausnutzen, dann dürfen wir gewiß an dem Reim nicht vorbei- 
gehen, ebenso gewiß aber auch nicht den Wortgebrauch im Reim 
ausschließlich oder auch nur ganz vorzugsweise zu Grunde legen. 
Ich bin somit der Ansicht, daß die von Kraus vorgetragenen 
Beobachtungen, so interessant sie sein mögen, gemäß der Beschaffen- 
heit des Materials, an dem sie angestellt sind, nicht zu Schlüssen 
von so zwingender Gewalt berechtigen, als die Abhandlung annimmt. 
Observationen über den »Sprachgebrauch« im weiteren Sinne möchte 
ich eine solche Beweiskraft zutrauen. Sie grenzen dann freilich 
schon sehr nahe an die Analyse des Stiles und der poetischen Tech- 
nik, vielleicht werden sie überhaupt grundsätzlich von diesen nicht 
getrennt werden dürfen. Ich fürchte, Kraus wird nicht geneigt sein, 
sie für exact fixierbar zu halten, denn er sagt S. 172: »Auch Unter- 
schiede in der Begabung, im Temperament, in den Darstellungs- 
mitteln und in der Metrik sind vorhanden: aber sie fühlen sich 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. 441 


leichter, als sie sich mit entscheidenden Griinden dartun lassen<. Diese 
Besorgnis geht zu weit. Es wire nicht schwierig, Kraus contra Kraus 
ins Feld zu führen, immerhin hat man, von Lachmann, Uhland, Haupt 
u. A. abgesehen, auch in neuester Zeit Stilbeobachtungen von einer 
Feinheit und Bestimmtheit angestellt, die litterarhistorische Schliisse 
ermöglichen ; ich denke dabei nicht bloß an Scherer, sondern zunächst 
an Wilmanns’ Formelsammlungen in seinem Leben Walthers von der 
Vogelweide, an Burdachs Reinmar und Walther, an Roethes vorzügliche 
Untersuchung über das Mädchen von Oberkirch, an Albert Köster u.a.m. 
Man braucht es überdies nicht zu verschmähen, ausgezeichnete Stilbe- 
schreibungen aus anderen philologischen Gebieten nutzbringend heran- 
zuziehen, z.B. Kaibels Analyse der ’A9nvarov moAırsie. In dieser 
Richtung muß unser Studium der mhd. Poesie Fortschritte machen; die 
Reime allein zu beobachten, ist für litterarhistorische Zwecke wertvoll 
und förderlich, wird aber, sofern wir die einzelnen Gruppen und 
Fälle scharf genug ins Auge fassen und ihre besondere Bedingtheit 
würdigen, ohne Hilfe äußerer Zeugnisse oder anderer Umstände nur 
selten Autorschafts- und Chronologiefragen zu entscheiden vermögen. 

Es kommt noch Eines in Betracht. Bei der Beurteilung der 
vorgelegten Fälle des Reimwörterbuches wirkt in der Arbeit von 
Kraus schon in Bezug auf die Formen allein die Vorstellung mit, 
jeder Dichter habe nur ein genus dicendi. Ich weiß sehr wol, daß 
dieser alte Satz heute noch sehr mächtig ist, stützt doch auf ihn 
Sievers (Forschungen zur deutschen Philologie, Festgabe für Rudolf 
Hildebrand, S. 17) in seiner vortrefllichen Abhandlung »Zu Wernhers 
Marienliedern< die weitergehende Annahme, jeder Dichter verfüge 
auch nur über ein genus metri. Dieser vermag ich vorläufig noch 
nicht zuzustimmen, so bestechend auch die in ihrer Weise einzige 
Vortragskunst von Sievers die von ihm angeführten Fälle erscheinen 
läßt. Aber auch das eine genus dicendi kann man doch nur in sehr 
weitem Sinne gelten lassen, und ob es auf Sprachformen anwendbar 
sei, halte ich noch nicht für erwiesen. Wie weit erstreckt sich z.B. 
der Begriff der zulässigen »Doppelformen<, über die Zwierzina jetzt 
so lehrreich gehandelt hat? Sie bilden Bestandteile der normalen 
Paradigmen der mhd. Grammatik (vgl. Kraus S. 150 ff. Zwierzina 
S. 441. 486 ff. 490 Anm. 3), wo ist ihre Grenze? Stellt man sich 
auf den Standpunkt, sie als durchaus möglich und zulässig zu er- 
achten, dann werden alle zweifelhaften und neutralen Fälle anders 
gedeutet und liefern demnach auch andere Resultate, als wenn man 
allenthalben eine einzige Form des Wortes als das Wahrscheinliche 
und Natürliche ansieht. Endgiltiges läßt sich meinem Ermessen nach 
darüber erst dann ermitteln, wenn der ganze Vorrat mhd. Poesie 

Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 30 


442 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 6. 


registriert und durchgearbeitet worden, auch die schwierige Frage 
über das Verhältnis der im Reim gebrauchten zu den im Versinnern 
verwendeten Formen erschöpfend behandelt ist. 

Die zweite Gruppe von Argumenten, die Kraus seinen Reim- 
sammlungen entnimmt, und deren Ergebnis ich schon oben S. 438 
im Wortlaut anführte, bezieht sich darauf, das zweite Büchlein müsse 
nach den Eigenheiten seiner Formen, sowie auch gemäß dem Ge- 
brauch einzelner Worte bald an dieser, bald an jener Stelle in die 
chronologische Reihe von Hartmanns Werken eingestellt werden, die 
Beobachtungen stimmten weder unter einander noch überhaupt zu 
Hartmanns Verfasserschaft. Ich lasse einstweilen die theoretischen 
Voraussetzungen für diese Schlüsse auf sich beruhen, und hebe nur 
hervor, daß die Chronologie von Hartmanns Werken heute überhaupt 
noch nicht sicher gestellt ist. Nicht einmal über die Hauptfrage, 
die Stellung von Erec und Iwein, herrscht volle Einheit, wie soll 
man in diesem Fluß der Dinge für das zweite Büchlein einen festen 
Punkt finden? Wiederum erscheint mir das Verfahren von Kraus 
vielfach bestreitbar. Er führt z.B. S. 167f. alle Reime Hartmanns 
auf -wot und seine Endungen vor und schließt daraus, daß in dieser 
Zahl das Wort fruot nicht vorkommt, Hartmann habe dieses Wort 
(als obsolet?) gemieden. Freilich im Anfang seines Schaffens nicht, 
denn 3mal steht es im 1. Büchlein, auch die andern von Kraus 
untersuchten Dichter gebrauchten es hie und da. Es war wol an 
sich um die Zeit ein seltenes Wort und hatte einen besonderen 
Sinn oder Beigeschmack, war nicht schlechtweg gleichwertig mit wis, 
und so muß ich mich doch verwundern, daß Kraus nicht einmal die 
Frage aufwirft, ob denn der Dichter für seine Darstellung dieses 
Wort überhaupt häufig brauchen konnte? Es scheint mir eine sehr 
einseitige Betrachtungsweise, wenn die Verwendung von Worten im 
Reime nur nach der Masse vorhandener mechanischer Möglichkeiten 
bemessen wird. Kraus hat offenbar von den mhd. Dichtern, die 
Zwierzina S. 450 >zu den größten Formtalenten aller Zeiten< rech- 
net, eine viel niedrigere Vorstellung als ich, der ich doch die Schwie- 
rigkeiten der Reimtechnik für das höfische Epos gebührend zu ver- 
anschlagen glaube. 

Diesem Standpunkte gemäß stellt Kraus S. 172 folgende Forde- 
rung auf: »Wer jedoch an der Autorschaft dieses Dichters (für das 
2. Büchlein) nach wie vor festhält, dem liegt die Pflicht ob, in 800 
zusammenhängenden Versen Hartmannscher Poesie die gleiche An- 
zahl von prinzipiell bedeutsamen Erscheinungen nachzuweisen, denen 
sonst bei Hartmann nichts gleiches zur Seite steht, die dem ander- 
weitigen Gebrauch des Dichters direkt widersprechen —«. Oh nein, 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. . 448 


das heißt den Bogen bei weitem überspannen. Dies Begehren ist un- 
erfüllbar, weil es sachwidrig ist. Unter Hartmanns sämmtlichen Wer- 
ken kommt für einen Nachweis, wie Kraus ihn hier beansprucht, 
höchstens das 1. Büchlein in Betracht, seine vier erziihlenden Dich- 
tungen überhaupt gar nicht, weil für den gänzlich verschiedenen In- 
halt an Sachen zwischen Epos und lyrischer Didaktik ein ganz ver- 
schiedener Wortschatz nötig ist und also auch im Reim heraustreten 
muß. Zwierzina hat S. 502-Anm. 1 richtig gesehen, das 1. Büch- 
lein könne nicht in Rechnung gezogen werden, wenn man das Vor- 
kommen von kam beurteilen wolle, »weil dem Iyrisch-didaktischen 
Gedicht natürlich die Beispiele für 3. Pers. Sing. Prat. fehlen< ; das 
ist ein guter (aber seltener!) Fingerzeig, welche Wichtigkeit der Stoff 
eines Dichtwerkes für seine formale Gestaltung besitzt. Welche 
Unterschiede zwischen dem Thema des 1. Büchleins (von dem Reim- 
spiel müßte man ganz absehen) und der leidenschaftlichen Casuistik 
des zweiten obwalten, steht hier nicht zu untersuchen. Genug, so- 
bald es deutlich wird, daß Kraus schwerlich im Recht ist, wenn er 
den für einen mhd. Dichter verfügbaren Schatz an Reimworten wie 
einen Setzkasten ansieht, aus dem die Buchstaben = Reime entnom- 
men werden, gleichgiltig, ob es sich um Goethes Prolog im Himmel 
oder um einen Börsenbericht handelt. 

Aber Kraus hat S. 143—150 noch einen anderen Beweis zu lie- 
fern versucht, den er selbst nicht ganz so hoch anzuschlagen scheint 
(er nennt ihn aber auch S. 172) als die aus dem Reimgebrauch ge- 
schöpften Argumente, der mich jedoch der wichtigste dünkt. Er 
stellt dort 160 Verse des 2. Büchleins zusammen, die in anderen 
Werken Hartmanns ganz oder teilweise oder modificiert sich vor- 
finden. Er schließt daraus zu meinem Erstaunen eigentlich nur, daß 
diese Uebereinstimmungen es unmöglich machen, dem zweiten Büch- 
lein einen sicheren Platz in der Chronologie von Hartmanns Dich- 
tungen anzuweisen, weil sie eben auf Stellen aus sämmtlichen Hart- 
mannschen Werken sich beziehen. Darum hält er sie sofort S. 144 
für ein Zeichen, wie sehr »der Dichter sich in Hartmanns Wort- 
stellung, Reimgebrauch u. dgl. eingelebt«e habe — das ist aber in 
diesem Zusammenhange eine vorgefaßte Meinung. Unter diesen 160 
Versen gibt es nun, was auch Kraus nicht entgangen ist, eine Menge 
Uebereinstimmungen, die gar nichts beweisen können, weil sie sich 
auf allergewöhnlichste Redensarten und Wortfügungen beziehen, die 
bei jeder Art Darstellung vorkommen müssen. Ein Rest erübrigt 
aber, der jedesfalls dartut, daß der Verfasser des 2. Büchleins mit 
Hartmanns Diction sehr vertraut war. Wie ist nun diese Vertraut- 
heit auszulegen? Darf man mit Kraus annehmen, der Dichter des 

30* 


444 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


2. Büchleins müsse hinter Hartmann von Aue gestanden haben, weil 
die Uebereinstimmungen auch dessen letzte Werke betreffen, die dann 
Vorbild gewesen wären? Oder ist es erlaubt, diese ähnlichen Verse 
und Versteile zu beurteilen wie die überaus zahlreichen Reminis- 
cenzlesarten in Hartmanns Werken selbst, deren Entstehen übrigens 
auch nicht völlig aufgeklärt ist? Die Entscheidung hängt davon ab, 
daß man sehr sorgsam von Fall zu Fall untersucht, welcher Vers 
sich an seinem Platze als ursprünglicher geltend mache und fester 
im Zusammenhang der Gedanken stehe. Bis das geschehen ist, wird 
man ein abschließendes Urteil selbst über diese sehr wesentlichen 
Parallelen aussetzen müssen. — 

Ich bin am Ende meiner Auseinandersetzung mit Kraus. Daher 
wiederhole ich, daß ich das Problem der Autorschaft des zweiten 
Büchleins hier gar nicht als ein praktisch zu lösendes betrachtete, 
sondern die Beweismittel der Kraus’schen Argumentation, vom Stoff 
losgelöst, theoretisch prüfen wollte. Wer Hartmann für den Autor 
dieser Dichtung hält, der muß, und das ist das Schlimmste für ihn, 
es beweisen, und dies ist durchschlagend noch Niemandem gelungen 
(das Schwergewicht wird immer darauf fallen, wie man die Bezüge 
des 2. Büchleins zu Hartmanns Lyrik versteht, das hat auch Saran, 
Beitr. 24, 1ff. richtig gesehen). Es ist nicht entfernt meine Ab- 
sicht, die Beweismethode von Kraus zu discreditieren, im Gegen- 
teil, ich begrüße sie freudig und hoffe von ihr schöne Erfolge. Nur 
darauf kam es mir an, zu zeigen, was aus der Observation der For- 
men im Reimgebrauch gefolgert werden darf und was nicht, und da 
bin ich allerdings der Ansicht, daß nur mit der größten Vorsicht und 
mit steter Rücksicht auf den Stil der Dichter überhaupt litterar- 
historische Schlüsse aus den Reimprämissen sich ziehen lassen. — 

Wesentlich anders geartet ist die Abhandlung von Zwierzina. 
Sie ist nicht glücklich disponiert, man könnte im Ganzen besehen 
die Anlage vielleicht etwas undurchsichtig nennen, obgleich die Er- 
örterungen im einzelnen sehr wohl zusammenhängen, die Darstellung 
schweift aus, kehrt zurück, wiederholt. Es kommt dazu, daß es an- 
scheinend an einem festen Mittelpunkt, an einer hauptsächlichen 
Aufgabe fehlt, die Beobachtungsgruppen haben etwas Zufälliges, und 
keinesfalls wird ein bestimmtes Ziel sicher und energisch auf kürzestem 
Wege angestrebt. Diese Mängel der Composition sind mit unläug- 
baren Vorzügen verknüpft. Zwierzina läßt sich auf theoretische Aus- 
einandersetzungen ein, er beobachtet nicht bloß und gruppiert das 
Beobachtete, er fragt auch darnach, ob man so beobachten dürfe 
und nicht anders beobachten müsse, mit einem Worte: er gebraucht 
seine Methode nicht als ein fertiges Werkzeug, über dessen Verwendung 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. 446 


gar nicht zu sprechen ist, er sieht die Schwierigkeiten, welche sich 
entgegenstellen, und bemüht sich, sie fort zu räumen. Daher be- 
handelt er auch die observierten Fälle und die Gruppen genauer mit 
Rücksicht auf ihre Bedingungen, er individualisiert sie häufig. Freilich 
zerfällt ihm dabei das Material mehrfach unter den Händen und er 
ist selten imstande, feste Schlüsse herauszupressen, der Charakter 
des reinlich Fertigen haftet seiner Abhandlung in geringem Maße an, 
dafür ist sie historischer gehalten als die Studie von Kraus. Auch 
sie sucht aus der Beobachtung des Reimgebrauches, zunächst für 
Hartmann und Wolfram, litterargeschichtliche Resultate zu gewinnen. 
Natürlich sind es die wahrnehmbaren Veränderungen im Reimgebrauch, 
welche Zwierzina zu seinen Zwecken verwertet. Und wiederum 
hauptsächlich wird das Verhältnis der beiden Epiker zu dem Ideal 
der mhd. Schriftsprache, vielleicht besser »Dichtersprache<, zu be- 
stimmen unternommen, also im Grunde dasselbe Problem, das Kraus 
in seinem Buche über Heinrich von Veldeke (1899, vgl. GGA. 1900) 
bearbeitet hat. Das Verfahren, das beide Forscher dabei einschlagen, 
beruht auch wesentlich auf denselben Grundsätzen, wenngleich die 
Ausführung, gemäß der Verschiedenheit der Aufgaben, nicht dieselbe 
bleibt. Kraus hatte seinen Veldeker an zwei Maßen zu messen: an 
dem niederländischen Heimatsdialekt des Poeten, dann an der ober- 
deutschen Dichtersprache, welcher er zustrebt. Nach den Darlegungen 
von Franck (Anz. f. d. Altert. 26, 104—117) ist die Lösung des 
ersten Problems Kraus nicht völlig gelungen, aber nicht deshalb, 
weil seine Arbeitsmethode unrichtig gewesen wäre, sondern weil er 
in Bezug auf die niederländische Poesie gegen das Princip seines 
Verfahrens gehandelt hat, das unbedingte Vollständigkeit des Reim- 
materials verlangt. Zwierzina bespricht in seinem Aufsatz sehr ver- 
schiedene Reimworte, meistens in derselben Weise: er zählt die vor- 
kommenden Fälle in den Abschnitten (wirklichen oder künstlichen 
z. B. von 1000 zu 1000 Versen) des Werkes; vermindern sich die 
Zahlen, so schließt er daraus, der Dichter habe das Wort im Reime 
meiden wollen. Er sucht dann für diese Abneigung einen Grund und 
findet ihn gewöhnlich darin, daß dieses Wort irgendwie zu dem Ideal 
einer mhd. Dichtersprache nicht paßt: entweder ist es zu mundartlich 
oder es ist obsolet und unhöfisch oder es ist eine von zwei möglichen 
Formen, deren Schwanken gemieden werden soll. So stellt er gleich 
eingangs fest, wiesich im Parzival von Buch zu Buch zunehmend seltener 
die san im Reime finden, weil Wolfram sie als dialektisch empfand. 
Stört irgend etwas den ruhigen Ablauf des Verringerns im Reim- 
gebrauch, kommen also ruckweise die verpönten Worte in Gruppen 
wieder zum Vorschein, dann erklärt Zwierzina das sehr ingeniös aus 


446 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


» Arbeitspausen<: dort wo das zu meidende Wort doch neuerdings eintritt, 
dort ist ein Einschnitt in der Abfassung des Werkes anzunehmen, 
der Dichter hat mit der Continuität seine Praxis verloren, und als 
er dann abermals beginnt, steht er dem schlimmen Wort etwa wie 
am Anfang seines Werkes gegenüber und lebt sich erst allmählig 
wieder in seine Abneigung ein, allerdings gewöhnlich rascher denn 
vorher. Nicht alles versucht Zwierzina auf diese Weise sich ver- 
ständlich zu machen, aber doch das meiste; so unterläßt er, darauf 
hinzuweisen, daß im 3. Buch des Parzival ein sän auf 88 Verse trifft, 
im 1. nur auf 129, im 2. auf 207, so daß also schon das 3. Buch 
einen Rückfall darstellt, überhaupt das Buch ist, wo relativ die mei- 
sten sän vorkommen und das daher das erste von Wolfram gedichtete 
Buch sein müßte. S. 440 erklärt er sän für ein Form-, nicht ein 
Flickwort, beschreibt aber S. 439 die Funktion von sän dergestalt, 
wie sie besonders einem Flickwort zukommt. 

Andere Gründe für das Vermeiden eines Reimwortes als die aus 
dem Streben nach der mhd. Dichtersprache genommenen, das die 
Hindernisse für die Verbreitung des vorzutragenden Werkes hinweg- 
räumen soll, erkennt Zwierzina in der Regel ebensowenig an wie 
Kraus. Er ist zwar etwas empfindlicher für die Beschaffenheit des 
Stoffes und ihr Verhältnis zur dichterischen Arbeit als sein Grenosse, 
jedoch nicht sehr. Daß der Dichter z. B. ein bestimmtes Reimwort 
ungern verwendet, weil es durch die litterarische Uebung abgebraucht 
und vernutzt ist (was bei der Geschichte der Iyrischen Reime eine 
große Rolle spielt), weil es ihm als »ordinär<« gilt, das wird nirgends 
in Betracht gezogen. Vermutlich, weil das ästhetische Rücksichten 
wären, >Imponderabilien<, mit denen die exakte Forschung nicht 
rechnet. Wie Zwierzina über ästhetische Urteile, die ja doch nicht 
aus der Luft gegriffen werden, denkt, das läßt sich recht deutlich 
aus S. 500 Anm. 1 entnehmen, wo er auf etliche Reimworte hin, 
die der arme Heinrich häufiger bringt als der Iwein, jenen vor 
diesem ansetzt und fortfährt: ‘Die, die den a. Heinr. aus irgend 
welchen ästhetischen Gründen (er mag ihnen immerhin besser gefallen!) 
für jünger halten als den Iwein, müßten sich noch mit vielen 
anderen ähnlichen Erscheinungen, als diesen, abfinden’. In diesen 
Worten spüre ich den Hohn, mit welchem der Forscher, der seine 
Ergebnisse mit den greifbaren Zahlen der greifbaren Reimworte be- 
gründet, auf die windigen Gesellen herabblickt, die da meinen, bei 
der Gestaltung von Iwein und Parzival hätten noch Gesetze und 
Kräfte des dichterischen Schaffens überhaupt mitgewirkt, sei die Be- 
sonderheit des Genius noch in der Eigenheit der Aufgabe und des 
Stoffes ins Erscheinen getreten. 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. 447 


Nun meint es ja Zwierzina gewiß nicht so arg, er isoliert das 
Reimwort durchaus nicht völlig und bringt es S. 461 ff. sehr hübsch 
in Zusammenhang mit der Bildung des Verses, und zwar nicht bloß 
wegen der richtigen Interpretation der Form, an verschiedenen Stellen 
legt er Beobachtungen vor, die nicht anders denn auf den Stil be- 
zogen werden können, ja Inhalt und Vortragsweise eines Werkes 
stellt er (z. B. S. 509) in Bezug zu den Reimen; im Ganzen und 
Großen gilt aber auch ihm die Uebersicht des Reimvorrats eines 
Dichters als eine Art Statistik der Verbrauchsartikel, aus denen das 
poetische Budget mit Hilfe von Variation und Permutation durch 
eine gewisse Wahrscheinlichkeitsrechnung ermittelt werden kann. 
Was soll denn überhaupt der Reim? Er gilt als ein Schmuck, der 
Gleichklang der Worte schmeichelt dem Ohr und die Erwartung des 
Gleichklangs spornt die Aufmerksamkeit des Hörers. Es verhält 
sich mit ihm ganz so wie bei der Allitteration: er zeichnet Begriffe 
aus, die wegen ihrer Wichtigkeit im Satzgebilde hervorgehoben 
werden sollen. Nicht jedem Reimwort wohnt solches Gewicht inne, 
wie denn auch bei der normalen Allitteration 2 + 1 der erste 
Halbvers mit zwei allitterierenden Worten ungemein häufig nur die 
schon in der zweiten Hälfte des vorhergehenden Verses gebrachte 
Vorstellung variiert, indeß erst der Hauptstab im zweiten Halbvers 
- die Darstellung durch ein stark accentuiertes, aber vermöge des 
Gleichklangs mitgebundenes Wort vorwärts schreiten macht; in 
dieser Kreuzung liegt eben ein Reiz mehr. Ist das so, dann ist die 
engste Relation zwischen Stoff, persönlicher Darstellung und Reim- 
gebrauch unbedingt anzunehmen, und das Vorkommen eines Reim- 
wortes kann nicht als bloßes Produkt der statistischen Notwendigkeit 
(oder des statistischen Zufalls!) angesehen werden. Freilich ist der 
Wortschatz des Dichters keineswegs unbegrenzt und die gewöhnliche 
Redeweise sowol als die litterarische Ueberlieferung legen ihm den 
Zwang der Auswahl auf. Sind aber die Schranken wirklich so eng, 
wie Zwierzina sie bemißt, dann sind die Klassiker des höfischen Epos 
unter dem Druck einer Knappheit der technischen Mittel gestanden, 
der diese »größten Formkünstler aller Zeiten< nicht als freigebietende 
Herren sondern als Knechte ihrer Kunst erscheinen läßt. 

Klar und exakt sind diese Beobachtungen, mit ziffernmäßiger 
Bestimmtheit treten uns ihre Resultate vor Augen und überzeugen 
uns schlagend durch die satte Wolgerundetheit ihrer Umrisse. Und 
doch entraten auch sie durchaus nicht sehr verwegener Voraus- 
setzungen. Zwierzina und Kraus nehmen beide an, bevor sie noch 
beobachten und das Beobachtete beurteilen, es gebe nur eine Art 
der Entwicklung für alle Dichter, nämlich einen stets gleichmäßigen 


448 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Fortschritt in einer bestimmten, einmal begonnenen Richtung. Diese 
Vorstellung beherrscht ihre Forschung, sie gilt ihnen als Axiom, das 
nicht bewiesen zu werden braucht. Aber das ist gar kein Axiom, 
das ist nur ein unbewiesener Hilfssatz, eine Hilfslinie wie die beim 
geometrischen Unterricht, nur daß sie nicht wie diese nach ge- 
schehenem Beweis als gleichgiltig weggelöscht werden darf, sondern 
zu den Schlußfolgerungen durchaus mit gehört, die mit ihr stehen 
und fallen. An sich hat diese theoretische Voraussetzung keine 
Wahrscheinlichkeit für sich, das Gegenteil davon kann dasselbe Recht 
für sich beanspruchen, und die Geschichte der modernen Poesie, wo 
allein durch die genaueren Daten über das Leben des Dichters und 
das Entstehen seiner Werke die Forschung festen Boden unter den 
Füßen hat, lehrt das Eine wie das Andere, ja sie liefert die wunder- 
barsten Beispiele für das Zickzack der Entwicklung des Genius, für 
seine Umwege, Irrwege, für die Kreuzung zwischen dem Steigen und 
Fallen seiner Leistungen. Selbst das gewöhnlichste Leben des Tages 
zeigt uns einen stetigen Fortschritt auf einmal gebahntem Pfade nur 
in sehr beschränktem Maße bei der Ausbildung körperlicher und 
geistiger Fähigkeiten, eigentlich nur bei solchen, wo die Uebung 
Alles gewährt. Sogar in der organischen Natur glaubt man heute 
nicht mehr an ein Vorwärts Schritt um Schritt, sondern man ver- 
zeichnet staunenswerte Sprünge, und die Einbrüche, welche die - 
teleologische Erklärung neuestens in den Darwinismus vollbringt, 
stützen sich auf solche Wahrnehmungen. Zur relativen Sicherheit 
auf dem Gebiete der Technik altdeutscher Poesie wird man erst ge- 
langen können, sobald wenigstens alle vorhandenen Möglichkeiten 
erschöpft, d.h. die Reimbestände sämmtlicher überlieferter Dichtungen 
verzeichnet, geordnet, und verglichen sind. Bedürfen ja noch in 
manch anderem Betrachte die Observationen von Kraus und Zwier- 
zina durchaus der Erweiterung und Ergänzung: so haben wir über- 
haupt bisher vereinzelte Proben gesehen, z.B. bloß die Abnahme 
von Worten im Reimgebrauche, der doch notwendigerweise (soweit 
der Stoff das gestattet) eine Zunahme anderer Reimworte correspon- 
dieren muß, die uns nur gelegentlich vorgeführt wurde; die stärkere 
Gewähr, deren die Ergebnisse nicht entbehren können, muß durch 
eine erschöpfende geordnete Reimstatistik dargeboten werden. — 
Daß aber jene Hilfsconstruction, der Satz vom steten Fortschritt, für 
das Erklären der beobachteten Erscheinungen außerordentlich wichtig 
ist, braucht gar nicht im einzelnen gezeigt zu werden. Darauf be- 
ruht die Vorstellung von den >Riickfillen<, mit der Zwierzina so 
gern und häufig operiert, darauf der Begriff der »Arbeitspause<, die 
freilich beide nicht einwandfrei sind: wenn der Dichter (vgl. Zwier- 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. 449 


zina S. 455) am Ende eines Abschnittes angelangt war und nach 
einer Pause fortfuhr, mußte er da immer von der Vollkommenheit 
der bereits erreichten Technik anfangs einbüßen, konnte er nicht, wo- 
fern die Reimwahl aus bewußter Ueberlegung hervorgieng, am Be- 
ginn des nächsten Abschnittes diese erbärmlichen sam mit derselben 
Ueberzeugung meiden wie vorher? Und wenn das zwischen den Ab- 
schnitten desselben Werkes angenommen werden darf, weshalb nicht 
zwischen zwei auf einander folgenden Werken? War der Dichter 
unter der emsig geübten Controlle seines Kunstverstandes beim Ab- 
schluß des einen Epos zur Sicherung seines poetischen Sprachge- 
brauchs gekommen, mußte er sich nicht gerade dann mit vollem Be- 
wußtsein des Erfolges freuen und am schärfsten darauf achtend mit 
dem neuen Gedichte anheben? Bekam er jedoch allemale wieder 
Rückfälle, was hindert uns dann anzunehmen, er habe gearbeitet wie 
der Musiker Czerny, von dem man sagt, es hätten acht Pulte in sei- 
nem Arbeitszimmer gestanden, jedes mit aufgelegten Notenbogen, 
und er habe beim Componieren den einen vollgeschrieben und darauf 
der Ordnung nach sich zu dem nächsten gewandt, um dort weiter- 
zuschreiben, indeß die früheren trockneten. Viel künstlicher wäre 
diese Hypothese schwerlich als Zwierzinas »Arbeitspausen«e und 
»Riickfalle<. Ist Zwierzina der Ansicht, daß ohne seine Hilfsconstruc- 
tion vom gleichmäßigen Fortschritt nicht gearbeitet werden könne, 
dann scheinen mir der Auswertung seiner Reimobservationen für 
litterarhistorische Zwecke noch die erheblichsten Hindernisse ent- 
gegenzustehen. 

Dagegen habe ich die große Freude, rückhaltlos anerkennen zu 
dürfen, mit welch namhaftem Gewinn Zwierzina in seinen »Mittel- 
hochdeutschen Studien<, von denen mir bis jetzt aus den Bänden der 
Zeitschr. f. d. Altert. 43—45 (den noch unveröffentlichten vierten Teil 
hat mir seine Güte in Bürstenabzügen übermittelt) ungefähr 20 
Druckbogen zugänglich waren, den Reimgebrauch mhd. Dichter zur 
Feststellung von Lauten und Formen altdeutscher Mundarten sowol 
als der Schriftsprache ausgewertet hat. Nützliche Beiträge liefert 
S. Singer in den Anmerkungen seines Vortrages »Die mhd. Schrift- 
sprache<, Zürich 1900. Schon die beiden Abhandlungen der Fest- 
schrift von Zw. und Kraus mußten durch Paul in der 5. Auflage 
der Mhd. Grammatik, durch Michels bei seinem Mhd. Elementarbuch 
ausgiebig benutzt werden. Zwierzinas »Mhd. Studien< nötigen dazu, 
die mhd. Laut- und Formenlehre in wichtigen Punkten ganz umzu- 
arbeiten. Die alten Reimsammlungen, die in Weinholds Grammatiken 
vorliegen und die Jahrzehnte hindurch als wichtigste Stütze für Ort- 
und Zeitbestimmungen undatierter mhd. Denkmäler dienten und 


450 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


allerseits dankbarst citiert wurden, die auch Paul und Michels in | 
den Hauptsachen und vielen Einzelnheiten noch zu grunde legten, 
sie müssen jetzt durch andere und erschöpfende abgelöst werden. 
Wenn die mhd. Grammatik in wesentlichen Zügen künftighin ein 
anderes Antlitz tragen wird, so ist das ein bleibendes Verdienst von 
Zwierzina, dessen einschlägige Arbeiten jetzt das Beste ausmachen, 
das uns auf diesem Gebiete zur Verfügung steht. Es versteht sich 
von selbst, daß durch seine Ergebnisse auch der Litterarhistorie 
die wertvollsten Bestimmungen zugeführt werden: brauchbare Schlüsse 
auf Heimat und Zeit der Entstehung eines Dichtwerkes gehören ja 
zu den Grundpunkten, mit denen die litterarhistorische Forschung 
einsetzen kann. 

Vielleicht ist es geraten, hier noch auf eine dritte Möglichkeit 
hinzuweisen, der gemäß Beobachtungen des Reimgebrauches nutzbar 
gemacht werden könnten, und zwar gerade in der Richtung auf die 
Litterarhistorie hin. Als ich vor einigen Jahren am Biterolf ar- 
beitete und mir die Geschichte dieses Werkes auch aus der Unter- 
suchung seines Reimvorrates aufzuhellen suchte, wünschte ich die 
Voraussetzungen der poetischen Technik für dieses in manchem Be- 
trachte noch rätselhafte Gedicht kennen zu lernen. Deshalb hob 
ich aus den großen epischen Dichtungen des 12. bis 13. Jahrhun- 
derts, also von der Kaiserchronik bis Hartmann, Wolfram und Gott- 
fried einschließlich, erzählende Partieen von je 3000 Versen aus und 
ordnete die Reime nach den darin vertretenen Wortklassen. Diese 
Zusammenstellung lieferte die überraschendsten Ergebnisse: es zeigte 
sich, daß von der alten Erzählungstechnik der Geistlichen und Spiel- 
leute, die auf volksmäßigem Untergrunde ruht, bis zum höfischen 
Roman hin die wesentlichsten Verschiebungen beim Gebrauche der 
einzelnen Wortklassen im Reime stattgefunden haben. Dadurch wird 
nun auch bezeugt, wie enge die Reimtechnik mit der historischen 
Entwicklung des gesammten Horizontes der Poeten, mit den Stoffen 
und ihrer Auffassung, zusammenhängt, und daß die notwendig heran- 
zuziehenden Momente der Erklärung für den persönlichen Reimvor- 
rat eines Dichters bei der Mundart und dem Verhältnis zur Schrift- 
sprache nicht stehen bleiben dürfen. Zwierzina sind diese Dinge 
nicht entgangen und er widmet ihnen S. 446 einige beachtenswerte 
Sätze, unter denen ich freilich dem einen, jene Spielleute und Geist- 
lichen hätten eine nirgends gesprochene, nur in der Litteratur lebende 
Sprache gelesen oder geschrieben, mit aller Bestimmtheit wider- 
sprechen muß. Aber er scheint das ganze Problem nicht für sehr 
wichtig zu halten, vielleicht weil es ein überwiegend historisches ist, 
während ich darin eine Aufgabe ersten Ranges erblicke. Wenn ich 


Abhandlungen zur germanischen Philologie. 451 


jene Zusammenstellungen bis heute nicht veröffentlicht habe und 
auch nicht veröffentlichen werde, so liegt es daran, daß ich in der 
Zwischenzeit mich überzeugt habe, auch hier sei mit Stichproben 
nichts Ernstes getan und geholfen, auch hier könnten einigermaßen 
sichere Schlüsse nur aus der Verwertung des gesammten Materiales 
geschöpft werden; dieser Forderung in dem bezüglichen Falle nach- 
zukommen, ist mir unmöglich. 

Daß ich aber die Forderung an meine Reimsammlungen erhob, 
das danke ich der Beschäftigung mit den Arbeiten von Zwierzina 
und Kraus. Und das bringt mich zu einem ferneren Punkte, der 
dem Erwägen der Fachgenossen unterbreitet werden soll. Die Auf- 
nahme des Reimgebrauches mhd. Dichter, wie die beiden Forscher 
sie betrieben haben, setzt einen sehr ansehnlichen Aufwand mecha- 
nischer Arbeit voraus, die doch von steter und scharfer Aufmerksam- 
keit begleitet sein muß. Sie kann auf verschiedene Art bewerk- 
stelligt werden: der Eine schreibt jedes Reimpaar für sich auf einen 
Zettel und ordnet diese dann; der Andere zerschneidet zwei Exem- 
plare des Textes nach den Verspaaren und klebt jedes für sich auf 
einen Zettel. Die Sammlungen, welche Zwierzina und Kraus auf 
diese Art zu wege gebracht haben, sind bereits sehr umfangreich, es 
leidet aber keinen Zweifel, daß sie auf die ganze Ueberlieferung 
mhd. Poesie, alle publicierten Reste und Bruchstücke, sowie das leider 
noch sehr bedeutende ungedruckte Material werden ausgedehnt wer- 
den müssen. Es kann aber schwerlich von jedem einzelnen Forscher 
verlangt werden, daß er Zeit, Kraft und Kosten für sich auf solche 
Sammlungen wende, um sie dann zur Grundlage seiner weiteren 
Studien zu machen. Sammelt er aber die Reime nicht, dann ist er 
heutzutage von der Behandlung der hier discutierten Aufgaben so 
gut wie ausgeschlossen. Man wird darauf bedacht sein müssen, die- 
sem Uebelstande abzuhelfen. Vollständige Reimwörterbücher zu 
Hartmann und Gottfried, wie Vos sie plant, sind schon etwas, aber 
bei weitem zu wenig. Steinmeyer hat brieflich an mich die Meinung 
geäußert, eine vollständige Aufnahme des altdeutschen Reimbestandes 
möge durch gemeinsame Arbeit veranstaltet, die zusammengebrachte 
und geordnete Zettelmasse an einer Centralstelle niedergelegt und 
dem Gebrauch der wissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht 
werden. Ueberlegt man sich die Bedingungen näher, unter denen 
ein solcher altdeutscher Reimschatz, der ja an dem Zetteldepöt des 
lateinischen Thesaurus ein nachstrebenswertes Vorbild besäße, ver- 
wirklicht werden könnte, so stellen sich der Sache bedeutende Schwie- 
rigkeiten entgegen. Es bleibt zu bedenken, ob man sich dem er- 
wünschten Ziele nicht auf kürzerem Wege nähern könnte. Ich 


452 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


glaube, daß eine Sammlung des geordneten altdeutschen Reimbe- 
standes durch ein paar jüngere Leute unter der Führung eines in 
solcher Arbeit erfahrenen Forschers während höchstens drei Jahren 
hergestellt und in zwei Quartanten mit dreispaltigem Druck veröffent- 
licht werden könnte. Die Mittel dafür könnten vielleicht schon durch 
Subscription innerhalb der Fachgenossen aufgebracht werden. Nun 
wären da freilich nur die Reimworte verzeichnet, nicht die ganzen 
Verse selbst, deren Benutzung jetzt das Eigentümliche der neuen 
Forschungsweise ausmacht. Allein für sehr viele Arbeiten möchte 
das doch ausreichen, zumal wenn die Reimworte durch praktische, 
sparsam eingeschaltete Abkürzungen ihrer Form nach charakterisiert 
wären. Unbedingt notwendig ist es dann, daß die noch in Hand- 
schriften allein bewahrten Stücke altdeutscher Dichtung insgesammt 
veröffentlicht würden. Das muß aber ohnedies jetzt geschehen, wann, 
darf nur eine Frage der Zeit sein. — 

Wie dem aber auch sei, der Bericht, den ich hier erstattet 
habe und der insbesondere mit den Studien von Kraus und Zwier- 
zina sich befaßt, soll nicht den Resultaten dieser Arbeiten entgegen- 
treten, er soll nur zu Ueberlegung und Vorsicht mahnen, ehe die 
ganze Natur des Problems und die Möglichkeiten seiner Lösung hin- 
reichend erwogen sind. Jedesfalls soll die Bemühung dieser Männer 
aufs dankbarste gewürdigt, es soll ihren Arbeiten der schönste und 
fruchtbarste Fortgang gewünscht, und es sollen auch für den histo- 
rischen Zweig der deutschen Philologie, oder vielmehr für jene 
deutsche Philologie, die sich als geschichtliche Wissenschaft versteht, 
aus dem neuerlich erschlossenen Kreise von Beobachtungen die reich- 
sten Resultate gehofft werden. 

Darum wollen wir auch schließlich des Dankes an Richard Hein- 
zel nicht vergessen, aus dessen Schülerkreise das ganze vortreflliche 
Werk und besonders die zuletzt besprochenen fördernden Abhand- 
lungen hervorgegangen sind. 


Graz. | Anton E. Schönbach. 


Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 453 


Müllenhoff, K., Deutsche Altertumskunde, 4. BJ. Berlin, Weidmannsche 
Buchhandlung, 1900. XXIV u. 751 S. 8°. 


Mit dem vorliegenden 4. Bd. von Miillenhoffs Deutscher Alter- 
tumskunde ist der Schlußstein zu diesem bedeutenden Werke gelegt. 
Freilich ist damit nur ein Notbau zum Abschluß gebracht, und man- 
ches wäre gewiß anders ausgeführt worden, wenn es dem Meister 
selbst beschieden gewesen wäre, den Bau zu vollenden. Aber sein 
Eindruck im Großen und Ganzen hat dadurch nicht gelitten. Zeigen 
doch bereits die Teile des Werkes, die bei Lebzeiten des Verfassers 
erschienen sind, daß es sich ihm nicht um eine den Titel »Deutsche 
Altertumskunde< rechtfertigende, gleichmäßige und erschöpfende Be- 
arbeitung des Stoffes handelte, sondern um weit ausgreifende Einzel- 
untersuchungen innerhalb dieses Wissenschaftsgebietes. 

Damit soll deren Wert nicht herabgesetzt werden. Und auch 
das Letzte, was uns jetzt aus seinem Nachlasse geboten wird, gibt 
Zeugnis von einer staunenswerten Gelehrsamkeit und trägt den 
Stempel einer eigenartigen Persönlichkeit. Es ist darum geradezu 
ein Verdienst um die Wissenschaft, das sich alle jene erworben ha- 
ben, durch die das Erscheinen dieses Bandes in irgend einer Weise 
gefördert wurde, und vor Allem sein Herausgeber Max Roediger hat 
sich dabei unseren wärmsten Dank verdient. Lag doch die Sache 
nicht so einfach, besonders was die Textherstellung des Germania- 
kollegs anbelangt, das den Hauptinhalt unseres Bandes bildet. 

Angesichts der redlichen und anspruchslosen Gelehrtenarbeit, die 
hiebei geleistet worden ist, wird man das eine oder andere Versehen 
nicht allzu schwer anrechnen. So wenn S. 294 dieselbe Oertlichkeit 
Taschberg heißt, die auf der nächsten Seite ohne weitere Aufklä- 
rung Thorsbjerg genannt wird, oder die urgerm. Form desselben 
Götternamens einmal (S. 380) als Tiwae angesetzt wird, sonst als 
Tiu und Tius. In dem Satz S. 35: »nachdem er (Caesar) die Ger- 
manen und Gallier zurückgedrängt« ist das Wort Gallier durch 
Helvetier zu ersetzen. Und von den Sveben berichtet Caesar 
nicht, wie es S. 160 heißt, Vieh hätten sie nicht erlaubt einzu- 
führen, sondern Wein. S. 152 wäre kanab (nicht kanap) der rich- 
tige Ansatz. Teutoburgensis saltus statt Teutoburgiensis (S. 148) ist 
wohl nur ein unberichtigter Druckfehler ebenso wie erédava statt 
Deridava (S. 53) oder got vasjan statt varjan (S. 424) oder — in 
den Anhängen (S. 643 ***) — Danmarks volkesagn statt fol- 
kesagn. Wenn es (S. 149) im Anschluß an die allerdings auch 
unrichtige Vermutung, daß das Renntier und der Höhlenbär in hi- 


454 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


storischer Zeit in Deutschland noch nicht lange verschwunden waren, 
heißt: »elen- oder elchtiere, auer- und wisentochsen findet man Jetzt 
noch in Littauen und Wolhynien, wenn auch äußerst sparlich<, so 
kann ja M. das einmal unachtsamerweise gesagt oder niedergeschrie- 
ben haben. Gewiß aber wußte er, daß der Auerochs ausgestorben 
ist; und so wenig er selbst bei der Leberprüfung eines Manuscripts 
gelegentlich seiner Drucklegung eine gegenteilige Behauptung stehen 
lassen konnte, so wenig durften seine Herausgeber einen offenbaren 
Lapsus dieser Art passieren lassen. 

Sichtlich war ja M.s Germaniaheft auch in seiner jüngsten Ge- 
stalt aus Stücken des verschiedensten Alters zusammengesetzt und 
nicht Alles so sorgfältig und der Höhe seiner letzten Reifestufe ent- 
sprechend überarbeitet, als es der Fall wäre, wenn sein Verf. es 
druckfertig gemacht hatte. Nur so können sich Aeußerungen er- 
klären wie die auf S. 102 über die Pannonier: »ob sie jedoch unbe- 
dingt zu ihm« (nämlich zum illyrischen Stamm) »zu rechnen sind, 
ist mir zweifelbaft, denn die uns überlieferten namen tragen z. t. 
slawisches gepräge. Die am adriatischen busen wohnenden Veneter 
gehörten zu ihnen<. Denn hier klafft ein Widerspruch gegenüber 
DA. 2, 378 f., wo die Annahme slavischer Urbewohner in Pannonien 
gewiß mit Recht nachdrücklichst zurückgewiesen wird. Ist hier nicht, 
wenn man sich schon nicht entschließen konnte, die Anstoß erregen- 
den Sätze zu streichen, ein aufklärender Hinweis auf M.s späteres 
Urteil notwendig? 

Ein ähnlicher Fall liegt auf S. 106 vor. Hier wird das Ver- 
haltnis von lat. Rhönus zu ahd. Rin entschieden falsch beurteilt, 
wenn es mit dem von dtsch. spisa zu rom. spesa, ahd. fira zu fertiae, 
krida zu crela u.s.w. in Parallele gestellt wird. Denn dies sind 
verhältnismäßig junge Lehnworte, denen eine ältere Schicht mit 
germ. 2&, ahd. ia, aus lat. e (ae) vorausliegt. Vgl. biessa aus beta und 
Riez aus Raelia neben krida aus creta, ziagal aus tegula, ziahha aus 
theca und phiesal aus pensile neben pina aus poena. Rin kann aber 
doch nicht für ein junges und überhaupt nicht für ein Lehnwort aus 
dem Lateinischen gelten, und DA. 2,219 ist auch tatsächlich das 
Richtige getroffen, indem Uebernahme eines dem gallischen Renos 
notwendig vorausliegenden *Reinos ins Urgermanische angenommen 
wird, das daraus *Rinaz entwickeln mußte. Anders läßt sich das 
Verhältnis des deutschen zum keltischen Namen nicht auffassen, denn 
aus dem jüngeren keltischen Rénos wäre wohl germ. Renae, ahd. 
Rian geworden; dürfte doch kelt. e, das später auch im Irischen zu 
ta wird, in seiner Qualität von germ. @s nicht sehr verschieden ge- 
wesen und bei Entlehnung eher durch dieses als durch & oder er- 


Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 455 


setzt worden sein. Daß der Name Rhein beweist, daß die Germanen 
nicht von jeher an dem Flusse gewohnt haben, wird übrigens von 
M. auf S. 106 nicht mit Recht angenommen; denn lautliche Kriterien 
dafür, daß eine Entlehnung erfolgt ist, und nach welcher Richtung 
dies geschehen, liegen nicht vor, und es sind wesentlich außerhalb 
des Wortes liegende Gründe, die uns veranlassen, an seinen kelti- 
schen Ursprung zu glauben. 

Eine andere Frage ist es, wie in solchen Fällen zu verfahren 
war, in denen nicht gerade ein eigenes gereifteres Urteil M.s ein äl- 
teres berichtigt, in denen aber doch seine spätestens 1882 nieder- 
geschriebenen Ansichten seither von der fortschreitenden Wissenschaft 
überholt sind, und zwar durch so einleuchtende und allgemein aner- 
kannte Ergebnisse, daß auch er selbst sie sicherlich angenommen 
hätte. So würde er heute so wenig wie ein anderer noch den Na- 
men der Burgunden aus burg ableiten (S. 491) oder dem _ aisl. 
elgr germ. e zusprechen (S. 488) oder unser Göte mit got. gudja 
gleichstellen oder ags. cyne — das übrigens nur in Zusammen- 
setzungen vorkommt und dem aisl. Simplex konr entspricht — als 
ja- statt als «-Stamm ansehen (S. 189) oder Brünne und slav. branits 
xoAsuelv zusammenbringen (S. 169) oder gar Leos — durch seinen 
Namen hinlänglich gekennzeichneter — Erklärung unseres Graf aus 
dem Keltischen das Wort reden (S. 191). Dasselbe gilt von Zu- 
sammenstellungen wie ahd. biund und griech. gvrail« (S. 377), got. 
magus und magan (S. 318), aisl. teningr und got. fauratani (S. 352) 
u. a. mM. 

Solche kleine Rückständigkeiten würden ja vielleicht bedeutungs- 
los sein bei einem Buche, das nur für die Hände geschulter Germa- 
nisten bestimmt ist. Das vorliegende aber wird ebensosehr oder 
mehr noch seitens der klassischen Philologen zu Rate gezogen und 
von den meisten von diesen, was Germanistisches anbelangt, als ein 
Evangelium betrachtet werden. Ich glaube deshalb, daß es am 
Platze gewesen wäre, dem M.s letzte Ansichten in möglichster Treue 
wiedergebenden Text ergänzende, dem gegenwärtigen Stand der 
Wissenschaft Rechnung tragende Anmerkungen beizufügen in der 
Art etwa, wie es durch O. Schrader und A. Engler in der 6. Auf- 
lage von V. Hehns Kulturpflanzen und Haustiere ge- 
schehen ist. Damit wäre die Brauchbarkeit des Buches bedeutend 
erhöht worden, und es würde sich mit der Pietät gegen einen großen 
Gelehrten gewiß sogar vertragen haben, wenn auch auf solche be- 
achtenswerte Meinungen neuerer Forscher mit aller Zurückhaltung 
hingewiesen worden wäre, denen er sich vielleicht nicht angeschlossen 
hätte. 


456 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Es ist natürlich nicht möglich, hier etwa diese wünschenswerten 
Ergänzungen oder selbst nur einen ansehnlichen Teil davon zu geben, 
und ich mußes mir im besonderen auch versagen, auf alle die Punkte 
einzugehen, an denen den Annahmen M.s diejenigen gegenüberstehen, 
die ich selbst an dem einen oder anderen Orte zu begründen ver- 
sucht habe und noch festhalte. Erwähnt sei dagegen, daß M. den 
Namen der Sveben ganz ähnlich wie ich ZfdA. 32, 407 ff. verstanden 
und wie ich Beitr. 17, 48 zu dem der Vandilii in Gegensatz gestellt 
hat, eine Auffassung, der gegenüber mir aber jetzt seine schon durch 
J. Grimm angebahnte Deutung als »Freiec den Vorzug zu verdienen 
scheint. Im Uebrigen knüpfen sich meine folgenden Bemerkungen 
an Ansichten des Verf.s, zu denen mir bisher noch nicht Gelegenheit 
geboten war Stellung zu nehmen. 

So befremdet mich auf S. 47 der Satz: »die Germanen werden 
am Steinhuder meer aufs haupt geschlagen«. Handelt es sich dabei 
doch im Gegenteil um einen Kampf, der nach der vorhergehenden 
Niederlage der Cherusken an der Weser die ungebrochene Kraft die- 
ses Stammes zeigte. Selbst der Bericht der Römer über ihn weiß 
nur, daß letztere im Vorteil waren und an Boden gewannen, und dab 
bis Abends gekämpft wurde, aber nichts von einer Flucht, und die 
Mitteilung, der Kampf der Reiterei sei unentschieden geblieben, zeigt, 
daß es auch im Falle einer solchen den Römern einfach an dem Mit- 
tel gefehlt hätte, einen entscheidenden Sieg zu erringen. Ein Jahr, 
nachdem sie angeblich aufs Haupt geschlagen wurden, stehen die 
Cherusken und ihre Verbündeten dem Maroboduus gegenüber und 
erweisen sich als die stärkeren! — 

Im 3. Cap. der Germania berichtet Tacitus bekanntlich auch, 
daß Ulixes nach Germanien gekommen sei und Asciburgium gegrün- 
det und benannt habe: Asciburgiumque ab allo constitutum nomina- 
tumque ACKIIITPTION. Die Vergleichung der Handschriften läßt es, 
wie M. selbst zeigt, als nicht zweifelhaft erscheinen, daß dieser grie- 
chisch geschriebene Name in a®, dem Exemplar Enochs gestanden 
habe, und somit scheint auch ihm seine Ueberlieferung hoch hinauf- 
zureichen, ja aus dem Altertum zu stammen. >»Allein«, bemerkt er 
S. 139, »weder Tacitus kann ein griechisches wort und griechische 
buchstaben in seinem text zugelassen haben (vgl. Wölfllin Philolog. 
26, 160), noch auch können die gelehrten römischen antiquare ge- 
glaubt haben, dadurch daß sie den barbarischen namen in griechi- 
schen buchstaben schrieben und ihm eine halbwegs griechische ge- 
stalt gaben, einen genügenden beweis für die behauptung zu liefern, 
daß der ort von Odysseus gegründet und benannt sei. er muß vor 
der verpflanzung der Sugambern in dies ehemals menapische gebiet 


Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 457 


schon einen gallischen namen gehabt haben, der an Ulixes erinnerte, 
und wenn nicht mehr, so muß dieser ausgefallen sein, so daß Haupt 
und schon vor ihm Hess und Passow mit recht nach nominutumque 
eine lücke bezeichneten«. Die Lücke habe dann jemand, der sich 
der Kenntnis des Griechischen erfreute, mit den griechischen Buch- 
staben ausgefüllt. Dabei ist aber eine ganze Reihe von im einzel- 
nen unerweislichen und nicht einmal wahrscheinlichen Voraussetzungen 
nötig, und schließlich wird demjenigen, der die griechische Namens- 
forın in den Text setzte, die Bekanntschaft mit der Tatsache zuge- 
traut, daß lateinisch -burgium dem griechischen -xvgyov entspricht. 
Wirklich ist, so wie lat. burgus aus griech. xveyog entstanden ist, 
auch -burgium als zweites. Kompositionsglied von Ortsnamen auf 
griech. -xvgyvoy zurückzuführen und das rheinische Quadriburgium 
z. B. lat. Nachbildung von griech. Terganvpyıov »Kastell mit 4 Tür- 
men«, wie ich schon ZfdA. 41, 114 gezeigt habe. Was das Laut- 
verhältnis anbelangt, erinnere ich außer wie dort an Burrus, buxus, 
buxis, baxea gegenüber griech. IIvggds, vos, xvéug, wd& noch an 
mittellat. bufina aus griech. zvrivn. Die Herkunft von Burrus aus 
IIvegos ist sogar durch Cicero, Or. 48, 160 bezeugt; ebenso mußte 
römischen Gelehrten der Ursprung von lat. burgus und -burgium be- 
kannt sein; aber man sieht schon, daß nur im Altertum selbst die 
Uebertragung von Asciburgium in ’daxınvgyıov möglich gewesen 
wäre. Zugleich aber ist es klar, daß damals alle Antiquare, es sei 
denn, daß sie selbst etwas vom Germanischen verstanden hätten, das 
-burgium in Namen germanischer Herkunft nicht von dem aus xvg- 
yıov latinisierten -burgium in Quadriburgium z.B. unterscheiden konn- 
ten, und für sie nichts näher lag, als einen Namen Asciburgium für 
einen von Haus aus griechischen zu halten. Darauf, daß auch des- 
sen Bestimmungswort Anknüpfung an ein griechisches wie doxds ge- 
stattete, kam es dabei gar nicht an. War aber einmal die Vorstel- 
lung von einer griechisch benannten und daher natürlich von Griechen 
gegründeten Stadt aın Niederrhein gegeben, so mußte man die Grün- 
dung doch wohl dem Odysseus zuschreiben, der allein in jene Gegen- 
den gekommen sein konnte und nach einer bereits gangbaren An- 
sicht tatsächlich in den nördlichen Ozean gekommen war. Der Zu- 
sammenhang zwischen dem Namen Asciburgium und der Sage von 
dessen Gründung durch Odysseus ist also so einleuchtend, daß man 
ihn einer grauen Theorie zuliebe, daß in einer Schrift — notabene 
einer wissenschaftlichen — des Tacitus zwar da und dort ein ger- 
manisches, aber kein griechisches Wort und griechische Buchstaben 
vorkommen dürfen, nicht zerreißen wird. Uebrigens wäre alles klar, 
auch wenn man ’4oxımöpyıov aus dem Text streicht. 
Gott, gel. Anz. 1901. Nr. 6. 31 


468 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Vielleicht ist hier auch ein Wort über das Verhältnis von Asci- 
burgium zu dem heute geltenden Namen des Ortes, Asberg, am 
Platze. Auch Asciburgium ist wahrscheinlich als »Eschenberg«, nicht 
»Eschenburg< zu verstehen — vgl. ZfdA. 41,140 —, und die Neben- 
form mit -berg daher eine gleichbedeutende und wohl sehr alte. Im 
Uebrigen fügt sich Asberg gegenüber Asciburgium zu dem schon bei 
Braune, Ahd. Gr. $ 146 Anm. 5 verzeichneten Vorkommen von Aus- 
fall des & in der Gruppe sk + Konsonant, das dann von E. Schröder 
im AfdA. 24, 21 durch weitere interessante Beispiele aus verschiede- 
nen Teilen des deutschen Sprachgebietes belegt worden ist. Die Er- 
scheinung greift sogar über das Deutsche räumlich und zeitlich hin- 
aus. Schon der Gepide ”4oß«ados bei Prokopios 3, 38. 4, 32, von des- 
sen Hand Totila fiel, ist ja wohl ein gotischer *Ask(i)badws »Speer- 
kämpfere. Auch unter langobardischen Namen wie Aspert, Aspran- 
dus, Asfredus mögen einige mindestens aus Zusammensetzungen mit 
Ask- entsprungen sein. Vor allem aber gehört hieher der Name 
Assi, den einer der wandalischen duces in der Or. G. Lgbd. führt. 
Bereits Koegel hat ihn in seiner Gesch. d. dtsch. Lit. I 1, 107 für 
Asci genommen unter Voraussetzung einer Verderbnis. Auf die Zu- 
flucht zu einer solchen sind wir aber gar nicht angewiesen. Ass- 
mann, das E. Schröder a.a. O. neben Asche als gebräuchliche Kurz- 
form zu Ascwin anführt, kann allerdings unmittelbar aus Ask-mann 
entstanden sein, ohne ein vermittelndes Asso vorauszusetzen. Es ist 
aber klar, daß aus allen Vollnamen, in denen Ask- durch Ekthlipse 
zu As- geworden war, auch Kurzformen ohne das fk entspringen 
konnten. Das Doppel-s in Assi erklärt sich dabei eher aus hypoko- 
ristischer Gemination als durch Wirkung der ja-Ableitung. Weniger 
wahrscheinlich ist hier auch hypokoristische Assimilation, deren Rich- 
tung derjenigen in Otto, Anno, Woffo, Eppho aus Orto, Arno, Wolfo, 
Erpho entgegengesetzt wire ‘). 


1) Wenn Assi an die Stelle von Asci getreten ist, so fällt jetzt schon die 
Aehnlichkeit des Namenpaares Asst und Ambri der wandalischen duces mit denen 
der ersten Menschen nach der Voluspp, Askr und Embla, auf. Noch deutlicher 
wird sie, wenn wir in Betracht ziehen, aus welchen Grundformen Embla ent- 
springen kano. E ist hier notwendigerweise Umlaut-e, geht also auf a@ zurück, 
und die Ursache des Umlautes werden wir, wo die Voraussetzung einer Ableitung 
auf -tlön- so nahe liegt, nicht wohl in einem -jön-Suffix suchen. Dann aber geht 
es nicht mehr an, das b als eine jüngere Entwicklung zwischen m und 7 aufzu- 
fassen, da eine Grundform Amilo nur Am(b)la ergeben konnte. Der Umlaut 
spricht also hier für ursprüngliche Länge der Stammsilbe. Die Grundform könnte 
also Ambilö gewesen sein. Doch läßt sich im Germanischen ein amb nirgends in 
Namen oder sonst nachweisen, denn Ambioric, Name eines Eburonen-Fürsten bei 
Caesar, ist gallisch und muß fern gehalten werden. Vgl. auderseits neben jenem 


Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 459 


Nicht ganz verständlich ist mir die Bemerkung zu dem säpo 
des Plinius S. 336: »Besser würde zu den deutschen wörtern (Seife 
und seiner Sippe) lat. sedum ‚talg‘‘ stimmen und es ist auch zu be- 
achten, daß Plinius das fabrikat ausdrücklich eine erfindung der 
Gallier nennt und daß man aus seinen worten eher auf eine pomade 
als auf eine seife schließen muß«. Wie weit Behandlung mit Seife 
auf die Farbe der Haare von Einfluß sein kann, überlasse ich ande- 
ren zur Entscheidung; aber daß es sich um etwas wie unsere Seife 
handelt, beweist die Zubereitung ez sebo et cinere (Plinius 28 § 191). 
Daß auch die Germanen den sapo verwenden, bezeugt Plinius a.a.O., 
und wenn er ihn für eine Erfindung der Gallier ausgiebt, so hat ihn 
dazu kaum etwas anderes veranlaßt, als der Umstand, daß die Römer 
die Sache bei den Galliern zuerst sahen. Wenn aber diese dafür 
ein fremdes, germanisches Wort gebrauchten, wird man weit eher 
den Germanen die Erfindung zuschreiben dürfen. Zwar beweisen ja 
Lehnworte anerkanntermaßen nicht immer etwas für die Entlehnung 
der durch sie bezeichneten Dinge. Besonders in Zeiten starken kul- 
turellen Uebergewichtes eines Volkes über ein anderes (sei es auch 
nur auf einem bestimmtem Gebiete) gibt es diesem neben Ausdrücken 
für neue Begriffe auch solche für längst Bekanntes ab. In unserem 
Fall erfolgte aber die Entlehnung gegen die Richtung der Kultur- 
strömung, und ich möchte darum hier schon auch an die gleich- 
zeitige Vermittlung der Sache selbst denken und ebenso bei braca 
»Hose«, das jetzt durch einen schönen etymologischen Fund O. Schra- 
ders (ZfdWortforsch. 1, 239) mit Bestimmtheit als ursprünglich ger- 
manisch erwiesen ist. Wer dabei an der lautlichen Differenz zwi- 
schen säpo und germ. *saipd oder *satpid Anstoß nimmt, für den 
kann doch auch lat. scbum mit seinem é keine bessere Anknüpfung 
bieten. Denn soll dieses verwandt sein, so muß es entweder eine 
variierte Wurzel oder den Rest eines Langdiphthongs enthalten, ein 
Ausweg, der aber im schlimmsten Falle auch für sapo offen bliebe, 
so daß man nicht sagen kann, daß Serfe zu sebum besser stimme. 
Man ist auch wirklich versucht, sdpo nicht unmittelbar zu Setfe zu 


Ambri noch Ambremar und Ambrihho (Emerca, Amerigo, Emmerich) und den 
Volksuamen der Ambrones, ablautend Ymbre, "OuBewves. Eine Grundform Am- 
brilé würde deshalb viel annehmbarer sein als Ambilé; es wäre eine ganz ähn- 
liche Bildung wie der Mannesname Ambrthho, nur mit dem }- statt dem k-Suffix. 
Und auch aus Ambrilö mußte ganz wie aus Ambilo im Aisl. Eimbla werden; ein 
Embrla, das sich zunächst hätte ergeben sollen, wurde sofort in Embdla gekürzt. 
Vgl. fedgar aus *fedrgar, aschw. run. fadrkar u.a.m. bei Noreen, Aisl. Gr. § 245. 
Es stehen sich also Asst (= Asci) + Ambri und Askr + Embla (aus *Ambrilö) 
gegenüber. 


31 * 


460 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


stellen, sondern auf ein mit sebum ablautendes idg. *sobön- zurück- 
zuführen. Das ä statt ö könnte auf Rechnung des Gallischen ge- 
setzt werden; es ist übrigens gar nicht unwahrscheinlich, daß auch 
im Germanischen idg. 6 zunächst zu @ oder d geworden und mit 
altem a zusammengefallen ist, um später erst zugleich mit diesem 
wieder zu ö zu werden. Aber für die Wiedergabe von fremdem ai 
durch ä, die ja für die spätere Behandlung germanischer Lehnworte 
im Romanischen die Regel ist, bietet sich uns in crdpula aus griech. 
xocırcain, worauf mich Meyer-Lübke aufmerksam macht, ein sehr al- 
tes Beispiel, neben dem niemand mehr ein sdpo aus saipö bean- 
standen wird. Das Wort ist, nebenbei bemerkt, ein Beleg für den 
Ausgang -o des Nom. Sing. der schwachen Feminina auch im West- 
germanischen neben Aliso, ’EAıawv, Arbalo (?), Idistaviso, Strubi- 
loscalleo. | 

Unzutreffend ist auch die Bemerkung : »Ein anderes wort« (für 
Seife) >ist nur aus dem ags. und altn. belegt: leapor laudr ... .« 
Denn ein läda „Seifenwasser‘“, das buchstäblich damit übereinstimmt, 
ist aus Castelli, Wbch. 186 bei Schmeller-Frommann I 1437 gebucht. 
Es ist ein in Wien sehr gebräuchliches Wort. Vgl. auch griech. 
Aovrodv, kelt. *lovatro-, *loutro- „Bad“. 

S. 398 sind die Bataven als die Vorfahren der salischen Fran- 
ken und S. 399 die Niederländer als Nachkommen der Bataven aus- 
gegeben, was aufs selbe hinausläuft. Doch deckt sich das Saalland, 
das wir als älteste Sitze der salischen Franken betrachten müssen, 
nicht mit der Insula Batavorum, und auf diese haben die Franken 
nachweislich von außen her zuerst vorübergehend, dann dauernd über- 
gegriffen. Dem Schluß auf S. 399, mit dem der Bericht des Tacitus 
über die chattische Abstammung der Bataven widerlegt werden soll, 
(»auch können die Niederländer, die die nachkommen der Bataven 
sind, nicht von den Hessen abstammen, ohne daß sämmtliche übrigen 
fränkischen stämme rheinaufwärts desselben ursprunges sind. Das 
aber ist unmöglich, da die Chatten Sueben d.h. Irminonen, jene da- 
gegen istvaeonisch sind<) ist also schon durch die Unrichtigkeit 
eines Vordersatzes die Berechtigung entzogen. Dazu kommt aller- 
dings noch, daß die Chatten tatsächlich — wie heute wohl allgemein 
zugegeben wird — keine Sveben sind. Ferner haben sich ja gerade 
auch die Hessen dem Frankenbunde angeschlossen, und ebenso könn- 
ten Stämme hessischen Ursprunges in diesem aufgegangen sein und 
umso vollständiger, je früher ihr Anschluß erfolgte; dies alles sogar 
wenn M.s Ansichten über die Herkunft des Frankenbundes und des 
Fränkischen und über das Alter seiner Grundlagen zu Recht be- 
stehen. Mindestens ebenso gut könnten doch Bataven in fränkischer 


Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 461 


Umgebung zu Franken geworden sein, als etwa Barden oder Nord- 
schwaben — in weit kürzerer Zeit — in den Sachsen aufgegangen 
sind. Was von Bataven im 4. Jahrh. noch übrig war, müssen wir 
uns übrigens schon ganz oder nahezu ganz romanisiert vorstellen. 
S. 210 heißt es: »Veleda muß nach allen analogien got Vilifa 
entsprechen, wie Venedae got. Vinihös (DA. 2, 34)<. Germanisch 2 
wird aber von den Römern immer durch ¢h oder ¢, nie durch d 
wiedergegeben, und wenn auch ein got. Winifdéds gewiß bestanden 
hat, was schon aus dem Namen des Gotenkönigs Winitharius her- 
vorgeht, und wenn auch das ahd. Winida germ. 5 voraussetzt, so 
ist doch eine dazu im Verhältnis grammatischen Wechsels stehende 
Form schon in ags. Winedas und Weonodland bezeugt, und zu die- 
ser gehört unmittelbar das röm. germ. Venedi, Venadi, dem got. nur 
Winidös, Winadös entsprechen könnte. Ebenso wäre Veleda got. 
Wilida. Aber auch die Deutung von Veleda a.a.QO. ist kaum zu- 
treffend. Der Name ist wohl nur ein Beiname, der nichts anderes 
als »die Seherin< ausdrückt. Er ist germ. Entsprechung — nicht 
etwa Entlehnung, mindestens nicht junge, — zu kelt. *velet »Seher« 
und als solche von Bezzenberger bei Fick, Vgl. Wb.‘ 2,277 und, 
wenn ich nicht irre, früher schon von Windisch erkannt. Dieselbe 
Stufe des Dentals, die sich aus der Wirkung des Vernerschen Ge- 
setzes erklärt, zeigt auch as. mimid, das man gleichwie ais]. /undr 
S. 221 unter den germ. Bezeichnungen für die Weihtümer vermißt. 
Für die Sitte, jedem Einzelnen beim Gastmahl einen Tisch vor- 
zusetzen, die M. S. 337 auch als homerisch-griechisch und keltisch 
belegt, bringt ein auf die Thraker bezügliches Zeugnis W. Toma- 
schek, Die alten Thraker I 123 (WSB. 128), so daß wir sie wohl 
als eine ureuropäische ansprechen dürfen. Daß aber got. biups 
eigentlich das sei, womit man darreicht, darbietet, also gewisser- 
maßen ein Präsentierteller, scheint mir fraglich, obwohl dies die 
gangbare, auch von Uhlenbeck, Et. Wb. d. got. Spr. vertretene Er- 
klärung des Wortes ist. Geradezu ausgeschlossen ist es gewiß nicht, 
daß sich aus dieser Grundbedeutung die bei Grimm, DWb. II 3 und 
Schmeller-Frommann I 306 für bie? belegte von > Weinkelter« (eigent- 
lich »Preßtisch«) entwickeln konnte und auch noch die von ober- 
rhein. bieten »Vorderdeck« — vgl. übrigens auch hinter biet »puppis« 
bei Grimm, DWb. II 4 —, das Kluge, EWb.* 44 mit Recht zu biups 
stellen möchte. Wenn sich uns aber auch ein ags. bydne »Schiffs- 
boden« darbietet, und bei ahd. podam, mhd. bodem, ndl. bodem, eng). 
bottom selbst ebenfalls eine Bedeutungsentwicklung in der Richtung 
von >Schiffsboden, Schiff« bemerkbar ist, wird man zunächst bieten 
und dann auch biufs als Formen mit der Ablautstufe eu in die 


462 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Sippe von Boden einreihen. Eine Form ohne das determinierende 
m oder », wie sie got. biups darstellt, liegt auch dem angeblich l- 
gurischen Namen des Po Bodincus, Bodsyxo; zu Grunde, der von 
Plinius gewiß nicht ganz korrekt als »fundo carens< glossiert wird, 
aber doch wohl von einem idg. Wort für Boden abgeleitet sein wird 
oder an ein solches so sehr anklang, daG ihn die Volksetymologie 
damit in Verbindung bringen konnte. 

Ueber Speer, ahd. sper. aisl. spior (Plur.) zu sagen: »Das wort 
ist wohl entlehnt< (S. 166) halte ich nicht für gerechtfertigt. Es 
folgt allerdings eine Begründung: »wenigstens erscheint lat. sparus 
bei Gellius 10, 25,2, Nonius, Sallust, Virg. Aen. 11,682 und wenn 
auch das lautliche verhältnis nicht ganz stimmt, so muß doch wohl 
identität der worte angenommen werden<. Aber kann man über das 
Nichtstimmen des lautlichen Verhältnisses so leicht hinwegkommen? 
Ergäbe nicht sparus, von den Germanen aufgenommen, notwendig 
ahd. spar statt sper’ Vielleicht ist sparus keltisch; daß es als 
Bauernwaffe bezeugt wird, widerspricht dem nicht. Dann könnte 
hier das a aus e entstanden sein, wie es gerade vor r in keltischen 
Worten öftere der Fall ist: vgl. Garmani, Varagri neben Germani, 
Veragri, Carvetii und cymr. carw gegenüber lat. cerrus, auch noch 
cymr. sarph aus lat. serpens u.dgl.m. Unser Speer könnte dann mit 
dem kelt. Worte urverwandt sein oder müßte, wenn es entlehnt ist, 
an eine ältere Lautform anknüpfen. 

Für Oxionas (Germ. c. 46) wird auch jetzt (S. 517) wie DA. 
2, 354 und schon bei Haupt 10, 565 Etionas gelesen, da in der alten 

t Etionas 
Dittographie Orionas, die nach B he in den beiden Familien BCE 
vorkam, die obere Lesart als Korrektur zu betrachten sei. Sie biete 
die allein richtige Form des Namens. Aber ist das mehr als eine 
Behauptung ? Die Ueberlieferung Orionas ¢ Etionas allein gibt der 
zweiten Form noch kein Uebergewicht über die erste, und wir müs- 
sen zunächst fragen, wie sich die eine aus der anderen entwickelt 
haben kann. Es geht et voraus und somit ist et Etionas für et 
Oxionas aus dem Eindringen einer Doppelschreibung für ef zu ver- 
stehen. Was aber gibt es für eine Erklärung für ein Ozionas aus 
Etionas? Eine einleuchtende Etymologie könnte noch zu Gunsten 
von Etionas entscheiden. M. denkt an got. *é/ja in afétja »Fresser« 
und vergleicht ipfunn, eoton, etan »Riese«, eigentlich »Essere. Aber 
der Begriff »Riese< haftet doch im Germanischen nicht an dem von 
»Fresser«, sondern bereits an einer bestimmten Wortform, die aller- 
dings ursprünglich »Fresser« bedeutet. Auch Ilellusii deutet M., 
DA. 2, 354 f. als »Riesen«, indem er es zur idg. Wurzel kel »hoch, 


Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde, 4. Bd. 468 


erheben< stellt, obwohl Tacitus sonst nirgends germ. A durch etwas 
anderes als ch wiedergibt — außer wohl in Hari: — und obgleich 
gerade dem e — ich erinnere an Helvu, Helvetii, Helvecones, Her- 
cuniates, Herminones, Hermunduri, Heruli — die Römer ein h vor- 
zusetzen liebten. Wäre hier sicher von Riesen die Rede, so müßte 
es schon auffallen, nicht ein bekanntes germ. Wort für sie und statt 
dessen zwei sonst unbekannte zu erfahren. Hier aber handelt es 
sich um halb menschliche, halb tiergestaltige Wesen, was doch die 
Riesen nur ganz gelegentlich waren, und auf das müssen notwendig 
auch die Namen hinweisen, geradeso wie bei den Pferdefüßlern, 
Eieressern und Ganzohren, deren merkwürdige Eigenschaften schon 
der Naıne hervorhebt; und wir müßten das voraussetzen, auch wenn 
uns ihre Etymologie dunkel bliebe. Doch ist dies nicht der Fall, 
denn bei den Oriones ist ja offenbar von »Ochsen- oder Stierartigen« 
die Rede. In Hellusiz scheint mir der Ableitung ein ella- zu Grunde 
zu liegen, das selbst (wie griech. &AAdg »Hirschkalb«) aus elnö- ent- 
standen ist und in asl. jeleni, lit. elnis, arm. eAn, cymr. elawn, griech. 
Zlagos (aus *eln-bhos) nächste Verwandte besitzt. Das s- oder z- 
Suffix, das um eine — vermutlich adjektivische — ja-Ableitung ver- 
mehrt erscheint, ist bekanntlich in Tiernamen sehr produktiv, und 
zwar mit verschiedenem Mittelvokal; mit « z.B. auch in ahd. nihhus, 
ags. nicor. Wie hier neben *ellu- »Hirsch« eine solche Weiterbil- 
dung mit s vorausgesetzt wird, steht auch neben elch ags. eolx (s. 
Grienberger, Arkiv 15, 12ff.) und gall. elkeso- im Namen Elkeso- 
-viz. Die Hellusiw sind also die »Hirschartigen<. Es verdient auch 
Beachtung, daß ihr Name mit dem der Oziones allitteriert. 

Diese Deutung hat freilich zur Voraussetzung, daß die Namen 
aus griech. Quelle fließen. Denn die Römer hätten germ. Uhsjonez 
durch Uxiones wiedergegeben, während die Griechen es durch ’O&io- 
veg oder ’T&lovsg ausdrücken konnten: vgl. Aoyiwvss, "Oßıoı, *E(@)- 
udvdogot, "Oußewves, Odgıyyoı mit o für germ. u. Welche griech. 
Quelle hier vorlag, ist allerdings fraglich. Außer Tacitus wissen 
Caesar, Mela und Plinius, ebenfalls griechischen Gewährsmännern fol- 
gend, von Fabelvölkern am nördlichen Ozean zu berichten, und nach 
M., DA. 1,492 gehen diese Erzählungen bis auf Pytheas zurück, 
dem Strabo vorwarf, daß er über die skythische xagwxeavirig Lügen- 
geschichten vorgetragen habe. Unmdglich ist es deshalb nicht, daß 
auch die Oriones und Hellusii bis auf Pytheas zurückreichen. Jeden- 
falls aber gehören die Namen zu den ältesten uns überlieferten ger- 
manischen Sprachresten. — 

Wenn wir von Einzelheiten absehen, werden wir Müllenhoffs 
Erläuterung der Germania allerdings als das weitaus Umfassendste 


464 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


und Beste anerkennen müssen, was über diesen Stoff je geboten wor- 
den ist; und merkbar weiter in ihrem Verständnis es zu bringen, 
dürfen wir gar nicht hoffen. Aber selbst eine Entscheidung in sol- 
chen Fragen der Texterklärung, die noch Zweifel übrig lassen, wird 
unserem Wissen von den Sachen selbst nicht viel Bereicherung brin- 
gen und jedenfalls nicht den hundertsten Teil von derjenigen, die 
wir uns vom Spaten des Archäologen noch erhoffen dürfen. Auch 
heute schon sind die Ergebnisse der prähistorischen Archäologie für 
die germanische Altertumskunde sehr ansehnliche, zumal in Folge 
der Fortschritte, die in der Feststellung der absoluten und relativen 
Chronologie der Funde gerade in der jüngsten Zeit gemacht wor- 
den sind. 

Diese Fortschritte hätten allerdings nur zum geringeren Teile 
bereits M. zu gute kommen können, aber auch aus dem zu seiner Zeit 
schon Erreichten hätte sich viel mehr für seinen Zweck verwerten 
lassen, als tatsächlich geschehen ist, — ohne daß etwa philologische 
Einseitigkeit einen Zug im wissenschaftlichen Charakter M.s bildete. 

Wo schon prähistorisch-archäologische Dinge berührt werden, 
sind M.s Bemerkungen nicht immer glücklich. So ist die Vermutung 
(S. 163), daß die Gallier noch zur Zeit des zweiten punischen Krie- 
ges kupferne Waffen benutzten, ganz unhaltbar, und die Berufung 
auf Polybios 2, 33 nicht am Platze, denn dieser erzählt, daß die 
Gallier ihre Schwerter, die sich nach dem ersten Hieb schon ver- 
bogen, immer wieder gerade treten mußten. Sie taten dabei nichts 
anderes als was jeder, der sich auf einem Fechtboden bewegt hat, 
schon hundertmal getan hat. Und um eiserne oder schlecht gestählte 
Waffen handelt es sich dabei. Kupferne Schwerter gab es übrigens 
bei uns überhaupt nie, auch in jener — über ein Jahrtausend vor 
dem zweiten punischen Krieg zurückliegenden — Zeit 'nicht, in der 
man Kupfer unlegiert zu Waffen und Werkzeugen verarbeitete. Auch 
die Folgerung, daß, als die Römer mit den Germanen zusammen- 
trafen, die Eisenwaffen noch nicht lange in Gebrauch gewesen sein 
können, ist unrichtig, ebenso wie die Behauptung (S. 164), daß die 
aufkommende Eisentechnik unter dem Einfluß der römischen stand, 
die mehrere Jahrhunderte dauernde La-téne-Zeit übersieht. Nicht 
minder unzutreffend ist der Satz: »Das eisen wird nicht wie das 
kupfer gediegen gefunden und ist daher schwer zu gewinnen<. Denn 
das in Europa verwendete Kupfer war nicht aus gediegen lagerndem, 
sondern aus Erzen gewonnen. Bei gebührender Rücksichtnahme auf 
die Funde hätte M. auch nie wie auf S. 390 behaupten können: 
»das südliche Deutschland ist ebenso wie Ungarn lange hin eine 


Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 465 


herrenlose wüste und einöde gewesen, in die erst in historischer zeit 
von westen und von südosten her eine bevölkerung eindrang«. 

Eine in diesem Bande zuerst abgedruckte Abhandlung »Zeit- 
und Himmelseinteilung der Germanen« ist leider ein Bruchstück. 
Den breitesten Raum in dem, was ausgearbeitet ist, nimmt eine 
Untersuchung über die Namen der Himmelsgegenden in Anspruch, 
die mit einer Zusammenstellung von mit diesen zusammengesetzten 
Personennamen abschließt. Unter diesen sind übrigens manche nicht 
eindeutig. Warum könnte in Östurberht z.B. östar nicht aus idg. 
*qusro- »licht, glänzend« entstanden sein? Dann würde sich aber der 
Name nicht zu ahd. as. östar »nach Osten< und aisl. austr »Osten< 
stellen, sondern zu Ostern, der ags. Göttin Eosfrae und lit. auseräd. 
Sundar gehört in einigen und vielleicht sogar den meisten Fällen zu 
sonder-, ahd. suntar »ausgezeichnet, vorzüglich«; Sundarberht, Sun- 
darmar , Sundarhart z.B. wird genau so gebildet sein wie ags. sun- 
dorwis; Sundarmuot wie ags. sundorereft, mhd. sunderkraft, sunder- 
list; Sundarolt wie ahd. sunderfursto; Sundarrät wie mhd. sunderrat 
u. s.w. Westar deckt sich formell mit mhd. wester »Taufkleid«, 
einem Worte, das natürlich älter ist als die christliche Färbung sei- 
ner Bedeutung. Es liegt offenbar vor in dem ahd. Namen Westar- 
foldan bei Graff I 1086, den ich als >der mit weitem Kleide< oder 
noch lieber als »der mit breiter Taille« verstehen möchte unter 
Voraussetzung eines Bedeutungswandels jenes westur, der dem in 
engl. waist parallel läuft und dem in Mieder, Leibchen, Aermel, 
Bruch, culotte entgegengesetzt ist; foldan ist dann gleich idg. *plta- 
nos und entspricht genau gall. -ditanos, air. lethan, acymr. litan, neymr. 
Ilydan, bret. lcdan »breit< in Namen wie Koyxo-Adravog, Smertu- 
litanus, Ailt-lethan. 

Von einer Etymologie wie der Herleitung von ags. tima, aisl. 
fimi aus einer Wurzel dik (S. 646) gilt das eingangs Bemerkte. 

Verfehlt ist auch die Deutung von Nord, die S. 659 ff. gegeben 
ist. M. knüpft an slav. Worte wie nor@ und nora »Loch, specus, 
latibulum« und eine dazugehörige Verbalwurzel, die »tauchen« be- 
deutet, an und erklärt daraus unbedenklich nord »gegen den Ab- 
grund, nach der Unterwelt hin<, deren Eingang man in den Norden 
verlegt habe, wie in den Nordwesten den ungeheuren Schlund, der 
das Meer täglich zweimal einschlürft und ausspeit. Norgver, dessen 
erstes Kompositionsglied ihm wie das von Visi-gothi noch keine Den- 
talableitung aufzuweisen scheint, wäre darnach, wie er meint, ein 
Synonym zu helvegr. Aber könnte man ein Land überhaupt den 
»Weg in die Unterwelt« nennen, was ja Ähelvegr ohne Zweifel be- 
deutet? Auch hält M. selbst S. 651 den alten Landschaftsnamen für 


466 Gott. gel. Anz, 1901. Nr. 6. 


im wesentlichen gleichbedeutend mit dem Appellativum nordr-vegr, in 
dem aber vegr grade wie in austr-, vestr-, sudr-vegr die Bedeutung 
»Gegend« hat. Gegen den Ansatz des ersten Kompositionsgliedes 
von Nor(v)egr als nor- spricht auch schon die Tatsache, daß die äl- 
teste und bei weitem gewöhnlichste Form des Namens Nor(v)egr mit 
ö ist, und es kommt dabei gar nicht darauf an, ob diese Länge, wie 
Noreen, Svenska Etymologier 22 glaubt, schon dem Simplex zukam, 
und wie dieses dann zu deuten ist, oder ob ein Fall von Ersatz- 
dehnung vorliegt, also doch von einer Grundform Nordr-vegr auszu- 
gehen ist. Für M.s Erklärung von Nord selbst ist das nebensäch- 
lich. Aber diese schwebt schon darum in der Luft, weil das voraus- 
gesetzte germ. Wort für »orcus« nicht nur nicht belegt, sondern 
auch nicht mit einiger Wahrscheinlichkeit erschließbar ist. Außer- 
dem war die Vorstellung von der nördlichen Lage des Seelenheims 
nie so allgemein und so lebendig, daß ein Ausdruck mit der Wort- 
bedeutung »unterweltwärts< im Sinne von >nordwarts< gemeinver- 
ständlich gewesen wäre. Die richtige Erklärung von Nord ist offen- 
bar die von Bugge, Bez. Beitr. 3, 105 gegebene, der an griech. vég- 
tégog »unten, weiter unten befindlich« und umbr. nertru »links< an- 
knüpft und nur nicht klar erkennen läßt, ob er den Norden als »die 
linke« oder »die untere Gegend« verstanden wissen will. Noch we- 
niger klärt Kluge im Et. Wb. über die hier vorliegende Begriffs- 
entwicklung auf, und seine Bemerkung, daß Zusammenhang mit 
griech. végregog »voraussetzen würde, daß die Schöpfung des Wortes 
in eine Zeit fällt, wo die Germanen den Nordabhang eines Gebirges 
herunterstiegen«, führt meines Erachtens ganz ab. Auch die Deu- 
tung bei Noreen, Abr. 209 „nordr »nordwärts«, eig. »nach der Erde 
hin< (vgl. sudr »südwärts« aus *sun-pbr- zu got. sun-nö »Sonne« u.a,, 
also »nach der Sonne hin«)“ befriedigt nicht vom Standpunkte des 
selbst auf der Erde Befindlichen aus, der auf allen Seiten von ihr 
umgeben ist. Jedenfalls liegt dem Begriff »nördlich« zunächst der 
Begriff >links< voraus, ein Bedeutungsübergang, den wir in verschie- 
denen orientalischen und idg. Sprachen beobachten können, und der 
mit Recht aus der Stellung des mit dem Angesicht gegen Osten zu 
Betenden erklärt wird. Hieher gehört u.a. aind. daksina und ir. dess 
»rechts« und »siidlich«, ir. Zuath »links« und »nördlich«. Innerhalb 
des Germanischen hat hieran anknüpfend Kern, Rev. Celt. 2, 173 den 
Namen der Insel Texel und der Landschaft Testarbant als die »siid- 
liche« und den »Südgau« gedeutet. Ein Wald Suwiftarbant an der 
Ijssel, den JGrimm, GDS. 412 nach Lacomblet anführt, enthält dann 
offenbar ein sonst verlorenes germ. Wort für »links<« und >»nördlich«, 
das zu cymr. chwith »links« aus *sviptos gehört, und die Nachbar- 


Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 467 


gaue Testarbant und Swiftarbant verhalten sich gradeso zu einander 
wie die Gaue Ostrobant und Westrobant an der Schelde, die Grimm 
2.8.0. beizieht. Da umbr. nertru als >links< bezeugt ist, wird man 
nach den eben erwähnten Seitenstücken auch im Germanischen ein 
*yurbra- *nurpera- »links<, später »nördlich« vorauszusetzen haben. 
Zum umbr. Worte steht das germ. in Ablautverhältnis; vgl. übrigens 
den Völkerschaftsnamen der Negregsavoi bei Ptolemaios, der mir aus 
*Nerteränei verderbt zu sein und zu nordröni norrann zu gehören 
scheint. Daß aber die Bedeutung »links< von nertru wieder gegen- 
über der von griech. végregog die jüngere ist, geht, wie schon bei 
Aufrecht und Kirchhoff, Umbr. Denkm. II 219 erkannt ist, daraus 
hervor, daß den Umbrern auch sonst die linke Seite als unten, die 
rechte als oben galt. Dasselbe müssen wir nun auch für die Ger- 
manen voraussetzen. 

Bedeutete *nurpra- einmal »links<, so könnte man sogar ver- 
muten, daß *sunbra- ursprünglich soviel wie »rechts< ausdrückte und 
zu swinds in Ablautverhältnis, zu unserm (ge)sund in dem gram. 
Wechsels steht; vgl. ags. swfdra »dexter<. Anderseits liegt aber 
die Bezeichnung der südlichen Himmelsgegend nach der Sonne wirk- 
lich nahe. Die nördliche Seite hätte man im Gegensatz dazu pas- 
send als die der Nacht und des Schattens bezeichnen können, wie 
denn in bair. Mundart, der die alten Worte für Nord und Süd ab- 
handen gekommen sind, dem Sunnberg, der Sunnleiten, der Sunnseiten 
immer der Schattbery, die Schatileiten, die Schattseiten gegenüber- 
steht und auch schatthalb für nördlich vorkommt. Vielleicht gab es 
sogar im Germanischen schon ein mit skadus und griech. ex6rog 
verwandtes Wort für »Nord« ; vgl. *Scadanau , quod tnterpretatur in 
partibus aquilonis in der Or. g. Lgbd. Ob übrigens jene Dialekt- 
worte eine ältere Geschichte haben oder nicht, so wäre es doch 
jedenfalls von Interesse zu untersuchen, wie die oberdeutschen Mund- 
arten für die verlorenen alten Bezeichnungen der Himmelsgegenden 
Ersatz finden, besonders in den Windnamen. Aus dem Salzkammergut 
kenne ich noch ein Sunnwind (d.i. Sundwind) neben einem rätselhaften 
Rosnwind »Ostwind« ; aus Niederösterreich und zwar der Gegend von 
Scheibbs ein Wälwind »Südwind«, d.i. »wälscher Wind<; vgl. Wal- 
nuß. — 

In weit höheren Maße noch der Nachprüfung und Berichtigung 
bedürftig als das, was der vorliegende Band an Neuveröffentlichtem 
enthält, sind natürlich die hier wiederum abgedruckten Abhandlungen 
aus Schmidts Zschr. f. Gesch. und aus der Zschr. und dem Anz. f. 
dtsch. Altertum. Der Grund hiefür liegt in dem Alter dieser Auf- 
sätze. Wenngleich auch bei diesen uns Anmerkungen erwünscht 


468 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6, 


wären, müssen wir doch auch in der Gestalt, in der er uns geboten 
wird, für den Neudruck dankbar sein. Handelt es sich doch der 
Mehrzahl nach um Untersuchungen, an die jeder immer noch an- 
knüpfen muß, der auf diesem Gebiete arbeitet. Daß nicht alles 
darin stichhaltig ist, und manches heute veraltet erscheint, ist sogut 
wie selbstverständlich und begründet keinen Tadel angesichts der 
Fülle des dauernd Wertvollen, das sie enthalten. 

Uebrigens ist M.s wissenschaftliche Bedeutung nicht nach dem 
Mehr oder Weniger an gesicherten Ergebnissen seiner Forschungen 
abzuschätzen, vielmehr beruht sie darauf, daß eine Persönlichkeit, 
wie er es war, gleich Jak. Grimm »von den Wörtern zu den Sachen« 
gelangen wollte und diesen Drang Jüngeren eingepflanzt und ver- 
mittelt hat im Sinne des Ausbaues einer » Wissenschaft vom deut- 
schen Volke«. 


Wien im Herbst 1900. Rudolf Much. 





Oelzelt-Newin, A., Kosmodicec. Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1897. 
VIII u. 420 8. 

— — Nachtrag: Ueber Willensfreiheit. (Ebenda 1900, VIII u.558. — 
Auch in Sonderausgabe unter dem Titel: »Warum das Problem der Willens- 
freiheit nicht zu lösen iste.) 


»Am Ende eines Jahrhunderts, das die Welt mit seinen Thaten 
blendete, wie selten eines vor ihm, wird allen, die in letzter Stunde 
noch eine Rückschau halten wollen, die alte Frage wieder brennend 
vor die Sinne treten: Ist die Menschheit nun glücklicher geworden? 

Diese Frage zittert auf den Lippen, je mehr die Menschen es 
als ihre höchste Pflicht erkennen, einander auf Erden zu beglücken, 
je zweifelhafter vielen, in je weniger anschaulichen Bildern allen ein 
Jenseits erscheint. ... Sie wollen auch wissen, wie weit diese Welt 
eine gerechte ist, ob das Uebel, ob das Edle in ihr siegen wird«. 

In diesen Anfangsworten der Vorrede ist der Titel des Buches 
erläutert — nämlich durch den Gegensatz zu jeder »Theodicee« 
im Leibnitzschen Sinn. Für das hiemit aufgestellte weltumfassende 
Problem ist »Kosmodicee< gewiß eine ebenso geistreiche als 
treffende Bezeichnung ').. Dennoch will es mir scheinen, als sei aus 

1) Dem Verfasser hat sich — wie ich auf directe Anfrage erfahre — dieser 
Titel ergeben unabhängig von einer Stelle in Nietzsche, Unzeitgemäße Be- 
trachtungen I. »David Strauss«e (1. Aufl. 1873, S. 48): »Er bedarf einer voll- 
ständigen Kosmodicee und steht jetzt im Nachtheil gegen den, dem es nur um 
eine Theodicee zu thun ist ...« — Auch eine juristische Zeitschrift nenut sich 
»Kosmodike«, hier in dem dem obigen ganz heterogenen Siune einer inter- 
nationalen Rechtslehre. 


Öelzelt-Newin, Kosmodicee. 469 


jenem Titel der beabsichtigte Gegensatz zu »Theodicee« vom Lese- 
publikum nicht allgemein errathen worden; wenigstens ist die An- 
zahl der litterarischen Berichterstattungen bisher eine viel kleinere 
gewesen, als es der überaus reiche und sorgfältige Inhalt des Buches 
verdient hätte. Es ist mir daher das Erscheinen des »Nachtrages« 
über Causalität und Willensfreiheit, mit welchem mich kritisch aus- 
einanderzusetzen ich den in ihm behandelten besonderen Problemen 
sozusagen persönlich schuldig bin, ein willkommener Anlaß, auch noch 
auf die viel umfassendere ältere Publikation zurückzukommen. — 
Zunächst das Inhaltsverzeichnis dieser in gekürzter Form: 

Die Glücksfrage im kosmischen Sinn und die Glücks- 


vergleiche. 
Das Glück des einzelnen. — Die höheren Freuden. Wer- 
den wir glücklicher durch moralische —, durch intellektuelle, durch 


ästhetische Bildung —, durch Reichtum? Die Entwicklung der ein- 
zelnen Faktoren. 

Die moralische Entwicklung. Der Beweis aus der Rechts- 
geschichte, — der Kunstgeschichte, aus den Institutionen, der Stati- 
stik, der Entwicklungslehre. Einige allgemeine Argumente. 

Die intellectuelle Entwicklung. Der Beweis aus der 
Rechtsgeschichte, aus der Geschichte der Wissenschaft, den Institu- 
tionen, der Statistik, der Entwicklungslehre. 

Die ästhetische Entwicklung. Die Architektur, die Mu- 
sik, die Sculptur,.die Malerei, die Dichtkunst. 

Die ökonomische Entwicklung. Der Beweis aus der 
Statistik, aus der Geschichte. 

Das Problem einer sittlichen Weltordnung. Die 
Gemiithsbediirfnisse und der Weltschmerz. Wie weit Moral einer 
religiösen Sanktion bedarf. Warum eine sittliche Weltordnung aus 
der Erfahrung nicht nachweisbar ist. Die metaphysischen Voraus- 
setzungen einer sittlichen Weltordnung. Die Unsterblichkeitsfrage. 
Die Gottesfrage. 

Das Buch gliedert sich somit in drei Theile wesentlich verschie- 
denen Charakters, von denen wir, um herkömmliche Namen anzu- 
wenden, sagen können: Die beiden ersten, der »Glücksfrage« gewid- 
meten Abschnitte behandeln die unter den Schlagworten des Opti- 
mismus und Pessimismus »fast alle jetzt Lebenden< beschäftigenden 
»Glückvergleiche< nach allgemein psychologischer Methode. 
Die nächsten vier Abschnitte stellen ein außerordentlich umfassendes 
culturgeschichtliches Thatsachenmaterial in den Dienst der 
Hauptfrage des Buches: »Sind wir glücklicher geworden ?< und der 
von ihrer Bejahung abhängigen: »Werden wir glücklicher werden ?« 


470 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Den dritten Theil bildet eine Art Metaphysik. der dann auch 
der Nachtrag über Willensfreiheit angehört. 

Nach der Eigenart der in diesen drei Theilen behandelten Pro- 
bleme kann die Berichterstattung kurz sein nur über den ersten 
Theil: der Verf. zeigt dort, daß nicht absolut von einem Gut- oder 
Schlechtsein, geschweige von einem Best- oder Schlechtestsein, son- 
dern nur von einem Besser- oder Schlechterwerden der Welt ge- 
sprochen werden kann. Eine Lust-Bilanz, ob im Ganzen Lust oder 
Unlust überwiege, wird an einem genau durchgeführten Beispiel 
(S. 11) eines Durchschnittstages aus dem Leben eines Einzelnen als 
ganz unmöglich erwiesen, umsomehr also für die Lust der Mensch- 
heit, der Welt. Gerade die exakteste Psychologie kann hier, wie in 
zehn Einzel-Argumenten (S. 14—24) gezeigt wird, am allerwenigsten 
entscheiden. 

Diesem ganz negativen Ergebnis für Gut oder Schlecht steht 
gleichwohl ein entschiedenes Ja auf die Frage nach dem Besser ent- 
gegen. Und so werden dann auch sämmtliche auf die »höheren 
Freuden« gehenden Einzelfragen des zweiten Abschnittes » Werden 
wir glücklicher durch moralische, durch intellektuelle Bildung« u.s.f. 
der Reihe nach bejaht, u. zw. bis S. 98 durch allgemeinere Erwägungen, 
von hier an dann durch jene spezielleren culturhistorischen Daten 
und Kritiken, über welche es nöthig ist, nun etwas eingehender zu 
berichten, um von der Methode des Verf. einigermaßen ein Bild zu 
geben. 

Die moralische Ertwicklung. Auf Grund einer kurzen 
Voruntersuchung (die kurz sein durfte, weil der Verf. alles Ein- 
schlägige ausführlich in seiner Monographie » Ueber sittliche Disposi- 
tionen«, 1894, 120 S., festgelegt hatte) wird »Mitleid der wichtigste 
Faktor der Morale genannt (S. 102). Es folgen dann nach ihrer 
Dignität geordnet folgende fünf Reihen von Argumenten: 

1. »Der unzweifelhafteste Beweis für das moralische Besser- 
werden der Menschheit« .. ist gegeben... in der Rechtgeschichte, 
nämlich >in der Geschichte des Beweisverfahrens, des Strafvollzuges 
und des Strafrechtes, diesem am allgemeinsten sanctionierten öffent- 
lichen Gefühlsausdruck« (S. 104). Freilich pflegt gegen die Beweis- 
kraft des Abkommens von Ordalien und Folter, greulicher Hinrich- 
tungsarten (für die Beispiele noch aus der Zeit Shakespeares an- 
geführt werden), gesetzlichem Kindesmord, Sklaventödtung u.s. f. auf 
unsere »minder starken Nerven<, auf die Erkenntnis der Irrthums- 
quellen und somit Zwecklosigkeit der Folter u.s.f. hingewiesen zu 
werden. Oe. entgegnet aber, daß erstens »jetzt Richter durch keinerlei 
Gesetze mehr allgemein zur Folteranwendung zu bringen wärene; 


Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 471 


zweitens daß gerade die Langsamkeit des Wandels dem Gefühls-, 
nicht dem rascheren Intellektswandel parallel gehe; drittens daß 
z.B. Kettenstrafen doch nicht blos deshalb abgeschafft wurden, weil 
es jetzt besser verschließbare Kerker gibt u.ä. Alles in Allem hält 
der Frage gegenüber, wer hierin die Menschen besser kennt (der 
bessere Psycholog ist), der Verf. an dem Bekenntnis fest: »Ich aber 
glaube, daß jene sie besser kennen, denen Mitleid der Hauptgrund 
ist, warum sich die Strafen gemildert haben«. 

2. »Auch die Kunst spiegelt treu die moralische Entwicklung, 
den Fortschritt moralischer Anschauungen in der Auffassung der 
Ehe, der Pflichten gegen den Staat, der Handlungen des Zartge- 
fühles, der Etiquette: in allen Sitten und Gebräuchen mit ihrem 
mehr oder weniger wertvollen Inhalt< (S. 113). Belege: aus den 
Grausamkeiten der Homerischen Epen, aus dem auch in der Sopho- 
kleischen Kunst noch sehr mäßigen Fortschritt der Moral [wobei sich 
aber zeigen läßt und mehrmals gezeigt worden ist, vgl. meine Psy- 
chologie S. 472, daß schon im Oedipus nicht mehr, wie auch wieder 
Oe. meint: »Irrthum und Schuld noch eins sind<]; daß (nach Gustav 
Freytag) die griechische Bühne unsre Liebesscenen nicht kennt; daß, 
trotz der Ueberlegenheit des Germanischen in diesem Punkte [die 
also Oe. hier ausnahmsweise anerkennt] doch die Liebesprüfungen 
der Minnesänger abgehackte Finger forderten u.s.f. Wie groß da- 
gegen, was Weimar für das Menschenideal geschaffen! Und doch 
seien auch wir schon wieder über »das Entsetzen [?], das die Liebe 
Tassos zur Prinzessin hervorruft<, mit unserer ganz anderen »Ethik 
der Adelsprobleme< hinausgewachsen. — Werden übrigens wohl alle 
Leser Oe.s ethische Bewerthung theilen, wenn er »das Untergraben 
der äußern Existenzbedingungen durch eine moderne Krimhilde< 
moralisch über die gerade Rache der mittelalterlichen Krimhilde 
stellt? Desgleichen der Satz: »Wie immer häßlich die Probleme 
gegenwärtiger Dichtungen, Börsenspiel und Ehebruch, seien, es ist 
jedenfalls eine weit weniger gefährliche Unmoral als die von Gift 
und Dolch und ihrer Massenmorde, die noch auf der Shakespeare- 
schen Bühne zum Ausdruck kommt«. 

3. Von »Institutionen«, aus deren Entwicklung ein posi- 
tiver Schluß auf die Entwicklung der Moral erlaubt sei, werden 
zwei bespruchen: die Abnahme der Armuth (es gab im Alterthum 
keine staatlichen Armen-, Kranken-, Versorgungshäuser; dagegen 
wachsen z.B. in Frankreich die Societes de secours mutuels, private 
und öffentliche, in den Jahren 1853—77 von 2555 mit 318.256 Mit- 
gliedern auf 5078 mit 945.649 Mitgliedern) und des Militarismus. 
Daß gerade dieser seit der Zeit der Aegypter in stärkster Abnahme 


472 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


(123) sei, steht dem Verf. fest, wenn auch ganz Europa jetzt selbst 
im Frieden größere Heere hält, als einst in der Zeit des Krieges. 
Denn auf den »Geist des Militarismuse kommt es an, und diesen 
haben »alle bürgerlichen Institutionen, besonders das Volksheerwesen, 
und überhaupt die steigende Macht der mittleren und unteren Stände, 
an der Wurzel getroffen«. Freilich wird Oe. hier einmal Pessimist, 
wenn er jenen mit Tolstoi') in den schlimmsten Zügen geschilderten 
Geist des Soldaten >immer mehr verdrängt und in Zukunft ersetzt« 
werden läßt durch den »Beamtengeist«, der »feiner, aber lügenhafter« 
als jener sei. »Gerade und offen sein, das Herz auf den Lippen zu 
tragen, wäre wohl die schlechteste Eigenschaft für einen Beamten, 
der stets mit Amtsgeheimnissen belastet ist und stets fürchten muß, 
»>höhererseits<« seine Gesinnungen zu verrathen. Er lispelt auch 
größtentheils nur<. (Es ist wie ein guter Witz, daß sich diese ganze 
köstliche Schilderung in der heimlichen Ecke der Anmerkungen 
S. 397--398 findet. Hier auch die gebührende Ausnahme: »Daß 
Grillparzer selbst Beamter war und zwar in den traurigsten Zeiten 
seines Vaterlandes und seiner noch immer alle Besseren verbitternden 
Vaterstadt, könnte allein zeigen, was zu sagen unnöthig scheint, daß 
nicht jeder Beamte vom Geiste des Beamten beherrscht sein muß«.) 

Im Gegensatze zu den bisherigen Beweisen für moralischen 
Fortschritt ermangeln die »Beweise aus der Statistik« der ihnen 
häufig für die Moralfrage zugeschriebenen Beweiskraft. Namentlich 
wird die Vielseitigkeit der Argumente, durch die die landläufigen 
Schlüsse aus der Criminalstatistik, sowohl auf ein Besser- wie auf 
ein Schlechterwerden der eigentlichen Motive, entkräftet werden 
(126—139), selbst den Fachmann im engsten Sinn warnen und belehren. 

Fast ebenso negativ fallt das Gesammtergebnis der Schlüsse aus 
der Entwickelungslehre aus. So hoch diese Lehre der Verf. 
wie jeder Denkende hält, begnügt er sich doch nicht mit Dogmen 
und logischen Zirkeln, wie denen, »daG ein Affenmensch höher steht 
als ein Menschenaffe«, oder daß die Entwicklung des Menschen 
aus niedern Formen auch schon Vervollkommnung, zumal mo- 
ralische , bedeute. Als Zeugen gegen diese Deutung des (als selbst 
wieder mehrdeutig erwiesenen) Satzes »Das stärkere Thier muß im 
Kampf ums Dasein überleben«, läßt der Verf. Darwin selbst in meb- 
reren beherzigenswerten Aeußerungen sprechen (S. 146). 

Schließlich bemüht sich der Verf., »Einige allgemeine Ar- 
gumentec< zu entkräften, welche »leider entscheiden über die Welt- 





1) Nach »Anna Kareninac. — Ob Tolstoi in der sonderbaren Doppel- 
geschichte »Zwei Husaren« nicht selbst eine Art Milderung oder Abstumpfung 
des soldatischen Wesens hat schildern wollen? 


Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 473 


anschauung von Hunderttausendene.. So wird der Skepsis, daß wir 
jetzt nur heimlicher, aber nicht weniger sündigen als die Alten, als 
Trost entgegenhalten, daß zum mindesten auch schon vermehrtes 
Schamgefühl ein Fortschritt sei. Der Verf., dem, wie wir sahen, 
Moral nahezu gleichbedeutend ist mit Altruismus, hält in der Er- 
ziehung der Menschheit zum Altruismus den Egoismus für ein zwar 
wichtiges Erziehungsmittel, aber für ein im Ganzes nicht höheres, als 
es die Ruthe für das Kind ist. — Ich habe mich längst öffentlich 
zur gleichen Moral bekannt und muß das hier in Erinnerung bringen, 
damit, was ich nun als starke Differenz geltend zu machen habe, 
nicht als Heterogeneität der Prinzipien mißverstanden werde. — Ich 
greife das eine Kraftwort heraus von den >barbarischen, besonders 
die Gegenwart völlig verthierenden Interessen der Nationalitäten« 
(S. 156). Sie werden in Parallele gestellt mit der angeblichen That- 
sache, »Jede Handlung für die Gemeinde gilt ja dem Bauern als 
Vernachlässigung der Familie<. Durch diese Parallele soll bewiesen 
werden, ähnlich sei das Nationalitätsgefühl »eine nur unentwickelten 
Völkern wichtige Liebe«, welche sie >hindert, die einfachsten Inter- 
essen der Gemeinschaft zu wahren«e. — Wird sich aber durch solche 
arge Beschuldigungen das Problem des Nationalismus und Kosmo- 
politismus lösen lassen? Weiß sich jeder, der etwa in seinen jungen 
Jahren Kosmopolit gewesen und erst später mit seiner Nation fühlen 
gelernt hat, hiemit schon einer Untreue gegen jene allgemeinere 
Liebe schuldig? Sollte nicht vielmehr das Verhältnis recht wohl das 
sein können, daß der Kosmopolitismus die beschränktere, nämlich 
auf Allgemeinheiten beschränkte Auffassungs- und Verhaltungsweise 
darstellt, neben und innerhalb welcher es dem reichentwickelten Ge- 
müth Bedürfnis sein kann, im Besonderen, Einzelnen zu schauen und 
zu lieben — im Einzelnen, Individualisierten, wie es eben nur im 
einzelnen Volk realisiert ist, dessen zartester Charakter sich mir nur 
dann voll und rein erschließt, wenn er mein eigener ist, wenn er der 
meines Volkes ist? — Der Kosmopolitismus scheint mir eines von 
den leider vielen Exempeln mißverständlicher Abstraktion — wieso, 
versuche ich hier nur durch ein Gleichnis in aller Kürze anzudeuten. 
Mir gefällt eine blaue Blume — ein Anderer weist mir eine rothe, 
eine gelbe, eine weiße, eine bunte mit der vorwurfsvollen Frage vor: 
Warum sollen nur die blauen Blumen schön sein? Ich erwidere, daß 
ich ja das gar nicht behauptet habe; und er schließt nun: Wirklich 
schön sind also nur die farblosen Blumen. — Nur schade, daß es 
solche eben nicht giebt — so wenig wie Pferde, die nicht Schimmel 
oder Schecken, Dreiecke, die nicht gleichseitig oder gleichschenklig 
u.s. w., Menschen, die nicht Deutsche oder Griechen u. s.w. sind; 
Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 32 


474 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


wobei natürlich auch Chamberlains mißfarbig bunter Aomo syriacus 
eine Species mit nur zu vielen Unterarten und Individuen ist. — Ich 
erwarte freilich nicht, durch eine solche allgemein logische Erwägung, 
durch die der Nominalismus (an den auch Oe. nicht entfernt glaubt) 
in die nächste Verwandtschaft zum Kosmopolitismus rückt, diesen in 
den Augen Oe.s merklich zu entwerthen; denn nicht auf den Kopf, 
sondern auf das Herz kommt es hier letztlich an. Ich darf ihn nur 
fragen, ob ihm, was er (S. 115) in dem Citat aus Gustav Freytag 
als »Gegensatz der Deutschen zu den Völkern des Alterthums«, als 
»Stellung des germanischen Helden zum Schicksal< anführte, im 
Grunde ethische Null- oder Unterwerthe deshalb sind, weil sie ein 
differenzierendes Element des Germanen darstellen ? Oder ob er aus 
dem concret-nationalen Stidtebild, dem »lieben Niirenberg< der 
»Meistersinger«, ob er sich aus dem »Ehrt Eure deutschen Meister: 
(— ich führe gerade dieses Beispiel an, weil es einstens mich in 
übermächtiger Wirkung vom Kosmopolitismus bekehrt hat —), ob er, 
der Deutsche, sich daraus alles Deutsche wegabstrahieren und doch 
das Kunstwerk unbeschädigten Lebens zurückbehalten zu können 
glaubt? — Sollte es nicht vielmehr so zugehen: Erst die vollerfaß- 
ten Concretheiten einer, meiner Volksseele lassen mich überhaupt 
unverkümmert auch in anderen Seelen leben und lesen. Was wir 
alle, diese nun einmal differenzierten Völkerindividuen, mit einander 
wirklich gemeinsam haben, das wollen wir freilich vor allem fest- 
halten — schon weil wir es müssen, da ja, wieder primitiv logisch 
gesprochen, der Species meiner differenzierenden Liebe das grund- 
legende Genus nicht fehlen darf. Oder lieber statt logisch sogleich 
wieder psychologisch und ethisch: Ich habe in meiner Psychologie 
(S. 494) hingewiesen auf den großen Unterschied, ja Gegensatz zwi- 
schen einer angeblichen Entwicklung >»vom Egoismus zum Al- 
truismus« und dagegen einer wirklichen »Entwicklung .. von 
dem auf Einzelne oder auf allerengste Kreise beschränkten 
Altruismus zu sich erweiterndem Altruismus, sowohl im 
Leben des Einzelnen wie der Menschheit<. Ich mußte aber auch 
hinweisen auf die bisher thatsächlich und wohl für immer einzig 
natürliche sociologische Gliederung (etwa zu vergleichen der Structur 
jedes Organismus, dem nun einmal die Zelle zu Grunde liegt und 
nicht eine beliebig zu vergrößernde amorphe Stoffanhäufung), derzu- 
folge Oe.s »Bauer« ganz im Rechte ist, wenn er in Conflictsfällen der 
auf seine concentrierteste Obsorge angewiesenen Familie das Inter- 
esse an der Gemeinde zu opfern bereit wäre. — Ich weiß sehr wohl, 
daß alle diese Argumente noch nicht das vielfache Sieb der Oelzelt- 
schen Methode passiert haben, um als endgiltige Gründe für den 


Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 475 


Nationalismus gegen den Kosmopolitismus gelten zu können. Bliebe 
doch erst noch festzustellen, ob es sich wirklich um die Nation und 
nicht vielmehr um Stammesgemeinschaft (die Rasse, ja was auch nur 
diese überhaupt sei), handle. Alle diese Schwierigkeiten heben aber 
meine damalige Problemstellung (Psychologie, S. 495) nicht auf: »Es 
bedürfte eines ebenso feinen als tiefen psychologischen Blickes, um 
in engeren und weiteren Mein-Beziehungen (Familie, Nation ...) 
festzustellen, wie gerade ihr natürliches Gegebensein eine Art er- 
zieherischen Mittels darstellt, den Einzelnen, die Gesellschaft, die 
Menschheit für das Weiter- und zugleich Innigerwerden des Altruis- 
mus zu schulen<. — Ein zuerst enger Altruismus ist eben schon 
nicht mehr Egoismus. Eine Entwicklung zu einem wie immer 
weiten Altruismus ist aber doch natürlicher von einem engen Altruis- 
mus, als von einem eigentlichen Egoismus aus (trotz Spencer) zu 
erhoffen. 


Die intellektuelle Entwicklung. — Sie hat unzweifel- 
haft stattgefunden in den intellektuellen Leistungen (der Ein- 
wurf, daß wir nur >»besser zu buchstabieren oder schneller zu reisen 
gelernt haben«, wird zurückgewiesen: Wir müssen z.B. ein Volk, 
das Laboratorien und Observatorien hat, gebildeter nennen als ein 
anderes). Das Problem spitzt sich vielmehr zu auf die Disposi- 
tionen (kurz: nicht ob wissender, sondern ob gescheidter); und 
hier ist es dann wieder »eine ganz andere Frage, ob wir gebildeter 
im Sinne eines Sokrates geworden sind« (also nicht gescheidter, son- 
dern weiser). Es folgen wieder die Einzelerwägungen, wobei noch- 
mals die Rechtsgeschichte für ein Ja spricht (schon dem von Oe. 
festgehaltenen Ineinandergreifen moralischer und intellektueller Bil- 
dung zufolge, aber auch aus speciellen Gründen); desgleichen die 
Geschichte der Wissenschaft auf Grund einer in acht Punkte sich 
gliedernden Analyse (z. B. Nr. 7: die Wissenschaften als Ganzes 
sind differenzierter — »wir schreiben nicht mehr wie die Griechen 
immer zegı mvoews und wie Aristoteles und Plinius über alles<; 
immerhin stehen dieser Bemerkung Oe.s gegenüber Vereinheitlichun- 
gen wie »Biologie«, »Sociologie<). Mit Uebergehung der weiteren 
Einzelbegründung das Ergebnis: »daß, da aus der bisherigen intel- 
lektuellen Entwicklung keinerlei Verschlimmerung ersichtlich ist, 
dem Pessimismus jeder Halt für Voraussichten genommen ist< (S. 179) 
— daß es vielmehr »nichts Unerhörtes wäre, einen intellektuellen 
Zustand anzubahnen, in dem es nicht nur mehr Geister gibt gleich 
dem Newtons, sondern auch einige mehr gleich dem des Sokrates< 
(S. 185). | 

32 * 


476 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Es folgt der umfangreichste Abschnitt des ganzen Buches, der 
über die ästhetische Entwicklung (S. 186—271). Es wer- 
den die Einzelnkünste in der Reihenfolge : Architektur, Musik, Skulp- 
tur, Malerei, Dichtkunst behandelt. Der Gedanke eines Gesammt- 
kunstwerkes, ja in gewissem Sinne, wie sich sofort zeigen wird, auch 
der einer eigentlich gegenseitigen Förderung einander so nahe 
stehender Künste, wie Musik und Dichtkunst, wird abgewiesen. Es 
wird unter diesen Umständen genügen, die Methode des Verf.s an 
je einer bildenden und einer redenden Kunst zu erläutern; wir wäh- 
len hiezu die beiden von ihm zuerst behandelten Künste: 

Die Architektur. Auch sie hat »Inhalt«<, sogar in mehrer- 
lei Sinn. Nicht nur »das Bedürfnis, das einen Tempel, ein Grab- 
mal, ein Kaufhaus will, bedingen einen Inhalt, auch nicht blos Ge- 
fühle der Unendlichkeit, wie sie eine Kuppel ausdrückt: Inhalt ist 
in jedem Ornament durch die Associationen an Schwere gegeben«. 
Es ist eine solche gleichmäßige Rücksicht auf Inhalt und Form we- 
sentlich für die Frage, z.B. »wie weit für ein großes Krankenhaus 
mit allen Anforderungen der modernen Hygiene die Formen gefunden 
sind, oder wie weit diese Aufgabe jetzt schwieriger ist als bei den 
Anforderungen, die noch im 15. Jahrhundert gestellt wurden«. 
»Alle diese Mißverhältnisse von Inhalt und Form waren von der 
griechischen Architektur in Harmonie gelöst« ; aber: »die Aufgaben 
der Griechen waren klein. Z.B. Stockwerke kannte die Säulenbau- 
kunst so gut wie nicht. Andere als Tempel-Architektur liegt so gut 
wie keine vor. — Da den Römern fast alle jene weit schwierige- 
ren Probleme zur Lösung vererbt wurden, so ist auch nicht ohne 
weiteres, wie gewöhnlich geschieht, ihr architektonischer Geschmack 
zurückzusetzen ..c. »Schwieriger ist die Frage des Fortschrittes für 
den gothischen Stil zu beantworten ..«. »Bis zu Palladios Tode um 
1600 ist gewiß von einem allgemeinen Verfall der Architektur gegen- 
über den Griechen nicht zu sprechen<. — Für die drei Jahrhunderte 
seither ist freilich Verfall einzuräumen; aber wesentlich, weil die 
Kunst den ihr durch die technischen und socialen Umgestaltungen 
vorgezeichneten Aufgaben nicht so rasch zu folgen vermocht hat. 
Eben deshalb ist aber »höchstens in Frage zu lassen, ob der Ge- 
schmack sich nach der bisherigen Entwicklung weiter bilden oder 
stehen bleiben werde< (S. 197). Immerhin aber >ist eine exten- 
sive günstigere Entwicklung der Architektur .. selbst bis in die 
neueste Zeit nicht zu leugnen. .. Eine einzige italienische Stadt 
zeigt so viele architektonische Denkmäler als das gesammte Griechen- 
land. .. Auch jetzt sind anmuthige Privatbauten .. in Zunahme« 
.. »Höhere Bedürfnisse [waren und] werden immer so selten sein, 


Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 477 


wie die Kunst, sie zu befriedigen, und eine große Kunst braucht 
hohe Bedürfnisse. Sie setzt noch weniger reiche als große Menschen 
voraus, die einen hohen schönen Raum suchen, der sie zur Andacht 
stimmt und zu einem würdigen Leben<. .. — Also die schließliche 
Antwort auf die Frage nach der Entwicklung: »Wie immer Archi- 
tektur mit ihren reinen Formen den Menschen stets die schwierigste 
Kunst bleiben wird, sie wird sich so schnell entwickeln, als der 
Geist unter ihnen; durch ihn allein ist ihre wahre Größe bedingt«. 

Die Musik. Von den Griechen zu Beethoven ist der Fort- 
schritt ein fragloser und unermeßlicher ; groß genug selbst noch 
von Bach zu Beethoven; beides in eingehenden Argumenten, unter 
diesen in den Anmerkungen auch nach schönen brieflichen Darlegun- 
gen eines Musikers von Fach, Guido Peters (S. 404—406). — Aber 
seit Beethoven? »Schubert .. hat ihn im Liede weit übertroffen; 
Schumann hat neue Probleme in diese Kunst einbezogen, auch Brahms 
große neue Inhalte geschaffen. Endlich haben Weber und Wagner die 
dramatische Musik sowohl wie ihre Stoffe, und die Instrumentation 
weit über Mozart hinausgeschoben«. — Aber — die »Beantwortung der 
allgemeinen Frage, ob die vereinigte Vocal- und Instrumentalmusik 
überhaupt eine sehr hohe Kunstform bilden kann< (S. 212) fällt 
wesentlich verneinend aus. Man muß wohl nicht erst Wagnerianer 
sein, um die Beweisführung hier bedenklich zu finden. Jene Ver- 
einigung >als höchste Form zu erhalten .. sollten die höheren In- 
halte die Geschmacksdefecte retten, das Kunststück, mittelst einer Art 
ästhetischer Chemie für das Gemisch oft leerer Worte und unange- 
nehmer Geräusche doch die Möglichkeit eines neuen Plus von Schön- 
heit zu behaupten« (S. 216). Klingt nicht das schon etwas animos? 
Doch nur aus positiven, nicht aus negativen Gefühlen (»leere Worte«, 
»unangenehme Geräusche«) denken sich ja die Bejaher jener Frage 
die hoch gesteigerte Schönheit des Zusammenwirkens von Wort und 
Ton hervorgehend. Kaum minder bedenklich aber ist die Methode 
der Autoritäten, deren sich der Verf. hier bedient. »Autoritäten, 
die das dichterische Genie Goethes und das musikalische Beethovens 
in sich vereinigen, werden (?) gegen diese Chemie entscheiden«. 
»Werden?« — das müßten wir eben einstweilen nur glauben. Aber: 
»Grillparzer z. B. that es und Brahms thut es auch« (nämlich: »gegen 
diese Chemie entscheiden«e — historisch und psychologisch richtiger 
hieße es: Brahms und Grillparzer fanden weder an Wagners Texten 
noch an seiner Musik Gefallen). Hierauf würde der Wagnerianer ant- 
worten, daß Grillparzer und Brahms auch zu Einem Menschen ver- 
einigt eben noch keinen Wagner gäben. Während aber diese Art 
der Argumentation die Debatte nur erhitzen könnte, darf heute wohl 


478 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


gesagt werden, daß Grillparzer in Sachen der Beurtheilung drama- 
tischer Musik eben nicht glücklich gewesen ist. Wer theilt wohl 
noch seine trockene Verurtheilung von Webers »Freischütz« ? (Oe. 
selber nicht; s. u.). Ja bei aller Sympathie, die uns Grillparzers 
warme Empfänglichkeit für einen Theil der großen Musik (z.B. 
bei weitem nicht aller Beethovenschen) erweckt, müssen wir andrerseits 
zugestehen, daß er die Weite seiner Empfänglichkeit geradezu com- 
promittiert hat z.B. durch seine völlig verkehrte Beurtheilung der 
»Euryanthe< , sogar die bezaubernde Ouverture zu diesem (drama- 
tisch leider todtgeborenen) Werke nicht ausnehmend. Man lese nur 
[Grillparzer, Sämmtl. W., ed. Sauer, Bd. XV, S. 131]: »Gestern 
wieder in der Euryanthe gewesen. Diese Musik ist scheußlich 


. ist polizeiwidrig, sie würde Unmenschen bilden ....« — 
‚Weber ist allerdings ein poetischer Kopf, aber kein Musiker. 
Keine Spur von Melodie ....c Gründlicher konnte sich ein wie im- 


mer verdienstvoller Dichter mit dem allgemeinen musikalischen Gefühl 
und Urtheil des folgenden Jahrhunderts nicht in Widerspruch setzen. 
— Kann also höchstens die eine Partei im Streite um die drama- 
tische Musik von der Stellungnahme Oe.s befriedigt sein, so versagt 
er der anderen Partei die kleine Freude nicht, daß er sich über 
Wagners Schaffen nicht völlig orientiert zeigt. »Webers Freischütz, 
Wagners Lohengrin und Meistersinger zeigen eine Höhe des Ge- 
haltes, dessen Steigerung die Oper nicht vertragen wird, wie.. 
Wagners letzte Werke .. dargethan<. Aber den »Meistersingern« 
sind vorausgegangen Rheingold, Walküre, Siegfried (I. u. II. Act) 
und Tristan — und es folgen ihnen nur noch Götterdämmerung und 
Parsifal. Da nun die »Meistersinger< trotz der in ihnen wohl kunst- 
reichsten Durchdringung von Musik und Rede dem Verf. selbst lieb 
und werth sind, so kann auch für Oe. der Werdegang Wagners nicht 
als warnendes Beispiel festgehalten werden. — Und so ließe sich 
noch manches an der Parteistellung Oe.s in jener Streitfrage durch 
ihn selbst widerlegen: »Fast so untrennbar sind Schuberts Lieder 
von Erinnerungen an junges Glück und Liebe, wie Frühling und Mond- 
schein. Sie sind ihnen der Ausdruck für ihre unsagbaren höchsten 
Erlebnisse« (S. 221). Wären sie das auch als »Lieder ohne Worte«? 
— Halten wir uns also nur an das Einigende, nicht an das Tren- 
nende: nicht minder innig als der Verf. begrüßt Ref. in der bis- 
herigen erstaunlich weiten und schnellen Entwicklung der Musik 
eine der bestbegründeten Hoffnungen auf eine schöne Zukunft. 


In dem letzten Abschnitt des empirisch, nämlich culturgeschicht- 
lich begründenden Theiles der Kosmodicee wird für die ökono- 


Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 479 


mische Entwicklung trotz der kurzen Zeitspanne halbwegs 
brauchbarer Statistiken, ferner aus den »ganz anders überzeugenden 
Daten der Geschichte«, aus physiologischen Erfahrungen (z.B. über 
geringere Nachkommenzahl bei steigender intellektueller, sogar öko- 
nomischer Entwicklung), Zurückgehen des crassen Luxus u.s.f. nicht 
nur ein überwiegend günstiges Ergebnis der bisherigen Entwicklung 
erschlossen, sondern sogar gehofft: »keinerlei Träume eines utopischen 
Zustandes sind für die Zukunft abzuweisen ..<, selbst nicht der, 
daß >... das Minimum der etwas menschenwürdigeren Lebensweise eines 
höheren Beamten unserer Zeit entspräche ..« (S. 310). 


Wir stehen vor dem dritten, wie eingangs gesagt, wesentlich 
metaphysischen Haupttheil des Buches, der insbesondere >die 
Unsterblichkeitsfrage« und »>die Gottesfrage« behandelt 
und dem sich auch der »Nachtrag«e über »Willensfreiheit« 
schon insofern anschließt, als hiemit die alte Trias, welche selbst 
noch Kant als selbstverständlichen Inhalt der »Metaphysik< über- 
nommen hatte, voll wird. Doch nicht etwa einer solchen äußerlichen 
Tradition zu Liebe, sondern ganz im speciellen Dienste des Wun- 
sches, für die Besten der Jetztlebenden alle Glücksbedingungen zu 
überblicken, wendet der Verf. den Blick von der bisherigen Empirie 
aufwärts auf »das Problem einer sittlichen Weltord- 
nung<«. Wenn nämlich auch dem theoretisch argumentierenden 
Pessimismus durch die bisherigen empirischen Gründe beizukommen 
war, so doch nicht der >anspruchslosen Wahrhaftigkeit des im Ge- 
müthe der breitesten Schichten der Menschheit wurzelnden Welt- 
schmerzes.« ».. Wenigstens die Möglichkeit für einen Glauben an 
einen Ausgleich in einer übersinnlichen Existenz« muß hier offen ge- 
halten werden. »Wenn nicht Unwissenheit, so ist es Bedürfnislosig- 
keit und eine Rohheit des Gefühles« , die es »ohne Aussicht auf ein 
Jenseits auch schön genug« findet. Indem nun der Verf. noch aus 
Erfahrungsgründen dargethan hat, »Warum eine sittliche Weltord- 
nung aus der Erfahrung nicht nachweisbar ist< (S. 325—332), 
sieht er sich eben hiemit an »die metaphysischen Voraussetzungen 
einer sittlichen Weltordnung« gewiesen. 

Den beiden praktischen Hauptproblemen, Unsterblichkeit und 
Gott, schickt aber der Verf. auch noch nichts Geringeres als eine 
ganze Erkenntnistheorie (S. 337—361) voraus, welche ihrer- 
seits noch eine Ergänzung und mehrfache Zuschärfung im »Nach- 
trag« erhält, indem hier wieder dem praktischen Problem der Wil- 
lensfreiheit das theoretische der Causalität vorangestellt wird. 


480 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


So wird es begreiflich, daß Gegenstand, Methode und Darstellungsform 
dieses ganzen dritten Theiles sich von dem zweiten Haupttheil stark 
unterscheiden. Hatte hier der Verf. seinem Leser ein ihm wahr- 
scheinlich vielfach neues Thatsachenmaterial zwar auch schon in 
möglichst knapper Form vorgeführt, aber doch noch verhältnis- 
mäßig ausführlich die Ansatzpunkte zur eigenen Beurtheilung dieses 
Materiales seitens des Lesers aufgezeigt, so schreitet die Darstellung 
der Erkenntnistheorie und Metaphysik des Verf. fast nur mehr in 
Andeutungen fort. Oc. setzt als seinen Leser hier gleichsam einen 
Mitunterredner voraus, der gleich ihm des endlosen Geredes über 
die letzten Fragen seiner Wissenschaft müde ist’ und nur mehr für 
die allerletzten Zuspitzungen der Probleme Interesse hat. Ein Ein- 
zelbericht ist unter solchen Umständen fast unmöglich”); da aber 


1) Zum Belege, daß sich trotz des verrufenen Titels »Metaphysik« der In- 
halt auch dieses Theiles von Oe.s Untersuchung völlig den actuellsten Bedürf- 
nissen unserer Tage anpaßt, hier nur ein paar Vergleichungen mit einem der 
jüngsten Bücher aus dem »antimetaphysischen«e Lager: Petzolds »>Ein führung 
in die Philosophie der reinen Erfahrunge« 1900. — Wie in diesem 
Buche der ganze erste Abschnitt (welcher dem eigentlichen Commentar zu Ave- 
narius’ Hauptwerk vorausgeschickt ist) dem psychophysischen Paralle 
lismus gewidmet ist, so nimmt die Kritik dieses modernsten aller philosophi- 
schen Probleme auch bei Oe. den breitesten Raum ein. Freilich läßt sich P. auf 
eine Widerlegung der von Oe. und Anderen gegen das Parallelismusdogma er- 
hobenen wohlgegliederten Einzelargumente ebensowenig ein, wie so viele Andere, 
deren Herz nun einmal an jenem Dogma hängt. — Ebenso scheinen Oe. und P. 
von gleichem Interesse in ihren Angriffen auf die Causalität beseelt. Näber 
besehen aber schrumpft der Gegensatz, den P. zwischen der von ihm zum so und 
so vielten Mal todtgesagten Causalität und dem an die Stelle des Causalgesetzes 
eingeführten »>Gesetz der Eindeutigkeit« findet, auf ein Nichts, einen 
Wechsel des Wortes zusammen im Vergleiche zur Wucht der Oe.schen Angriffe 
gegen die logische Dignität des Causalgesetzes, die, wenn sie dieses wirklich 
träfen, ohne weiters auch das Eindeutigkeitsgesetz treffen müßten. Denn P. ist 
von seinem Gesetz überzeugt, wie es nur je ein Metaphysiker von der ontologi- 
schen Verbindlichkeit des »Satzes vom zureichenden Grund« gewesen war. P. 
findet es »sunerträglich, daß sich der Körper bei denselben Anstößen das 
eine Mal anders als das andre Mal bewegen solle« (S. 35); »wir können der Na- 
tur solche Unbestimmtheit nicht zugeben, wir müssen von ihr Bestimmtheit, 
Gesetzmäßigkeit fordern« (ib.), sie ist genöthigt (S. 36), sie muß (S. 37), 
sie darf nicht (S. 41), sie hat kein Recht (S. 39) auf eine andere, als 
die jeweilig wirkliche Bewegung der gestoßenen Kugel, des gebrochenen Licht- 
strahls (— nebenbei bemerkt: P. meint sogar, daß »für die Lichtbewegung das 
wichtigste Bestimmungsmittel die Zeit« sei (S. 38). All das versichert uns der 
Verf., weil »nur das Bestimmte begriffen werden kann« (S. 41). Den allgemein- 
sten Beweis für das Gesetz bilden »einfach die Thatsachen des Bestandes unser 
selbst und der Welt; die Thatsachen, daß ein Kosmos besteht und nicht das 
Chaos; daß wir denkende und handelnde Wesen sind; daß es Entwicklung gibt. 


Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 481 


der Leser dieser Anzeige wenigstens Proben der Methode ver- 
langen darf, so beschränke ich mich auf solche aus dem Nachtrage 
über Willensfreiheit. 


Nichts von alledem wäre möglich ohne die vollkommene Bestimmtheit des Natur- 
geschehens, sie ist die allgemeinste nothwendige [!] Bedingung dafür«. 

Wie man sieht, der alte Kant — »nur mit ein bischen anderen Worten«; 
»Postulate«e (S. 40) — man könnte es auch Drohungen nennen; aber sie thun 
ihren Dienst, sie lassen P. die Eindeutigkeit sogar »einsehen«. »... Die Frage: 
Warum wählt die Natur keine der unendlich vielen anderen Richtungen ? ist 
keine unlogische ..« (S. 37). — Keine einzige dieser Beschwörungsformeln, die 
durch Oe.s Gründe gegen die logische Dignität unseres Wissens um Causalität 
nicht mitgetroffen wäre. 

Endlich auch noch zur allgemeinsten Stellungnahme beider Bücher zu den 
»Welträthseln«. Verzeihe mir’s P., daß mich sein Kraftwort S. 8 »Es giebt 
kein Welträthsel mehr, sobald wir es nicht mehr wollen« an den Baccalaureus 
in Faust II erinnert hat: »Wenn ich nicht will, so darf kein Teufel sein«. So- 
gar Mephistos unhöfliches »Dir stellt der Teufel nächstens doch ein Bein« scheint 
aber sogleich in Erfüllung gegangen, wenn P. auf S. 7 in der herkömmlichen Weise 
gegen das »Eirklären« donnert und S. 8 durchaus ein »Verstehen« ein »Begreifen« 
des geistigen Geschehens fordert. Hie »Erklärene — da »Begreifen, Verstehen« 
— — »wie fass’ ich da den Unterschied?« — Und weil P. nun schon einmal die 
Abschaffung der »Welträthsele an Faust I. erläutert, z. B. findet, »daß das 
Nicht-wissen-können dem Menschen keineswegs »»das Herz verbrennen«« würde« 
(S. 3), so sei solch jugendfroh starken Hoffnungen mit Vergnügen zugestanden, 
daß in der Schülerscene des Faust II der neueste Phänomenalismus »Die Welt, 
sie war nicht, eh’ ich sie erschuf ..« längst seine poetische Fixierung und Ver- 
klärung gefunden hat. Auch alles dort Folgende paßt so gut, daß man es uns 
wohl verzeihen wird, wenn schließlich »dem jüngeren Parterre, das nicht applau- 
dierte auch wir gemüthlich zurufen: »Bedenkt, der Teufel, der ist alt; so wer- 
det alt, ihn zu verstehn!«e — Ganz im Ernste aber: Wirklich ist der Kampf, 
der sich augenblicklich zwischen der jüngsten Philosophie der »reinen Erfabrunge 
(Avenarius, Mach, Cornelius u. A.) und einer etwas älteren abspielt (wir brau- 
chen darum nicht gleich bis auf Sokrates zurückzugehen), kein geringerer, als der 
um das Recht auf das Nichtwissen. Eine Philosophie, die die »Welt« auf- 
gehen läßt in dem, was sonst die Philosophie Empfindungsinhalte, »meine« Em- 
pfindungsinhalte, genannt hatte und die gerade nur deshalb den Gedanken eines 
»Dinges an sich« für »ungeheuerlich« erklärt — für die es nichts giebt und ge- 
ben darf, als was »ich« als Empfindung habe oder gehabt habe: eine solche 
Philosophie kann, ohne inconsequeut zu werden, nicht einmal die Möglichkeit 
»neuer [d.h. eben: von „mir“ nicht erfahrener und erfahrbarer] Sinnesmodalitäten« 
bei anderen Menschen und Thieren zugestehen, wie sie z.B. Cornelius (Psychol. 
S. 126) dennoch zugesteht. Es wäre lelırreich, ihn hierüber sich mit Mach aus- 
einandersetzen zu hören. — Es ist betrübend, daß diese neueste Philosophie die 
historische Continuität zu allen früheren Problemstellungen grundsätzlich abge- 
brochen hat oder haben will und sich hiemit auch der Verpflichtung überhoben 
wähnt, mit den gegenwärtigen Bearbeitungen dieser Probleme sich auseinan- 
derzusetzen, nicht nur z.B. »gegen eine veraltete, von Hume ganz abgethane 


482 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Dieser »Nachtrag« gliedert sich in drei Abschnitte, betitelt: 
‚Das Causalgesetz (S. 1—23), die innere Erfahrung 
(nämlich, ob etwa diese für die Wahrnehmbarkeit einer psychischen 
Causation spreche, dann aber auch, ob nach ihrem Zeugnis die Be- 
schreibungen getreu seien, die der Determinismus von Wollen, Wahl, 
Sollen, Reue, Sittlichkeit, Zurechnung, Strafe gibt, S. 24—44) und 
endlich die praktischen Consequenzen (S. 44—52). 

Die These des Verf. in Sachen des Causalgesetzes lautet 
dahin, daß alle bisherigen Versuche, seine logische Dignität zu be- 
weisen oder sonst wie aufzuzeigen, fehlgeschlagen und daß wahr- 
scheinlich auch alle sonst etwa künftig auszudenkenden Wege hiezu 
aussichtslos seien. Scheinbar also Wasser auf die Mühle des Posi- 
tivismus. Aber nur, wo dieser sehr oberflächlich und selbstgenügsam 
‘ vorgeht, könnte er sich der Bundesgenossenschaft Oe.s freuen. Ich 
knüpfe, da ich nicht Unparteilichkeit heucheln darf, wo ich erst 
kürzlich!) gegen einige landläufige Causalfeindlichkeiten Partei zu 
nehmen hatte, den Bericht über diesen Theil der Oelzeltschen Ar- 
beit an meine dortige?) Auseinandersetzung in Sachen der Causali- 
tät an. — Vor Allem also noch einmal, daß Oe. die Ansicht Kirch- 
hoffs von einer »Unklarheit, von der der Begriff der Ursache sich 
nicht befreien lasse<, keineswegs theilt. Alle »Unklarheiten in der 
Bestimmung des Begriffes der Ursache« sind auch nach Oe. behoben, 
wenn man unter ihr »nothwendiges Antecedens verstehen will< ; aus- 
führlicher: »Ursache ist ein Complex von Thatsachen, der keinen 
Augenblick bestehen kann, ohne daß die Wirkung erfolge« (Nachtrag 
S. 2). Also genau derselbe Causalbegriff, den ich in meiner Lo- 
gik*) zu Grunde gelegt habe. Aber auch in der Formulierung des 
Causalgesetzes sind Oe. und ich noch völlig einig: »Jedes An- 
fangen, physisches wie psychisches, hat eine Ursache, d.h. ein noth- 
wendiges Antecedens« (S. 4). — Der Streit setzt ein mit der Frage 
nicht um den Sinn, sondern um die Wahrheit des so formulier- 
ten Gesetzes; er spitzt sich zu auf die Evidenz für das >» Jedes«. 


Auffassung der Causalität, die wohl kaum jemand heutzutage vertheidigen würde« 
[wie es Mach soeben wieder mit nur zu viel Recht von Joseph W. A. Hickson, 
Vierteljahrschr. f. wiss. Philos. XXIV, 1900, Nov., S. 477 vorgeworfen wird] 
sich zu richten. — 

Doch — vielleicht gelingt es diesem Fehdehandschuh, die »reine Erfahrung« 
zu reizen, daß sie ihn ebenso ritterlich aufnimmt, als er ehrlich geboten wird. 

1) In meinen »Studien zur gevenwirtigen Philosophie der Mechanik. Als 
Nachwort zu Kants Metaphysischen Anfangsgriinden der Naturwissenschaft«. 
(Leipzig, Pfeffer 1900. 168 S.). 2) 2.2.0. S. 50 ff. 

3) Logik. Unter Mitwirkung von A. Meinong verfaßt von A. Hofler 1890. 


Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 483 


Diese Prüfung nun vollzieht Oe. an dem Maßstab der vier Evi- 
denzklassen, welche ich in meiner Logik so gegliedert habe: 

I. Unmittelbar gewisse, III. Unmittelbar wahrscheinliche, 
II. Mittelbar gewisse, IV. Mittelbar wahrscheinliche 
evidente Urtheile — neben denen es eine Ueberzahl evidenzloser gibt. 

Unter dem Titel »Die Gewißheit des Causalgesetzes« 
wird zuerst seine unmittelbare (eines Beweises weder fähige 
noch bedürftige) Gewißheit abgelehnt, ebenso aber auch die Be- 
weise aus der »Undenkbarkeit« (genauer Unverträglichkeit) des 
Gegentheils, speziell auch die Einfügung unter den Satz des Wider- 
spruchs; aus dem Angeborensein (ein solches meint Oe. vorwiegend 
unter »Aprioric) — denn zugegeben selbst, unsere Causalüberzeugung 
wäre (z.B. nach Schopenhauer) angeboren, oder sonstwie (z.B. 
nach Kant) a priori, so ist ja auch nur allzuviel Falsches »ange- 
boren« oder wird als Vorurtheil mitgeschleppt. Ebensowenig geht 
es mit der Identifizierung von Ursache und Grund oder der Zurück- 
führung auf Identität. — Hier dürfte Oc. in allem wesentlichen Recht 
haben. 

Unter dem Titel »Die Wahrscheinlichkeit des Causal- 
gesetzes« wird zuerst davor gewarnt, für unmittelbare Evi- 
denz der Wahrscheinlichkeit (die auch Oe. mit Meinong z.B. einem 
Theile der Gedächtnisurtheile zugesteht, also wieder keineswegs etwa 
die ganze Evidenzclasse III leugnen will) die bloße »Gewöhnung« 
oder den »angebornen blinden Glaubensdrang< und einige andere 
solche psychologische Einrichtungen (S. 14) gelten zu lassen. — 
Aber auch mittelbare Evidenz sei nicht zu erbringen, weder 
I. mittelst Induction, noch II. auf Grund der Parallelismushypothese, 
noch III. mittelst Statistik (von der Art der Queteletschen). Dabei 
wird unter I. sowohl geleugnet, daß speciell durch Induction 
1. für Regelmäßigkeit, 2. für Nothwendigkeit »logische 
Dignität« zu erlangen sei. — Mit Uebergehung aller übrigen Einzel- 
argumente beschränke ich Berichterstattung und Einsprache auf fol- 
gende Punkte: 

Zu 1: Oe. leugnet, daß auch nur die Erfahrung über fallende 
Steine ein Beispiel von solcher »Regelmäßigkeit« erbringe, wie sie 
erforderlich wäre, um Regelmafigkeiten als eine Regel »sine instan- 
tia contrariac im Naturablauf behaupten zu dürfen. »Der Grund, 
warum wir immer nur von diesen Fällen sprechen [den »günstigen« 
bei irgend welchen gleichartigen Erfahrungen, mit denen sich das 
gewöhnliche Leben und auch die Wissenschaft begnügt] und nicht 
von Gegeninstanzen [auch den eventuell gar nicht beobachteten], ist 
einzig das Interesse, das der menschliche Geist seiner Orientierung 


484 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


halber an der Ordnung hat ..<. Es läge sehr nahe, dem Verf. hier 
vorzuhalten, daß er zu viel bewiesen habe, nämlich, daß auch wenn 
ich aus einer Urne mit Kugeln von vorgängig unbekannter Farbe 
100 mal, 1000 mal eine schwarze und nie eine andere Kugel gezogen 
habe, sogar dieses »Bisher immer schwarz< trotz des »immer« noch 
keine »Regelmäßigkeit« wäre. Oc. würde antworten: Freilich nicht, 
denn das »Bisher«< besagt ja schon die mögliche Einschränkung 
gegenüber der noch unbekannten Zukunft. Man sieht aber, wie 
das bloßer Wortstreit wäre. Wenn also der Verf. fragt, »ob 
das regelmäßige Fälle sind, oder eventuell unendlich viele Aus- 
nahmen unendlich vieler Fälle«, so antworten wir: Ohneweiteres 
‚regelmäßige« nach dem bisherigen ungekünstelten Sinne des Wor- 
tes. Im Wesen der >unvollstiindigen Induktion« (der gegenüber die 
vollständige an Bedeutung durchaus zurücktritt, vgl. meine Logik, 
§ 73 und § 74), liegt es ja, die Möglichkeit gegentheiliger Fälle 
mit vollem Bewußtsein offen zu lassen und doch mit gutem logi- 
schem Gewissen zu unterscheiden zwischen Regeln mit beobachteten 
Ausnahmen und Regeln ohne beobachtete Ausnahme. — Die nament- 
lich hier (S. 16) allzu knappe Darstellung läßt mich einigermaßen 
ungewiß, ob der Verf. all’ dies nicht ohnedieß zugesteht. — Dagegen 
gestehe jedenfalls ich ihm gerne zu, daß auch dem ganzen reichen 
Besitz an solchen ausnahmslosen Regelmäßigkeiten, welche den That- 
sachenbestand der bisher gelungenen Induktionen in Sachen der 
physischen und psychischen Natur ausmachen, soviel Gegenbeispiele 
von bisher nicht gelungenen Induktionen gegenüberstehen, daß man 
nicht verlangen kann, es müßten gerade die gelungenen Inductionen, 
die als bisher ausnahmslos befundenen Regelmäßigkeiten, auch nur 
als eine halbwegs überzeugende inductio per enumerationem simplicem 
sine instantia contraria für das allgemeine Causalgesetz — oder 
vorläufig: für ein allgemeines Regelmäßigkeitsgesetz — angesprochen 
werden. 

Zu 2: Der Kernpunkt des Streites liegt in Oe.s Angriff auf die 
Berechtigung des Schlusses von der (nunmehr als zuge- 
standen angenommen) Regelmäßigkeit auf die Nothwendig- 
keit. — Ich muß mich hier Oe. gegenüber schuldig bekennen, mich 
in meiner Logik (§ 76) mit folgendem Schlusse begnügt zu haben: 

»Mit welchem logischen Rechte greifen wir über den Inhalt der 

Beobachtung, daß eine Thatsache W bisher eine andere U zum 

regelmäßigen Antecedens gehabt habe, hinaus zu dem Glau- 

ben, daß U das nothwendige Antecedens von W sei? — 

Dieses Recht nun erhellt aus der Vergleichung folgender zwei 

Hypothesen: 


Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 485 


1. U sei das nothwendige Antecedens von W; dann mußte 
gemäß dem Begriffe der Nothwendigkeit, so oft U existierte, 
auch W existieren. 
2. U sei nicht das nothwendige Antecedens von W; dann 
ist aus keinerlei Realgrund erkennbar, warum, so oft U exi- 
stierte, auch W existierte. 
Da also die Hypothese 1. des vermutheten Bestehens der 
Nothwendigkeit das thatsächliche Bestehen von Regelmäfßigkeit 
zu erklären vermag, die gegentheilige Hypothese 2. letztere 
Ursache aber unerklärt läßt, so hat 1. größere Wahrschein- 
lichkeit als 2.«. 
Allen solchen Schlüssen nun — die keineswegs schon das allge- 
meine Causalgesetz zu beweisen unternehmen, sondern nur die >zu- 
fälligen« Regelmäßigkeiten gegen die einen Schluß auf die Zukunft 
gestattenden, weil causierten, speziellen Regelmäßigkeiten ab- 
grenzen helfen — hält Oe. entgegen, daß, wer einer constatierten 
Regelmäßigkeit gegenüber etwas wie ein »Erklärungs«<-Bedürfnis 
zeigt, hiemit nur verräth, daß er schon vor dem Beweis, es gebe 
überhaupt etwas wie Erklärungen, also Nothwendigkeiten, gleichwohl 
von dem Bestehen solcher Nothwendigkeiten überzeugt sei. Und so 
setze auch speziell jeder Beweis für je eine spezielle Causalbeziehung, 
und ebenso wieder der Beweis für das Bestehen des allgemeinen 
Causalgesetzes, den Glauben an das Causalgesetz fertig voraus. Da- 
her habe weder dieser Beweis noch jener Glaube logische Dignität. 

Ich habe seit dem gleichzeitigen Erscheinen von Oe.s »Nachtrag< 
und meinen »Studien zur gegenwärtigen Philosophie der Mechanik« 
mich nochmals geprüft, ob diese feinst zugeschärfte Spitze gegen 
unseren Causal- und allgemeiner: Nothwendigkeitsglauben diesen 
wirklich trifft. Hier beschränke ich mich darauf, mitzutheilen, daß 
ich mein logisches Gewissen wenigstens in Sachen jener Nothwendig- 
keit zwischen Zahlen, die ich in den »Studien< (S. 53-56) aus- 
führlich begründet habe (und gegen die Oe. in der knappen, nach- 
träglichen Anm. 15 dieselben Vorwürfe wie gegen das Causalgesetz 
erhebt), durchaus rein finde. Wenn etwa der Schulknabe die Ent- 
deckung gemacht hat, dß 143 = 4 4+5=9 9+7 = 16, 
16+9 = 25, 253 +11 = 36, 36+13 = 49... und er »verwun- 
dert« sich über diese Regelmäßigkeit, daß jede Quadratzahl mit der 
nächsten ungeraden Zahl wieder die nächste Quadratzahl gibt, so 
dürfte es schon für dieses Verhalten des Knaben schwerlich die zu- 
treflende psychologische Beschreibung sein, daß er »hinter jeder 
Regelmäßigkeit Nothwendigkeit erwartet< und hiebei einem »blinden 
Glaubensdrang< folgt. Wie aber, wenn dann gar der »erfahrene« 


486 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Zahlentheoretiker (wofür ich a.a.O. mehrere Beispiele gegeben 
habe), der den Unterschied zwischen bloß geahnten und wirklich be- 
wiesenen Gesetzen nur zu gut kennt, hinter einer vorläufig nur 
inducierten Regel eine beweisbare Entdeckung wittert? Oe. muß 
dieses Vermuthen der Beweisbarkeit, d.i. des Bestehens einer Noth- 
wendigkeitsrelation, als ein bis zum letzten Augenblick vor dem Ge- 
lingen des Beweises (also auch noch während des Suchens nach 
dem Beweis) logisch unberechtigtes Vermuthen hinstellen. Hierin 
wird und darf ihn natürlich der Einwand nicht irre machen, daß, 
sobald der Beweis für das Bestehen dieser zahlentheoretischen Noth- 
wendigkeit dann doch gelungen ist, jene Vermuthung plötzlich als 
eine dennoch berechtigt gewesene erwiesen sei. Denn nicht das In- 
Erfüllung-gehen macht das Kriterium dafür aus, ob eine Vermuthung 
als solche berechtigt war (Beispiel: auch eine dumme Wetterprognose 
kann sich erfüllen, eine sorgfältigst abgegebene kann unerfüllt blei- 
ben — vgl. meine Logik, $ 53). Nicht gerecht aber ist Oe. dem- 
jenigen feinen logischen Momente geworden, welches wir bei dem 
Nothwendigkeiten vermuthenden Arithmetiker, wie bei dem das mor- 
gige Wetter vermuthenden Meteorologen als das gute logische Ge- 
wissen beim Sich-Einlassen auf solche Vermuthungen festzuhalten 
haben. Was Oe. im Grunde angreift, ist doch wieder die ganze 
Classe der Wahrscheinlichkeitsevidenzen (die obigen 
Classen III und IV.) — ein Gegenstand, auf welchen noch heute 
nur allzusehr Oe.s versöhnliches Wort (S. 14) Anwendung findet: 
»Wäre aber in dieser Weise Uebereinstimmung in der Wissenschaft 
nicht zu erzielen, dann müßte die Entscheidung, wenn überhaupt 
erreichbar, dem langsamen Gange späterer Gedankenentwicklung 
überlassen werden. Vielleicht daß dann eine geübtere psychologische 
Analyse, frei von Voreingenommenheit sie herbeiführen wird<. — 
Ist es paradox, wenn ich Oe., dessen Polemik dazu drängt, die 
Problemstellungen zu solcher Feinheit zuzuspitzen, in unserem gegen- 
wärtigen Kampf um die Nothwendigkeit als Bundesgenossen be- 
grüße, nicht als den schlimmen Feind fürchte, als den er sich gibt? 
— Aber auch wer nicht auf diese Zuspitzungen einzugehen geneigt 
ist, sieht ja sofort, daß Oe. nichts ferner liegt, als etwa Causationen 
überhaupt und als solche zu leugnen: stellt er doch allenthalben 
dem »Monismus« sowie dem »Parallelisnus<e (der in unglaublicher 
Laxheit meistens ebenfalls unter das Schlagwort »Monismus< ge- 
zwängt wird -— als ob »Eines« je »parallel« sein könnte!) die Ueber- 
zeugung von dem Causiertsein des Physischen durch das Psychische 
und umgekehrt (ebenfalls lax fast immer als »Wechselwirkung< be- 
zeichnet) entgegen. Also spezielle Causationen leugnet Oe. 


Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 487 


sogar in diesem meist bekämpften besonderen Falle nicht; ebenso- 
wenig in dem vielleicht noch heikleren eines Causiertseins unserer 
Empfindungen durch »Dinge an sich« (und dieser unter einander). — 
Nur das »allgemeine Causalgesetz«< läßt Oe. nicht als bewiesen 
gelten — »obwohl natürlich das Gesetz auch bestehen könnte, ohne 
erwiesen oder erweisbar zu sein« (S. 4). — Ich fürchte, Oe. hat 
hier mit Beidem Recht: dem »bestehen können« und dem »nicht er- 
wiesen<. Auf das »erweisbar« dagegen wage ich immer noch zu 
hoffen — Oe. wird natürlich sagen : ohne alle logische Dignität. Ich 
füge hinzu: bisher. — 

Während also Oe. trotz allem selber durchaus an das Verur- 
sachtsein des freien Falles und aller — oder nur vieler? — übrigen 
physischen, auch psychischer, Vorgänge glaubt, so ist ihm, was für 
diese recht ist, für das Wollen nicht billig. Doch will er keines- 
wegs den Determinismus widerlegt, den Indeterminismus bewiesen 
haben, sondern es soll >die Behauptung, daß das Freiheitsproblem 
wahrscheinlich unlösbar ist, daß Determinismus wie Indeterminismus 
gleich unbewiesene Theorien repräsentieren, begründet und es sollen 
die Consequenzen beider Lehren für unser praktisches Verhalten ge- 
zogen werden< (S. 1). Aber — der Verf. macht nirgends ein Hehl 
daraus: sein Herz hängt am Indeterminismus; und nicht nur sein 
Herz, vielmehr nach seiner der Wortzahl nach knapp, der Zahl 
der Gesichtspunkte nach ausführlichst begründeten Ueberzeugung 
auch alles Heil der Menschheit. — Es ist unmöglich , hier auch nur 
andeutend zu prüfen, ob den Verf. die Hoffnung auf die bloße Mög- 
lichkeit der indeterministischen Deutung von Reue, Strafe u.s. f. 
nicht gegen die deterministische ungerecht gemacht hat. Es muß 
vielmehr genügen, wenn der auswählende Bericht über den »Nach- 
trag< seine innere Zusammengehorigkeit mit der »Kosmodicee< hat 
erkennen lassen, und wir haben uns schließlich zu fragen: 

Kann eine solche Sumine von durchaus negativen Ergebnissen 
noch ein positives Ergebnis heißen ? Wie kann der Verf. von seiner 
Agnostik positive Dienste für seine Bejahung der Glücksfrage hoffen ? 
Wesentlich dürfte folgendes Bekenntnis sein: »... Die eigene Er- 
fahrung zeigte mir eine große Veränderung, als ich nur Zweifel 
zu hegen begann an meiner früheren materialistischen Weltanschau- 
ung, und zwar wirkliche sittliche Besserung«. Da nun, was der Verf. 
»materialistisch« nennt, ein rein Negatives ist, so muß freilich schon 
seine bloße Widerlegung allerdings der erste Schritt zum Positiven 
sein. In der That ist es auch die Widerlegung der Beweise 
gegen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, zum mindesten das Erregen 
yon Zweifeln gegen diese Beweise, was dem Verf. ganz eigentlich 


488 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


als Ziel vor Augen steht. Das eigenartige seines Vorgehens liegt 
aber darin, daß er die »Moglichkeit des Glaubens« nicht voll eröffnet 
zu haben überzeugt ist, wenn nicht auch den Beweisen für das zu 
Glaubende mit ebenso unerbittlicher theoretischer Schärfe an wo- 
möglich sämmtlichen Punkten entgegengetreten wird, an denen sich 
auch nur die leiseste Schwäche zeigt. »Besonders wichtig ist uns .., 
daß auch die Beweise für die Unbeweisbarkeit ebenso hoffnungslos< 
sind, »als die Gottes-, Unsterblichkeits- [und Freiheits-]Beweise 
selbst ..<. (S. 333). >Es fehlte nur noch an Beweisen für die Un- 
beweisbarkeit der Unbeweisbarkeit dieser Probleme und des Be- 
weisens würde kein Ende .. Ich kann mich hiegegen nur durch den 
Glauben retten, daß alle diese Beweise Für oder Gegen .. für alle 
Zeiten höchst unwahrscheinlich sind, und diese Erkenntnis hat mir 
den gleichen Werth wie die meisten Wahrscheinlichkeitsbeweise der 
Naturwissenschaft« (S. 334). 

Dieses heiße Bemühn Oe.s, durch eine (wie das Beispiel der 
Nothwendigkeits- Erwartungen gezeigt hat, manchmal wohl über- 
strenge) Kritik des theoretischen Wissens und evidenten Vermuthens 
dem »Glauben< die Bahn zu öffnen, erinnert an Kants Verhältnis 
zwischen Theoretischem und Praktischem. Einer der Unterschiede 
aber liegt in der von Kants transscendentaler Dialektik gänzlich ver- 
schiedenen Art der »Beweise gegen die Beweise<; Oe. sagt von sei- 
nem »Versuch .. diese Fragen zu lösene: »Diesmal soll es nüchtern 
geschehen, wie es das Jahrhundert lehrte, nüchterner vielleicht, als 
es bisher geschah<. Und ein anderer Unterschied ist der, daß, was 
Oe. durch seine Agnostik dem Glauben erkämpft haben will, nicht 
wie bei Kant doch wieder eine Art »Wissen« aus »praktischer Ver- 
nunft<, sondern bescheiden nur »das Recht zu traumen< sei. Darin, 
daß Oe. als »Wahrheit< nur gelten läßt, was vor den strengsten 
rein theoretischen Ansprüchen stand hält, liegt der hohe wissenschaft- 
liche Ernst und Werth des Buches — der mindestens ebenso hohe 
rein menschliche, der Gesinnungswerth aber darin, daß mit reiner 
Wissenschaft dem Verf. die Welt bei weitem nicht erschöpfbar ist. 

Es könnte dem letzten Zweck dieser Anzeige, ihre Leser be- 
kannt zu machen mit dem durchaus eigenartigen Gesinnungsleben, 
aus welchem unser bisher viel zu wenig gelesenes Buch hervor- 
gegangen ist, durch kein näher liegendes Mittel entsprochen werden, 
als durch einen vergleichenden Blick auf ein anderes Gesinnungs- 
buch, das zwei Jahre jünger ist als jenes und das heute schon Alle 
gelesen haben: Chamberlains »Grundlagen des XIX. Jahrhunderts«. 
Nur mit Rücksicht auf den Raum versage ich mir die Parallele: 
genug, daß alle Größe und Schärfe der Gegensätze — so in der 


Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 489 


entgegengesetzten Werthung des Kosmopolitismus — noch weit auf- 
gewogen wird durch die Aehnlichkeit der Methoden: reichste Kultur- 
geschichte in den Dienst des Glaubens an höchste Kulturziele zu 
stellen; und — unbeschadet der nicht selten scheinbar entgegenge- 
setzten Haltung speciell zu den Problemen des Pessimismus und des 
Fortschrittes — durch die Aehnlichkeit, fast Gleichheit der Welt- 
anschauungen: das Wort hier nicht in willkürlicher Identificierung 
mit >Philosophie« , sondern in seinem dem Schauen des Künstlers 
wesensgleichen Sinne genommen. Welches Heim Oelzelt der Kunst 
an den Grenzen seiner Philosophie einräumt, sagt uns am schönsten 
der Schluß des Vorwortes zur Kosmodicee: 

>Und um dieses Recht zu träumen, zu hoffen und sich zu freuen, 
soll hier gestritten werden; ohne das ist das Leben nicht lebens- 
werth und malt sich selbst in falschen Bildern, sich und den Tod. 
Die wahren Bilder stören den Träumer nicht, und kein menschliches 
Wissen kann sich unterfangen, ihn zu wecken. Die Wahrheit läßt 
den Edlen träumen, daß auf Erden einst sein Ruf nach Gerechtig- 
keit erhört werden wird; den Armen, daß einst die Erben seines 
Elendes in Ueberflu8 leben werden; den Dichter, daß er einst auf 
einer schöneren Erde mit edlen Frauen wandeln wird, deren Tage- 
werk es ist, ihn zu führen und Lorbeer zu schlingen um die Her- 
men seiner Ahnen; die Wahrheit läßt sie alle hoffen, daß einst 
anderswo vollkommen werde, was auf unserer Welt nie vollkommen 
sein kannc«. 


Wien, Weihnachten 1900. Alois Höfler. 


Nassau-Oranische Correspondenzen. Herausgegeben von der Historischen Com- 
mission für Nassau. Erster Band. = Der Katzenelnbogische Erb- 
folgestreit. Erster Band. — Erste Abteilung. Geschichtliche Darstellung 
bis zum Tode des Grafen Heinrich von Nassau (1538). Von Otto Meinar- 
dus. [1 Bl. u. 176 S]. Mit dem Lichtdruck-Porträt des Grafen Heinrich 
von Nassau. — Zweite Abteilung. Briefe und Urkunden 1518—1538. Heraus- 
gegeben von Otto Meinardus. [XI u. 431 8]. Mit dem Lichtdruck- 
Porträt des Grafen Wilhelm von Nassau. — Wiesbaden, Verlag von J. F. Berg- 
mann, 1899. 


Die Entstehungsgeschichte dieses Werkes wird im Vorwort an- 
gedeutet. »Zuerst bestand die Absicht, nur den Briefwechsel der 
Grafen Heinrich und Wilhelm von Nassau herauszugeben<. Infolge 
der Beobachtung jedoch, daß dieser Briefwechsel hauptsächlich aus- 

Géts. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 33 


490 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


gefüllt sei durch die »hessisch-nassauische Streitfrage um die Erbfolge 
in der Grafschaft Katzenelnbogen<, wurde der Bearbeiter dahin ge- 
führt, jener Streitfrage auch über den Briefwechsel der nassauischen 
Brüder hinaus in seiner Quellenforschung nachzugehen. Da nun 
aber unsere »Streitfrage« eine wesentlich politische Angelegenheit 
gewesen ist und deshalb im Lauf der Zeit in die mannigfaltigsten 
politischen Combinationen irgendwie mit hineingespielt hat, so reizte 
es den Bearbeiter weiter, in seiner Quellensammlung »möglichst viele 
dieser Verbindungsfäden aufzukniipfen<, für möglichst viele von ihnen 
‚eine Auswahl von Briefen und Urkunden teils in wörtlicher Wieder- 
gabe, teils im Auszuge abzudrucken<. Doch wurde auch die ur- 
sprüngliche Absicht keineswegs aufgegeben; für den Briefwechsel 
der Brüder untereinander scheint Vollständigkeit erstrebt zu 
sein; aus ihrer sonstigen Correspondenz (nebst verwandten Akten- 
stücken) ist eine Auswahl getroffen worden. Der Bearbeiter hat 
dann geglaubt, das Ganze mit der Flagge des »Katzenelnbogischen 
Erbfolgestreites< decken zu können, aber thatsächlich bildet der 
Erbestreit mit Hessen in den uns gebotenen Correspondenzen der 
nassauischen Brüder nicht durchweg den Schwerpunkt. In vielen 
Stücken kommt er gar nicht vor, und wo er vorkommt, werden oft 
gerade die Stellen, die nicht von ihm handeln, in Wiedergabe des 
Wortlauts bevorzugt; vgl. z.B. Nr. 4 Beschaffung von Reliquien, 
Nr. 5 Sendung eines stählernen Bogens, Nr. 8 Empfang von Ge- 
mälden u.s.w. Die schon in Arnoldis Denkwürdigkeiten veröffent- 
lichten Stücke des Briefwechsels werden nicht vorwiegend nach der 
Seite des Erbestreites hin ergänzt '). Wir haben es, dem Doppel- 
titel des Werks entsprechend, mit einer Doppelschicht von Quellen- 
auszügen zu thun. Doch kommen in der reichen Sammlung auch 
Stücke vor, die meiner Ansicht nach weder zum Ober-, noch zum 
Untertitel passen. Daß sie alle, »selbst diejenigen, von denen man 
es auf den ersten Blick nicht annehmen sollte<, mit der hessisch- 
nassauischen Streitsache >in irgend einer Berührung« stehen, 
verdanken sie wohl hauptsächlich ihrer Entstehungszeit. Aber inter- 
essant sind sie fast alle. Für viele von ihnen sind wir dem Heraus- 
geber aufrichtigen Dank schuldig. 

Der Wortlaut der Aktenstücke gibt nur selten zu Bedenken 


1) Nachzutragen ist, daß auch Nr. 116 (unvollst. Regest) z.T. gedruckt ist 
in den Denkwürdigkeiten S. 203 (vgl. Ranke, Deutsche Gesch. II® S. 245 Anm. 1), 
und daß ebenso Nr. 314 gedruckt (und besser erläutert) ist in den Denkw. 
S. 220. — Nr. 112 Anfang in den Denkw. S. 202 viel besser. In yy. 131 ver- 
dirbt der Absatz den Text (»dan« = außer daß). 


Nassau - Oranische Correspondenzen. I. 491 


Anlaß’). Weniger gut steht es um die Erläuterung der Akten- 
stiicke. Die in den Texten vorkommenden Daten werden sehr 
häufig nicht aufgelöst. Umgekehrt entbehren die Stücke als Ganzes 
oft des Originaldatums. Wo aber eine Kontrolle möglich ist, da 
fehlt es nicht ganz an falschen Auflösungen?). Vor allem aber: die 
Bestimmung der vorkommenden Orte und Personen zeigt große 
Lücken und Irrtümer; das gilt sowohl für die Anmerkungen, wie für 
das Register’). Ueber dieses (auf den Aktenband beschränkte) Re- 
gister ließe sich mancherlei sagen, z.B. daß es die Kunst versteht, 
aus zwei Personen eine und aus einer zwei zu machen. 


1) Ein paar Conjecturen möchte ich mir alsbald erlauben. Nr. 22.4 v.u. 
om antworte = »zur antworte? S. 152 Z. 12 »meinerliche = »meineclich« ? 
Nr. 146 Z. 6 in »interesse wurdt deductrt< ein »nit« einfügen? S. 256 2. 6 v.u. 
»mit<e = »nit<? Das gäbe den beiden Stellen wohl besseren Sinn. S. 284 Z. 2v.u. 
»forcht u. schreiben«e = »forcht u. schrecken«? S. 354 Z. 15 v.u. »>um gl. oder 
100000« = »ein gl. oder 100000<? — S. 223f. »ich wolt gern bei etlichen fur- 
sten, so im pund seind, gewest seine gibt zum Streichen des »sein« [I] keinen 
Anlaß; S. 855 Z. 9 v.u. muß die Klammer stehen bleiben, wo sie stand: »wollen 
hulf (..... ) thun«. 

2) So muß es heißen für Nr. 71 Mai 12 statt 10, in Nr. 76 März 9 statt 8 
(und Mai 12 statt 10), in Nr. 88 Nov. 5 statt 3, für Nr. 87 praes. [wem?] Juli 
24 statt 27, für Nr. 93 Aug. 18 statt 25 (vgl. unten), für Nr. 114 Dec. 19 statt 
17, in Nr. 145 Anm. Febr. 1 statt 29 (vgl. unten), für die »Ordenung« in Nr. 
233 Mai 3 statt 4, für Nr. 294 Aug. 21 statt 23. Gut gemeint, aber unrichtig 
ist es, wenn die Textstellen sam abent des 25. dis monats januarii< in Nr. 118 
und »am abent des 10. tags mau«< in Nr. 126 aufgefaßt werden als Daten »Jan. 
24< und »Mai 9«. — Nr. 148 ist nicht »vordatiert« (I 1 S. 120), sondern zurück- 
datiert, ebenso wie Nr. 14. 

8) Einzelnes werden wir unten zu berichtigen haben; ein paar Bemerkungen 
seien gleich hier vorausgeschickt. Daß Graf Wilhelm mit dem Rath Flach »su 
Teutsch« geredet hat (I2 S.42 Z. 15 v. u.) bezieht M. auf die »Deutsche Sprache, 
Rede«; es dürfte sich aber wohl um Deutz handeln, vgl. S. 43 Z. 2 »gein Col- 
len<. Der Niclas v. »Heynsize S. 99 dürfte wohl ein Schleinitz sein. Kaiser 
Karls Schwester Eleonore (8. 120) ist nicht mit Johann III., sondern mit Ema- 
nuel I. von Portugal vermählt gewesen; sie war im J. 1524 Wittwe, das erklärt 
ihre damalige Stellung am k. Hofe. »Leyßnegk«, für dessen Reformationsge- 
schichte sich M. interessiert (S. 191), ist wohl nicht ein »Flecken Loessneck«, 
sondern die Stadt Leisnig. Der »Gewaltigee am k. Hofe, mit dem Graf Wilhelm 
1528 »muntlich«e zu verkehren Aussicht hatte (S. 220, S. 222), ist sicher kein 
anderer, als der Propst von Waldkirch. »Montzon<, wo die Nr. 156 geschrieben 
ist, ist die Stadt Monzon o. n. 6. von Zaragoza; »Hüllkrade«, wo die Nr. 320 
geschrieben ist, ist der Flecken Hülchrath, Kreis Grevenbroich; die Nr. 164 
(»Ohne Orte) ist in Dillenburg geschrieben, s. S. 244. Daß Landgraf Philipp 
1534 die Seinen »zu zeiten abscheits uf dem spis vertrost haben sol« (S. 332 Z. 6), 
geht auf einen hessischen Landtag am Spieß bei Kappel. Die » Wienerische Hand- 
Jung« S. 356 und öfter ist der Vertrag König Ferdinands mit Kursachsen von 
1535 Nov. 22, gedruckt Polit. Corresp. d. St. Straßburg Il S. 320. 


33* 


492 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Dem Aktenband geht als sehr wesentliche Ergänzung die »ge- 
schichtliche Darstellung« voraus. Es galt, wie uns das Vorwort 
weiter berichtet, >zugleich das reichliche, von allen Seiten zuströ- 
mende Quellenmaterial zu einer Darstellung zu verarbeiten<. So 
entstand die »erste Abteilung< unseres Werkes. Deren erstes Ka- 
pitel behandelt »die Rechtsfrage und die Parteien bis zum Tode 
Graf Johanns V. von Nassau-Dillenburg< im J. 1516, das zweite er- 
zählt »das Emporkommen der Grafen Heinrich und Wilhelm von 
Nassau<, im dritten mit dem Titel »Züge und Gegenziige< wird dann 
der Anschluß an die Quellensammlung erreicht. Das sei hier ein 
für allemal gesagt: die ganze Darstellung hat Schwung und Ge- 
schick ; sie liest sich vortrefflich, wenn man sie nur genießen, nicht 
nachpriifen will. Den »wissenschaftlichen Benutzer< muß es freilich 
von vorn herein verdrießen, daß die Anmerkungen vom Text ge- 
trennt sind, und daß man nach dem Aufsuchen der betreffenden 
Nummer in vielen Fällen weiter nichts erhält, als eine neue Num- 
mer (z.B. Anm. 447 = Nr. 309); erst diese zweite Nummer weist 
dann in den Quellenband. Dazu tritt — und dies gilt von beiden 
Abteilungen des Werkes — der Uebelstand, daß die Anmerkungs- 
Verweise im Text vielfach bei eigentümlich gewählten Stichworten 
stehen. Doch das ist äußerlich. Schwerer wiegen die sachlichen Be- 
denken, die sich gegen die Darstellung gar bald erheben. 

Für die wichtigen ersten Jahrzehnte der hessisch-nassauischen 
Erbstreitigkeiten, deren Anfänge noch im 15. Jahrhundert liegen, 
war eine Stoffsammlung in größerem Umfang und damit ein tieferes 
Eindringen ausgeschlossen durch die Doppelnatur des Werkes. Aber 
auch allgemein bekannte Thatsachen sind im ersten Kapitel der 
Darstellung übersehen worden, wie die Gesamtbelehnung der Land- 
grafen Wilhelm I. von Niederhessen und Wilhelm III. von Ober- 
hessen mit dem ganzen hessischen Besitz einschließlich Katzeneln- 
bogen u.s. w. durch den römischen König Maximilian I. auf dem be- 
rühmten Reichstag zu Worms im J. 1495. So treten wir unge- 
nügend gerüstet an die Forderungen der Grafen Heinrich und Wil- 
helm heran. Die »Rechtsfrage« bleibt dunkel. — Doch was war 
nun der Inhalt der nassauischen Forderung ? Betraf sie nur die 
Erbfolge in der Grafschaft Katzenelnbogen«, wovon das Vorwort 
allein spricht? Weit gefehlt! Die Dillenburger erhoben Erbansprüche 
an die ganze Hinterlassenschaft des kinderlosen Landgrafen Wil- 
helm III. von Oberhessen (7 1500), sodaß Landgraf Philipp sehr 
Recht hatte, zu betonen, die nassauische Forderung betreffe »fast 
den merer und besten teil seiner ererbten furstenthumb, lande und 
leutec (Nr. 272). Aktenmäßig spezifiziert liegt die Forderung der 


Nassau-Oranische Correspondenzen. TI. 493. 


beiden Brüder vor bei Arnoldi, Nassau-Oranische Gesch. III 1 S. 84f. 
Dem Verf. unseres Werkes ist das bekannt; er weiß sehr wohl, daß 
man nicht nur Katzenelnbogen und Zubehör begehrt hat, sondern 
auch »andere grafeschaften, herschaften, landschaften, hab und guter, 
sovil und was gedachter landgrave Wilhelm der junger besessen« 
(I 1 S. 85). Trotzdem begnügt sich M. meistens ganz offiziell mit 
dem pars pro toto »Katzenelnbogischer Erbfolgestreit<. Eine klare 
Darstellung des Rechtsstreites wird man danach bei ihm nicht suchen 
dürfen. M. kennt sich zudem in dem thatsächlichen Besitz der 
Dillenburger nicht recht aus, wie er denn z. B. meint, Graf Wilhelm 
habe, und zwar als hessisches Lehen, Driedorf besessen (I 1 S. 166 
Anm. 88) '). Ä 

Vom dritten Kapitel der Darstellung an machen wir nun weiter 
die Beobachtung, daß der enge Zusammenhang des nassauischen 
Handels mit Fragen der hohen Politik das Interesse des Bearbeiters 
immer mehr von der Untersuchung des Rechtsstreites ab und zur 
Darstellung der allgemeinen politischen Entwicklung hinüber gelenkt 
hat. Wir erleben eine förmliche Absage an die »Correspondenzen 
und Akten über diesen Prozef<, die »zu Marburg und Wiesbaden in 
großem Umfang vorhanden< sind, und die der Bearbeiter nicht aus- 
schöpfen will”). Immer energischer wirft dieser sich, zur »klaren 
Durchführung dieser ohnehin so verwickelten Erbfolgefrage<, auf 
das politische Gebiet (I 1 S. 77). Dabei ist er, wohl durch den 
Gang seiner Studien verführt, in einen nahe liegenden, aber schwe- 
ren Irrtum geraten. Er sah, wie der nassauische Handel auf Schritt 
und Tritt mit großen Zeitereignissen sich berührte; das brachte M. 
zu bedenklichen Verwechslungen von Ursache und Wirkung; in 
Fällen, wo die politische Gesamtlage entscheidend eingewirkt hat auf 
den Fortgang des nassauischen Handels, glaubte M., umgekehrt die- 
sem Handel einen bestimmenden Einfluß auf die hohe Politik zu- 
schreiben zu müssen. Er überschätzt die Machtstellung der beiden 
Dillenburger, besonders die des Grafen Heinrich. Er nimmt infolge 
dessen ihre überspannten Ansprüche allzu ernst, glaubt den Land- 
grafen wirklich dauernd der Gefahr ausgesetzt, seiner ganzen Macht- 


1) Vgl. Arnoldi, Gesch. III 1 S. 85, II 2 S. 255. — Nach Arnoldi III 1 
S. 155 Anm. wurde Graf Wilhelm am 21. Aug. 1517 von Hessen mit Herborn 
und Wallenfels belehnt; nach Meinardus I 1 S. 41 war er Mitte Aug. 1518 zur 
Lehnsempfängnis in Marburg. Ist das beides richtig? 

2) Ganz unberücksichtigt bleibt die juristische Litteratur. Vgl. z.B. Re- 
sponsa a diversis conscripta Bd. III, Frankfurt 1589, S. 223 ff. (mit Aktenstücken) ; 
Lauze, Leben Philippi Magnanimi Bd. I S. 425 (über gedruckte Consilia); Wenck, 
Hess. Landesgesch. Bd. I S. 637 Anm. 


494 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


stellung durch die Nassauer beraubt zu werden, und läßt ihn des- 
halb in seiner gesamten, so unendlich vielseitigen, weitspannenden 
Politik fortwährend abhängig sein in erster Linie von jener nassaui- 
schen Gefahr. M. läßt den Landgrafen deshalb auch die von ihm 
beherrschten oder beeinflußten politischen Kreise mit hineinziehen in 
immer stärkere Abhängigkeit vom nassauischen Handel. So gewinnt 
M. aus seinem Katzenelnbogener Gesichtswinkel vielfach ganz neue 
Anschauungen von Personen und Ereignissen der allgemeinen Ge- 
schichte. — Es würde zu umständlich und zu verdrießlich sein, allen 
Irrgängen einer so wunderlichen Construction im einzelnen nachzu- 
spüren. Nur an einigen besonders charakteristischen Punkten soll 
im Folgenden mit über die Gedanken referiert werden, die M. sich 
vom inneren Zusammenhang der Zeitereignisse gemacht hat. 

Indem M. diese Gedanken vorträgt, folgt er nun doch in seinem 
darstellenden Teile zugleich der weiteren Entwicklung des hessisch- 
nassauischen Rechtsstreits, und zwar mit einem Quellenstoff, der 
über den Aktenband nicht nur in der Heranziehung gedruckten 
Materials hinausgreift, sondern auch in Verwertung ungedruck- 
ter Quellen, die ihm leider erst nach dem vorzeitigen Abschluß des 
Aktenbandes zugeströmt sind. Auch in diesen Partieen hat also die 
»Darstellung< unseres Werkes höheren Rang, als jene »noch sehr 
beliebten Einleitungen, welche den Inhalt des hinterher mitgeteilten 
Quellenstoffes mehr oder weniger unvollständig umschreiben, allen- 
falls noch in Einzelheiten Selbständiges bieten< (G. v. Below in der 
Westdtsch. Zeitschr. 19 S.69). Bei M. liegt die Sache manchmal so, 
daß er die Quellen nicht benutzt, die er bringt, und die nicht bringt, 
die er benutzt. Unter diesen Umständen muß ich mich an beide 
Teile des Werks zugleich halten, wenn ich es unternehme, die von 
M. angestellten Forschungen mit einigen Einzelbemerkungen zu be- 
gleiten. 

1. Im Frühjahr 1519 vermutete Landgraf Philipp zum ersten 
male feindlichen Ueberfall durch Graf Heinrich von Nassau. Er be- 
riet sich mit den erbverbriiderten Wettinern. Davon berichtet im 
Aktenbande außer der Nr. 3 (in deren Eingang wohl >» Wir haben« 
zu ergänzen ist) die Anmerkung I 2S. 3f. Leider aber unver- 
ständlich, denn man kann nicht am 21. Mai eine Verabredung auf 
den 7. Mai getroffen haben u.s.w. Doch vermag ich die Confusion 
nicht zu heilen. 

2. Zum folgenden Jahre 1520 überrascht uns M. in der Dar- 
stellung (I 1 S. 54) durch den Gedanken, ob es nicht den Ernesti- 
nern habe zweckmäßig scheinen können, ihre Erbverbrüderung mit 
Hessen damals nicht zu erneuern, — mit Rücksicht auf »den Stand 


Nassau - Oranische Correspondenzen. I. 495 


der Katzenelnbogischen Streitfrage<. Hier kündet sich zuerst die 
oben besprochene Verirrung deutlich an. 

3. In diesem Jahre 1520 kam der nassauische Handel vom 
Kammergericht, wo er seit 1508 gehangen hatte, an den Kaiser; 
Karl verhörte die Parteien 1521 auf dem Reichstag zu Worms. 
Davon handeln die Akten Nr. 24 ff. Aber der jugendliche Landgraf 
von Hessen stritt in Worms nicht nur mit Nassau, sondern auch mit 
Pfalz, mit Mainz, mit Fulda, mit Baden, mit Hanau, mit Sickingen, 
mit Cronberg und mit vielen anderen, nicht zum wenigsten mit sei- 
ner schamlosen Mutter Anna von Mecklenburg, die den 16jahrigen 
Sohn unter Nichtachtung seiner landesherrlichen Stellung in diesem 
kritischen Augenblick mit einem zweifelhaften Privatanspruch vor 
den Kaiser gezogen hatte. Auf Anna beziehen sich in unseren Ak- 
ten Nr. 24 ff. folgende Stellen: S. 22 Z. 12—6 v. u., S. 25 Z. 8—25, 
S. 26 Z. 5—7, Z. 18—19, S. 27 Z. 1—2, Z. 6—7, Z. 27—28, Anm. 
Z. 3,8. 28 Z. 1v.u.D). M. hat diese Stellen rätselhafter Weise 
auf den nassauischen Handel bezogen. Von einer dieser Stellen 
(S. 25) meint er dann nachträglich (I 1 S. 169 Anm. 160), sie be- 
treffe »die Klage der Gräfin Elisabeth wegen einer vorenthal- 
tenen Erbrente aus dem Zoll zu Boppard<, worauf er ȟberhaupt 
nicht eingegangen, um die Sachlage nicht zu sehr zu ver- 
wickeln« *). 

4. Der Advocat Dr. Henning, mit dessen kürzlich erfolgtem Ab- 
leben sich Landgraf Philipp bei den Wormser Verhandlungen ent- 
schuldigte (I 2 S. 24; vgl. I1 S. 63 >der Rat<!), war Henning 
Gode, gestorben am 21. Jan. 1521 in Wittenberg, jureconsultorum 
facile princeps, wie sein Grabdenkmal in Erfurt, das bekannte Werk 
Peter Vischers, besagt. — Der Kanzler S. 28ff. ist Johann Feige, 
der Hauptmann S. 30 (Z. 3) ist Ritter Friedrich v. Thun, sächsischer 
Bevolimachtigter, nicht auch brandenburgischer, wie das Regest S. 27 
meint; s. S. 29 »bede, hern Fridrichen und N.«. 

5. Nicht im Wortlaut mitgeteilt werden der wichtige nassauisch- 
clevische Vertrag ven 1521 Aug. 21 (vgl. I 1 S. 67 mit Anm. 167; 
Arnoldi, Gesch. III 1 S. 86) und der »simulierte Tausch< der nassau- 
ischen Brüder von 1522 März 29 (vgl. I 1S. 68 mit Anm. 168; 


1) Vgl. Deutsche Reichstagsakten j. R. II S. 811f. — Im nassauischen 
Handel hat nach RTA. II S. 864 Philipp u.a. Febr. 22 u. 23 »Antwort und an- 
dere Einbringung gethan«. 

2) Auch in Nr. 2 hat M. die »gn. Frau v. Hessen«, in deren Gegenwart der 
junge Pbilipp 1518 einen Abgesandten Graf Wilhelms von Nassau empfing, für 
des Absenders Mutter Elisabeth gehalten. Vgl. dazu noch I 1 S. 46 über 
Anna von Braunschweig, angebliche Regentin von Hessen! 


496 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Arnoldi, Gesch. III 1 S. 87 mit Anm... Daß über den clevischen 
Vertrag Landgraf Philipp am 17. Oct. 1521 beim Reichsregiment in 
Nürnberg Beschwerde erhoben hat, erfahren wir jetzt aus der nach 
unserem Werk erschienenen Publikation der Berichte des Hans 
v. der Planitz, S. 12. Im übrigen ist zum J. 1522 zu bemerken, 
daß M. aus einigen ihm bekannt gewordenen Briefen, die der junge 
feurige Landgraf mit den schwerfälligen Ernestinern wechselte, den 
kühnen Schluß zu ziehen scheint, diese hätten Philipp gegen Sickingen 
im Stich lassen wollen mit Rücksicht auf Heinrich von 
von Nassau (s. I 1 S. 73—76). 

6. Ein Hauptereignis im Verlauf des Erbestreites war das Tü- 
binger Urteil der k. Commissare vom 9. Mai 1523 (Nr. 70; übrigens 
schon mehrfach gedruckt, z. B. bei Lünig, Reichsarchiv 22 S. 648). Es 
scheidet in der Darstellung von M. zwei Kapitel: 4. »Vom Wormser 
Compromiß bis zum Tübinger Urteil<; 5. »Bemühungen um die 
Vollstreckung des Tübinger Urteils<. Diese Bemühungen begannen 
mit brieflichen Verhandlungen zwischen Graf Wilhelm und Landgraf 
Philipp. Nach Arnoldi, Gesch. HI 1 S. 92, soll damals Philipp 
schriftlich erklärt haben, »er wolle es bei dem Urteil bewenden lassen 
und demjenigen, so er von rechtswegen zu thun schuldig sei, nunmehr 
geleben<«. Man möchte gern wissen, wie es sich mit dieser Aeuße- 
rung verhält, doch erfährt man darüber bei M. leider nichts (s. I 2 
S. 86 Anm. 1 u. I 2 S. 84, ohne Quellenangabe). 

7. Aktenstücke von entscheidender Bedeutung waren dann wei- 
ter der »Auftrag Karls an seine vorigen Commissarien zur Voll- 
ziehung ihres [Tübinger] Urteils, mit einem gleichmäßigen an Fer- 
dinand als Statthalter des Reichs< von 1523 Oct. 31 Pamplona, Ar- 
noldi IH 1 S. 97. M. kennt nur die dem Landgrafen gleichzeitig 
hiervon gemachte Mitteilung (I 2 S. 106 Anm., I 1 S.88). Dagegen 
gibt er uns (in Nr. 80) ein gleichzeitiges Mandat anderen Inhalts an 
den Landgrafen, das diesem aber gar nicht insinuiert worden zu 
sein scheint. 

8. Am 11. Aug. 1524 empfing der Landgraf ein neues k. Man- 
dat vom 8. Apr. d. J. (Nr. 86), durch das ihm ein neuer Rechtstag 
gesetzt ward (>»Reichstage I 1 S. 103 Z. 1 v.u. ist Druckfehler). 
M. läßt nun im 6. Kapitel seiner Darstellung, betitelt »Ursachen der 
hessisch-sächsischen Waffenerhebung<, den Landgrafen über die durch 
jenes Mandat geschaffene Lage recht einseitig mit Herzog Georg 
von Sachsen beraten, ohne zu merken, daß das Schreiben Phi- 
lipps an Georg vom 18. Aug., das er I 1 S. 103 im Regest gibt, 
wörtliche Uebereinstimmung zeigt mit der Nr. 93 seines Aktenbandes, 
einem gleichzeitigen Schreiben Philipps an Kurfürst Richard 


Nassau -Oranische Correspondenzen. L 497 


von Trier (dessen Datum allerdings falsch aufgelöst ist Aug. 25). 
Der Briefwechsel mit Herzog Georg gibt uns also nur einen Aus- 
schnitt aus den Verhandlungen Philipps. 

9. Das Ergebnis jener breit erzählten Verhandlungen mit Her- 
zog Georg war dann nach M., daß Georg beim besten Willen seinem 
Schwiegersohn nicht helfen konnte ; [denn ?] er war »anderer Ansicht 
über die Gesetzmäßigkeit der neuen k. Commission« (S. 107 oben). 
Dabei sei gleich erwähnt, daß M. eine spätere Aeußerung Georgs 
ernst nimmt und gesperrt druckt: Philipp möge den Grafen von 
Nassau geben, was ihnen vom Kaiser zugesprochen sei (S. 112). Aber 
das war eine im Briefwechsel über die Religionsfrage (1525) in 
gereizter Stimmung hingeworfene unsachliche Aeußerung. Vom 
christlichen Gebot, dem Feinde innerlich zu vergeben, war damals 
die Rede. Philipp blieb denn auch im Rahmen der von ihm (be- 
züglich Georgs und Luthers) angeregten Discussion; er antwortete 
nur, er bitte Gott alle Tage, daß ihm die Gnade werde, solche Ver- 
gebung zu üben (Neues Arch. f. sächs. Gesch. VI S. 127 unten). — 
Als man im J. 1538 den Landgrafen zum Tod des Grafen Heinrich 
hat beglückwünschen wollen, hat er das abgelehnt: »sein todt erfreuet 
uns nichts, dan er hat uns unsers wissens nie ubels oder boses gethan ; 
... die sach, so er und wir mit einander zu thun gehabt, het wol 
durch recht oder gute mugen ... vertragen werden« (Briefwechsel mit 
Bucer IH S. 507). Aber daß Geben seliger sei als Nehmen, be- 
rührte den Landgrafen nicht in seinen landesfürstlichen Pflichten; an 
dieser Einsicht hat ihn auch Bucer nicht irre machen können (Da- 
selbst II S. 172). Ä 

10. Von Herzog Georg war also damals (um 1524) für Philipp 
keine Hülfe im nassauischen Handel zu haben. Philipp, so ist der 
weitere Gedankengang bei M., wußte sich zu helfen: er wandte sich 
wieder den Ernestinern zu. Nun waren diese aber merkwürdige 
Leute. Zwar »die Absicht, das nassauische Haus von ... Katzen- 
elnbogen auszuschließen«, hatte schon im J. 1487 »den Anstoß zur 
Erneuerung< der sächsisch-hessischen Erbverbrüderung gegeben; in 
den Erbvertrag war schon damals »Katzenelnbogen ausdrücklich ein- 
bezogen< worden (I 1 S. 17). Und Philipp, auf dessen 2 Augen das 
Haus Hessen stand, war im J. 1524 ein zarter Jüngling; er blieb 
bis 1527 kinderlos; der Erbfall konnte für Sachsen leicht eintreten. 
»Ein Interesse jedoch an diesem Erbfolgestreit [mit Nassau] für sie 
und das sächsische Haus woliten sie [die Ernestiner] durchaus nicht 
zugeben. [Wie ist das möglich?]. So mußte der Landgraf denn 
auf einem anderen Wege versuchen, ihnen näher zu kommen« (I 1 
S. 107). Da traf es sich, daß eben damals, wie uns M. belehrt, viele 


498 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


deutsche Fürsten, darunter Philipp von Hessen und die Ernestiner 
mit Ausnahme Friedrichs des Weisen, »innerliche Beziehungen zur 
evangelischen Lehre gewonnen« hatten. >Wir dürfen annehmen, daß 
ein großer Teil von ihnen sich eine tiefe innere Ueberzeugung ge- 
bildet hat. Mit Bestimmtheit wissen wir es zwar von keinem; denn 
in die Herzen sieht nur Gott der Herre. Immerhin läßt »beispiels- 
weise< Philipp »eine starke Ueberzeugung, allerdings auch Wand- 
lungen erkennen<. »Man darf aber nie vergessen, daß Fürsten keine 
Privatleute sind ; ihre Handlungen werden durch viele Momente be- 
stimmt, welche sich aus ihrer Gesamtpolitik ergeben<. Philipp von 
Hessen hat »die Volksgunst« erkannt, »welchen Trieben ... und 
Bestimmungen sie folge, und danach hat er gehandelt<. Er ist (ich 
kann M. nicht anders verstehen) .einer der Fürsten, die »die kirch- 
liche, die religiöse Frage ihrer Politik dienstbar machten« (I 1 
S. 109 f.)'). So gewann Philipp die Ernestiner für den nassauischen 
Handel. — Arme deutsche Reformation ! 

11. Herzog Georg dagegen überwarf sich damals ernstlich mit 
dem Landgrafen. »Man wird zugeben<, daß das »mit< auf die Ver- 
größerung der religiösen Gegensätze »zurückzuführen sein Könnte« 
(S. 111). Denn es ist »sgerade als wenn beide Fürsten das Be- 
dürfnis fühlten, sich über die Glaubensfrage einander auszusprechen< 
(S. 110). »Aber eine genügende Erklärung für das schroffe Beneh- 
men des Herzogs, wo es sich in der Hauptsache nur um den Glau- 
benswechsel handelt, ergibt sich daraus nicht<. Die Sache liegt tie- 
fer. Herzog Georg »durchschaute offenbar sehr bald die Ziele und 
Zwecke seines Schwiegersohnes. Weil dieser in seiner Katzen- 
elnbogischen Angelegenheit mehr Förderung von einem An- 
schluß an die Ernestiner erwartete, deshalb wandte er sich von ihm 
ab« (S. 111). Damit wird die deutsche Reformationsgeschichte auf 
eine neue Grundlage gestellt. 

12. Es kam zum Gotha-Torgauer Bund. Der nassauische Han- 
del erhielt ein anderes Aussehen. Erzherzog Ferdinand soll 
folgenden »Gedankengang< gehabt haben: »wenn der ... Bund auch 
nur zur Verteidigung ... des Glaubens errichtet ist, so wird es ... 
einem Politiker, wie der Landgraf es ist, nicht schwer werden, für 
einen gewaltsamen Ueberzug seines Landes wegen Katzeneln- 
bogen eine Erklärung auf religidsem Gebiet zu suchen<. Die 
Dillenburger aber hofften auf den Kaiser. »So drängten sie zu dem 


1) Später geschah es, daß »selbste die Wetterauer Grafen, mit ihnen Wil- 
helm von Nassau, »sich veranlaßt sahen, für das Luthertum ... Partei zu er- 
greifen. Was sie dazu nötigte, war ein sehr reales Moment: ihre üble Lage, 
der Geldmangel« (I 1 S. 157). 


Nassau-Oranische Correspondenzen. I. 499 


Conflikt hin, den Philipp von Hessen herbeizuführen wußte« (I 1 
S. 115£.). Graf Wilhelm setzte dem Landgrafen im Aug. 1526 auf 
dem Reichstag zu Speyer hart zu'); er suchte den sächsischen Für- 
sten Philipps Gesinnungen zu verdächtigen. Um sich etwaigem »Zu- 
reden des Kurfürsten von Sachsen zur Einigung mit Nassau«< 
zu entziehen, ritt Philipp in der Nacht hinweg (S. 116f.). >»Hier- 
durch wird die bisher unerklärt gebliebene plötzliche Ab- 
reise Philipps verständlich. Vgl. Friedensburg, Speier S. 460« 
(S. 172 Anm. 305). Als wirklich etwas Positives? Antwort: gerade 
Friedensburg ist es, der den Landgrafen aus Speyer fortgetrieben 
werden läßt zwar nicht durch den nassauischen Handel allein‘, wohl 
aber durch eine ganze Reihe von »Privatsachen, die sich von ver- 
schiedenen Seiten an den jungen Fürsten hängten«, nämlich seine 
Angelegenheiten 1) mit dem Schwäbischen Bund, 2) mit Nassau, 
3) mit Sickingens Erben, 4) mit dem Coadjutor von Fulda. Das 
Neue bei M. ist also nur die grandiose Einseitigkeit seiner 
»Auffassung« (wie man eine derartige Willkürlichkeit ja wohl nennen 
muß). 

13. Der dunkelste Punkt des ganzen Werkes sind die Phanta- 
sieen über »die bisher sogenannten Packschen Handel< (so S. 121 
unten). Daß diese Händel durch die Person Packs mit dem hes- 
sisch-nassauischen Rechtsstreit, mit dem eigentlichen Prozeß, 
zusammenhängen, ist bekannt. Denn Pack war, wie andere Räte der 
Wettiner, mit in diesem Rechtsstreit thatig. Ganz etwas anderes 
aber, als dieser persönliche Zusammenhang, ist der sachliche 
Zusammenhang der Packschen Händel mit der weltbewegenden 
»Katzenelnbogischen Frage« ; ein Zusammenhang, den M. entdeckt 
haben will, nachdem es ihm angeblich gelungen ist, jene Händel — 
rendgiltig<, heißt es Litt. Centralbl. 1899 Sp. 815 und N. Arch. f. sachs. 
Gesch. 21 S. 180 — als hessische Machenschaft zu enthüllen, d.h. 
den Landgrafen Philipp nun doch wieder als Fälscher zu entlarven. 
Zwei Sätze fassen das Gesamtergebnis von M. zusammen. »Ueber 
allen Zweifel klar erwiesen wird ... die wahre Ursache der hessisch- 
sächsischen Waffenerhebung; sie galt der Katzenelnbogi- 
schen Frage« (S. 123). »In seiner großen Bedrängnis um das 
Erbe seiner Väter und in Besorgnis vor unbestimmt drohenden Ge- 
fahren ließ Philipp eine falsche Bündnisurkunde anfertigen, um . 


1) Daß das Aktenstück, dessen Anzeige die Nr. 122 bildet, bei Rommel, 
Urkb. zur Gesch. Philipps, gedruckt sei, ist irrig. Ergänzung der Nr. 122 bei 
Friedensburg, Reichstag zu Speier S. 84 u. 89. — Aus Nürnberg schrieb man 
am 6. Aug. 1526, Landgraf Philipp plane eine Sendung zu Graf Heinrich nach 
Italien ; Friedensburg S. 460 Anm. 


500 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


den k. Staatsmännern Verlegenheiten zu bereiten, infolge deren sie 
gezwungen werden sollten, seine und seines Bundesgenossen Hülfe 
zu erkaufen; der Kaufpreis war die Grafschaft Katzen- 
elnbogen« (S. 127). — Von dem Beweis der Fälschung durch 
Philipp wird alles andere abhängen; denn wenn er nicht gelingt, 
wenn es dabei bleibt, daß Philipp nicht Betrüger, sondern Betroge- 
ner war, so bleibt es auch bei den bisherigen »wahren Ursachen« 
seiner Waffenerhebung. Jenen Beweis also gilt es zu prüfen. 
»Nach dem bisher vorhandenen Quellenmaterial sprechen aller- 
dings die meisten Gründe ... gegen die Schuld des Landgrafen« 
(S. 124). Aber, so müssen wir die Beweisführung von M., schon 
ehe sie beginnt, ergänzen, diese Gründe brauchen nicht alle wider- 
legt zu werden, sondern nur einer von ihnen. Dieser eine, »der 
Hauptgrund«, ist der, >daß in dieser Sache die ganze Initiative der 
ersten Annäherung von Pack ausgegangen sei«. Dieser Grund »fällt 
fort< (S. 126). Denn, das ist die großartige Erweiterung des bis- 
herigen Quellenmaterials: im Briefwechsel Philipps mit den erbver- 
brüderten Wettinern »bezüglich des Prozeßganges< findet sich ein 
Schreiben vom 2. Febr. 1528, in welchem Philipp den Herzog Georg 
unter anderem bittet: »e. 2. wolle uns derselbigen diner doctor Packen 
uf allererst als muglich widerumb zuschicken, ... das er neben 
unsern doctorn den handel helf fleissig beratschlagen, wie er dan zu 
thun wol weiss<; »und das das uffs forderlichst gesche, wan es 
kont mir gar balt ettwas drin vorsehen werden, das darnach mit grosser 
erbeit nit erlangt kont werden« (Nr. 144). Diese Worte stürzen Phi- 
lipp ins Verderben. Man könnte sie »höchstens so erklären, daß 
der Landgraf vielleicht noch nicht wußte, daß der auf den 
22. März angesetzte Rechtstag [zu Tübingen] bis zum Herbst ver- 
schoben werden solle [!]; und daß dann allerdings, wenn schon im 
März getagt wurde, eine schleunige Vorberatung der sächsischen 
Räte nötig war, wenn sie noch bis zum 22. März in Tübingen an- 
wesend sein sollten. [Und versäumen durfte man den Tag nicht, 
denn die k. Commissarien wollten auf ihm ein »endgiltiges« Urteil 
fällen, I 2 S. 207 Anmerkung.] Aber auch auf andere Weise läßt 
sich diese Eile Philipps deuten; er mußte ... eine vollzogene That- 
sache schaffen, die Waffenerhebung mußte bis zum Früh- 
jahr perfect geworden sein«< (I 1 S. 125£.). Bildet man sich 
nun ein, man habe gesagt, jene unheimlichen Worte »allererst< und 
sforderlichst< ließen sich aus dem >Prozefgang< überhaupt nicht 
erklären (oben hieß es »höchstens« u.s. w.), und bildet man sich 
ferner ein, man habe nicht gesagt, »auch auf andere Weise<, son- 
dern >nur auf andere Weise«, und zwar nur auf die eine bestimmte 


Nassau -Oranische Correspondenzen. If. 501 


andere Weise lasse sich die »Eile Philipps deuten<, so ist der Be- 
weis wohl ziemlich fertig, >daß Landgraf Philipp, nicht Pack, der 
Erfinder des Bündnisvertrages« gewesen ist (S. 126). — Nun ist aber 
der Aufschub des Gerichts erst am 24. Januar von nassauischer 
Seite brieflich erbeten und am 1. Februar durch den Bischof von 
Augsburg bewilligt worden (I 2 S. 207 Anmerkung, wo irrtümlich 
sogar >29. Februar< aufgelöst wird). Also konnte Philipp am 
2. Februar von dem Aufschub nichts wissen. Damit fällt der ganze 
ohnehin auf schwachen Füßen stehende Beweis zusammen. 

Doch ist noch ein Zusatz zu erledigen (S. 126f.). M. macht 
darauf aufmerksam, daß nachher im Fortgang des Prozesses der 
Landgraf, als er Dez. 1531 Anlaß nahm, den bisherigen Verlauf der 
ganzen Streitsache zu rekapitulieren, ausdrücklich gesagt habe, er 
sei seinerzeit durch Zurückweisung seiner Appellationen gedrungen 
worden, sich in Gegenwehr zu setzen. Aus diesem »Hinweis 
auf die Jahre 1526 und 1527< folgt für M. der Satz: »wirklich hat 
Philipp selbst später auf indirektem Wege seine Initiative zuge- 
standen<. Gemeint scheint die >Initiative der ersten Annäherung« 
an Pack in Sachen des Breslauer Bündnisses. Auf noch indirekterem 
Wege käme man dann wohl wiederum zur Fälschung durch Philipp 
im Jahre 1523? Wir brauchen uns nicht damit aufzuhalten, weitere 
Folgerungen zu erraten; denn die »Gegenwebr< selbst war nicht, 
wie M. zu meinen scheint, eine militärische, sondern eine pro- 
zessuale. Philipp hat Ende 1531 mehrere Rekapitulationen des 
Prozeßverlaufs gegeben; wir brauchen nur zwei Parallelstellen zu 
vergleichen, so ergibt sich der Sinn der »Gegenwehr« mit Sicher- 
heit. Dem Kaiser schrieb Philipp Dec. 7 (Nr. 206): alle Instanzen, 
an die ich appellierte, hatten mir erklärt, »das inen die handt desfalls 
verschlossen weren<; »solt ich nun nicht grosser beschwerung erwarten, 
habich mussenfurfarn, doch mit protestacion, das ich solichs nicht 
thu, die richter zu verwilligen« ; »ın solchem process abermals urteil 
gefallen< u.s.w. (I 2 S. 289f.). Dem Herzog Georg aber schrieb 
Philipp Dec. 10 (Nr. 207): wir haben überall vergeblich appelliert, 
wie denn auch dem Kammergericht !) »die hand verschlossen gewesen« ; 
»und [haben!] also gedrungen [kein Komma!] uns in jegenwehr, 
y.. doch mit vorgeender protestacion, dadurch solichen gerichtsewang 
nicht zu erstrecken, begeben<; »daruf dan die richter weiter fur- 
gefaren, urtheil gesprochen« u.s.w. (I 2 S. 293)?). Also: da Philipps 


1) Ueber die Appellation beim Kammergericht s. Lauze I S. 424. 

2) Philipps gedruckte »Recusationschrifft« von 1531 Aug. 2. geht davon aus, 
daß ihm »rechtmessige defension, schutzreden, ursachen, exception unnd gegen- 
were« verworfen worden. 


502 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Appellationen nicht angenommen wurden, blieb der Prozeß unge- 
stört, und Philipp mußte, wenn er auch gegen die Richter prote- 
stierte, doch des Gerichtes weiter warten (/urfarn, sich in jegenwehr 
begeben). Grund: Verhütung eines Kontumazialverfahrens 
(S. 293 »uf das in ungehorsam weiter beschwerlichs gegen uns 
nicht gehandelt, als on zweifel vorhanden gewest<; S. 290 >»grossern 
unrath und verlust meiner guter zu verhuten«). 

Ich muß nach alle dem den Versuch, die früber von ultramon- 
taner Seite gegen Philipp erhobene Anklage der Fälschung zu er- 
neuen, als ein leichtfertiges Unternehmen bezeichnen. Der frühere 
Ankläger, Stephan Ehses, hat im eigenen Lager Widerspruch ge- 
funden und ist selbst zuletzt ganz kleinlaut geworden (vgl. Ehses, 
Philipp und Pack S. VI u. 162, VIII unten u. 163). Diesem Sach- 
verhalt entspricht es, daß jetzt im Histor. Jahrbuch 21 S. 152 über 
das Buch von Meinardus nur vorsichtig gesagt wird, die »Streit- 
frage« werde »wieder neu aufgerollt«, einen Beleg für seine Auf- 
fassung >finde< der Verf. in Nr. 207 [jegenwehr!). — Es gibt 
freilich auch andere Stimmen. In den Histor.-polit. Blättern 104 
S. 189 liest man: »Was für ein Mensch war doch auch dieser Phi- 
lipp! ... heimtiickisch und lügnerisch, treulos, ein Wollüstling und 
ein höchst gewaltthätiger Fürst ... In wenig mehr als 3 Jahren 
bekannte sich Philipp zu 3 verschiedenen Religionen. Eine »Auf- 
fassung<, an der man wenigstens das rühmen muß, daß sie Hand 
und Fuß hat. Dazu paßt dann auch die Fälschung und das schur- 
kenhafte Benehmen Philipps gegen Pack, an das M. glaubt. Was 
dagegen M. selbst an anderen Stellen seines Buches seinen Quel- 
len, alten und neuen, über unseren Helden ehrlich nacherzählt, das 
paßt zu solchen Schurkereien nicht. Und am wenigsten paßt 
dazu der Hymnus auf Philipp, mit dem dann M. späterhin doch 
wieder seine geistreichen Betrachtungen so harmlos schließt, als 
habe er seine Entdeckungen über die wahren Ursachen der deut- 
schen Reformation und die wahren Pläne und Ziele des hessischen 
Landgrafen gar nicht gemacht: »größer noch als bisher erscheint 
uns seine Gestalt unter den deutschen Fiirsten<; Philipp »ist und 
bleibt der Retter des deutschen Protestantismus< (I 1 S. 161). Ich 
glaube deshalb, M. damit entschuldigen zu dürfen, daß er sich der 
Schwere seiner Anklagen gegen Philipp nicht bewußt gewesen ist. 

14. Anfang Juni 1528 hat Philipp gegenüber dem k. Vice- 
kanzler Balthasar Merklin, Propst von Waldkirch, sich bereit erklärt, 
mit den Truppen, die er nun doch einmal auf den Beinen hatte, 
eventuell auch dem Kaiser eine Hülfe zu leisten, und dabei hat er 
den Vorschlag angedeutet, es durch solche künftige Unterstützung 


Nassau -Oranische Correspondenzen. 1. | 508 


des Kaisers zu »verdienen«, daß der Kaiser den Grafen von 
Nassau für ihre Erbansprüche an Katzenelnbogen »etwas anderes 
gebe« (I 2 S. 232, vgl. I1 S. 123 u. 132)'). Eine Ursache der 
vorausgegangenen »hessisch-sachsischen Waffenerhebung< läßt sich 
aus diesem Zukunftsplan nicht ableiten. Denn erhoben worden 
waren die Waffen bekanntlich nicht für den Kaiser. 

15. Inmitten der Erörterungen über die bisher sogenannten 
Packschen Händel, und was damit zusammenhängt, gelangt die Dar- 
stellung von M. zum 7. Kapitel, dem sich dann noch eine »Schluß- 
betrachtung« anschließt. »Der Sieg des Landgrafen« ist fortan bis 
zum Ende das Thema, für die politischen Ereignisse wie für den 
Fortgang des Rechtsstreites. Die Auffassungen vom Zusammenhang 
der Dinge, die M. hier weiterhin entwickelt, kann ich nun wohl auf 
sich beruhen lassen. Aber zu den Thatsachen, die M. in Text und 
Aktenstücken fortan berührt, möchte ich doch noch einige Berichti- 
gungen und Ergänzungen hinzufügen. Das nächste, was mir auf- 
fällt, ist, daß die Unterhandlungen der evangelischen Reichsstände 
mit dem Kaiser, die im Herbst 1529 in Italien stattfanden, von M. 
mit herbeigezogen werden, aber doch ohne genügende Kenntnis. Das 
Empfehlungsschreiben, das die Stände ihren Abgesandten für Graf 
Heinrich wie für andere k. Hofdiener mitgegeben hatten (Nr. 169), 
wird hier nicht zum erstenmal gedruckt; es lag bereits vor bei Neu- 
decker, Urkunden a. d. Reformationszeit S. 87, und zwar in einer 
ganzen Reihe zusammengehöriger Stücke, deren Lektüre M. unter 
anderem vor dem Irrtum bewahrt haben würde, als sei die Gesandt- 
schaft erst im October am k. Hofe angelangt (I 1 S. 138). Sie 
ist vielmehr am 7. September nach Piacenza gekommen und 
hat am 12. Sept. Audienz gehabt (Neudecker S. 143). Graf Heinrich 
und Alex. Schweis (den M. doch sonst so sehr auszeichnet, vgl. z.B. 
Nr. 75, Nr. 129, Nr. 150) hatten diese Audienz vermittelt, >und 
Heinrichs Vorsprache hatten es wohl die Gesandten zu verdanken, 
daß sie Ende Oct. des Arrestes wieder entlassen wurden, den sie 
sich durch Ueberreichung der Appellation gegen den letzten Speyerer 


1) Der Bericht des Propstes an Graf Wilhelm, Nr. 157, gehört zu den wert- 
vollsten Stücken der Sammlung. Der Propst traf den Landgrafen zu Schmal- 
kalden (also Anfang Juni), in großer Kriegsrüstung mit trefflichem Geschütz, 
»desgleichen ich fur einen fursten im reich nit gesehen«. Der Propst erzählt: als 
ch mit harten Worten an ihn setzte, >hub er an mit geschickten worten und 
sagt mir ein sermon, als ob er 50 jar alt were« [er stand im vierundzwanzig- 
sten!]; er zeigte »bet 16 oder 20« eigenhändig aufgesetzte Artikel vor, warum er 
das Kriegsvolk zusammengebracht; nur einer dieser 16 bis 20, freilich der 
»principalste«, war das angebliche Breslauer Bündnis. 


604 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Reichsabschied zugezogen hatten« (Arnoldi, Gesch. III 2 S. 268). 
Erst wenn man das weiß, kann man Heinrichs Schreiben vom 30. Oct. 
(Nr. 185) in seinem Hauptteil verstehen. Mit Michael von Kaden 
dagegen, der auf dem Hinweg krank in Genua zurückgeblieben war, 
hatte es seine besondere Bewandtnis. — Nr. 196 ist bereits gedruckt 
Analecta Hassiaca XII S. 420. 

16. Daß bei der Erörterung des Rechtsstreits auf dem Reichs- 
tag zu Augsburg 1530 von »den beidene k. Commissaren die 
Rede ist, »denen man Herzog Heinrich d. J. von Braunschweig zu- 
gesellte< (I 1 S. 140, vgl. S. 144), erklärt sich wohl daraus, daß 
Bischof Hugo von Konstanz, der 1522 an die Stelle des Bischofs 
Georg von Bamberg gekommen war (s. I2S.73 Anmerkung), 
1529 von seinem Bistum abtrat. Der wiederholte Wechsel der Com- 
missare wird überhaupt bei M. wenig klar. — Mit keinem Wort er- 
wähnt M. das in Augsburg 1530 erreichte Resultat der »Punkta- 
tion< vom 13. Aug., worüber Arnoldi, Gesch. HI 1 S. 107 berichtet. 

17. Beim Jahre 1531 interessiert sich M. für einen Auftrag, 
den Kaiser Karl am 16. Juli den Grafen Wilhelm von Nassau und 
Wilhelm von Neuenar erteilt hat; aber die Notiz darüber (Nr. 200) 
ist recht unvollständig und ungenau. Die deutsche Ausfertigung der 
Instruction, auf die M. aufmerksam macht, liegt längst gedruckt vor, 
Allg. histor. Archiv, hg. v. Dippold u. Koethe (1. Bd., 1811) S. 296; 
ebendaselbst S. 306 der Bericht der beiden Grafen vom 1. Sept. 
Der Text der Instruction bei Lanz, Correspondenz Karls Bd. I S. 512, 
ist nicht lateinisch, sondern französisch. Die Sendung der Grafen 
erfolgte offiziell >»in Sachen des h. Glaubens und gemeinen Friedens« 
(M. gibt gar keinen Zweck an), und sie ging nicht nur zu Kur- 
sachsen, sondern auch zu »anderen«, besonders zu Kurpfalz. Vgl. 
bei Lanz a.a.O. die zugehörigen Aktenstücke S. 510, 516, 518 und 
518 (der Bericht vom 1. Sept. hier S. 523). Zum nassauischen Han- 
del aber hätte M. diesmal in der That eine Brücke schlagen kön- 
nen; man erfährt nämlich in der »Politischen Correspondenz der 
Stadt Straßburg« II S. 55 ff, daß am 6. Aug. 1531 (als die beiden 
Grafen in Heidelberg waren, Lanz S. 518) die Straßburger Dreizehn 
ihrem hessischen Bundesgenossen »über Aufträge Nassaus an den 
Kurfürsten von Sachsen< vertrauliche Mitteilung machten; wie dann 
am 16. Aug. auch Capito gegenüber Zwingli Befürchtungen äußerte. 

18. Etwas später entwickelte sich folgender Briefwechsel. Am 
29. Oct. schrieb Philipp ähnlich wie an Herzog Georg (davon er- 
fahren wir gelegentlich bei M., I 2 S. 291 Anmerkung) an Straß- 
burg und an Zürich: er fürchte Ueberfall durch kaiserliche Truppen 
unter Heinrich von Nassau, unter Vorwand seines Zwists mit die- 


Nassau -Oranische Correspondenzen. I. 505 


sem (Pol. Corr. v. Straßb. II S. 72). Straßburg antwortete am 
11. Nov., >in der ganzen nassauischen Sache sei ja noch kein Urteil 
oder Deklaration ergangen, womit Heinrich seinen Angriff recht- 
fertigen kénnte<; die Stadt stehe aber, wenn es nötig werde, zu 
Dienst (Daselbst S. 79). Damit kreuzte sich ein neuer Brief Philipps 
an die Dreizehn vom 9. Nov. aus Sababurg: Philipp vernimmt, daß 
die kaiserlichen Rüstungen aufhören und stellt deshalb auch die eige- 
nen wieder ab (Daselbst S. 78). Am 26. Dec. 1531 hat Philipp 
dann auch an Straßburg einen Bericht über den bisherigen Verlauf 
des »Streits über die Erbschaft Landgraf Wilhelms IIl.< gesandt, 
mit Protest gegen »>das unerhörte Vorgehen des Kaisers« und 
Mitteilung von seiner Recusation der Richter’) (Daselbst II S. 181, 
irrtümlich bei 1532). 

19. Während die ‚Darstellung« unseres Buches jetzt allmählich 
versiegt?), führen uns die Akten noch einige Jahre weiter. — Nr. 
257 ff. handeln von einer neuen Sendung der Grafen Wilhelm von 
Nassau und Wilhelm von Neuenar zu verschiedenen Reichsfürsten, 
Anfang 1535. Aber diese Aktenstücke entbehren des Reizes der 
Neuheit; Arnoldi hat sie in dem schon genannten Allg. hist. Archiv 
von Dippold und Koethe in noch weiterem Umfang veröffentlicht, als 
M. dies jetzt thut*). Das Creditiv von Jan. 4 (Nr. 257) erwähnt 
Arnoldi S. 290 und nennt den Beglaubigten > Gottschalk Frick<, was 
mir mehr einleuchtet, als das »Gotscalk Erick« bei M. Vollmacht 
(nicht »Creditif<!) und Schadlosbrief der Königin Maria für die Gra- 
fen von Jan. 28 (I 2 S. 335 Anm. 3) bringt Arnoldi S. 320 und 
S. 321. Den Nrr. 258—260 (I 2 S. 335—343) entspricht bei Ar- 
noldi a.a. 0. S. 322—338. | 

20. Nr. 271ff. betreffen die Aufnahme Graf Wilhelms in den 
Schmalkaldischen Bund. Was hier geboten wird, läßt sich mehrfach 
ergänzen und berichtigen. Die Aufnahme-Urkunde von 1535 Dec. 24 


1) Vgl. die oben besprochenen Nrr. 206 u. 207 in der Sammlung von M.; 
Nr. 206 ist übrigens lateinisch auch bei Lanz, Correspondenz Karls Bd. I. 8. 624 
gedruckt. Das gedruckte Recusationslibell (v. Dommer, Drucke aus Marburg 
Nr. 40a) scheint M. überhaupt gar nicht zu kennen, s. I 2 8. 299 Anm. — In 
der Pol. Corr. v. Straßb. vgl. weiterhin II S. 175 (Philipp an die Dreizehn über 
Graf Heinrich und sein Kriegsvolk 1532 Nov. 7). 

2) M. motiviert das I 1 S. 159 mit den nicht recht verständlichen Worten: 
»Auf Einzelheiten hier einzugehen, würde mit unserer Aufgabe im Widerspruch 
stehen«. 

8) Auch Nr. 189 und Nr. 228 sind a.a.0. S. 291 und S. 815 schon vorweg- 
genommen. Der ältere Abdruck ist meistens der vollständigere; so bricht z. B, 
Nr. 228 mitten im Text der Vorlage ab, ohne daß das angedeutet wird. 

Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 34 


506 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


(Nr. 273 nach Abschr.) befindet sich im Straßb. Stadtarch. in Aus- 
fertigung mit Siegeln von Sachsen, Braunschweig, Anhalt, Straßburg, 
Ulm, Magdeburg und Bremen (Polit. Corresp. d. St. Straßb. II S. 358 
Anm. 1). Der entsprechende Revers Graf Wilhelms (I 2 S. 386 Anm., 
I1 S.176 Anm. 440) ist bei Groen van Prinsterer, Archives de la maison 
d’Orange, Suppl. S. 2* nach der Ausfertigung gedruckt mit dem Da- 
tum 1536 Jan. 10. Der Protest, der auf dem damaligen Bundestag 
zu Schmalkalden im Namen Landgraf Philipps eingelegt ward 
(Nr. 271), wird von M. datiert »1535 Dec. 6<; aber der Protest 
bezieht sich wiederholt ganz klar und deutlich auf den allgemeinen 
Abschied des Tages, von 1535 Dec. 24 (gedr. Pol. Corr. v. Straßb. 
II S. 321). Dagegen gehört Nr. 272 jedenfalls vor Dec. 6. — Zur 
Weiterverhandlung der Angelegenheit in Frankfurt 1536 (Nr. 284) 
ist zu vergleichen Pol. Corr. II S. 358 oben, 362 unten, 364 oben, 
363, 363 f. Anm. 

21. Graf Wilhelm setzte jetzt seine Hoffnungen hauptsächlich 
auf den Kurfürsten von Sachsen. Da ist es nun ein Mißgeschick 
für M., daß ihm der wichtige Brief entgangen ist, den der Graf dem 
Kurfürsten am 30. Juni 1536 geschrieben hat, und der bei Groen 
van Prinsterer, Suppl. S. 4* gedruckt steht. Der Kurfürst beant- 
wortete diesen Brief und einen ergänzenden vom 3. Juli (Nr. 286) 
zusammen am 16. Juli. Von dieser Antwort gibt M. wenigstens 
einen Auszug (Nr. 288 nach »Abschr. des Concepts<), vollständig 
gedruckt steht sie (sie ist sehr ausführlich) bei Groen a.a.O. S. 6* 
—12* nach der Ausfertigung mit eigenhändigen Randbemerkungen 
des Empfängers). 

22. Der Landgraf hielt als klarer Kopf daran fest, mit dem 
politischen Gegner, auch wenn er gleicher Confession war, nicht in 
irgend welcher »Einung< sein zu können. Davon handelt I 2 S. 374 
Anmerkung und zugehörig Nr. 287. Was es aber heißen soll, daß 
Philipp einen Brief vom 7. Juli 1536 >»im Sinne des Kanzlers« be- 
antwortet habe, »aber schon< am 14. Juli, ist mir dunkel geblieben. 
Und wenn der hessische Kanzler am 14. Juli auf Friedewald war, war 
er schwerlich am 15. in Battenberg. Dies Ortsdatum von Nr. 287 wird 
»Rottenberg< zu lesen sein, und das bedeutet »doch wohl« auch 
hier die gute Stadt Rotenburg a.d. Fulda (nicht etwa einen »Flecken 
Rodenberg«, vgl. I 2 S. 427 und I 1 S. 171 Anm. 254). 

23. Graf Heinrich hat im Jahre 1536 noch einmal den aben- 


1) Man sieht hier u.a., daß bei M. I 2 S. 375 Z. 11 v.u. gelesen werden 
muß: »so es bei uns gesucht und mit ichte [d.h. etwas] an [d. h. ohne] unsern 
schaden hetie sein mugen«. 


Nassau - Oranische Correspondenzen. I. 507 


teuerlichen Plan gehegt, Gewalt gegen den Landgrafen zu versuchen 
(I 1 S. 147 u. 161). Da ist es nicht ohne Interesse, zu sehen, daß 
Philipp von der Gefahr unterrichtet war. Am 13. August schrieb er 
den Straßburger Dreizehn: er werde gewarnt, daß Heinrich und 
andere entschlossen seien, nach dem jetzigen kaiserlichen Zuge mit 
Bewilligung des Kaisers ihn anzugreifen. Philipp bat des- 
halb, die Straßburger möchten ihrerseits einen Kundschafter in Hein- 
richs Lager schicken (Pol. Corr. v. Straßb. II S. 384). 

24. Zwischen Graf Wilhelm und dem Landgrafen unterhandelte 
inzwischen Graf Philipp von Solms; schon seit spätestens Juni 1536, 
wie M. auch ohne direkte Kenntnis jenes Briefes von Juni 30 wohl 
hätte merken können. Der erste Bescheid des Landgrafen, über den 
Graf Wilhelm seinem Bruder am 17. Aug. Bericht erstattete (Nr. 293), 
wird von M. mit Unrecht für den zweiten Bescheid gehalten, den der 
Landgraf erst am 24. Aug. erteilt hat (Nr. 295). Der Fall aber, 
»daß der Landgraf nicht mit Mannserben gesegnet würde« (Regest 
I 2 S. 383), kann damals 1536 nicht mehr erwogen worden sein, 
denn Landgraf Wilhelm IV. ist 1532 geboren. — Wie bruchstück- 
haft übrigens unsere Kenntnis von den Verhandlungen dieser Jahre 
bleibt, sieht man so recht in dem unverständlichen zweiten Absatz 
von Nr. 300. 

25. Die Handlung in der nassauischen Sache zu Schmalkalden 
1537, von der in Nr. 308 die Rede ist, fand bei Gelegenheit des 
neuen Schmalkaldischen Bundestages statt, siehe Pol. Corr. v. Straßb. 
II S. 414 ff. (Ankunft des Landgrafen Febr. 8, S. 415; Besiegelung 
des Abschieds März 6, S. 428; über Wilhelm von Nassau S. 422 un- 
ten). Der dabei beteiligte »Ritter< ist nicht Malsburg, sondern 
Sturm. — Von der in Nr. 309 erwähnten Handlung zu Wetzlar 1537 
erfahren wir näheres bei Arnoldi, Gesch. III 1 S. 113£. 

26. Graf Wilhelm war in diesen Jahren vor allem durch die 
zunehmende Hartnäckigkeit seines vielfältig enttäuschten Bruders 
gehemmt; sein Freund Wilhelm von Neuenar beklagte mit Recht 
Graf Heinrichs >20 hart halten in dieser sachen« (Nr. 320). Nr. 311 
freilich ist (was das Regest nicht erkennen läßt) nur ein ostensibeles 
Schreiben, das ergibt sich aus der Nachschrift, zu deren Erläuterung 
der Bericht des nassauischen Sekretärs Knüttel dient, der in Nr. 310 mit 
untergesteckt ist; »Meister Wilhelm< S. 401f. und der »Diener Graf 
Wilhelms« S. 403 sind natürlich mit »Wilhelm Kniittel< S. 398 ff. 
identisch.” Auf die Bredaer Verhandlung 1537 Juli 30 ff. zwischen 
Heinrich, Neuenar und den Sekretären Zimmermann und Knüttel be- 
zieht sich auch Nr. 316, statt »[Anfang Febr. 1538]< zu datieren 
»[Aug. 1537]«, vgl. S. 402 oben (Coburg). 


508 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


— Im Sept. 1538 ist Graf Heinrich gestorben, ohne gegen Phi- 
lipp irgend etwas erreicht zu haben. Damit schließt M. vorläufig 
ab. — Die eine Thatsache hat M. klar erkannt (und das entschuldigt 
vieles in seiner Sammlung wie in seiner Darstellung), daß der von 
ihm erörterte Erbestreit ganz vorwiegend eine politische Angelegen- 
heit gewesen ist. Man kann wohl sagen: juristisch betrachtet war 
der langlebige, zwischen den verschiedensten Instanzen hin und her 
gezerrte, bald hitzig, bald schläfrig, von vielfach wechselndem Inter- 
essentenkreis betriebene, bald staatsrechtlich, bald privatrechtlich, 
deutsch und römisch behandelte Streit einfach ein Monstrum. Graf 
Wilhelm schrieb 1533, er habe mit den Doktoren geredet ; »die wickeln 
die sach durcheinander nach irem stil so dunkel, das ich, was gewislich 
zu thun sein wil, nit von inen abnemen mag« (Nr. 236), und Graf 
Heinrich schrieb 1536, es sei zu vermuten, »wo wir uns nit selbst 
bef furthelfen, als die advocaten itzo etliche und dreissig jar gethan 
haben, daz nit vile aus unser sach erfolgen werde« (Nr. 297). Der 
Prozeß ging eben »andere weg, die bei den gelerten nit zu finden« 
(Nr. 234). Die Brüder von Nassau konnten sich darüber nicht be- 
klagen ; sie waren es, die gerade diese anderen Wege mit vollem 
Bewußtsein zuerst eingeschlagen hatten, wie M. sehr richtig betont 
(I 18. 35). In der Blütezeit ihrer Hoffnungen (um 1520) bauten 
die Brüder auf die Gunst des neuen Kaisers und die persönliche 
Stellung Heinrichs an dessen Hofe, auf die Wirren im Hessenlande 
und die schwierige Lage ihres jugendlichen fürstlichen Gegners. 
Aber »Karl V. war niemals abhängig von seinen Ratgebern< (E. Bran- 
denburg, Moritz von Sachsen I S. 96), und Landgraf Philipp saß 
gar bald fest im Sattel und wurde ein Führer der deutschen Nation, 
mit dem der kluge römische Kaiser politisch rechnen mußte, es 
mochte ihm lieb oder leid sein. So zerrannen die Aussichten der 
Nassauer in nichts. Schon im Januar 1530 gestand Graf Heinrich 
seinem Bruder heimlich, der Kaiser stehe ihrer Sache kühl gegen- 
über; Graf Wilhelm möge gütlichen Vergleich beim Landgrafen su- 
chen, »eher das er und andere k. m. lernen kennen und selbst merken, 
wie 1. m. gesint ist<« (Nr. 187). Eine Aeußerung, die sehr gut stimmt 
zu dem, was wir über die Lage in Augsburg 1530 von Wigand 
Lauze hören (Leben Philippi Bd. I S. 197, vgl. Ranke III® S. 193), 
daß nämlich nach Ueberreichung der Augsburgischen Confession der 
Landgraf »sobald auf den hohen berg gefuret |ist] und ime die guter 
dieser welt gegeiget seind, ... dem keyser in dieser religionsuchen nicht 
zu widerstreben, ... sollichs wurde ime ‘zu sonderlicher wolfart ge- 
reichen, nenlich das erstlich die nassauische sache durch hilffe 


Nassau - Oranische Correspondenzen. I. $09 


des keysers ein yutes ende gewinnen, dornach herteog Ulrich 
von Wirtemberg auch widerumb zu seinen landen ... gelossen werde. 
Aber er hat .. . angebottener seitlicher und vergenglicher wolfart die 
bestendige und ewige weit furgeseist«;, das Evangelium, nicht 
Katzenelnbogen, war der Angelpunkt der Politik Philipps des Groß- 
mütigen. So blieb der nassauische Handel in der Schwebe, und wie 
er sich weiter entwickeln würde, das hing in erster Linie davon ab, 
wie das Machtverhältnis zwischen Karl und Philipp sich weiter ge- 
stalte. — Die letzten entscheidenden Wendungen im nassauischen 
Handel sind herbeigeführt worden durch die Schlacht bei Mühlberg, 
zu Gunsten von Nassau, und durch den Passauer Vertrag, endgültig 
zu Gunsten von Hessen. 


Marburg, October 1900. Hermann Diemar. 


Der Diwan des ‘Umar Ibn Abi Rebfa nach den Handschriften zu Cairo und 
Leiden mit einer Sammlung anderweit überlieferter Gedichte und Fragmente 
herausgegeben von Paul Schwarz. Erste Hälfte Leipzig, Dieterich’sche 
Verlagsbuchhandlung, Th. Weicher, 1901. VIII, 67, tr, S. 16 M. 


“Omar ibn abi Rabi‘a blühte als Minnesänger unter den ersten 
Omaijaden in Mekka. Diese Dichtungsart war damals im Higäz 
heimisch, während in Syrien und im ‘Iräq Hof- und Parteidichter 
die politische und satirische Poesie pflegten. ‘Omar stand mit seiner 
Kunst keineswegs allein. Er war in Mekka von einer Anzahl gleich- 
strebender Genossen und jüngerer Nachahmer umgeben, die gleich 
ihm zumeist den ersten Familien der Stadt entstammten, auch in 
al Medina fehlte es nicht an Dichtern der Liebe. Schon seinen 
Zeitgenossen aber galt ‘Omar mit Recht als der bedeutendste unter 
den Minnesängern. In der That war sein poetisches Talent sehr 
kräftig, wenn auch nicht vielseitig. Alle seine Gedichte schildern 
Situationen aus seinem eigenen Liebesleben, wie er die Geliebte 
trotz aller Wachsamkeit der Hüter ihrer Ehre zu beschleichen weiß, 
wie sie selbst ihm zur Hälfte des gefahrvollen Wegs entgegenkommt, 
wie er die Schmollende mit Hilfe ihrer Duenna begütigt; nur selten 
beklagt er verlorenes Glück. Die Liebe ist ihm eben wirklich die 


510 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


Wurzel seiner Dichtung. Sie ist ihm daher stets lebendig und gegen- 
wärtig, nicht retrospektiv wie den alten Qasidendichtern. Seine 
Sprache ist leichtflüssig und ungesucht, ein wenig schon, wie Nöl- 
deke hervorhebt, von der Umgangssprache gefärbt. Dem entspricht 
auch sein poetischer Formenschatz; nur gelegentlich spielt er mit 
einer schon von den Alten abgebrauchten Wendung, noch seltener 
verfällt er auf ein bizarres Bild. 

Seine Lieder sind uns in mehrfacher Hinsicht wichtig, als An- 
fang einer neuen Richtung in der arabischen Poesie, als Sprach- 
denkmäler und als Quelle für die Sittengeschichte seiner Zeit. Ob- 
wohl uns sein Diwän schon seit mehreren Jahren in einem Kairiner 
Druck (1311) zugänglich und zu einem beträchtlichen Teile schon 
vorher aus dem Kitäb al Agäni bekannt war, verdient Schwarz doch 
unseren Dank, daß er uns jetzt noch einen kritisch durchgearbeite- 
ten Text vorlegt. Ihm standen für seine Ausgabe zwei Kairiner und 
eine ganz moderne Leidener Hds. zu Gebote. Alle drei entspringen 
einer gemeinsamen, nicht sehr weit zurückliegenden Quelle. Zahl- 
reiche Reste andrer Recensionen hat Schwarz mit großem Fleiß aus 
der philologischen und historischen Litteratur zusammengetragen. 
Den Text hat er mit großer Sorgfalt und tüchtiger Sprachkenntnis 
hergestellt. Der Charakter der Ueberlieferung bringt es mit sich, 
daß er nicht selten auf Conjekturalkritik angewiesen war, und diese 
handhabt er im allgemeinen mit sicherem Takt. Allzu bescheiden 
bezeichnet er zuweilen absolut sichere und auf der Hand liegende 
Interpretationen der Ueberlieferung als bloße Vermutungen (89ı1s, 
9013 u.a.). Andrerseits hätte er manche Conjektur etwas näher 
begründen sollen, da er eine Uebersetzung der Gedichte zu geben, 
wie es scheint, nicht beabsichtigt. 

Im einzelnen erlaube ich mir zur Herstellung des Textes noch 
folgende Bemerkungen. 2s 1. (ws mit M. 49 Lue ist unmöglich, 


lies Las. 8:1 Die Ueberlieferung ist trotz des Iqwä festzuhalten; 
Schwarz’ Conjectur ergiebt ein schiefes Bild. 1010 Schwarz’ Ver- 
mutung ist sehr bedenklich, abgesehen von dem lahmen Sinn, weil 
— vu__ im zweiten Gliede des Basit fiir v_u-.. sehr selten ist. Es 


wird ORTE zu lesen und nach Wright? II § 245b, Noldeke zur 


Grammatik des cl. Ar. § 59 zu erklären sein: »wenn er uns nicht 
Gedichte recitiert«. 1311 1. DIR 2323 Da das von Schwarz ver- 


mutete „wo nicht belegt ist, zudem hinter 3y,x&“ und ‚Aa sehr 
schwach wäre, möchte ich die Ueberlieferung beibehalten und als 


Der Diwan des ‘Umar Ibn Rebi‘a hrsg. von P. Schwarz. I. 511 


lo, eine allerdings gleichfalls nicht belegte Nebenform zu xslvo 
interpretieren. 263 1. ACH 338 l. wus, 371 Die in den Anmer- 


kungen richtig erläuterte Lesart der Handschriften hätte nicht durch 
die Verwässerung aus den Amäli ersetzt werden sollen. 36s Schwarz’ 


Conjectur verlangt pr: statt des zweiten |,gü. Aber der Text ist 


ganz in Ordnung; lies ae als Gegensatz zu xX« hs,, wie in v.r zu 
lesen ist. 407 Ich würde mit CM Js, vorziehen. 42s 1. Sieh, 459 
Schwarz’ Conjectur „» aad verstößt gegen die ausdrückliche Definition 
von „sl bei den Lexicographen (8. ss: 394 cpr um). 4515 
1. ar = y5¢4?. 543 Das bezeichnende oS der Ueberlieferung, von 
der Erschiitterung durch den ersten Anblick ist dem farblosen . te 
entschieden vorzuziehen. 565 |. pls; denn man sagt sa} sal 
(Garir I 6418). 625 1. SS. 67s Nöldekes Lesung ges! dürfte sich 


doch mehr empfehlen als das von Schwarz bevorzugte (set. Der 
1. Stamm paßt bei weitem besser als der 8. Daß ‘Omar sich keines- 
wegs scheute Hamza für Wasla zu setzen, zeigen außer der von 
Nöldeke citierten Stelle noch 7320, 1453, 17417, 1763. 80.4 I. Lai 3; 
beim Infinitiv müßte man im Parallelismus zu „o,i den durch das 
Metrum ausgeschlossenen Artikel erwarten. 815 |. 2 oi. 839 1. 


ye. 91i7 1. x39G. 925 Die Textlesart rko ist richtig, denn es 
hängt noch von 3 ab. 931: Statt des unpoetischen Passivs würde 
ich mit M gb vorziehen. 963 1. Spdualt, 1034 „X, wie Schwarz 


mit Recht herstellt, verlangt doch ww; >was auch immer eintritt< 
(535 oder ola). Eb.« Die Conjectur Val liegt von dem überlieferten 
JL zu weit ab und ließe dessen Entstehung unerklärt; das ist zu 
übersetzen: er ließ nichts übrig (ohne ihn ans Licht zu Zerren). 


Eb. 10 Was soll ja sein? Das überlieferte Ei ist richtig, als Syno- 


nym zu Js3, vgl. z.B. las. 1096 I. Ke > ‚unerreichbar« als Hal zu 
J. 1lls« Die Ueberlieferung ist richtig, nur zu interpretieren: 


aes px SW 6 a) Pr “t >daß heute, zur Zeit eurer Begegnung 
ein einjähriges Warten (stattgefunden hat)<«. Ueber unvollständige 


Sätze nach er vgl. diese Anzeigen 1899 p. 971; eine ähnliche Er- 


512 Git. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 


scheinang im Syrischen bei Nöldeke Syr. Gr.? 237 2.4. 1151 1. 55. 
1195 Das doppelte _s,5 wäre unerträglich schleppend. Ich vermute 
sz) >meinst du’« in abgeschwächtem. halb interjektionellem Ge- 
brauch, daher ohne Genuscongruenz als Vorläufer des vulgaren hal- 
turd. 122» 38 ist richtig; der Sonnenaufgang steht hier wie so 
oft als Zeichen zur Trennung der Liebenden. Das Reimwort yim? 
12456 überlieferte s. 2.1 „ao wird doch richtig sein nach der Phrase, 
yok! coho sılas Klare einer Sache wegnehmene. Daß das Wort- 


spiel schon früh mißverstanden wurde, zeigen die Varianten in Ag. 
und Hiz., die kaum aus dem ganz unzweideutigen „>, das Schwarz 


vermutet, hätten entstehn können. 1346 >; ist zu matt. Man er- 
wartet ein Verb zu „‚I;+ und das kann nur das überlieferte L>; 


sein im Sinne von leicht zutheil werden«. 

Die Trennung von Text und Apparat ist nicht sehr bequem; 
beim Druck des Apparates hätte mit Rücksicht auf die Käufer der 
Raum besser ausgenutzt werden sollen. 


Breslau, 1. Mai 1901. C. Brockelmann. 


Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen. 


Juli 1901. Nr. 7. 


Bietschel, G., Lehrbuch der Liturgik. 1. Band: Die Lehre vom Gemeinde- 
gottesdienst. Berlin, Reuther und Reichard, 1900. XII u. 609 S, 


Vorliegender Band bildet einen Teil der von D. Hering in Halle 
herausgegebenen »Sammlung von Lehrbüchern der praktischen Theo- 
logie in gedrängter Darstellunge. Unter den bisher erschienenen 
Bänden dieser Gesamtdarstellung aller Zweige der praktischen Theo- 
logie werden naturgemäß die einen einem stärker empfundenen Be- 
dürfnis entgegenkommen als die andern und daher in höherem Maße 
erwartungsvoll von den Fachgenossen begrüßt und gemustert werden. 
Vielleicht treffe ich die Stimmung auch andrer Fachkollegen, wenn 
ich aus dieser Sammlung neben der Arbeit von Dekan Wurster über 
die Innere Mission die Bearbeitung der Liturgik in erster Linie als 
das bezeichne, wonach unser Verlangen gerichtet war; hier muß uns 
eine mit umfänglicher Beherrschung des Materials und gesund evan- 
gelischen Prinzipien gearbeitete Darstellung besonders erfreulich 
sein. Die geschichtliche Forschung hat in dieser Disciplin von Jahr- 
zehnt zu Jahrzehnt in erfreulicher Weise zugenommen, so daß eine 
übersichtliche Zusammenfassung uns dringend erwünscht ist, und 
auch die praktische kirchliche Arbeit in der Herstellung neuer und Re- 
vision alter Agenden, und im Zusammenhange damit die Diskussion 
über viele Fragen der Liturgik ist eifrig im Gange, bedarf aber auch 
dringend der Orientierung an klaren liturgischen Prinzipien und an 
der Geschichte. Wenn Rietschel in geschichtlicher Beziehung nichts 
anderes unternommen hätte, als daß er uns das von andern erworbene 
Kapital von liturgischem Wissen möglichst vollständig und klar zu- 
sammengestellt hätte, so wäre das schon eine höchst dankenswerte 
Leistung. Aber er hat mehr gethan. Er gehört selber zu den auf 
diesem Gebiete unermüdlich Mitarbeitenden und hat auch hier nicht 
nur eigene ältere Forschungen verwertet, sondern an vielen Stellen 
uns die Früchte neuer Studien mitgeteilt. Es sei in dieser Be- 
ziehung nur hervorgehoben, daß er in einem Maße die in sämtlichen 
evangelichen Kirchen Deutschlands z. Z. in Gebrauch befindlichen 

Gott, gel. Anz. 1901. Nr. 7. 35 


514 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


Agenden durchgearbeitet und verwertet hat wie wohl keiner seiner 
Fachgenossen vor ihm. Man braucht ferner nur die Untersuchungen 
ins Auge zu fassen, die er der Entwicklung der Idee des Kirchen- 
jahrs während des Mittelalters gewidmet hat, um zu erkennen, daß 
wir es hier mit erheblich mehr zu thun haben als nur mit einer ge- 
wissenhaften Registrierung der Arbeiten andrer. 

Den einleitenden Erörterungen über Begriff und Umfang der 
Liturgik merkt man an, daß sich Rietschel der Aufgabe gegenüber, 
die ihm gestellt war, eine Liturgik zu schreiben, in einer gewissen 
Verlegenheit befand; denn er gehört zunächst in seiner Praxis als 
Dozent zu denen, welche unter diesem Namen lediglich den christ- 
lichen Kultus, d.h. den Gemeindegottesdienst behandeln, dagegen Taufe, 
Trauung, Konfirmation, Begräbnis u. s. w. in ganz anderen Zusammen- 
hängen der Gesamtdisciplin darstellen, sie also nicht in erster Linie 
unter liturgische Gesichtspunkte stellen, vielmehr Taufe und Konfir- 
mation im Zusammenhange der Lehre vom Katechumenat, andres im 
Zusammenhange der durch bestimmte Lebenslagen veranlaßten seel- 
sorgerlichen Thätigkeit des Geistlichen behandeln. Und was er als 
Dozent unter Mitwirkung praktischer Gesichtspunkte in dieser Weise 
verteilt hat, das erscheint ihm offenbar auch aus sachlichen Er- 
wägungen als wohlbegriindet. Hier dagegen brachte es die Dis- 
position des Heringschen Sammelwerkes mit sich, daß er sämtliche 
in kultischen Formen verlaufende Handlungen des Geistlichen im 
Lehrbuch der Liturgik zu vereinigen hatte. Er muß daher hier sich 
dazu bequemen, sich jenem Sprachgebrauch anzuschließen, der unter 
Liturgik die Wissenschaft von allen denjenigen Elementen des Kul- 
tus versteht, welche durch die kultische Gemeinschaft und für die- 
selbe fixiert sind. Ich bekenne, durchaus zu denen zu gehören, die 
in der Praxis des akademischen Vortrages denselben Weg wie 
Rietschel einschlagen ; ich kann aber auch die Bedenken nicht über- 
winden, die der herkömmlichen Definition der Liturgik als der Lehre 
von den fixierten Elementen des Kultus entgegenstehen. Nicht allein, 
daß es mir ganz unmöglich scheint z.B. die Genesis unsrer Tauf- 
liturgie loszulösen von der Geschichte des altkirchlichen Katechume- 
nats, dieser aber doch nicht in eine Liturgik hineingehört, und daß 
in ähnlicher Weise die Trauliturgie nur im Zusammenhange einer 
Geschichte der kirchlichen Trauung verständlich gemacht werden kann, 
die wiederum so tief in die Geschichte des Eheschließungsrechtes ver- 
flochten ist, daß sie unmöglich in einer Liturgik abgehandelt werden 
kann; sondern es sprechen bier auch prinzipielle Gründe mit. Der 
Gemeindegottesdienst einschließlich der Abendmahlsfeier nimmt unter 
den gottesdienstlichen Handlungen in der Gemeinde eine ganz andere 


Rietschel, Lehrbuch der Liturgik. 1. Band. 515 


Stellung ein als alle sogen. Kasualien; denn 1) er allein hat seiner 
Idee nach als handelndes Subjekt die Gemeinde, jene andern 
Handlungen dagegen sind ihrem Wesen nach immer nur Handlungen 
von und an einzelnen Gemeindegliedern ; 2) nur der Gemeinde- 
gottesdienst ist seinem Wesen nach Kultus und gar nichts 
andres; alle jene andern Funktionen verlaufen zwar auch in gottes- 
dienstlichen Formen, diese sind aber nur Begleiterscheinungen 
an Handlungen eines andern konkreten Inhaltes. Daher findet sich 
auch der Gemeindeteil, der bei letzteren gegenwärtig ist’, nicht ein, 
um Gottesdienst zu halten, sondern um Teilnehmer oder Zeugen an 
jener Handlung von nicht gottesdienstlichem Zwecke zu sein. Kein 
Pathe kommt zu einer Taufe, weil er Gottesdienst halten will, son- 
dern weil er an der Taufe des Kindes in bestimmter Weise beteiligt 
ist. Eine Leichenbegleitung wird nicht durch das Bedürfnis nach 
einem Gottesdienst ins Trauerhaus oder auf den Kirchhof geführt, 
sondern weil sie einem Verstorbenen das Ehrengeleit zum Grabe ge- 
ben will. Es ist, glaube ich, nicht zu bestreiten, daß bei allen Hand- 
lungen dieser Kategorieen das Gottesdienstliche sekundärer Art 
ist, nur die kirchlich würdige Form, die einer Handlung kirchen- 
rechtlichen oder sozialen oder wie sonst zu bezeichnenden Inhaltes 
gegeben wird. Darum kommen aber diese Handlungen auch nur 
von dem Punkte aus angemessen zur Darstellung, der an ihnen das 
Wesentlichste ist. Dazu wolle man bedenken, daf Liturgik als die 
Lehre von der Agctoveyéa schon ihrer sprachlichen Herkunft nach 
lediglich die Lehre vom Gemeindegottesdienst bezeichnete; erst in 
übertragener Bedeutung und in weiterer Entwicklung des Ausdrucks 
redet man von »Liturgien< und von »liturgischen« Elementen auch 
bei solchen Handlungen, auf die der alte Begriff der Asıroveyix gar 
nicht Anwendung findet. Ich muß aber noch mehr behaupten: bei 
der herkömmlichen Fassung, bei der man unter Liturgik die Lehre 
von den fixierten, agendarisch vorgeschriebenen Kultusbestandteilen 
versteht, geschieht unserm evangelischen Gottesdienst ein schweres 
Unrecht. Denn hiebei wird in den Vordergrund gestellt, was an 
unserm Gottesdienste ererbte Form ist, was ihm aus seinem ge- 
schichtlichen Zusammenhange mit den Traditionen des katholischen 
Kultus erhalten geblieben ist. Unser Gottesdienst rückt unwillkürlich 
in die Beleuchtung, als wenn er wesentlich eine abkürzende Modifi- 
kation der katholischen Messe wäre. Grade das spezifisch Evange- 
lische an ihm wird bei dieser Behandlung des Kultus beiseite ge- 
schoben und an Spezialdisciplinen verwiesen. Bekommen wir doch 
unter dem Zwange dieser Fassung des Begriffs Liturgik bei Rietschel 
einen evangelischen Gottesdienst dargestellt, bei welchem sowohl 
35 * 


616 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


von der Predigt, wie vom Gemeindeliede völlig abstrahiert 
werden muß, d.h. wir bekommen ein Kultusbild, das nur die Ele- 
mente der Tradition aus dem katholischen Gottesdienst, natürlich 
mit den entsprechenden Modifikationen, aufweist und die entscheiden- 
den evangelischen Kultuselemente unsern Blicken verschwinden läßt. 
Mag man aus praktischen Gründen alles Technische der Homiletik 
zu einer Sonderdarstellung ausscheiden, so darf doch unmöglich eine 
evangelische Kultuslehre auf das Prinzipielle der Homiletik verzich- 
ten; denn nur vom Begriff des Kultus aus wird Wesen und Aufgabe 
der Predigt recht zu bestimmen sein, und sie selbst ist beherrschen- 
der Mittelpunkt jenes; und es ist wahrlich nicht gleichgültig, daß 
wir dem Anfänger im Predigen mit aller Macht zum Bewußtsein 
bringen, daß die Predigt im evangelischen Kultus der centrale Kul- 
tusbestandteil ist. Nicht minder bedenklich scheint es mir, das 
Kirchenlied, den Gemeindegesang aus der Kultuslehre auszuscheiden, 
— der Chorgesang ist der Liturgik zugewiesen, das Gemeindelied 
aber nicht! —; denn auch für diesen Bestandteil unsrer Gottes- 
dienste bedarf es ja doch von Anfang bis zu Ende der Orientierung 
am Kultusbegriffe und der Eingliederung in den Organismus des 
Kultus. Es ist mir sehr lehrreich an Rietschels stoffreicher, die ver- 
schiedenen Zeiten und die verschiedenen Kreise der Christenheit im 
ganzen so gleichmäßig berücksichtigenden Behandlung der Kultus- 
geschichte, daß er über das ganze große Gebiet des evangelischen 
Kirchentums, welches mit der katholischen Kultustradition radikal 
gebrochen hat und Gottesdienst ohne fixierte Kultuselemente hält 
(Puritaner, Methodisten, Baptisten u. s. w.), mit völligem Stillschweigen 
hinweggeht. Haben diese großen Gemeinschaften keinen Kultus, 
weil sie nicht die traditionellen liturgischen Formen beibehalten ha- 
ben? Ebenso vermisse ich die Berücksichtigung einer Gemeinschaft 
wie die der Herrnhuter, die einen liturgisch reich ausgestatteten, 
aber doch vom großen Strome der liturgischen Tradition losgelösten 
Kultus haben. Ich möchte hier fragen, ob es nicht in einer evangeli- 
schen Liturgik, die, wie auch bei Rietschel der Fall ist, entschieden 
lutherisches Gepräge hat, es der prinzipiellen Auseinandersetzung 
nicht nur mit der katholischen Liturgik, sondern ebenso sehr mit 
der puritanischen Kultusauffassung bedarf; gilt es nicht das gute 
Recht der Tradition auf dem Gebiete des Kultus, die Verträglichkeit 
fester liturgischer Normen, besonders auch der formulierten Ge- 
bete!) mit der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit ein- 


1) Einige Bemerkungen in dieser Beziehung bietet Rietschel allerdings im 
letzten Abschnitt, der die Gestaltung des christlichen (soll doch hier wohl heißen: 


Rietschel, Lehrbuch der Liturgik. 1. Band. 517 


gehend zu erweisen? Je mehr englisches Dissenterchristentum bei 
uns gegenwärtig Propaganda macht, um so näher rückt auch unserm 
Kultus diese Anschauung. Der Gegner, der von dieser Seite sich 
wider unsre ganze lutherische Kultusauffassung erhebt, ist aber, 
wenn ich recht sehe, einer prinzipiellen Auseinandersetzung nicht 
gewürdigt worden. Ich bitte den Verfasser, nach dieser Richtung 
bei einer recht bald zu erhoffenden neuen Auflage seine Liturgik zu 
vervollständigen. 

Mit der Aussprache meines Dissensus gegen die übliche Auf- 
fassung der Liturgik und einiger Desiderien habe ich meine Be- 
sprechung beginnen müssen. Um so mehr treibt es mich, meiner 
Freude und meinem Danke für die prächtige Gabe, die uns hier ge- 
boten ist, Ausdruck zu geben. Auch wer selber an der historischen 
Seite unsrer Disciplin schon längst seine Freude hat und daher auf 
diesem unendlich weiten Gebiete mit Lust und Liebe gesammelt und 
mitgeforscht hat, wird der übersichtlichen und reichhaltigen Zusam- 
menstellung des historischen Materials, wie sie hier vorliegt, mit der 
Empfindung gegenüberstehen, auf Schritt und Tritt aus den reichen 
Schatzkammern des Verfassers Belehrung empfangen zu haben. Ich 
weiß mich nach der ganzen Art und Richtung meiner Studien mit 
Rietschel so nahe verbunden, und es hat unter uns beiden seit Jah- 
ren ein so lebhafter Austausch dessen, was ein jeder von uns ge- 
funden und erarbeitet hatte, stattgefunden, daß ich seiner Arbeit mit 
dem Gefühle gegenüberstehe, im Großen und Ganzen hier das wie- 
derzufinden, was ich auch als meinen Studienertrag bezeichnen kann. 
Und nicht minder weiß ich mich mit den Kultusprinzipien des Ver- 
fassers in weitgehender Uebereinstimmung und freue mich daher, 
hier einen Standpunkt durchgeführt zu sehen, der in seinen Grund- 
sätzen volle evangelische Freiheit ohne alle katholisierenden Trü- 
bungen oder antiquarischen Liebhabereien mit einem pietätvollen 
Konservatismus verbindet. Rietschel gehört zu den Lutheranern, die, 
weil sie Luther ernstlich studiert haben, durch ihn einen freien und 
weiten Blick und eine klare Position in den religiösen Grundan- 
schauungen gewonnen haben. Aber je mehr er selber in der reichen 
Erfahrung kirchlicher Praxis zum Liturgiker vorgebildet worden ist, 
umsomehr weiß er auch auf diesem Gebiete das Recht der Sitte und 
des geschichtlich Gewordenen zu würdigen und steht mit Nüchtern- 
heit jedem Radikalismus gegenüber, der im Namen evangelischer 


evangelischen] Gottesdienstes für die Gegenwart behandelt, S. 489 f.: aber 
gehört diese Principienfrage nicht schon in den 1., principiellen Theil? Und ist 
der Kampf eines Robinson, Milton u. A. gegen den anglikanischen Gottesdienst 
nicht von priocipieller Bedeutung ? 


518 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


Prinzipien den Zusammenhang mit dem Gewordenen kühn abbrechen 
möchte. Es zeigt sich das z.B. mit erfreulicher Bestimmtheit in 
seiner Beurteilung der modernen Projekte, die uns endlich das rein 
evangelische Kirchengebäude zu schaffen verheißen. Je mehr ich 
mich im ganzen in Bezug auf den Stoff wie in Bezug auf die prin- 
zipielle Beurteilung liturgischer Fragen mit dem Verfasser in Ueber- 
einstimmung weiß, umsomehr fühle ich das Bedürfnis, durch eine 
Reihe von Ergänzungen und Bemerkungen zu einzelnen Punkten aus 
meiner Studienmappe kleine Beiträge zu dieser Liturgik beizusteuern 
und so meinen Dank für vielfältige Belehrung abzustatten. 

Wenn es S.47 als Gottschicks Verdienst gerühmt wird, in seiner 
bekannten Schrift von 1887 Luthers Auffassung vom Gottesdienste 
als Dank- und Lobopfer betont zu haben, so möchte ich daran er- 
innern, daß schon der leider ungebührlich in Vergessenheit geratene 
Heinrich Heppe 30 Jahre zuvor in seiner >Dogmatik des Deutschen 
Protestantismus< III 399 ff. diese Gedanken Luthers nachdrücklich 
zur Geltung gebracht hat. Auch für Melanchthon findet sich bei 
Heppe wenige Seiten vorher ein schönes Material gesammelt. Ich 
mache aber auch besonders auf die Ausführungen Melanchthons zu 
Rom. 15 Corp. Ref. XV 790 aufmerksam, wo er das Wesen des 
Gottesdienstes in dem Doppelsatze ausspricht: 1) cum docent evan- 
gelium et praedicant misericordiam Dei.... vere sacrificant et offe- 
runt Deo laudem und 2) cum docent, praeparant ettam alias hostias, 
nämlich die Herzen der Zuhörer. — Zu den Kirchenväterstellen auf 
S. 78 über die Ablehnung der Bezeichnung ¢emplum und den gegen- 
sätzlichen Gebrauch des Wortes ecclesta verweise ich auch auf Maxi- 
mus MSL 57,470f. mit seinem receptucula ecclesiae. — Auf S. 96 ist 
doch wohl das Aufkommen der Glocken im Kirchengebrauche zu 
spät angesetzt, wenn es erst vom 8. und 9. Jahrhundert an datiert 
wird; vgl. Nie. Müllers Aufsatz über die Glocken in der 3. Auflage 
der Realencyklopädie. — Zu den Aeußerungen Luthers über den 
Kirchenbau auf S. 109 möchte ich auch auf seine Ausführungen in 
Erl. Ausg. 7°, 222 ff. verweisen. — Für die Bedeutung, die Luther 
dem Altar in der Kirche beilegt (S. 140) erinnere ich an die Be- 
merkung, die er darüber in der Formula missae gemacht hat, Altar 
und Chorraum seien zu dem Zwecke erfunden, ul communicaturi 
seorsum uno loco et una turba constent; er führt weiter den Ge- 
danken aus, vor Gott sei es zwar ganz gleichgültig, wo die Abend- 
mahlsgäste stünden, aber es sei nötig eos palam vidert et nosci tam 
ab tis qui communicant, quam iis qui non communicant. Auch füge 
ich hinzu, daß die Confessio Württembergica ausdrücklich gegen den 
Gebrauch von Lichtern, Kreuzen und Kirchenfahnen Einspruch er- 


Rietschel, Lehrbuch der Liturgik. 1. Band. 519 


hebt; s. das Citat bei Heppe a.a.O. III, 411. — Zum Abschnitte 
von der Orgel S. 146 ff. sei darauf verwiesen, daß Luther, wo er 
einmal ein recht großes Orgelwerk beschreiben will, von einer Orgel 
von 14 Registern und 10 Fach (zehnfachem ?) Flötenwerk redet, 
Erl. Ausg. 10°, 24. Ueber die Verbreitung der Orgel am Ende des 
Mittelalters finden sich Nachweisungen für das Gebiet der Mark in 
Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 
XII, 2. S. 78 ff. Ueber eine »Orgelpredigt« von 1628, in der sich 
für die Geschichte des Orgelbaus werthvolle Mittheilungen finden, 
ist in den Monatsblättern der Gesellsch. für Pommersche Geschichte 
1896 S. 145 ff. berichtet. — Zu dem Abschnitt über die Stellung der 
Reformatoren zum Gebrauch liturgischer Gewänder (S. 151) erinnere 
ich an die Ausführungen von Joh. Brenz bei Pressel, Anecdota Bren- 
tiana p. 162f. — Auch zu dem sehr reichhaltigen Abschnitt über 
die Geschichte des Sonntags seien einige Bemerkungen hinzugefügt. 
Daß schon im Mittelalter die Theorie von der Uebertragung des 
Sabbaths auf den Sonntag weitere Verbreitung fand, zeigt z.B. der 
Schwarzwälder Prediger bei Grieshaber, Deutsche Predigten I, S. 114 
und besonders scharf Gerson, Opp. ed. du Pin I, 247: circa tertium 
pracceptum est advertendum, quod in Dominica resurrechonis dominicae 
ex statuto ecclesiae mutatum est sabbathum in Dominicam, ne vide- 
remus wdaizare. An diesem christlichen Sabbath sei erlaubt das 
opus charitatis und necessitatis, verboten dagegen das opus servile. 
Ist es bei Gerson allgemein ein statutum ecclesiae, das den Sabbath 
auf den Sonntag verlegt hat, so sind es bei Berthold von Chiemsee 
direkt die Apostel, die »des Samstages und alten Gesetzes Feier ge- 
legt haben auf Sonntag<. Teutsche Theologey (Neudruck München 
1852) S. 362. Und selbst bei Luther findet sich wenigstens in den 
Tischreden gelegentlich die Aeußerung : ego credo apostolos mutasse 
subbathum, Bindseil, Colloquia 3, 22. Unter denjenigen, welche im 
Lager Calvins für diese Anschauung wirksam Propaganda gemacht 
haben, wäre neben denen, die auf S. 163 von Rietschel aufgeführt 
werden, auch Hospinian mit seinem einflußreichen Werke: Festa 
Christianorum. Tiguri 1593. Bl. 23 f. zu nennen. Den Uebergang in 
eine neue Sabbathslehre beförderte in der lutherischen Kirche nicht 
nur, wie S. 164 hervorgehoben wird, der Kampf der Pastoren gegen 
die Sonntagshochzeiten und Schmausereien, sondern auch ihr Pro- 
test gegen die Unsitte der »Junker und Amtspersonen<, grade an 
den Sonntagen die Unterthanen mit Frondiensten zu beschweren; 
das zeigt in lehrreicher Weise eine Predigt des Eislebener Mag. 
Christoph. Ireneus über Martha und Maria, Eisleben 1564 Bl. D 3ff. 
Welche Umwandlung in Bezug auf die Sonntagslehre auch im luthe- 


520 Gött. gel. Auz. 1901. Nr. 7. 


rischen Lager sich vollzog, das können die Sonntagslieder in lehr- 
reicher Weise uns zeigen. In Selneckers Lied: »Heut ist des Herren 
Ruhetag< finden wir noch ganz ungetrübt die altprotestantische Auf- 
fassung, für deren weite Verbreitung, nebenbei bemerkt, die eben 
erscheinende Cohrssche Sammlung der ältesten evangelischen Kate- 
chismen zahlreiche Zeugnisse liefert. Eine ganz andre Sonntagsan- 
schauung predigt dagegen das Lied Sigismunds von Birken (+ 1681): 
>Auf, auf, mein Herz, und du mein ganzer Sinn<, wo der Gedanke 
ausgeführt ist, Gott habe dem Menschen 6 Tage für seinen Leib ge- 
geben, den siebenten aber für seine Seele bestimmt, Gott fordere 
vom Menschen, daß er je einen von 7 Tagen ihm zu eigen gebe. — 
Zu den Angaben über das Epiphanienfest S. 178 erinnere ich an 
die merkwürdige Predigt des Maximus (?) in MSL 57, 545, in der es 
noch heißt: sive hodie natus est Dominus Jesus, sive hodie bapttzatus 
est: diversa quippe opinio fertur in mundo. — Zu der Angabe auf 
S. 181 tiber die armenische Kirche und ihr Festhalten an der alten 
Sitte, Geburt und Taufe Christi an dem gleichen Tage zu feiern, 
sei auch an die Schilderung erinnert, die der mittelalterliche Orient- 
reisende Schildberger in seinem Reisebuch, Stuttg. litterarischer Ver- 
ein Bd. 172 S. 106 von dieser Sitte entworfen hat. — Fürs Johannis- 
fest S. 184 ist als Zeuge auch Maximus anzuführen MSL 57, 383 ff. 
653 und 662. — Zur Geschichte von Circumcisionis resp. Neujahrs- 
fest S. 185, 208 und 586 hat inzwischen Kleinert willkommene Er- 
gänzungen in dem schönen Aufsatz geliefert, mit dem er in der 
Zeitschrift »Halte, was du hast« den 1. Januar 1900 einleitete. 
Rietschel wie Kleinert haben mit Recht auf Luthers Zähigkeit hin- 
gewiesen, mit der dieser dem 1. Januar die Bedeutung des Beschnei- 
dungsfestes erhalten wissen wollte, und Kleinert hat mit Recht be- 
tont, daß er sich damit einer Umwandlung des Tages zum Neujahrs- 
fest entgegenstemmte, die uns bereits in den Predigten des 15. Jahr- 
hunderts deutlich bezeugt wird. Beide haben aber übersehen, daß 
Melanchthon es gewesen ist, der in seiner Postille Corp. Ref. 
24, 202 ff. mit voller Entschiedenheit für die Behandlung des 1. Ja- 
nuar als Neujahrstag eingetreten ist. Es läßt sich deutlich ver- 
folgen, wie die Theologen aus Melanchthons Schule in ihren Predig- 
ten hier in den Spuren ihres Lehrers einhergehen, während die 
ältere Generation, z.B. Corvinus, der von Luther gegebenen Direk- 
tive gefolgt ist (vgl. meinen Aufsatz in Deutsch. evangel. Blätter 
1901 S. 11 ff.). — Auch zu dem schönen Paragraphen über die Ent- 
stehung des Begriffes des Kirchenjahres einige Bemerkungen. Zu- 
nächst sei darauf verwiesen, daß Joh. Brenz zwar noch 1529 eine 
Uebersicht über das Kirchenjahr aufstellt, die von Septuagesimae 


Rietschel, Lehrbuch der Liturgik. 1. Band. 591 


anhebt (Pressel, Anecdota Brentiana p. 35), daß er dagegen 1535 
(p. 164) eine »Ordnung der Zeiten und Feste des Jahrs« bietet, die 
vom Advent ihren Anfang nimmt, sowie daß er die »von alten, 
frommen Vitern< vorgenommene »Austheilung des Jahrs in mancherlei 
Festen< unter dem Gesichtspunkt anerkennt und beibehalten wissen 
will, »daß im ganzen Jahr zur unterschiedlichen Zeit die Artikel 
unsers christlichen Glaubens ordentlich nach einander gelehrt und 
erklärt werden< (p. 38). — Für den Gebrauch des Wortes »Kirchen- 
jahr< und zwar in bestimmter Verbindung mit dem Anfangstermin 
am 1. Advent führe ich ein Zeugnis aus dem Aufsatz von Ed. Jacobs 
über die Wiederherstellung des evangelischen Kirchenwesens durch 
Gustav Adolf im Hochstift Halberstadt (Zeitschr. des Harzvereins 
XXX [1897] S. 298) an. Auf Befehl der kaiserlichen Commissare 
hatte man in Halberstadt seit 1629 den katholischen, d. h. Gregoria- 
nischen Kalender gebrauchen müssen, und sonach am 30. Nov. 1631 
(neuen Stils = 20. Nov. alten Stils) den 1. Adventssonntag gehalten. 
Da traf am 6. December (= 26. November) die Ordre des Königs 
von Schweden ein, >den alten Kalender wieder zu gebrauchen und 
damit das Neue Kirchenjahr wieder anzufangen«. So wurde 
dort am 27. Nov. (= 7. Dec. n. St.) zum zweiten Male 1. Advent 
gehalten. — Ferner möchte ich für Melanchthon auch noch auf die 
Stelle aus der spätesten Recension seiner Loci Corp. Ref. 21, 1025 
hinweisen, sodann aber darauf aufmerksam machen, wie schnell die 
Anschauung Platz griff, in der kirchlichen Anordnung bestimmter 
Festtage ein Gesetz zu erblicken, das mit dem Charakter der Not- 
wendigkeit und Heiligkeit umkleidet ist. Wendet doch G. Major in 
Pars I Homiliarum in Evangelia Witeb. 1567 Bl. 3? auf diese An- 
ordnung folgendes Wort Augustins an: In his rebus, de quibus nihil 
certi statuit divina Scriptura, mos populi Dei et instituta maiorum 
pro lege tenenda sunt. Et sicut praevaricatores divinarum legum, 
da contemptores ecclesiasticarum consueludinum coercendi sunt. Die 
gleiche rasche Fortentwicklung zur Annahme geheiligter Traditionen 
finden wir betrefis der Perikopen in der lutherischen Kirche schon 
am Ende der Reformationszeit. Denn schon für Selnecker, Evange- 
liorum et Epistolarum Harmoniae Pars prima, Francof. 1575 p. 33 
geschieht die Verlesung und die Predigt über die Perikopen :nsti- 
tutione et ordinatione veteri, authentica et approbata, necessa- 
via et utzlt. Man beachte hier das bedeutsame authentica und ne- 
cessaria! — Luthers Kritik der überlieferten Perikopen (S. 229) 
wird in verschärfter Tonart von Martin Butzer in seinem Commentar 
zu den synoptischen Evangelien 1527 aufgenommen; er treibt die 
Kritik bis zum Protest gegen Perikopen überhaupt und geht somit 


522 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


auch in diesem Punkte in Zwinglis Lager über: Equidem tam optarım 
abolitum illum morem, excerpta duntaxat ista Christiano populo pro- 
ponendi, et totas ordine Evangelistarum historias ei praedicari (bei 
A.Lang, Der Evangelienkommentar M. Butzers. Leipzig 1900 S. 380). 
— Meine besondere Freude möchte ich bezeugen über die Behand- 
Jung, die der Gemeindegottesdienst der apostolischen und nach- 
apostolischen Zeit bei Rietschel gefunden hat. Ich denke besonders 
daran, daß er in 1. Cor. 11 das deinvov xvgıaxdv als Bezeichnung 
der ganzen gemeinsamen Mahlzeit, nicht der besonderen Abendmahls- 
feier, auffaßt; daß er die auch mir als durchaus wahrscheinlich gel- 
tende Ansicht vertritt, daß bei diesem deinvov die Segnung von 
Brot und Wein frühzeitig an die Spitze der ganzen Mahlzeit ge- 
treten sein wird, daß dementsprechend in der Aıdayi das Gebet in 
Kap. 9 die Eröffnung der Abendmahl-Agape bezeichnet, die Gebete 
in Kap. 10 dagegen an den Schluß dieser Mahlzeit gehören. Die 
Erkenntnis, daß es ursprünglich eine der heutigen Abendmahlsfeier 
ähnliche, von der übrigen Mahlzeit völlig ausgesonderte Sakraments- 
feier gar nicht gegeben hat, sondern daß die ganze Tischgemein- 
schaft der Christen durch die Segnung von Brot und Wein zu einer 
geistlichen Mahlzeit, einem Bundes- und Liebesmahle erhoben wurde, 
und daß erst mit der Verpflanzung der Eucharistie in den Vormit- 
tagsgottesdienst das Abendmahl zum Kultusmysterium geworden ist, 
ist ja eine Erkenntnis von bedeutender Tragweite, und ich verstehe 
daher den Widerspruch und das Widerstreben, das ihrer Anerkennung 
begegnen muß. Aber nur auf diese Weise lassen sich meines Er- 
achtens die ältesten Dokumente ausreichend erklären, und mit Recht 
hat Rietschel die Analogieen geltend gemacht, die sich uns in der 
Tischgemeinschaft des jüdischen Hauses, speziell in den Sabbath- 
mahlzeiten darbieten, um die Entstehung und Fortentwicklung der 
altchristlichen Eucharistie und Agape uns verständlich zu machen. 
Auch die Gründe, die Rietschel für die Lösung der Eucharistie von 
der Agape und die Aufnahme der ersteren in den Kultus S. 256 gel- 
tend macht, sind einleuchtend. Ich freue mich, daß auch er ent- 
schieden dafür eintritt S. 257, daß bei diesem Uebergange des 
Abendmahls in den Vormittagsgottesdienst dessen homiletischer 
Teil nach wie vor Katechumenen und Heiden zugänglich blieb. — 
Ueber das Pfaffsche »Irenäus<-Fragment S. 265 ist uns inzwischen 
von Harnack Gewißheit geschafft worden. — Aus den folgenden 
Abschnitten hebe ich besonders die lehrreichen Erörterungen über 
die Geschichte des Namens missa S. 347 ff. hervor und das Material, 
das er S. 369 ff. über den Gebrauch der >offenen Schuld« im mittel- 
alterlichen Gottesdienst zusammengetragen hat. Höchst instruktiv 


Rietschel, Lehrbuch der Liturgik. 1. Band. 528 


ist die Art, wie er den ganzen Verlauf der römischen Messe darzu- 
stellen weiß, wobei der Aufbau des Ganzen, die Geschichte der ein- 
zelnen Bestandteile und zugleich das in ihr für den evangelischen 
Gottesdienst maßgebend gewordene gleichmäßig hervortreten. Zu 
der nicht minder reichhaltigen und übersichtlichen Darstellung des 
Hauptgottesdienstes in den evangelischen Kirchen des 16. Jahrhun- 
derts einige Bemerkungen. Zunächst sei zur Litteratur auf S. 402 
nachgetragen Günther in der Monatsschrift für Gottesdienst u. kirchl. 
Kunst III (1898), 18ff. und Martens in Mittheilungen des Vereins 
für Gesch. u. Altertumskunde von Erfurt XVIII, 91 ff. Zu den Stel- 
len auf S. 434, in denen Luthers Konsekrationsbegriff behandelt 
wird, sei aus Melanchthon Corp. Ref. XV, 1109 folgende Stelle nach- 
getragen: Consecramus, 1. e. addimus sacra verba et gratiarum actio- 
nem, ne sit usus profanus seu physicus, sed sit consolatio anunae. 
Sed sacrificuli dicunt: consecramus i. e. facimus virtute verborum mu- 
tationem substantiae. Adest autem Christus suo sacramento, non quia 
sacerdos faciat thi mutationem, aut quia sit vis in verbis mu- 
tans res, sed qua liberrime vult adesse ritui quem instituit , sicut 
spiritus sanctus liberrime adest in baptisando. Wie katholisierend 
allerdings trotz Melanchthons energischer Gegenwirkung bei einem 
Teil der Lutheraner, nicht ohne Schuld Luthers, die Konsekrations- 
vorstellungen blieben, das lehren in erschreckender Weise zwei 
Schriften des Erfurter Gnesiolutheraners Hachenberg, über welche 
ich an anderm Orte Mitteilungen zu machen gedenke. Nicht zu- 
stimmen kann ich Rietschel, wenn er den Satz der Goslarer Kirchen- 
ordnung von 1531: Es soll niemand ihm selber das Sakrament 
reichen oder geben als ein Verbot des Selbstkommunizierens sei- 
tens des Geistlichen auffaßt. Diese dem Wortlaute nach frei- 
lich naheliegende Deutung ist meines Erachtens schon dadurch aus- 
geschlossen, daß der deutsche Text der Confessio Augustana in Art. 24 
die Communion als die Handlung beschreibt, in welcher der 
Priester und andre das Sakrament empfahen für sich. Hier ist der 
fungierende Geistliche offenbar als der bezeichnet, der erst sich 
und dann den andern Communikanten das Abendmahl spendet. Es 
wäre gegen alle Analogie, wenn wir gegenüber der Praxis der älte- 
sten lutherischen Kirchen hier bereits ein Verbot dieser Mitcommu- 
nion des Geistlichen finden sollten. Ich kann die Worte der Gos- 
larer Ordnung nur als das Verbot auffassen, daß Gemeindeglieder 
selber keine Winkelfeier des Abendmahls unternehmen sollten. Bei 
der sonst so eingehenden Behandlung des Abendmahlsritus empfinde 
ich es als eine Lücke, daß Rietschel der so lehrreichen Frage nach 
der Häufigkeit des Communizierens in den einzelnen Zeiten der 


524 Gott. gel, Ans. 1901, Nr. 7, 


christlichen Kirche nicht näher nachgegangen ist. In der neuen 
Auflage des katholischen Kirchenlexikons ist sehr wertvolles Material 
zur Beantwortung dieser Frage beigebracht, das aber z.B. für die 
Zeit der hussitischen Bewegungen noch mannigfach vermehrt werden 
kann. Es läßt sich meines Erachtens nachweisen, daß die Refor- 
mation trotz Beseitigung des Kirchengesetzes, das jährliche Com- 
munion forderte, zunächst eine erhebliche Steigerung des Ver- 
langens nach dem Abendmahl gebracht hat, der gegenüber dann erst 
durch den Jesuitenorden auch für die katholischen Volkskreise eine 
neue reichere Abendmahlssitte erfolgreich geschaffen worden ist. Ich 
finde in dieser Beziehung bei Rietschel nur einige kurze Bemer- 
kungen auf S. 302, denen aber die entsprechenden Nachweisungen 
für andere Zeiten nicht nachfolgen. — Zu S. 481 führe ich an, daß 
wir jetzt in den Mittheilungen der Gesellsch. f. deutsche Schulgesch. 
X S. 8f. ein lehrreiches Zeugnis dafür bekommen haben, wie sehr 
während des 18. Jahrh. die Orgel gegen ihre frühere Bestimmung 
die Begleiterin und Stütze des Gemeindegesanges geworden war. 
Da beantragt 1758 ein sächsischer Landpfarrer die Anschaffung einer 
Orgel, da der Schullehrer nicht im Stande sei, die Lieder beim 
Gottesdienst im rechten Ton anzufangen und die richtige Melodie 
zu singen. — Zu den schönen Darlegungen über Luthers Auffassung 
des Verhältnisses des Sakramentes zum Wort S. 498f. sei auch an 
die bedeutsame Stelle Erl. Ausg. 47, 208 erinnert, wo Luther Augu- 
stinus einen »neuen<, d.h. von der h. Schrift abgewichenen Theo- 
logen nennt wegen seines Ausspruchs, daß’ der größere Sünde be- 
gehe, der das Sakrament verunehre, als der, der das Wort verachte. 
Leider muß man aber einräumen, daß die »unlutherische< Ansicht 
vom Abendmahl als Nährmittel des Auferstehungsleibes gelegentlich 
auch bei Luther selbst sich eindrängt (vgl. Möller-Kawerau, Kirchen- 
gesch. III? S. 79), und wie frühe sie von lutherischen Dogmatikern 
acceptiert worden ist, hat Rocholl, Gesch. d. evang. Kirche S. 154 ff. 
gezeigt. — Was Rietschel S. 504 f. für die Anwesenheit auch der 
nicht communicierenden Gemeindeglieder während der Abendmahls- 
feier geltend macht, will mir nicht die dagegen sich aufdrängenden 
Bedenken beseitigen. Die Geschichte des luther. Gottesdienstes 
spricht, wie Rietschel selber anerkennen muß, dagegen, da sich that- 
sächlich von Anfang an, schon unter Luthers Augen, das Gros der 
Gemeinde dieser Sitte entzogen und den Gottesdienst bei Beginn der 
Communion verlassen hat. Und sachlich spricht dagegen, daß das 
Abendmahl schlechterdings nicht als Feier für ein Zuschauen in 
frommer Betrachtung gestiftet ist, sondern von dem »Nehmet, esset« 
beherrscht wird. Auf die Einladung »Kommt, denn es ist alles be- 


Rietschel, Lehrbuch der Liturgik. 1. Band. 525 


reit!« kann doch nicht ein Teil der Gemeinde nur Zuschauer bleiben 
wollen. Man wird natürlich nicht verbieten wollen, wenn ein Ge- 
meindeglied aus irgend welchem Grunde anwesend bleibt ohne zu 
communicieren ; aber die Anstrengung, die mancher Geistliche darauf 
verwendet hat, diese zuschauende Teilnahme der Gemeinde zur festen 
Sitte zu erheben — ich selbst habe die ersten 5 Jahre meiner Amts- 
führung mit höchstem Eifer darauf hingearbeitet —, halte ich doch 
für einen Irrweg. Eben weil ich diesen Weg, den herkömmlichen 
Anschluß des Abendmahls an den Predigtgottesdienst erträglich zu 
machen und die Idee einer Steigerung des Gemeindegottesdienstes 
von der Predigt zur Sakramentsfeier zu retten, für verfehlt halten 
muß, hoffe auch ich auf die von Rietschel warm befürwortete Schei- 
dung von Predigt- und Abendmahlsgottesdiensten. — Ich bin ganz 
mit R. einverstanden, daß er S. 519 das >in seiner wahren Bedeu- 
tung niemals zum Eigentum der Deutschen Volkssprache gewordene« 
Kyrie eleison durch das deutsche »Herr, erbarme dich< in der Litur- 
gie ersetzt wissen will. Aber ein Fehlschluß scheint es mir zu sein, 
wenn er aus dem Kyrieleis der alten Kirchenlieder und aus den 
mittelalterlichen Wortbildungen Kirleise und Leise, das Recht ab- 
leitet, da wo man den griechischen Wortlaut beibehalten will, auch 
heute Kyrie eleison zu singen. Denn wer Kyrie singt, hat eben 
nicht »das Fremdwort sich mundgerecht gemacht« ; dann ist aber 
auch nicht ersichtlich, warum man im zweiten Worte so verfahren 
soll. — Gegen seinen Vorschlag S. 527, um das Credo im Gottes- 
dienste als Gemeindeakt in gemeinschaftlichem Gesange zur Aus- 
führung zu bringen, hier den Schlußvers von »Nun danket alle Gott« 
zu verwenden, wäre zu erinnern, daß dieser Vers bereits seine Stel- 
lung als feierlichster , lobpreisender Abschluß besonders festlicher 
Akte erhalten hat, und es daher nicht geraten wäre, denselben 
Vers daneben in sonntäglichen Gebrauch zu nehmen. Außerdem ist 
einzuwenden, daß dieser Vers ja nur eine Versification des schon an 
andrer Stelle im Gottesdienst verwendeten Gloria Patri ist, also doch 
nicht füglich nun noch an Stelle des Credo zum zweiten Male ge- 
sungen werden kann. Der Vers ist lediglich Doxologie, es fehlt ihm, 
was dem Credo seinen Werth verleiht, das Bekenntnis zu den Wer- 
ken, in und an denen Vater, Sohn und Geist offenbar und erkannt 
werden. Es wäre ein entschiedener Rückschritt, wenn wir dem 
Credo einen Ersatz gäben, der über diese Werke völlig schweigt. 
Gegen das von R. daneben genannte gemeinsame Sprechen des 
Symbolum wäre doch auch Erhebliches einzuwenden. Das Sprechen 
im Chore gehört in die Schule und würde — ganz abgesehen von 
der praktischen Schwierigkeit, in großer Versammlung es würdig 


526 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


und ohne Störung auszuführen — zu dem gehobenen, feierlichen 
Charakter des Gottesdienstes übel passen. Die gehobene Form gemein- 
samer Rede ist eben der Gesang. — Zu S. 562 erinnere ich daran, 


daß schon Erasmus in seiner Schrift de modo orandi die Weise der 
alten Kirche, alle Gebete an den Vater zu richten, erkannt und rich- 
tig zu erklären verstanden hat. — Das hohe Lob, das R. S. 469 
der Fronleichnamssequenz Lauda Sion erteilt, ist für einen Theil 
derselben völlig berechtigt, namentlich für Anfang und Schluß, aber 
gilt es auch für die Strophe mit der gereimten Kirchenlehre Sub 
diversis speciebus, signis tantum et non rebus etc. ? 

Der Druck ist sehr korrekt; mir ist nur aufgefallen S. 202 Wei- 
gand st. Wiegand; S. 265 sacra st. sacrae; S. 415 Hering st. Henry; 
im Register eine Störung der alphabetischen Folge auf S. 590; eine 
falsche Seitenzahl 443 st. 434 bei dem Stichwort Konsekration S. 591. 
Im Register vermisse ich den Silvestertag (auch im Text des Buches 
bemerke ich ihn nicht). Ein stilistisches Versehen s. S. 278 Z. 12. 

Erwartungsvoll sehen wir dem Erscheinen des 2. Bandes und 
damit der Vollendung des Werkes entgegen, das gerade durch das 
Facit, das es über den heutigen Stand der liturgischen Wissenschaft 
zieht, die Aussicht auf einen gedeihlichen Fortgang der liturgischen 
Studien eröffnet und kräftigen Antrieb dazu selber in sich trägt. 


Breslau. G. Kawerau. 


Gauss, C. F., Werke. Achter Band. Herausgegeben von der Königlichen Ge- 
sellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. In Commission bei B. G. Teubner 
in Leipzig. 1900. Preis 24 M. 


Nach längerer Unterbrechung hat die Kgl. Gesellschaft der Wis- 
senschaften zu Göttingen die Herausgabe von Gauss’ Werken wieder 
aufgenommen und es liegen nun in diesem achten Band eine große 
Reihe von Notizen, Noten und Anzeigen oder Briefe vor, welche als 
Ergänzungen zu den Bänden II bis IV ein Licht werfen auf viele 
noch in der Schwebe gebliebenen Fragen aus Gauss’ productiver 
Thätigkeit. Es war für die Herausgeber oft keine leichte Aufgabe 
aus den vielen Concepten, zerstreuten Zetteln und Bemerkungen des 
Gauss’schen Nachlasses das Richtige, und etwas Verständliches, 
herauszulesen. Für den Leser ist durch die sachlichen und histori- 
schen Anmerkungen der Herren Herausgeber das Verständnis des 
Bandes sehr erleichtert. Die Resultate, welche uns Gauss auf weiten 
Gebieten der Mathematik thätig zeigen, erfüllen uns stets neu wie 
der mit Bewunderung und man staunt über die Besitztümer, welche 


Gauss Werke. Achter Band. 527 


der Verfasser vor seinen Zeitgenossen und wohl sogar vor späten 
Nachfolgern sein eigen nennen konnte. Bei der Herausgabe ist von 
der Redaction auf Verweise neuerer Arbeiten über einen von Gauss 
behandelten Gegenstand, mit Recht, verzichtet werden. Sind die 
Resultate heute nicht mehr neu, so interessieren doch eigenartige 
Methoden, oder es bildet das Abgedruckte ein erwünschtes Document 
der Gauss schen Thatigkeit. | 

1. Der Inhalt des Bandes verteilt sich auf Arithmetik und 
Algebra (p. 3—34), Analysis und Functionentheorie (p. 35—120), deren 
Herausgabe von Herrn Fricke in Braunschweig besorgt ist; dann Nu- 
merisches Rechnen (p. 121—132), Wahrscheinlichkeitsrechnung (p. 133 
—158) von den Herren Börsch und Krüger in Potsdam herausgegeben 
und verschiedene Gebiete der Geometrie, nämlich Grundlagen der Geo- 
metrie (p. 159— 270), Geometria situs (p. 271—288), Aufgaben und 
Lehrsätze der elementaren Geometrie (p. 289—302), Verwendung 
complexer Größen für die Geometrie (p. 303—364), schließlich Theo- 
rie der krummen Flächen (p. 365—450), deren Bearbeitung in den 
Händen von Herrn Stäckel in Kiel lag, mit Ausnahme einer Notiz 
über die Allgemeinste Auflösung des Problems der Abwicklung der 
Flächen, welche Herr Weingarten in Charlottenburg durch eine An- 
merkung erläutert hat. Die Generalredaction versah Herr Brendel 
in Göttingen, dem damit die genaue Durchsicht des gesammten Nach- 
lasses zur Aufgabe fiel. 

2. Unter den Noten aus der Arithmetik interessieren vor allem 
diejenigen über das cubische und biquadratische Reciprocitätsgesetz, 
welche aus dem Jahr 1804 der Hauptsache nach, wie Herr Fricke 
vermutet von 1809 stammen. Gauss stellt darin seine durch In- 
duction gefundenen Resultate betr. die beiden Gesetze auf. Indem 
er sich zuerst auf reelle Zahlen beschränkt, erhält er nur Teile des 
Gesetzes, aber die auf allgemeinere, algebraische Zahlen ausgedehnte 
Formulierung giebt das Gesetz fast in vollem Umfang, und zwar in 
der Art, daß die Restcharaktere der in den Körpern k(V-3), 
bez. k(Y—1) liegenden Factoren einer rationalen Primzahl der 
Form p = 3n-+1 (resp. 4n+1) in Bezug auf eine Zahl g = 3n +1 
(resp. 4" + 1) nach 3 (resp. 4) Fällen unterschieden werden. Von den 
Beweisen des cubischen Reciprocitätsgesetzes schließt sich der eine 
direct an, an den Beweis des quadratischen Reciprocitätsgesetzes aus 
der Kreisteilung, der andere an den dritten Beweis des letzteren, 
indem die Zahlen unterhalb einer gegebenen rationalen Primzahl 
in 3 Classen eingeteilt werden nach bestimmten Congruenzeigen- 
schaften. Eine Notiz, über die Bildung der Normen von Zahlen 
des Körpers Y» veranlaGt zur Vermutung, daß Gauss schon 


528 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


1808/9 die Untersuchung der algebraischen Zahlen in Angriff ge- 
nommen hatte '). 
Elegante Rechnungsmethoden zeigen die Lösung eines Systems 


von linearen Gleichungen und der Beweis des Satzes, daß tg — für 


rationale Werte von m und 7 nicht rational sein kann. Von 


. m m 
P= sin Pu und P, = cos er. ausgehend kann man eine unendliche 


Reihe stets abnehmender Glieder P,P,P,P,... bilden, welche den 
Gleichungen genügen: 
P, = nP,—mP 
P, = 3nP,—m’'P, 
P, = 5nP,-m’P, 


P,, P;,--- können also nicht ganzen Zahlen proportional sein, was 
aber der Fall sein müßte, wenn P und P, in einem rationalen Ver- 
hältnis stünden und m sowie » ganze Zahlen sind. 

3. In den Abhandlungen aus Analysis und Functionentheorie ist 
zunächst abgedruckt die in den Acten der Kgl. Gesellschaft der 
Wissensch. zu Göttingen im Jahre 1893 gefundene und in deren Be- 
richten bereits publicierte Note »De integratione formulae differentialis 
(1|+ 2 cosq)"dp<, dann ein Satz von Euler über exacte Differentialaus- 
drücke; vier Notizen über Inversion von Potenzreihen, bemerkens- 
wert wegen der Eleganz der Formeln; zwei verschiedene , sehr ein- 
fache und doch auf allgemeinen Voraussetzungen ruhende Beweise des 
Lagrangischen Lehrsatzes von der Entwicklung einer Function g (x) 


nach Potenzen von u, wenn x = t+uX ist, die Entwicklung von 
1 


(kh — cos 9)? 
Notizen iiber die elliptischen Functionen. 

Man kennt seit der Veröffentlichung von Gauss’ Briefwechsel 
mit Bessel allgemein die Ideen des ersteren über die Definition der 
Functionen complexer Variabeln a+:5b und die Integration in der 
complexen Ebene. Man weiß aus diesem Briefe vom 18. Dec. 1811, 
daß Gauss die wichtigsten Cauchyschen Sätze über die Integration 
auf einem geschlossenen Wege anticipiert hatte. Zu diesen Ideen 
bilden die aus den elliptischen Functionen vorliegenden Notizen die 
Ausführung im concreten Fall, in der Erkenntnis ihrer weittragenden 
Bedeutung. 

Die »Untersuchungen über die transcendenten Functionen, die 








in eine trigonometrische Reihe und höchst interessante 


aus dem Integral { To ihren Ursprung haben<, sind nach einer 
LI 


1) Vgl. übrigens die Anm. auf Seite 629. 


Gauss Werke. Achter Band. 529 


Tagebuchnotiz schon vom 9. September 1796 und enthalten die Um- 
kehrung des Integrals. Es ist gesetzt 


= dx 
= Ik = ——— und z= P ’ 
4 f V1+a y 


dann ist eine Periode der Function z die Größe 6% = II(0), so 
daß also Pp = P(p+6Xky) wird. Daran schließen sich das Additions- 
theorem der Function P und Reihenentwicklungen für 7/(1 + 2). 

Hat hier Gauss eine reelle Periode der elliptischen Functionen, 
so zeigt eine zweite Notiz über die Umkehrung des elliptischen Inte- 
grals erster Gattung zweifellos, daß Gauss die doppelte Periodicität der 
elliptischen Functionen gekannt hat. Für 


— / ae 
’ V(1 — 2*) (1 — wor’) 
wird die Umkehrung x = f(g) und log x = y gesetzt, und nun 
y=v-w, woe” = Pg, e~ = 0p 
abgeleitet, wo P und Q ganze transcendente Functionen des Argu- 
ments @ sind, mit welcher Ableitung die imaginäre Periode ge- 
geben ist. 

Durch diese Publicationen sind die entsprechenden des III. Ban- 
des der Werke in wichtigen Punkten ergänzt und Gauss’ Stellung 
zu den Entdeckungen von Abel und Jacobi klarer gelegt. Aus den 
Aufzeichnungen des Tagebuchs geht hervor, daß Gauss die Entwick- 
lung der lemniscatischen Function, der Periode, und die Fünfteilung 
der Lemniscate schon am 21. März 1797 besessen hat. Ferner er- 
weisen Notizen des Tagebuchs aus den Jahren 1798 (Juli) und 1799 
30. Mai, 14. Dezember) Gauss’ Entdeckung des Zusammenhangs des 
arithmetisch-geometrischen Mittels mit den elliptischen Functionen. 
Es ist nun doch zu hoffen, daß manche Fragen, welche P. Günther 
in seiner Studie über die Untersuchungen von Gauss in den ellipti- 
schen Functionen (Nachr. der K. Ges. der Wissensch. zu Gött. 1894) 
unentschieden lassen mußte, sich aufklären, namentlich die Frage, 
ob Gauss mit der Landenschen Transformation vertraut war, oder 
durch seine eigenen Untersuchungen über das a.-g. Mittel dazu 
kam‘). Gauss ist jedenfalls in einem Punkt sogar viel weiter ge- 
kommen als die beiden genannten Mathematiker, indem er Betrach- 

1) Für eine demnächst erscheinende Festschrift der kgl. Gesellsch. der Wis- 
senschaften zu Göttingen bereitet Herr Klein eine Herausgabe des Gaussischen 
Tagebuches vor, woriu er seine historischen Studien über die ellipt. Functionen 
bei Gauss niederlegt. U. a. findet sich darin auch eine beachtenswerte Vermutung 
über die Einführung der Zahlentheorie complexer Zahlen, die einen wesentlich 
späteren Zeitpunkt annimmt als bisher geschehen ist. 

Géts, gel. Ans. 1901. Nr. 7. 36 


580 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 7. 


tungen anstellte, welche sich mit den von Schwarz, Dedekind, Klein 
u.a. untersuchten Modulfunctionen ') befassen. 
Gauss bemerkt nämlich, daß man in der Formel: 


n _ ull-de 4 26 A 9g OM Js 
m (1426 4 64M 4 Me. 2 
welche nichts anderes ist als der complementäre Modul k’, wenn 
M = -* = ıo gesetzt wird, die Größe M durch u 
ersetzen darf, wenn 9,9,r,s ganze, der Bedingung 
pr+4qs = 1 


genügende Zahlen sind. In einer späteren Note werden diese selben 
Reihen, in neuen Bezeichnungen, untersucht: 


pt = 142% 4 06 4 


qg = 1—2¢ Tre #%_ 





rt = 264" 4 964 4 06 oe, 
und gefragt nach den Werten von ¢, welche der Gleichung 
U _ 
zT 4 


genügen. Es wird dann ein Wert durch die Methode des arith- 
metisch - geometrischen Mittels ermittelt, und ausgesprochen , daß 
alle übrigen Werte in der Formel enthalten sind: 
at — 2Br 
d — 2yte 
wo a, B,y,¢ wieder ganze Zahlen sind, mit der Bedingung: 
ad —4By = 1. 
Weiter wird dann noch aus A abgeleitet 
— 4 
pit 
Mehrere Figuren, die sich im Nachlaß gefunden haben, lassen 
es wahrscheinlich erscheinen, daß Gauss bei der Substitution von M 
resp. ¢, die heute gebräuchliche geometrische Darstellung durch 
Spiegelung auseinander hervorgehender Kreisbogendreiecke benutzt 
hat, ja daß ihm der Begriff der natürlichen Grenze, wie er geo- 





1) Man vergleiche das eingehende Werk: Klein F.-Fricke R. Vorlesungen 
über die Theorie der elliptischen Modulfunctionen. 2 Bände. Leipzig. Eine 
kurze nicht vollständige historische Darstellung enthält auch der Bericht über 
die Entwickelung der algebraischen Functionen von Brill und Noether. 


Gauss Werke. Achter Band. 531 


metrisch als Grenze der Kreisbogendreiecke sich ergiebt, nahe 
lag. Die letzte angeführte Note, welche ¢ als Function von A an- 
sieht, zeigt deutlich, daß Gauss die Beziehung der A und ¢ als Ab- 
bildungsaufgabe gefaßt hat. 

Wegen der verschiedenen Aufsätze über das Pentagramma miri- 
ficum verweisen wir auf die wertvollen Erläuterungen von Herrn 
Fricke, durch welche die Notizen über denselben Gegenstand aus 
dem Band III erst verständlich werden. Man hat es hier mit Unter- 
suchungen zu thun, die schon von Neper begonnen worden sind. 

Unter den Gegenständen aus der Analysis und Functionentheorie 
findet sich auch ein schönes Theorem aus der Wahrscheinlichkeits- 
rechnung, nämlich, wenn 


f ep (dt = vu Vz 


—co 
gesetzt wird, so ist: 


frewo(udu = plVir. 


Im Uebrigen enthält der Band einige Beiträge zum numerischen 
Rechnen, verschiedene von Gauss publicierte Besprechungen, Aufsuchung 
des sin kleiner Bogen, Interpolation, Versicherungsrechnungen und hi- 
storisches zur Theorie der kleinsten Quadrate, hauptsächlich Briefe, in 
denen sich Gauss über die Begründung derselben, und die Zeit ihrer 
Entdeckungen, wegen der Reclamationen von Legendre ausspricht. 

Mit dem größten Interesse ist die Publication der Ansichten 
Gauss’ über die Grundlagen der Geometrie erwartet worden und in 
der That bieten die neuen Publicationen reichen Stoff, wenn man 
auch dadurch nicht gerade einen völlig gesicherten Einblick in 
die Entwicklung der Resultate erhält, da Gauss überhaupt erst 
ziemlich spät angefangen hat Notizen zu machen, abgesehen von 
einigen Anzeigen misglückter Versuche, welche nur die Analyse 
der betreffenden Arbeiten enthalten und die Aufdeckung des Fehlers 
bezwecken, mit einer bemerkenswerten Sicherheit, welche fast nur 
bei Kenntnis des endgültigen Resultates möglich ist. Gegenüber den 
Publicationen von Bd. IV und den von Engel und Stickel’) besorgten ent- 
hält der 8. Band viel Neues. Das gesammte Material enthält Briefe, 
an W. Bolyai, Gerling, Wachter, Olbers, Taurinus, Schumacher, fer- 
ner einige Notizen über Parallelen, sphärische Geometrie, Astral- 
geometrie und die früher edierten Anzeigen. 


1) Gemeint ist: Engel Fr. u. Stäckel, Die Theorie der Parallellinien. Leipzig. 
1895. Math. Ann. Bd. 49 und Briefwechsel von G. mit W. Bolyai, herausg. ven 
Stäckel und Fr. Schmidt. Leipzig 1899. 


36* 


582 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


In der Gedächtnisschrift von Sartorius von Waltershausen lesen 
wir, daß Gauss die Geometrie »als ein consequentes Gebäude, nach- 
dem die Parallelentheorie an der Spitze zugegeben sei< betrachte, 
und man möchte vermuten, daß hierin der Standpunkt ausgesprochen 
sei, welcher heute die ganze Frage der Parallelentheorie als eine so 
leichte erscheinen läßt, indem zwischen dem logischen Aufbau des 
Systems auf Grund der Axiome und dem metaphysischen Problem, 
ob der Euklidischen oder einer anderen Geometrie, eine Realität 
außer unserem Denken zukomme, strenge geschieden wird. Doch 
lassen die übrigen Zusammenstellungen des 8. Bandes keinen Zweifel, 
daß für Gauss die Entscheidung über die 5te Forderung Euklids 
(das sog. 11. Axiom) zusammenfiel mit der exacten Begründung der 
Geometrie unseres Raumes. Für ihn sind die Axiome nicht 
bloß Sätze, die allgemein einleuchtend und widerspruchsfrei sind, eine 
ideelle Realität besitzen, sondern auch eine materielle. Aber Gauss 
verlangt, daß alle Anschauungsinhalte auf klare Begriffe gebracht 
werden, wie er das für den Begriff »zwischen< einmal besonders be- 
tont (S. 222, Brief an W. Bolyai vom 6. März 1832). Die geodätischen 
Messungen hatten für ihn neben ihren durchaus practischen Zwecken 
auch eminente Wichtigkeit für diese tiefliegende theoretische Frage 
und in dem eben citierten Brief über die Abhandlung Johann Bolyais 
hebt Gauss gerade diese Schwierigkeit, zwischen den verschiedenen 
Geometrien noch zu entscheiden, besonders hervor. Gegen Kant sieht 
Gauss in dieser Schwierigkeit den klaren Gegenbeweis gegen die 
Behauptung, daß der Raum nur Form der Anschauung sei; wie 
Gauss in Zusammenhang hiermit wiederholt darauf aufmerksam 
macht, daß die Unterscheidungen von Rechts und Links, von rechts- 
drehender oder linksdrehender Schraubenwindung nur empirischer 
Natur sind und überhaupt nur möglich sind »für Geister, denen die 
materielle Welt apprehensibel ist, ... in dem Ein und dasselbe ma- 
terielle individuelle Ding eine Brücke zwischen ihnen schlägt,< .... 

Die früheste Aeußerung, welche, abgesehen von Tagebuchnotizen 
vom 28. Juli 1797 und Sept. 1799, in ‘einem Brief an W. Bolyai 
sich findet (dat. 16. Dec. 1799), enthält schon den Zweifel an dem 
Satz, daß ein Dreieck mit unendlich großen Seiten auch unendlich 
großen Inhalt hat, {.... »wenn man beweisen könnte, daß ein ge- 
radliniges Dreieck möglich sei, dessen Inhalt größer wäre als eine 
jede gegebene Fläche, so bin ich im Stande die ganze Geometrie 
völlig strenge zu beweisen«}, und aus dem Tagebuch Schumachers 
erfahren wir, daß »Gauss die Theorie der Parallelen darauf zurück- 
gebracht, daß wenn die angenommene Theorie nicht wahr wäre, es 
eine constante a priori der Länge nach gegebene Linie geben müßte, 


Gauss Werke. Achter Band. 588 


welches absurd ist. Doch hält er selbst diese Arbeit noch nicht für 
hinreichende. Man möchte hieraus doch schließen, daß Gauss’ Ge- 
danken die Richtung verfolgten, in welcher nach dem heutigen Stand 
der Wissenschaft die Lösung des Problems lag. Verschiedenen seiner 
Schüler hat auch Gauss ähnliche Ansichten mitgeteilt, wie u. a. der 
Brief Wachters (vom 12. Dec. 1816) beweist. Als Schweikart durch 
Vermittlung von Gerling (25. Jan. 1819) einen kurzen Auszug seiner 
Astralgeometrie an Gauss geschickt hatte (Bemerkung über die 
Summe der Winkel im Dreieck < 180°, Zusammenhang des Drei- 
ecksinhalts mit dem Defect der Winkelsumme und obere Grenze der 
Höhe eines gleichschenklig-rechtwinkligen Dreiecks) antwortet die- 
ser sofort zustimmend, formuliert den Satz über den Dreiecksinhalt 
genau und giebt auch die genaue Formel für die obere Grenze des 
Flächeninhaltes eines Dreiecks. Es ist dies bemerkenswert, da zwi- 
schen dem Brief von Gerling an Gauss und dessen Antwort nur 
eine Zeit von 1!/s Monaten liegt. Jedenfalls stand für Gauss die 
Möglichkeit einer Nichteuklidischen Geometrie fest und damit sowohl 
die Unbeweisbarkeit des Parallelenaxioms, wie auch daß die Eukli- 
dische Geometrie in sich consequent sei, wenn das Parallelenaxiom 
beibehalten wird. Der Brief Gauss’ an Taurinus (1824) bestätigt 
diese Ansicht, wir lesen dort, er habe »dieselbe ganz befriedigend aus- 
gebildet, so daß« er »jede Aufgabe in derselben auflösen kann, mit 
Ausnahme der Bestimmung einer Constanten, die sich a priori nicht 
ausmitteln läßt« und er sieht klar ein, daß die Euklidische Geometrie 
aus dieser Nichteuklidischen folgt, wenn jene Constante unendlich 
groß wird. 

Als daher Gauss im Februar 1832 die Entdeckung von Johann 
Bolyai zu Gesicht bekommt, sind ihm wohl die Resultate nicht neu 
gewesen, ebenso wenig wie später diejenigen Lobatschewskijs'), nur 
seine Methoden seien andere, und es ist erfreulich zu lesen, mit 
welcher Begeisterung und unbedingten Anerkennung Gauss die 
Schriften seiner jugendlichen Concurrenten aufnimmt. 

Verfolgen wir nun die einzelnen Notizen, Briefe und Anzeigen, 
wie sie in historischer Folge zusammengestellt sind, so sieht man 
daraus deutlich, wie der Gedanke einer Nichteuklidischen Geometrie 
stets leitend war für Gauss, daß er aber in früheren Zeiten doch 
immer wieder den Versuch zu einer direkten Begründung der Pa- 
rallelentheorie unternommen hat, noch 25. Nov. 1804 schreibt’er an 


1) Wenn Gauss (Brief an Schumacher 28. Nov. 1846) sich einmal ausdrickt, 
er habe die Idee der Nicht-Euklidischen Geometrie, oder der Astralgeometrie 
schon seit 54 Jahren, also seit 1792, so dürfte hier doch wohl ein leicht be- 
greifliches Versehen vorliegen. G. war damals 15 Jahre alt. 


584 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


Bolyai: »Ich habe zwar noch immer die Hoffnung, daß jene Klippen 
einst, und noch vor meinem Ende, eine Durchfahrt erlauben werden«, 
aber kein Fehler passiert die strenge Kritik, wie auch jener Brief 
nur der Aufdeckung eines Fehlers gewidmet ist. 

Zwei Notizen, die eine aus der frühesten Zeit der Beschäftigung 
mit den Grundlagen, die andere muthmaßlich im Jahre 1831 nieder- 
geschrieben, beschäftigen sich mit den Parallelen. In der ersten 
Notiz wird als Parallellinie zu einer Geraden eine solche definiert, 
von welcher die Senkrechten auf letztere überall von gleicher Größe 
sind, dann schneidet eine Gerade unter gegebenem Winkel gegen 
die Gerade stets die Parallele. In der zweiten Notiz definiert Gauss 
folgendermaßen: »Wenn die Geraden AM ..., BN... einander 
nicht schneiden, jede durch A zwischen AM ... und AB... ge 
legte Gerade hingegen die BN ... schneidet: so heißt AM ... mit 
BN ... parallele. Es wird dann bewiesen, daß die Parallelität von 
der Annahme der Punkte A und B auf den beiden Geraden unab- 
hängig ist und daß Reciprocität besteht, d.h. wenn AM || BN, so 
ist auch BN || AM. Der Satz, daß eine beliebige Gerade Parallelen 
unter gleichen Winkeln schneidet, ist nicht ausgeführt, dazu sind nur 
vorläufige Notizen aufgezeichnet. Uebrigens hat Gauss einer dieser 
zweiten Fassung ganz analoge des Parallelenaxioms, von Gerling 
ihm Juli 1818 unterbreitet, zugestimmt. 

Zwischen den verschiedenen Untersuchungen finden sich wieder 
Sätze über die Winkelsumme des Dreiecks, der Beweis, daß diese 
Summe nicht 180° übersteigen kann (wenn die Gerade unendliche 
Ausdehnung besitzt) und Beziehungen der Außenwinkel zu den Drei- 
eckswinkeln. Von der Zeit ab, da die Correspondenz mit Wolfg. Bolyai 
über die Entdeckung seines Sohnes beginnt und Gauss die Werke 
Lobatschewskijs zu Gesichte bekommt, finden sich Aufzeichnungen 
über verschiedene Fragen der Nichteuklidischen Geometrie, ein goo- 
metrischer Beweis des Satzes vom Dreiecksinhalt, Volumenbestimmung 
des Tetraeders und die Formeln für die Seiten und Winkel eine 
endlichen Dreiecks, wenn für ein unendlich kleines Dreieck die For- 
meln der Euklidischen Geometrie angenommen werden dürfen. In 
den ausführlichen Erläuterungen, welche Herr Stäckel diesen Auf 
zeichnungen, die ohnedies sehr schwer verständlich wären, zuge 
fügt hat, weist er mit Recht darauf hin, daß Gauss die Constante, 
die bei der Integration der Differentialgleichungen auftritt, mit & 
bezeichnet, einem sonst von Gauss für das Krümmungsmaß benutz- 
ten Buchstaben und man mag hierin wohl eine Stütze sehen, für die 
Ansicht, daß G. die Geometrie auf den Flächen in Beziehung gesetzt 
hat zur Nichteuklidischen Geometrie, doch läßt sich aus den übriges 
Schriften diese Annahme kaum genügend begründen. 


Gauss Werke, Achter Band. 585 


Kin Theorem aus der Sphärologie giebt den Inhalt eines sphä- 
rischen Vierecks mit 3 rechten Winkeln, wenn eine Seite sehr 
klein ist. 

Aus den Anzeigen und Briefen, welche größtenteils sich auf die 
Berichtigung von Fehlern und Aufdeckung unvermerkt benützter 
Prämissen beziehen, heben wir noch besonders einen Brief an Ger- 
ling (vom 11. April 1816) hervor, in welchem sich Gauss über die 
Parallelentheorie von Legendre ausspricht und klar auseinandersetzt 
was statt hätte, wenn die Euklidische Geometrie nicht richtig wäre. 

Ebenso alt wie die Beschäftigung Gauss’ mit der Parallelen- 
theorie sind seine Meditationen über die Definition der Ebene, er 
findet, daß die Euklidische Annahme zu viel enthält, ein Theorem 
involviert, das erst bewiesen werden muß (Brief an Bessel 27. Jan. 
1829). So setzt er selbst an diese Stelle die »Begründung des Pla- 
num: Ebene nennen wir die Fläche, in der jede durch einen ge- 
gebenen Punkt A gehende Gerade AD liegt, die mit der gegebenen 
Geraden AB einen rechten Winkel macht«. Dann muß aber erst 
bewiesen werden, daß die Verbindungslinie irgend zweier Punkte 
derselben ganz in derselben liegt. | 

Sehr interessant ist auch der Briefwechsel zwischen Gauss und 
Gerling über die Fragen der Congruenz und Symmetrie zu lesen, 
wo u.a. G. auf die Bestimmung des Tetraederinhaltes ohne das 
Exhaustionsprinzip wiederholt hinweist. 

Fragt man nun nach der Stellung, welche Gauss in der Ent- 
wicklung der Nichteuklidischen Geometrie wirklich einnimmt, so kann 
man über deren Bedeutung, obwohl er nie etwas von seinen An- 
sichten publiciert hat, nicht zweifeln. Es ist fast sicher, daß G. die 
richtige Spur ein Jahrzehnt vor Schweikart Bolyai, Lobatschewskij ver- 
folgte, unschätzbar ist sein Einfluß auf seine Zeitgenossen durch das 
hohe Interesse, welches er der Frage bekanntermaßen entgegen- 
brachte, und durch den Enthusiasmus, mit dem er die Lösung des 
Knotens begrüßte, wenn auch nicht gesagt sein soll, daß Schweikart 
Bolyai und Lobatschewskij von Gauss angeregt waren. Volle Aner- 
kennung verdient die sachliche Kritik, die jeder neue Versuch einer 
Parallelentheorie von ihm erfuhr und schließlich ist doch kaum ver- 
kennbar, daß Gauss auf Riemann gewirkt hat, und daß der in den 
sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts publicierte Briefwechsel zwi- 
schen Gauss und Schumacher allerorten das Interesse für die Nicht- 
euklidische Geometrie wieder geweckt hat. 

Unter den übrigen Gebieten aus der Geometrie zeigen uns die 
Fragmente aus der Analysis situs eine neue Seite von Gauss’ Thätig- 
keit. Er beschäftigt sich darin mit der Minimalzahl n+ 1 von Knoten 


536 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


einer ganz in sich zurücklaufenden Curve mit der Amplitudo + s . 360, 
und stellt zu einem wohl empirisch gefundenen Resultat verschiedene 
Methoden des Beweises auf. Im übrigen begnügen wir uns hier mit 
einem Hinweis auf die Bemerkungen zur sphärischen Trigonometrie, 
mit den Formeln von Delambre, Satz von Legendre etc., die brieflichen 
Aeußerungen und Bruchstücke über den barycentrischen Calcul und die 
weitläufigen Auseinandersetzungen der Lösung und Discussion der 
Pothenotischen Aufgabe‘), um uns zu einer kurzen Analyse zweier 
Gebiete zu wenden, die von breiterem Interesse sind. Das erste 
betrifft einige Notizen zusammengestellt in der »Verwendung com- 
plexer Größen für die Geometrie<, das zweite die »Theorie der 
krummen Flächen«. 

In dem Artikel »Geometrische Seite der ternären Formen«, der 
aus dem 2. Band wieder abgedruckt ist, giebt Gauss die bekannte 
für die Zahlengitter und deren Anwendungen z.B. auf Kristallo- 
graphie so wichtige Deutung. Darnach stellen 3 Größen (2), (t’), (f) 
drei Punkte P, P’ und P” dar, zu denen der Uebergang von einem 
Nullpunkt (0) eben durch ¢, { und @ geschieht. Das Trinom 
(t+xt +2’) stellt einen Punkt im Raum vor, und 

Q = Ic+HN Ed +N A 

eine Ebene, wenn 2,4, 2',4” bestimmte Zahlen bedeuten. Es folgt 
die Bestimmung der Geraden, welche senkrecht gegen zwei Strahlen 
durch den Punkt 0, oder gegen eine Ebene, ist und die Deutung der 
Form durch den Inhalt eines von 3 Punkten nt, m't’, m"t" gebildeten 
Dreiecks. Man erkennt leicht darin Ansätze, welche uns in der 
Lehre von Größen mit mehreren Einheiten und der Vectorentheorie 
entgegentreten. 

In einem gewissen inneren Zusammenhang mit den von Grass- 
mann und Hamilton entwickelten Theorieen stehen die »Mutationen 
des Raumes<, womit gemeint ist eine Bewegung eines Raums in 
einem andern mit einer gleichzeitigen Vergrößerung oder Verkleine- 
rung, so daß eine Drehung um eine feste Axe, verbunden mit einer 
Aehnlichkeitstransformation stattfindet. Diese Transformation drückt 
Gauss durch einen Complex von 4 Größen a,b, c,d aus, durch welche 
die neun Größen der Transformation der Raumcoordinaten sich dar- 
stellen. Irgend zwei Mutationen lassen sich zu einem Produkt zu- 
sammensetzen, indem aus den Scalen 


a, b,c, d und a, B, y, 8 
die neue Scale hervorgeht: 


I) Vergl. hierüber die Anzeige von Gauss Werken durch Darboux in »Bulletia 
des sciences math. 1901«. 


Gauss Werke, Achter Band. 597 


aw—bB—cy—dé, aB+ba—cd+dy, ay+bd+ca—dB, ad—by-+cß+-de, 
und hiebei bemerkt Gauss, daß das commutative Gesetz der 
Multiplication nicht gilt. 


In einer späteren Notiz setzt Gauss 


Vo+c+d = ¢ 
und bezeichnet mit 

b ec hd 

0 ee ee 


die cos der Winkel einer festen Geraden OP mit drei senkrechten 
Axen. Dann ist die lineare Vergrößerung gegeben durch 


k — Va’ + o’ 
und der Winkel 26, um welchen der Raum gedreht wird, durch 
a = kcos®, e = ksin®. 


Wenn man auch nicht sagen kann, daß Gauss damit die Qua- 
ternionentheorie anticipiert hat, da ja gerade die eigentliche Symbolik 
bei ihm fehlt, so liegen doch in den verschiedenen Bruchstücken 
Ideen vor, die die wichtigsten Eigenschaften der Quaternionen geben, 
betr. die Multiplication der vierstufigen Größen mit 4 Einheiten, und 
darum auch historisches Interesse wohl verdienen. 

Die Abfassungszeit der hieher gehörigen Notizen ist muthmaß- 
lich das Jahr 1819, resp. 1822, während eine spätere Zusammen- 
fassung und geometrische Interpretation einer viel späteren Zeit an- 
gehört. 

Die Verwendung linearer Substitutionen für die Bewegung der 
Kugel in sich ist durch Hermite bekanntlich zuerst durchgeführt 
worden. Wir finden bei Gauss, unter den Notizen über die Kugel, 
speziell in zwei Notizen, »Stereographische Projection der Kugel- 
fliche< sowie »Drehung der Kugelfläche in sich selbst< dieselben 
linearen Substitutionen 


at —b _ At +b — 
Bt+4’ om Bi +a’ 


(worin A, B die conjugiert complexen Größen zu a und b bedeuten) 
zur Verwandlung zweier Punkte. Die zweite Notiz giebt den geo- 
metrischen Satz für die Drehung. 

Die verschiedenen Abhandlungen aus der Theorie der krummen 
Flächen enthalten Vorarbeiten und ergänzende Studien zu den Unter- 
suchungen über conforme Abbildung zweier Flächen auf einander 
und die Resultate der Disquisitiones gen. circa superf. usw. Schon 


{= 


588 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


aus dem Jahre 1816, vermutlich, stammen einige Zeilen, über die 
bekannte Gaussische Abbildung einer beliebigen Fläche auf eine 
Kugel und eine, allerdings nicht hinreichende, Bedingung für die Ab- 
wickelbarkeit zweier Flächen auf einander. Ferner finden sich in 
einer 11 Seiten der vorliegenden Ausgabe umfassenden Zusammen- 
stellung von Gauss, »Stand meiner Untersuchung über die Um- 
formung der Flächen«, die Coordinaten der Fläche durch zwei Ver- 
änderliche ¢,«, also Coordinaten auf der Fläche ausgedrückt, und 
der Satz für die Erhaltung des Krümmungsmaßes, für einen einfachen 
Fall des Linienelementes ds’ = m’(dé?+ du"), bewiesen, und zwar 
nach einer ähnlichen Methode, wie sie später in den Disq. ent- 
wickelt ist. 

Als eine weitere Vorarbeit für die Disquis. ist eine Untersuchung 
zu betrachten, in welcher die geodätische Krümmung, nach Gauss’ 
Seitenkrümmung, eingeführt wird und ihre Invarianz bei Flächenver- 
biegung aufgestellt wird. 

Den >Disquis.< selbst geht noch eine deutsche Ausarbeitung 
(von 1825) desselben Gegenstandes voran, die unter dem Titel »Neue 
allgemeine Untersuchungen über die krummen Flächen< in dem 8. 
Bande abgedruckt ist. Sie unterscheidet sich, wenn auch nicht in 
den Resultaten, so doch methodisch wesentlich von der späteren Be- 
arbeitung, von 1827. 

Es werden darin zunächst Zeichenregeln für die Inhalte und den 
Verlauf ebener Curven gegeben und der Krümmungsradius für einen 
Punkt durch Abbildung der Curve auf einen Kreis entwickelt. Für 
die Untersuchung der Flächen wird die Flächengleichung in der 
Form 


f(z, y,2) = 0 oder = f(x,y) 
zu Grunde gelegt und das Krümmungsmaß durch die Abbildung eines 
Flächenstücks do auf der Fläche auf ein Stück dd auf der Kugel 


definiert als Quotient = , und dessen Identität mit dem Ansdruck 


1 . 
SR nachgewiesen. 

Der Satz von der Erhaltung des Krümmungsmaßes wird nun 
ohne bedeutende Rechnungen so bewiesen, daß zuerst die Summe 
der drei Winkel in einem von geodätischen Linien auf der Fläche 
begrenzten Dreieck durch die Abbildung desselben auf die Kugel 
bestimmt wird. Diese Winkelsumme ist gleich 180°, vermehrt um 
den Inhalt des Dreiecks auf der Kugel, wo dieser Inhalt positiv oder 
negativ zu nehmen ist, je nachdem die Dreiecke auf der Kugel und 


Hiller von Gaetringen, Thera. Erster Band. 589 


auf der Fläche im gleichen oder entgegengesetzten Sinn durchlaufen 
werden. Da dann bei der Abwicklung geodätische Linien geodätisch 
bleiben, die Winkel sich erhalten und die Flächeninhalte, so haben 
ein Flächenstück und seine Abwicklung inhaltsgleiche sphärische Bil- 
der und damit ist die Gleichheit des Krümmungsmaßes gegeben. 
Es folgt dann noch der bekannte Orthogonalitätssatz und einige Be- 
rechnungen unter Zugrundelegung eines Coordinatensystems aus den 
geodätischen Linien aus einem Punkt und den Winkeln derselben 
gegen eine feste geodätische Linie. 

Immer zeigt sich in diesen Untersuchungen das Interesse von 
Gauss für Fragen der Geodäsie, mit denen sie im Zusammenhang 
verstanden sind. 


Göttingen, Mai 1901. J. Sommer. 


F. Frhr. Hiller von Gaertringen, Thera, Untersuchungen, Vermessungen und 
Ausgrabungen in den Jahren 1895—1898. Erster Band: Die Insel Thera 
in Altertum und Gegenwart mit Ausschluß der Nekropolen, unter Mit- 
wirkung von W. Dörpfeld, D. Eginitis, Th. von Heldreich, E. Jacobs, A. Phi- 
lippson, A. Schiff, H. A. Schmid, E. Vassiliu, W. Wilberg, P. Wilski, P. Wol- 
ters herausgegeben von F.F.H.v.G. Mit 31 Heliogravüren, 240 Abbildungen 
im Text und 12 Karten und Ansichten in Mappe. Berlin, Verlag von Georg 
Reimer 1899. XV u. 404 8. 4°. 


Derselbe: Inscriptiones Graecae insularum maris Aegei, consilio 
et auctoritate Academiae litterarum regiae Borussicae editae, fasciculus tertius: 
Inscriptiones Graecae insularum Symes Teutlussae Teli Ni- 
syri Astypalaeae Anaphes Therae et Therasiae Pholegandri 
Meli Cimoli edidit F.H. d.G. Accedunt tabulae geographicae duae. Bero- 
lini apud Georgium Reimerum 1898. VIII u. 272 S. Fol. 


In den beiden vorliegenden Werken hat Professor Freiherr Hiller 
von Gaertringen den größern Teil der reichen Ernte seiner For- 
schungen und Ausgrabungen auf Thera, über die bereits anläßlich 
seines vor der Dresdner Philologenversammlung gehaltenen Vortrags 
vom Unterzeichneten berichtet worden ist (D. L.-Z. 1898 S. 59 ff.) 
seit geraumer Zeit ausführlich bekannt gemacht. Nur Dragendorffs 
Band über die Grabfunde steht noch aus. Mit seltener Arbeitskraft 
hat H. in kurzer Frist nicht bloß das große Stück eigener wissen- 
schaftlicher, schriftstellerischer und redactioneller Arbeit bewältigt, 
auch den ganzen Stab von Mitarbeitern zu rechtzeitigem Abschluß 
ihrer Beiträge vermocht. Der Dank für so ungewöhnlich promptes 
Erscheinen wird nicht beeinträchtigt werden von der Erwägung, ob 
bei langsamerem Verfahren manches noch besser und gründlicher zu 
leisten gewesen wäre. Bedauerlicher ist es, daß den beiden Bänden 


500 Gott. gel. Ans. 1901. Ne. 7. 


die Ergebnisse zweier weiterer Campagnen, im Sommer 1899 und 
1900, nicht zu Gute kommen sollten (Arch. Anz. 1889 S. 181 ff, 
Athen. Mitth. 1900 S. 461 ff., Hermes 1901 S. 113ff). Aber es 
geschah H. selbst unerwartet, daß ihn weitere Reisen für das Insel- 
corpus wieder nach Th. zurückführten. So haben wir ihm nur aufs 
neue zu danken für die Vermehrung unseres Wissens, die er in 
einem III. Bande »Thera« zusammenzufassen verheißt. 
L 

Der vorliegende I. Band tritt als eine Inselmonographie größten 
Stils auf. Im I. Kap. (S. 1—35) erzählt H. lebhaft und anziehend, 
mit liebenswürdiger Anspruchslosigkeit »die Geschichte der Er- 
forschung von Thera« von Herodot bis auf sich selbst. Hübsche 
Züge aus den eigenen Erfahrungen sind dazu nachgetragen in dem 
neuen Vortrag H.s »Ausgrabungen in Griechenland< (Berlin, G. Rei- 
mer 1901, S. 20ff.). Ueber die seltsamen chartographischen 
Leistungen des Mittelalters und der Renaissance, die Blatt 10, 
11 der Mappe und zahlreiche Textbilder wiedergeben, handeln auch 
noch E. Jacobs und A. H. Schmid im 3. Anhang (S. 375—390). Im 
II. Kap. (S. 36—82) »Die Inselgruppe von Thera, geolo- 
gisch-geographische Skizze«, zeichnet an der Hand von 
Karten und guten Lichtbildern, die wenigstens eine Ahnung von der 
mannigfaltigen, zauberhaften Schönheit der Landschaft vermitteln, 
A. Philippson ein ergreifendes Bild des gewaltigen, vulcanischen 
Naturdramas, welches diesem Fleck Erde seine einzig dastehende 
Gestalt verliehen hat, ohne freilich gerade den alten, von H. er- 
forschten Stadtberg wesentlich zu berühren. Kürzer handelt er über 
»Klima, Bodenbeschaffenheit, Anbau, Bevölkerung, Siedelung< bis auf 
den heutigen Tag. Hier wäre vielleicht besser das VII. Kap. (S. 309 
—350) »Topographische Aufnahmen« von P. Wilski anzu- 
gliedern gewesen. Dieser treffliche, von H. für die Zwecke unserer 
Wissenschaft gewonnene Landmesser legt ferner mit dem Hgb. ihre 
genauen Beobachtungen über »das Wetter von Thera< dar 
(II. Kap. S. 83—121). Gewiß, auch hier steht viel Interessantes, 
wozu für Jeden, der das blaue Inselmeer befahren hat, z.B. die Bil- 
der von Luftspiegelungen S. 91f. gehören. Im Ganzen aber wird, 
dies räumt H. S. 107f. selbst ein, der Altertumsforscher mit dem 
vielen >truckenen Detail<, bevor es der Meteorolog in großem Zu- 
sammenhange durchgearbeitet hat, nicht gar viel anzufangen wissen. 
Aehnliches dürfte von dem IV. Kap. (S. 122—140): »die Flora«, 
aus der Feder des altbewährten Kenners der hellenischen Pflanzen- 
welt, Th. von Heldreich, gelten. Nach dem Grundsatze der Voll- 
ständigkeit müßte man auch einen Abschnitt über die Fauna er- 


Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 541 


warten! Wenn aber schon der rühmlich auf das Ganze gerichtete 
Sinn unseres Inselforschers diese Seiten seines Gegenstandes nicht 
außer Acht lassen wollte, dann wäre es im Interesse des Ebenmaßes 
und der Verbreitung seines Werkes besser gewesen, die umfang- 
reichen geographischen Teile als besondern Band herauszugeben. 
Auch die zum Anhang 2 (S. 359—374) in Zinkdruck vereinigten, 
meist wohlgelungenen Photographien nach Landschaften und Monu- 
menten von den östlichen dorischen Sporaden wären brauch- 
barer, namentlich für den Unterricht, wenn sie mit anderen ihres 
gleichen als lose Blätter nach Art der Arndtschen »Einzelaufnahmen 
antiker Sculptur< in den Handel kämen. 
Il. 

Im V. Kap. (S. 141—148) verarbeitet der Hgb. das ganze von 
ihm vervielfachte Material zu einer »>Geschichte der Stadt 
Ther ac im weitesten, vielleicht wieder etwas gar zu weiten, cultur- 
historischen Rahmen. In seinen Aeußerungen über die älteste Zeit 
war er öfter als Andere in der Lage, meiner vor Jahren mit keckem 
Jugendmute versuchten Construction ausdrücklich beizupflichten. 
Dennoch bleiben mir auch angesichts der ausführlichen Fassung die- 
selben Bedenken, die gegen den ersten Entwurf vorgebracht worden 
sind (D. L.-Z. 1898 S. 62), und andere kommen hinzu. 

An die Spitze aller Erinnerung gehört doch wohl die in die 
Gründungsgeschichte von Kyrene verwobene Sage, Thera sei aus 
einer Erdscholle entstanden, die, ins Meer versenkt, wieder empor- 
tauchte (Roscher, Lex. d. Myth. II S. 1743f.). Denn kann sie et- 
was anderes sein, als ein Nachklang jener vulcanischen Katastrophe, 
die bekanntlich erst diesseits der protomykenischen Besiedelung 
fällt? Von den Phönikern Herodots — dies nochmals hervorzuheben 
scheint gerade jetzt nicht überflüssig — wird auch das schärfste 
Auge in der Stadt Thera, ihre noch unedierte Nekropolis mit ein- 
gerechnet, keine Spur entdecken, eine schöne Bestätigung der An- 
sicht, daß sie bloß auf irriger Ausdeutung der Kadmossage beruhen. 
Daß die ersten griechischen Ansiedler keine Dorer waren glaubt auch 
H. Ob dennoch die Sprache von den ältesten Inschriften an do- 
risch, nicht vielmehr »achäisch« zu nennen ist, wird vielleicht nach 
dem Versuche R. Meisters, den Begriff des dorischen Dialekts einzu- 
schränken (Abh. d. sächs. Ges. 1901), ernstlich gefragt werden dür- 
fen. Diese nichtdorischen Bewohner müssen allerdings frühzeitig, 
in Folge dorischen Zuzugs, ihren Anschluß an das Dorertum voll- 
zogen haben: schon ganz früh kommen die Personennamen Dorieus 
und Dyman vor (Inscr. 548. 550). Den Ausgangspunkt dieser Dori- 
sierung muß ich immer noch, im Anschluß an die herodotischen An- 


542 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


gaben, in Sparta suchen. H.s Behauptung, daß spartanischer Ein- 
fluG auf die Insel »erst von der zweiten Hälfte des sechsten Jahr- 
hunderts wahrscheinlich ist« (S. 143), weil Sparta »erst spät seine 
Blicke in die Ferne lenkte, als es begonnen hatte, sich für den 
Lyderkönig Kroisos zu interessieren« (S. 148), scheint mir mit be- 
kannten Tatsachen nicht vereinbar. Beziehungen Spartas zu Lydien 
repräsentiert schon Alkman (s. jetzt Diels im Hermes 1896, S. 363). 
Was aber hier mehr besagt: dürfen wir den kyrenäischen Aegiden 
widersprechen, wenn sie ihren Karneioscult über Thera aus Sparta her- 
leiten? Dies ist auf alle Fälle der Inhalt von Pindar, Pyth. 5, 68fl. 
(Roscher, Lex. d. Myth. II, S. 1740 f.), einerlei wer dort redet. 
Aber für den Dichter und seine Exegese ist es nicht einerlei. 
Ich habe (Kyr. IV 5), z.T. nach dem Vorgang Anderer, nachzu- 
weisen versucht, daß die in den Scholien vorherrschende Erklärung 
gegen die herrschende moderne im Recht ist, wenn sie das Adlysldu 
euol xatégeg nicht von Pindar, sondern von dem kyrenäischen Chor 
gesprochen denkt. Dieser Versuch erfuhr wenig Zustimmung (z.B. 
bei Maaß, in diesem Blatte 1890 S. 364), sehr viel Widerspruch, 
unter Anderen von so bewährten Pindarkennern, wie O. Schroder 
(Wochenschr. f. kl. Philol. 1893 S. 707 ff.). Auch von Wilamowitz 
hat im Herakles I! 8. 72 das »Gesetz«, der lyrische Dichter rede 
»immer durch den Chor in eigener Person« aufs Neue eingeschärft. 
Aber die von Schröder beigebrachten Stellen erschüttern vielleicht 
meine Voraussetzung, daß die erste Person consequent entweder nur 
den Autor, oder nur den Chor bedeuten muß, nicht aber die Tat- 
sachen, daß in Pyth. 8, selbst wenn an früheren Stellen dieses Lie- 
des Pindar aus eigener Person sprechen sollte, die Anrufung am 
Schluß, Alyıva pita wäreg (140) — nicht rydis, wie Pindar die Schwe- 
ster Thebas nennen konnte (vgl. Rehm in Comm. philol. conventui 
philol. obl. München 1891 S. 148) — und daß in Ol. 14 etyopar und 
éwodoy, das heißt, alles in Betracht kommende, in den Mund des 
Chores allein paßt. Ich kann also, beim besten Willen, von solchen 
Autoritäten Belehrung anzunehmen, kein Hindernis sehen, die fünfte 
Pythische, die sich, zum Unterschied von der vierten, der »Epistel« 
Pindars an Arkesilas, gleich in der ersten Antistrophe als Chorgesang 
kyrenäischer Männer einführt, ebenso aufzufassen, um dadurch der 
Ungeheuerlichkeit zu entgehen, daß der thebanische Dichter die von 
Sparta über Thera nach Kyrene gewanderten Aegiden als seine Vä- 
ter bezeichnen soll. Denn nur so kann ich xatégeg verstehen, ob- 
gleich jetzt Wilamowitz und mit ihm Hiller (S. 145 A. 15) dem 
Dichter zutraut, er habe mit dem Worte, gegen seinen eigenen und 
aller anderen Hellenen sonstigen Gebrauch, just an dieser fatalen 


Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 548 


Stelle blos die Angehörigen derselben z«rp« (wie godreges zu poed- 
tga) gemeint, während doch das einzige einschlägige Zeugnis, das 
ich zu finden vermag, des Stephanos von Byzanz Artikel z«ıoa, für 
diesen Begriff vielmehr den zweckmäßig differenzierten Ausdruck 
zareioı gibt. Sollte wirklich eine Interpretation, deren Verteidiger, 
von G. Hermann bis auf Wilamowitz, immer wieder nach den ge- 
wagtesten Mitteln greifen, zu Rechte bestehen ? 
II. 

H.s ausgeführtes Culturbild der alten Zeit bietet zugleich einen 
zusammenhängenden Commentar zu den von ihm so unerwartet ver- 
mehrten und berichtigten Inschriften. An der Spitze steht jene 
merkwürdige Vereinigung von Götternamen (8. 149f.), welche in 
den Felsen, besonders dicht gedrängt südlich des Karneiostempels, ein- 
gegraben sind (Inscr. 350 ff.). Da lesen wir vier Mal Zeus (350 ff.) 
und drei Mal Kures, (354 f. 371) den Singular zu den kretischen 
Kureten, eine Zusammenstellung, die treffend mit dem Kabiren und 
seinem Pais verglichen wird; vielleicht ist der »>Knabe<, in Anbe- 
tracht theräischer Sitten (unten S. 545 f.), auch mit Ganymedes zu 
vergleichen. Die mehrfache Wiederholung desselben Götternamens 
erklären ähnliche Inschriften beim Gymnasion (Inscr. 399 ff.), wo 
Zeus und andere Götter mit einem Menschennamen im Genetivus 
possessivus verbunden sind: es waren, ursprünglich wenigstens, pri- 
vate Cultplatze. An letzterem Orte (Nr. 402 ff.) heißt der Gott 
dreimal schlechtweg Hikesios, beim Karneiostempel je ein Mal Po- 
lieus (363) und Stoichaios (376), wie die Sikyonier den Zeus nann- 
ten. Der Gedanke an selbständige Sondergötter wird dadurch etwas 
zurückgedrängt, daß in anders gearteten alten Inschriften (Nr. 537 f.) 
Apollon und Delphinios synonym gebraucht werden. Ein Rätsel ist 
Deuteros (358). Von panhellenischen Göttern finden sich noch 
Apollon (356), Hermes (370, Hermeias 368), die Dioskuren (359). 
Lehrreiche Seltenheiten sind Boreaios (357) und besonders der nach 
der thessalischen Urheimat der Theräer zurückweisende Chiron (360), 
gemäß der Rolle, die er in der Kyrene-Ehoie gespielt hat. Gut mi- 
nysch sind auch die erst neulich hinzugekommenen Chariten (Arch. 
Anz. 1899 S. 182). Das epidaurisch-äginetische Paar von Geburts- 
göttinnen kehrt in Nr. 361 wieder, nur daß die Genossin der Damia 
hier nicht Auxesia, sondern Lochaia heißt. Nach Lakonien weist die 
bisher nur vom Hyakinthosgrab her bekannte, in Th. der Athenaia 
(364) benachbarte Biris (365), die doch wohl, ein verfrühtes Beispiel 
der Verdichtung von f zu ß, niemand anderes als Iris sein wird. 
Die Inschriften der Nymphen der dorischen Phylen, Dymanen und 
Hylleer (377£.), sind nicht archaisch, ebenso wenig wie Apollon Ma- 


544 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


leatas (372). Auch Artamis (373. 381) kommt erst spät vor. Um 
so eher möchte ich, gemäß dem Kyr. S. 148 gesagten, einen nach 
Thera besonders gut passenden Namen desselben Wesens in Thero (369) 
erkennen. Die mit ihr unmittelbar verbundene Pheretima, nach der 
sich eine Königin von Kyrene nannte (Herod. 4, 161), wie die Für- 
sten ihres Hauses nach dem mutmaßlichen Hadesheros Arkesilas, 
läßt sich als Synonym von Nike oder Nikephoros verstehen. 

Auf die Frage nach dem Sinn der Felsbettungen, denen die 
alten Götternamen beigeschrieben sind, ist auch jetzt (Th. S. 151) die 
glaublichste Antwort noch nicht ausgesprochen. Zu Altären würde 
der Genetiv gehören, der herrschende Nominativ erfordert ein Sym- 
bol der göttlichen Gegenwart. Die aus den Bildern S. 374 und 
Inscr. 250 ff. ersichtlichen, meist rechteckigen oder kreisrunden For- 
men der Einarbeitungen, im Vereine mit ihren geringen, rund 1 Fuß 
betragenden Maßen, schließt die Deutung auf Götterthrone, wie der 
von Chalke (neu abgebildet Th. S. 372,36) entschieden aus; die 
vage Aehnlichkeit einiger von ihnen mit Sitzen folgt notwendig aus 
der abschüssigen Bodengestaltung (vgl. auch Th. S. 200). Vortrefflich 
dagegen taugen sie insgesammt zur Aufstellung rechteckiger oder ge- 
rundeter Steinfetische. Diese uralte Form des Cultmals hat sich 
in Th. bis ins 3. Jahrh. v. Chr. erhalten. Nahe dem Hauptneste der 
archaischen Götternamen ließ ein Dion die Artemis als Reliefsäule 
am Felsen darstellen (S. 273, Inscr. 381), wie sie oder eine ver- 
wandte Gottheit nach guter alter Vermutung zwischen den Löwen des 
mykenischen Thores erscheint. Hier liegt allerdings die Holz- 
säule zu Grunde, die am längsten üblich blieb im Dionysoscult, wohin 
auch die von viersäuliger Capelle überdachte Säule des Oino- 
maos (Paus. 5, 20,6), des mit Oineus wurzelgleichen, obgleich vom 
Mythos ganz verdunkelten »Weinholds« (Roscher, Lex. HI S. 752. 
772) gehören dürfte. Doch auch der alte Steinklotz ist zu Th. 
noch ebenso spät nachweisbar; Artemidoros von Perge hat in seinem 
altertümlichen Temenos an der Sellada (unten S. 547) neben anderen 
altväterischen Cultzeichen auch einen weAav Aidov der Hekate, mit 
als uvnudovvov Ongas xaddsws, aufgestellt (Inacr. 421b). Mit sol- 
chen Steinen besetzt ergeben jene dicht gedrängten Leeren ein Bild, 
wie es Pausanias auf dem ländlichen Marktplatz von Pharai sah 
(7, 22, 4): 'Eoriixası 0& Eyyvrara tod d&ydAuatog (des Hermes) teted- 
yovoı Aidoı tercéxovta pwddcota agidudy: tovrovs séBovery of Dagets 
Exdoto BEod Tıvog Övoua émcdgyovreg , letzteres schwerlich ohne die 
Hilfe von Beischriften. Aehnliche Versammlungen von Steinfetischen 
gibt es noch heute bei den é@vn, z.B. in Indien (abg. bei Lubbock, 
Entstehung der Civilisation S. 355). Zur Controlle dieser Auffassung 


Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 545 


der theräischen Felsbettungen wird nachzupriifen sein, ob sie neben 
den Namen von Göttergruppen, wie den Chariten oder Lochaia und 
Damia, in entsprechender Anzahl vorhanden waren. 

Bewährt sich die Vermutung, dann wird dieser ehrwürdigen 
Götterversammlung der Name @e@v dyopg« zu geben sein, auf den 
mich C. Wachsmuth zuerst hinwies. Und er findet sich jetzt, so 
scheint mir, ganz authentisch in den Iamben der neuen Felsinschrift, 
die unserem Forscher das erste archaische Zeugnis, etwa vom Be- 
ginn des 5. Jahrh., für die Karneen auf Thera nachgeliefert hat 
(Hermes 1901 S. 134f.). Gegen den Herausgeber und seine ver- 
ehrten Berater wird nämlich zu lesen sein 

Aykoreins ngdroros &yogav Ixddı 
Kolfolvnıa Peay (statt Bedv) deinvlıldev u. s. f. 

und zu verstehen »>Agloteles hat als erster am Zwanzigsten die Ver- 
sammlung der Götter bei den Karneen gespeist«. Ein Blick auf den 
Sonderplan Blatt 5 (auch Inscr. Tf. 1) macht anschaulich, wie natür- 
lich es war, diese vor der Thür des Apollontempels versammelten 
Götter bei seinem Feste mit an die Tafel zu laden. Zwar scheint 
Agloteles sein Göttermahl nicht in dem städtischen Heiligtum ge- 
rüstet zu haben, denn die Felsinschrift ist fernab in der Nähe der 
»Zoodochos Pege«, der einzigen ergiebigen Quelle der Insel (Th. S. 188), 
am Nordabhang des Eliasberges eingehauen. Und im Anschluß an 
Th. S.151 darf nicht übersehen werden, daß die ältesten Urkunden der 
Stadt den Apollon wohl Delphinios (Inscr. 537) und indirect, in Personen- 
namen (Inscr. 380, 551), Lykeios, nicht aber Karneios nennen. Aber 
als der letztere Name von Sparta nachgewandert kam, schloß er sich 
gewiß an den alten Apollontempel der Stadt an, dessen Nachbar- 
schaft dann auch bei der theräischen Gestaltung der Karneenfeier 
nicht unberücksichtigt geblieben sein kann, selbst wenn das Laub- 
hütten- und Traubenfest nicht dort, sondern weit draußen bei der 
Quelle begangen wurde. 

Mit dem Apollontempel und -cultus standen auch die Turn- 
spiele und Tänze in Verbindung, denen das alte, im Osten an- 
schließende Gymnasion (unten S. 551) gewidmet war. Hier hat 
Eumastas ein Klötzchen von der Erde gehoben, 31/4 Mal so groß als 
der 150 kg schwere Wurfstein des Bybon in Olympia und, gleich die- 
sem Athleten, seine Tat durch eine Inschrift auf dem Block selbst ver- 
ewigt (Inscr. 449). Hier schäumte aber auch die derbe Kraft der 
theräischen, wie die der sonstigen >dorischen<, Jugend über in einem 
Betrieb der Knabenliebe, dessen fleißig in den Fels gehauene 
Selbstzeugnisse, darunter die früher auf den Delphinritt Arions be- 
zogenen Zeilen (Inscr. 537), durch so deutliche Vocabeln wie olpsıv 

Gott. gel, Ans, 1901. Nr. 7. 37 


546 Gött. gel. Auz. 1901. Nr. ?. 


(536—539) und xovéadog (540) der Gefahr, daß auch diese Krankheit 
des altgriechischen Geschlechtslebens wieder ein Mal »von einem 
herrschenden Vorurteile befreit< werden möchte, gründlich vorbeugen. 
Als Reizmittel dieser Liebe wird besonders das Geschick im Tanze, 
gewiß in >Gymnopädien< (Th. S. 153) angeführt: dezetrac dyadüs 
(543), &gıorog Öpynoras (540), wpyeiro ua toy ‘AnddAd@ (536). Statt 
nach attischer, ästhetischer Empfindungsweise als xaAds oder aus- 
führlicher: “Avtivjoog xaAös wiv ldeiv regavdg 0& npooeıneiv (Fels- 
inschrift 'Eynu. @gy. 1899 S. 239), wird hier der Geliebte, auch dies 
gut dorisch, als braver, ausgezeichneter, frischer Junge gerühmt: 
a&yatds (350, 540, 544—546), meatıoros (540), in neuerdings gefun- 
denen Aufzeichnungen ägıoros, rourds, YaAspdsg (Arch. Anz. 1890 
S. 1821.). Vom geistigen Leben dieses Gymnasiums liefert nur ein 
Stein mit Sprüchen der sieben Weisen, erst aus dem 4. Jahrh. 
etwa, ein bescheidenes Zeugnis (Inscr. 1020). 

Einem kurzen Ueberblick der alttheräischen Kunsttätigkeit läßt 
der Verfasser S. 155f. die nach seinen Funden viel complicierter 
als früher erscheinende Schriftgeschichte und zuletzt eine 
dankenswerte Zusammenstellung der archaischen Personennamen 
folgen. Mit ihr schließt dieser erste und wichtigste Teil der Stadt- 
geschichte. Im zweiten, von den Perserkriegen bis auf Philometor 
reichenden Abschnitt (S. 160—173) beansprucht das Hauptinteresse 
Theras Verhältnis zur Ptolemäermacht, welche in weitausgreifen- 
der, auch anderen Inseln zu Gute kommender Untersuchung be- 
leuchtet wird. Im dritten (S. 174—184) wird die Römerzeit abge- 
handelt bis hinab zu den Angelosinschriften (Inscr. 933 ff.), die 
jetzt Achelis als Zeugnisse sehr alter Christengemeinden in Anspruch 
nimmt (Zeitschr. f. neutestam. Wissensch. I 1900 S. 87 ff.), und zu 
den Resten eines etwa diokletianischen Flurkatasters aus dem 
Hafenorte Perissa (Inscr. 343 ff.). Die Fortdauer der Besiedelung 
läßt sich nach den neuesten Funden bis ins 9. Jahrh. verfolgen 
(Athen. Mitth. 1900 S. 463). 


IV. 


Den archäologischen Kern des Werkes enthält das VI. Kap. 
(S. 185—308) »>Topographie des alten Thera«. Es ist über- 
mäßig angeschwollen durch die Einschaltung aller von Dörpfeld und 
Wolters abgefaßten Beschreibungen der Bauten und Bildwerke, welche 
dadurch beengt werden, nur um ihrerseits wieder den Gang der 
Periegese hemmend zu zerschneiden, gelegentlich auch ein wenig zu 
verwirren. Ihm zu folgen erschwert auch die Beschaffenheit des 
einzigen Stadtplans Bl. 3. Er gibt mit bloßen Höhencurven keine 


Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 547 


lebendige Anschauung von der schroffen Bodengestaltung und in sei- 
nem einerseits überflüssig weit, nach Nordwest aber zu eng gegriffenen 
Rahmen erscheinen die Ruinen zu klein, die Beischriften allzu spär- 
lich. So ist schon die Auffindung der einzelnen Gebäude nicht immer 
leicht. Ihre dem Text eingefügten Sonderaufnahmen, von W. Wil- 
berg gezeichnet, versagen die Antwort auf manche berechtigte Frage. 
Nicht selten vermißt man auch genaue Abbildungen der in Folge 
gründlicher Zerstörung nicht eben zahlreich erhaltenen Profile. Sehr 
anschaulich sind zumeist die vielen Lichtbilder. 

Der kahle, teilweise von Bimssand bedeckte Stadtfels, das Mes- 
savunö, erstreckt sich nach Südost gegen das Meer, inmitten zwi- 
schen die beiden Fruchtebenen der Insel, die er beherrscht. An ihm 
steigt in Terrassen und Treppenwegen die Stadtanlage auf und 
nieder. Der auf dem Plane leider fehlende Hauptzugang ist im 
Nordwesten, wo die Höhe von dem Massiv des wieder ein Mal nach 
dem Propheten Elias benannten Hauptberges durch den Sattel, die 
Sellada, abgetrennt wird. Nicht blos an dieser Stelle, sondern, 
trotz der Schroffheit der meisten Abhänge ringsum, soll die Stadt 
nach Dörpfeld ummauert gewesen sein (vgl. Ath. Mitth. 1900 S. 465). 
Noch draußen, an der Sellada, lag jenes erst neulich in seiner gan- 
zen, 21m betragenden Länge freigelegte Felstemenos des Arte- 
midoros von Perge, eines Offiziers der ersten Ptolemäer (Arch. Anz. 
1899 S. 190 f.). Gleich innerhalb gehörten der ptolemäischen 
Besatzung die beiden stattlichen, vermutungsweise als Kaserne 
oder Commandantur und — dies mit größerer Sicherheit (nach Inscr. 
327, 460, 467) — als Gymnasion bezeichneten Hausanlagen, zweck- 
entsprechend den höchsten Punkt des Stadtgebiets einnehmend, wie ja 
auch in Kyrene die &xg« von den Aegypterkönigen besetzt gehalten 
wurde (Diodor 19,79). Die Vermutung, der Hof der »Kaserne< sei 
ein Atrium mit Impluvium gewesen (S. 215), setzt sich ohne Grund 
in Widerspruch mit dem Satze Vitruvs (6, 10, 1): atrüs Graeci non 
utuntur; auch dem Peristyl eines Privathauses werden dieselben Na- 
men beigelegt (S. 252f.). Die zur Zeit der Publication noch unaus- 
gegrabenen Teile der Oberstadt südlich von diesen Ptolemäerbauten 
bis zum »Pythion« (s. unten S. 549) hat H. kürzlich aufgedeckt 
und dabei ein weiteres ansehnliches Haus der hellenistischen Zeit, 
einige Zimmer mit bemaltem Stuck verziert, vorgefunden (Ath. Mitth. 
1900 S. 462). 

Südöstlich unter der Kuppe, an der östlichen Abdachung des 
Berges, liegt die Agora, ziemlich genau im Mittelpunkte der lang- 
gestreckten Stadt (Arch. Anz. 1899 S. 183), nicht, wie früher ange- 
nommen wurde, einheitlich, sondern durch Wege in drei Terrassen 

37* 


548 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


geschieden (Ath. Mitth. 1900 S. 464). An der Westseite des südlich- 
sten Teils liegt die Basilike Stoa oder Stoa schlechtweg, welche 
die Patrioten des 2. Jahrh. n. Chr. als Zoyoy &oyalov xal drangents 
xal olov ov [x]AAo [x]o[o]xdo[un]ue Ev ti addce bezeichnen (Inser. 
326,19). Der Hgb. halt auch neuerdings (Anz. 1899 S. 184) gegen 
Dörpfeld, der sie nach den Ptolemäern benannt glaubt (S. 234), — 
was Michaelis leider in Springers Handbuch d. Kunstgesch. I® S. 139 
bereits als Tatsache aufgenommen hat — fest an der Meinung, 
sie reiche vielmehr in die alte Zeit der theräischen Könige hinauf. 
Mit gutem Rechte, dünkt mich. Die späten Einzelformen gehören, 
darüber herrscht kein Streit, erst zu den wiederholten Umbauten, 
um deren Feststellung sich, wie H. S. 186 erwähnt, besonders 
Wolters und Koldewey verdient gemacht haben. Der Grundriß 
aber dieser schmalen, rings von Mauern umschlossenen, nur innen 
der Länge nach durch einfache Säulenstellung zweigeteilten Halle 
(S. 218) findet seine Analogien in den archaischen Tempeln von 
Pästum, Neandria, Thermos und, was hier noch mehr in Betracht 
kommt, in den beiden Langhäusern des Buleuterioncomplexes zu 
Olympia, ja bereits in dem »Megaron<« C des homerischen Ilion 
(Dorpfeld, Troja 1893 S. 23). Dörpfelds athenische Königshalle 
freilich sieht anders aus (Ath. Mitth. 1896 S. 108), ist aber auch 
weit davon entfernt, sicher oder auch nur wahrscheinlich benannt 
zu sein. Eine ptolemäische Basilica kennen wir allerdings auch 
nicht; wohl aber sprechen triftige Gründe, besonders die Gestalt 
des von Philadelphos erbauten Festzeltes, wie ich es bald zu 
reconstruieren hoffe, für die Annahme, daß gerade dort, wie im 
‚ägyptischene Oecus und der Privatbasilica (Vitruv 6, 5) das am 
Nil uralte >basilikale< Schema des dreischifigen Raumes mit über- 
höhtem Mittelschiffe, für die hellenistische Baukunst erobert worden 
ist. Wenig ptolemäisch, wenn auch nicht unbedingt archaisch, mutet 
es ferner an, wenn, nach H.s freundlicher Mitteilung, die unter der 
Westmauer der Stoa gelegene Doppelcisterne mit dreieckigem »falschen 
Gewölbe«, nicht wie das Rinnsal unter dem Ptolemaion zu Samothrake, 
im Keilschnitt überbrückt ist. Leider fehlt diese jedenfalls wichtige 
Anlage in Wilbergs Aufnahme und Dörpfelds Beschreibung gänzlich, 
nur in Wilskis Stadtplan ist sie eingetragen. Weiter darf, im Hin- 
blick auf das Prothyron der »Kaserne< (S. 213) wohl vorausgesetzt 
werden, daß die prachtliebenden Herren von Alexandria selbst die- 
sem weltfernen Felsennest eine etwas stattlichere Verkehrshalle ge- 
baut hätten. Der Name wird nicht entscheiden können. Immerhin 
sei bemerkt, daß der von Dörpfeld S. 234 angeführte Gebrauch des 
Wortes BactAcxy Inschr. v. Pergamon II 642 (mit Nachtrag S. 511), 


Hiller von Gaertringen, Théra. Erste? Band. 549 


so gut wie der Name der athenischen Halle, auf einheimische Könige 
zurückgeht; die Stiftung ägyptischer hätte der theräische Demos so 
gut wie der athenische eher als ptolemäisch bezeichnet. 

Nordwestlich grenzt an die Königshalle die schön gemauerte 
Terrasse mit dem Dionysostempel, der anscheinend später 
dem Kaisercultus eingeräumt wurde. Es ist eine einfache Cella 
mit Pronaos, wie die Tempel desselben Gottes beim Theater in 
Athen und auf dem Markt in Pergamon. Obgleich hier nach in- 
schriftlichen Zeugnissen (Inscr. 468, 419, 329, 466) Dionysos und 
mit ihm Ptolemäer verehrt worden sind, glaubt Dörpfeld, das 
Heiligtum sei erst in der Kaiserzeit auf die ältere Terrasse ge- 
setzt. Auch hiergegen erheben sich Bedenken. Wohl zeigt Inscr. 
1032 (vgl. H. S. 243 Anm. 33), welche von der Freitreppe verdeckt 
ist, daß diese so später Zeit entstammt. Aber sie steht ja gar nicht 
im Verbande mit dem Tempel, über dessen Frontbreite sie unsym- 
metrisch hinausragt (Grundriß S. 239), kann also sehr wohl die 
spätere Umbildung eines ältern Aufgangs sein. Keinesfalls darf von 
‚einem römischen Tempel mit hoher Freitreppe< (S. 242) gesprochen 
werden, denn es fehlen alle specifischen Kennzeichen, welche römi- 
sche von hellenistischen Bauten dieser Art, wie dem ionischen Tem- 
pel auf der Theaterterrasse zu Pergamon, unterscheiden (Michaelis 
in Rom. Mitth. 1899 S. 196 ff.). — Den Teil des Marktes vor dieser 
Tempelterrasse nimmt II. durch scharfsinnige Combination inschriftli- 
cher und litterarischer Zeugnisse als Makellos in Anspruch (S. 247). 

Die Ostseite des Marktes wurde erst neuerlich ausgegraben. 
Hier fand sich wieder ein großer Hausbau und mehrere Treppen- 
straßen, dann weiter südlich das Theater (Arch. Anz. 1899 S. 185, 
Ath. Mitth. 1899 S. 353 f.), in ein Reckteck eingeschlossen, mit drei 
Thüren in der Bühnenwand, wie in Priene (Puchstein, Gr. Bühne 
S. 50). Da dort Agrippina als BovAcd« verehrt wurde, scheint das 
Theater auch als Rathaus gedient zu haben, was durch das theater- 
förmige Buleuterion von Lusoi (Jahresh. d. österr. Inst. 1901 S. 22) 
und das theaterähnliche Ekklesiasterion in Priene (Arch. Anz. 1897 
S. 185) gut erläutert wird. 

Längs den Westfronten dieser Baulichkeiten führt die von der 
Südseite des Marktes ausgehende Hauptstraße nach dem südöstlichen 
Stadtteile. Nahe dem Anfang liegt an ihrer Westseite ein schmaler 
Bau mit offener langer Stoa, der plausibel als Kaufhalle bezeichnet 
wird (S. 249 ff.). Er enthielt auch einen Öffentlichen Abtritt, eine 
Einrichtung, von der inzwischen Thera noch mehr Beispiele geliefert 
hat. Weiterhin liegen in der Hauptstraße einige charakteristisch 
bescheidene Wohnhäuser nach Art der delischen, das eine mit klei- 


550 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


nem Peristyl (S. 252f.), ein anderes mit großer überdeckter Cisterne 
(S. 265). Seitengäßchen führen westwärts bergauf nach einer größern 
byzantinischen Kirche, deren antike Grundlage fragweise (nach Inscr. 
322) als Temenos des Apollon Pythios bezeichnet wird (S. 254 ff.). 
Dahinter liegt, einige Meter bergab, das Heiligtum der ägypti- 
schen Götter (S. 258 ff.), durch einen diesen geweihten Thesauros 
beglaubigt (Inscr. 443), wie es scheint wiederum unter freiem Him- 
‘mel und nur durch die landesübliche Felsbearbeitung ausgestaltet. 


V. 


Die Hauptstraße (S. 267 ff.) senkt sich weiterhin immer stär- 
ker bis zu einem Gefälle von 30 Grad, das in größern Abständen Stufen 
unterbrechen. Sie ist nicht mit Platten, sondern mit grobem Schotter, 
oxöpov, gepflastert, also eine oxvgmra Ödds, wie sie nach Pindar 
5,90 ff. auch in Kyrene nach dem draußen liegenden Tempel des 
Apollon Karneios führte. Kurz bevor wir diesen erreichen, vielleicht 
eben vor der Stadtmauer, begegnet uns, wie am andern Ende, eine 
in den Fels gebettete Stiftung des Artemidoros, ein exedraartiges 
Halbrund (S. 272), laut Inscr. 464 ein vads, Ptolemaios Il 
und seinen beiden Vorfahren geweiht, mit dem Blick auf die süd- 
östlich vorgeschobene, terrassierte Zunge des Felsrückens, wo sich 
die Denkmäler des ältesten theräischen Cultus zusammendrängen 
(Sonderplan Blatt 4, gute Ansicht Tf. 11). 

Die frühesten sind gewiß jene massenhaften, meist nach Süden 
gekehrten Felsbettungen mit Götternamen (oben S. 544 f.). 
Viele von ihnen verschlang der »Polygonalbauc«< (S. 383 ff.). Zu 
seinen Werkstücken zählt Inscr. 382, deren leider allzu verstümmelten 
Text H. zweifelnd auf ein Heroon des Oikisten Theras bezieht. Weit 
bedeutender und älter ist aber das an den Nordabhang gelehnte, z.T. 
in den Fels eingearbeitete Bauwerk (S. 275 ff.): in der Mitte ein 
quadratischer Hof mit Cisterne, zugänglich vom Süden her durch ein 
unscheinbares, zweisäuliges Propylon; östlich ein schmales Häuschen 
von zwei Kammern, westlich ein säulenloser Prodomos, der Vorraum 
zugleich zu einer engen Terrasse oder Acvon im Norden und dem 
7,30 m br. 12,15 lg. Megaron. Die Aehnlichkeit mit einem alten 
Wohnhause vollenden die zwei durch Thüren in der Südwand des Haupt- 
saales zugänglichen Felskammern. Die richtige Parallele dazu 
findet der Hgb. (S. 281 A. 54), mit dem Referenten, in den Vorrats- 
kammern, äövro:, der Maiagrotte Hymnos auf Hermes 247, wobei 
nur unklar bleibt, wo in der Schilderung dieser Götterwohnung die 
>unzweideutige< Beziehung auf Cultlocale stecken soll. Denn daß 
aus einer Grotte mit einiger Nachhilfe sehr gut ein wéyag Öduos 


fliller von Gaertringen, Thera. Erster Band. — 551 


(V. 246) werden kann, lehrt z.B. etliche Seiten später (S. 291) die 
Höhle des Gymnasions von Thera, und daß auch mythischen Götter- 
sitzen das Beiwort fegd¢ so gut wie alle Schätze des Luxus zu- 
kommen, zeigt die Odyssee (ersteres 10, 426, letzteres im Kalypso- 
buch). Also ein richtiges altgriechisches, wie es scheint höchst 
schmuckloses Gehöft, nur daß es keinem irdischen Anakten, sondern, 
wenn nicht alles trügt, dem Apollon (Karneios) gehörte. Das 
wichtigste an diesem Funde bleibt, daß er, in Uebereinstimmung mit 
den Ansichten von Koldewey und Puchstein, »eine neue Warnung« dar- 
stellt, >den ausgebildeten dorischen Tempelbau gar zu früher Zeit 
zuzutrauen< (D. L.-Z. 1898 S. 61). Es wäre lehrreich gewesen, zu 
hören, wie gerade Dörpfeld hierüber urteilt. 

Längs der Südseite dieser ganzen Gruppe von Heiligtümern er- 
streckt sich eine sonnige Terrasse, gewiß der Spielplatz zugleich der 
Apollonfeste, soweit sie in der Stadt begangen wurden (oben S. 545), 
und des östlich, als äußerstes Stadtende, sich anschließenden Epheben- 
gymnasions. Den Kern dieser Anlage (S. 289 ff.) bildet die umfang- 
reiche, zurecht gebaute Grotte, ursprünglich wohl das Heiligtum des 
Ephebengottes, nach einer Vermutung des Hgb.s, die nicht in einer 
Note versteckt sein sollte (S. 295 A. 62). Oestlich von ihr liegt ein 
Hof mit daranstoßendem, nach Süden geöffnetem Saal. In seine 
Nordwestecke ist ein Halbgewölbe eingebaut, nach außen mit sechs 
hohen Stufen bekleidet (S. 293f.). Zum Emporsteigen können sie 
nicht gedient haben, da die unterste 1m über dem Fußboden liegt 
und der Stucküberzug gut erhalten ist. Aber auch als bloßer »obe- 
rer Abschluß«, somit als zwecklose Belastung des nicht allzu starken 
Gewölbes, wären sie kaum verständlich. Sollte dieser dem Reposi- 
torium eines Gewächshauses gleichende Aufbau vielleicht das elaeo- 
thesium der vitruvischen Palästra sein? (Vitr. 5, 11, 2). 

Dieselbe Stelle gibt wohl auch die Erklärung für den ganz öst- 
lich anschließenden Rundbau, der in anderen Gymnasien, z. B. dem 
eretrischen, seines Gleichen hat (S. 294f.). Wer denkt hier nicht an 
das Laconicum, welches die Palästra mit den Thermen gemein 
hat? (Vitr. 5, 10, 4, vgl. Mau bei Pauly-Wissowa II S. 2745. 2757, 
Theophr. Char. Lpz. 1897 S. 153). Von Eratosthenes (bei Athen. 
11,501d) unter dem Namen @¢Aog als regelmäßiger Bestandteil des 
griechischen Bades bezeugt, wird dieses dAsızrjgıov oder nvgLaorij- 
gov schon von Herodot (4, 75) schlechtweg "EAAyvırn xvetn genannt, 
womit wir der vermutlich noch archaischen Entstehungszeit des the- 
räischen Rundbaus (Inscr. 389) nahe rücken. Sein Durchmesser be- 
trägt gegen 6m, also rund ebensoviel, wie im Laconicum der Cen- 
tralthermen von Pompeii, wenn man, wie billig, dessen scholae ab- 
zieht (Mau, Pomp. S. 191). Die innen am Fuße der Umfassungs- 


552 Gott. gel. Anz, 1901. Nr. 7. 


mauer z. T. erhaltene »stufenförmige Erhöhung, vielleicht die Unterlage 
für eine Bank«, würde auch gut passen. Und eine schmale, wieder 
nur von Wilski (Bl. 4) verzeichnete Oeffnung käme als Wasserabfluß 
in Betracht. Von einer Heizanlage verlautet freilich nichts, aber der 
das Rund wenigstens auf einer Seite umfassende Aufbau ist, wie mir 
H. mitteilt, von dem ihn füllenden Bauschutte noch nicht befreit, so 
daß weitere Grabung das Fehlende ans Licht bringen kann, wenn es 
erhalten ist. Als nachträgliche Bestätigung dieser Ansicht darf noch 
der Plan der neben dem Stadion gelegenen Palästra zu Delphi an- 
geführt werden, wo ein größerer Rundbau mit Abfluß ausdrücklich 
als >Loutron< bezeichnet ist (Bull. de corr. hell. XXIII 1899 Tf. 13, 
erst im Mai 1901 ausgegeben). 

Der Stadtbeschreibung folgt noch ein Ueberblick der »ver- 
streuten antiken Reste auf der Insel« (S. 299—308) mit 
Ausnahme der Nekropolen. Dem Charakter des Buches hätte es 
besser entsprochen, wenn da und dort auch von Anderen gegebenes 
vollständig aufgenommen worden wäre. So muß man sich die An- 
gaben über den als Nikolaoscapelle wohl erhaltenen Marmorbau der 
Thea Basileia (S. 306 f.) aus Ross und Michaelis ergänzen, ohne 
doch ein ganz vollständiges Bild dieses nicht unwichtigen Denkmals zu 
gewinnen. Bestand sein Dach wirklich nur aus den einfachen wag- 
rechten xaAvupara? Ist er, trotz seinen schlichten Formen, wie die 
Hohlkehle, auf der die Deckbalken aufliegen, wirklich erst hellenistisch, 
wie die säulengezierte Nische drinnen an der Nordwand mit ihrer 
Weihinschrift (Inser. 416)? Diese Dedication an die genannte Göttin 
auf den ganzen Bau zu beziehen und ihn deshalb als Tempel auf- 
zufassen, wird kaum richtig sein. Die beträchtliche Vertiefung des 
Fußbodens unter den Eingang paßt doch entschieden besser zu einem 
Grab, worin auch ein Cultplätzchen für die Königin der Unterwelt 
(Pauly-Wissowa UI S. 42. 44) an seinem Ort ist. 


VI. 


Unter den kleineren Funden tektonischer Art beanspruchen 
das Hauptinteresse drei steinerne Thesauren (S. 260f.), die dem 
Hgb. AnlaB geben, im Vereine mit Wolters die Einrichtung dieser 
Opferstöcke aus anderen Denkmälern und Inschriften zu erläutern. 
Am vollständigsten erhalten ist das inschriftlich beglaubigte Exemplar 
im Heiligtum der ägyptischen Götter (Inscr. 443); von dem zweiten 
fand sich an der Agora nur der untere Block; die ihm entsprechende 
Felsbettung des dritten liegt in der Nähe des Apollontempels. An 
diesen unteren Teilen ist in die wagrechte Oberfläche das Geld- 
becken eingearbeitet. Auf drei Seiten wird es von einem rechteckigen 


Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band, 588 


Falz umgeben, in den der schwere Steindeckel mit entsprechender 
Bearbeitung eingriff. Dieser Stein ist oberhalb des Geldbehälters 
durchbohrt von einer doppeltrichterförmig, etwa wie das Glas einer 
Sanduhr gestalteten Oeffnung, deren engste Stelle so schmal ist, daß 
wohl Münzen, nicht aber Hände hindurch können. Dieser unum- 
gänglichen Bedingung entspricht nicht die viel zu breite Höhlung 
des S. 261 abgebildeten Steines von Melos mit Inscr. 1085; er ist 
auch an seinen Profilen kenntlich als Statuenbasis, die zur Erleichte- 
rung ihres Gewichtes ebenso ausgehöhlt war, wie z.B. die des 
Lakedaimonierzeus Olympia II S. 147f., V Nr. 252. Um die Casse 
zu Öffnen, wurde der Oberstein in seinem Falze wie eine Schieblade 
vorgezogen. Das veranschaulichen die Abbildungen S. 260 sehr gut, 
nur daß die Beischriften der zwei rechts unten angeordneten Risse 
lauten müssen: »Oberteil von unten« (statt »von oben«) und »Ober- 
teil< (statt »Unterteil<) »von oben«. Um den Unbefugten an diesem 
Vorschieben des Deckblocks zu hindern, dienten an dem Thesauros 
beim Karneiostempel, nach Ausweis der von Diels richtig erklärten 
Löcher, zwei Paar Fallriegel. Für ihr Herausheben werden zwei 
verschiedene Schlüssel notwendig gewesen sein, wie sie die S. 263 
angeführle Stelle der Inschrift von Andania vorsieht. Der Unter- 
block der Sarapiscasse scheint, nach der Abbildung S. 260 links oben, 
an entsprechender Stelle wenigstens ein kleines Riegelloch zu haben, 
über dessen zu erwartende Fortsetzung nach oben durch den Deckel 
hindurch freilich nichts verlautet. Um das Emporheben des schwe- 
ren Decksteins auch bei Anwendung beträchtlicher Gewalt zu ver- 
hindern, ist an jener Felsbettung der Falz durch schrägen Schnitt 
nach unten erbreitert. Bei der Zweckmäßigkeit dieser Einrichtung 
wird man fragen dürfen, ob nicht die rechteckige Gestalt der Falze 
in den Zeichnungen der beiden anderen Opferstöcke auf Versehen 
beruht. 
VII. 

Die Ausbeute an Sculpturen ist nicht bedeutend, aber immer- 
hin, dank dem frühen Aufhören der Besiedelung, größer, als nach 
dem Erhaltungszustande der Bauwerke zu erwarten wäre. Aus der 
alten Bliitezeit der Stadt brachte der I. Band nichts, erst die nach- 
träglichen Grabungen förderten an der Agora einen Steinlöwen und 
einen Frauenkopf etwa des gewöhnlichen Tantentypus zu Tage, von 
denen das Berliner Museum Gipsformen besitzt (Arch. Anz. 1899 
S. 183). Wie lange sich archaische Formenauffassung bei den the- 
räischen Felssteinmetzen erhalten hat, wußten wir bereits aus dem 
Schmuck, den der brave Archedamos, ungefähr zur Zeit des Phei- 
dias, der Grotte von Vari am Hymettos angedeihen ließ (Th. S. 161). 


554 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


Aber auch noch die Felssculpturen im Temenos des Arte midoros, 
gleichfalls durch Gipsabgüsse zugänglich gemacht. zeigen das Nach- 
leben archaischen Stiles, selbst an dem minzformigen Beliefbildnis 
dieses ptolemäischen Würdenträgers, das trotz ausgesprochener Por- 
trätäbnlichkeit doch in der Zeichnung, besonders des Auges und des 
Haarschopfs, an Porossculpturen des 6. Jahrh. gemahnt (abg. Arch. 
Anz. 1839 S. 191). 

Nur durch fremden Einfluß wurde Thera von den Wandlungen 
der Kunst berührt. Der gute, leider arg verscheuerte Marmorkopf 
mit Diadem (Tf. 21 S. 245, gefunden im Bereiche der Dionysos- 
terrasse), zeigt noch bestimmter, als eine gewisse Aehnlichkeit mit den 
Bildnissen Ptolemaios I., den an Skopas anknüpfenden, nament- 
lich durch einige Alexanderporträts (Schreiber in der Strena Helbig. 
8.280) bekannten Stil der >alexandrinischen< Bildhauerei. In dieselbe 
Richtung gehört wohl die hübsche sandalenlösende Aphrodite 
(aus der »Kaufhalle< Tf.22 S. 251 f.); denn von den zahlreichen Wieder- 
holungen ihres Typus scheint diesem Exemplar das in Kyrene ge- 
fundene am nächsten zu stehen (Smith a. Porcher Tf. 71, Reinach, 
Rep. IL 349,8). Hellenistisch ist auch noch die Frauenstatue mit 
langfransigem Mantel aus dem Ptolemäergymnasium (Tf. 23 
8.208 f.), zu der sich außer den pergamenischen Parallelen auch noch 
ein Bruchstück von dem benachbarten Melos vergleichen läßt (Arndt 
Amelung, Einzelaufn. Nr. 736, Reinach, Rep. H 680,6). Mit ihr 
zusammen fand sich die S. 210 abgebildete Replik der großen Her- 
culanenserin. Ferner, die Deutung des Fundorts als Gymnasion 
bestätigend, drei Athletenköpfe, wohl sämtlich römischer Arbeit : ein 
besonders jugendlicher (Tf. 24), dessen einst aufgesetzte Kopfbedeckung 
am ehesten in Form der turbanartigen Mütze (N. Jahrb. f. d. kl. Alt. 
IIl 1900 S. 167 A. 2) zu ergänzen sein wird, wie er denn auch in 
Größe und Typus am ehesten den mit ihr bedeckten, tänientragenden 
Knaben ähnelt (N. Jahrb. II 1899 S. 608); zweitens eine gut erhal- 
tene, trotzdem S. 210 f. verkannte Replik des Doryphoros (Tf. 27), 
der ja auch in Pompeii die Palästra geschmückt hat; endlich wieder 
ein etwas späterer Typus (Tf. 26), welchen Kundigere vielleicht trotz 
seiner flauen Arbeit noch bestimmt identificieren können. 

Blos Römisches hat die Basilike Stoa geliefert (S. 223 ff.), 
mit Ausnahme des faden Idealkopfes Tf. 16 durchaus Porträts. Die 
schon von Fauvel entdeckte Ehrenstatue der Chairopoleia, Eigentum 
des Louvre, wird hier zum ersten Male photographisch herausgegeben 
(Tf. 15). Das beste Stück ist wohl die Büste eines unschönen, kränk- 
lich und matt aussehenden jungen Mannes aus früher Kaiserzeit, in 
ihrem decadenten Wosen etwa an den sog. Brutus (Agrippa Postu- 


Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 555 


mus?) und seines Gleichen erinnernd. Die von Statuen abgebrochenen 
Köpfe Tf. 18—20 werden vermutungsweise der älteren Faustina, 
M. Aurel und L. Verus zugeschrieben, unter denen FI. Kleitosthe- 
nes die Stoa erneuerte (Inscr. 325), durchaus glaublich, scheint mir, 
trotz der geringen Aehnlichkeit mit sicheren Bildnissen, die ja auch 
sonst bei römischen Kaiserporträts griechischen Fundorts vorkommt. 


vi. 


Versuchen wir schließlich kurz zusammenzufassen, was der von 
H. und seinen Genossen auf Thera vollbrachten Arbeit verdankt 
wird. Es ist, dünkt mich, vor Allem das ungewöhnlich einheitliche, 
durch Eingriffe späterer Zeiten kaum verwischte Bild einer Stadt 
des hellenischen Mittelalters, um den treffenden Ausdruck 
Eduard Meyers zu gebrauchen. 

Die ältesten, doch wohl karischen Bewohner der Insel, deren 
protomykenische Cultur längst aus den im Süden von Thera 
und Therasia unter der Bimssteinschicht entdeckten, neuerdings (Ath. 
Mitth. 1899 S. 355) von R. Zahn weiter ausgegrabenen Hausresten 
bekannt ist, fühlten sich, gleich ihren Zeit- und Volksgenossen in 
Tiryns, Melos und anderwärts, nahe dem Steilrande der Küste sicher 
genug, um die Besetzung des schroffen, unwirtlichen Messavuno ver- 
schmähen zu können. Sie gehörten eben zu den »Seevölkern«, 
deren Schiffe, wie wir sie aus den ägyptischen Darstellungen kennen 
(Erman, Aeg. S. 712), nur etwas genauer detailliert, jetzt auf den 
naiven Marinebildern jener alten Inselkunst aufgetaucht sind (’Eynu. 
éoz. 1899 S. 86ff.). Ihre Niederlassungen verschlang oder ver- 
schüttete das furchtbare vulcanische Ereignis, welches den Kern der 
Insel ins Meer versenkte und ihre Ränder zersprengte. Deshalb scheint 
der gefährliche Boden von der Weiterentfaltung jener Cultur in der 
eigentlichen mykenischen Blütezeit unberührt geblieben zu 
sein. Diese herrliche Cultur der gewiß unsemitischen, höchst wahr- 
scheinlich auch unhellenischen, vermutlich sogar nichtarischen Seevölker 
— so beurteilt sie jetzt im Grund auch ein früherer Hauptvertreter 
ihres reinen Achäertums (Furtwängler, Gemmen III S. 16) — hatte, 
vom Reiche des Minos ausstrahlend, die Nachbarvölker im weiten Um- 
kreis des Meeres, darunter besonders die empfänglichen Achäer von 
Hellas, in ihren Bannkreis gezogen, wurde aber von dort durch die 
nach den Dorern benannte Völkerwanderung, das Nachrücken bar- 
barisch gebliebener Griechen vom Norden her, nach ihrer östlichen 
Heimat zurückgedrängt, wobei sie den besten Teil ihrer helladischen 
Anhänger, die Schöpfer des homerischen Epos, mit sich zog. Auf 
dem von ihnen gewiesenen Wege folgten dann bald auch andere 


566 Gott. gel. Ans. 1901. Mr. 7. 


Hellenen. Seinen kunstgeschichtlichen Ausdruck findet dieser Rück- 
schlag bekanntlich in dem Wiederhervortreten und Herrschendwerden 
der alten geometrischen, unter mvkenischem Einfluß erstarkten 
Decoration, die sich nun gerade so vom Mutterlande nach der Inselwelt 
ausbreitet, wie vorher die mykenische in entgegengesetzter Richtung. 

Dieser Vorgang muß, nach Ausweis der dem IL Bande vorbe- 
haltenen Grabfunde (Arch. Anz. 1897 S. 78 ff.). bereits weit fortgeschritten 
gewesen sein, als Griechen auf dem verlassenen Eiland, dessen vulca- 
nische Vergangenheit nur noch in der Schiffersage von seinem 
Emportauchen aus den Fluten nachtönte, dauernd Fuß zu fassen 
wagten. Es waren zunächst Minyer und Kadmeer aus Nordhellas, 
wohin jetzt am deutlichsten der Cultus des thessalischen Chiron 
zurückweist. Später erst dürften die Peloponnesier nachgekommen 
sein, zu denen die spartanischen Aegiden, Verehrer des Karneios. 
gehörten. Durch solchen Zuzug vollzog sich, wohl erst unter dem 
Einfluß der spartanischen Machtentfaltung, der Anschluß der Insel 
an das Dorertum. Aus den Reibungen der verschiedenen Bevölke- 
rungsteile untereinander gieng ihre Hauptthat, die Gründung von 
Kyrene hervor. Die Berichte über dieses Ereignis zeigen noch klar, 
wie wenig diese griechischen Theräer den Anspruch auf den Namen 
eines Seevolks, der ihren prähistorischen Vorgängern gebührt, er- 
heben konnten. Und dem entspricht vollkommen ihre Stadt. Vor 
den Gefahren des jetzt von keinem Minos behüteten Meeres suchten 
sie Zuflucht auf jener unzugänglichen Kalksteinkuppe, welche die 
beiden Nahrung spendenden Ackerebenen beherrscht. Hier haben 
sie sich im Schweiße des Angesichts ihr Felsennest zurechtgebaut 
und -gehauen für immer. Ganz oben, wo später die Ptolemäer- 
besatzung saß, wird das Königshaus des Grinnos gelegen haben. 
Südöstlich darunter wurde der Marktplatz terrassiert. An ihm lag 
von Alters her die Königshalle, keine offene Stoa, wie sie schon den 
Hof des heroischen und homerischen Fürstenhauses umgaben, son- 
dern ein gegen die sausenden Winde durch Mauern geschützter, 
durch Cisternen mit Wasser versehener Verkehrssaal, homerisch etwa 
als Lesche zu bezeichnen, in altertümlicher Grundrißbildung durch 
eine Säulenstellung zweigeteilt. Von da aus führte die oxvemra 6605 
abwärts nach dem geheiligten Festplatz auf der Südostzunge der 
Stadthöhe. Hier errichteten die Einzelnen oder die Geschlechter 
ihren heimischen Göttern dicht beisammen fetischartige Cultmahle, 
wie sie auch weiterhin noch, bis ins dritte Jahrhundert, üblich blie- 
ben. Daneben erhielt der Hauptgott Apollon seinen Tempel, aber 
nur in Gestalt eines schlichten Menschengehöfts, keinen säulenreichen 
Peripteros, wie er, etwa seit dem Ende des 7. Jahrh. im Peloponnes, 


Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 657 


bald auch bei den übrigen fortschreitenden Hellenen gebräuchlich 
war. Solchen Luxus trieb diese dorische Stadt auch später nicht, 
Dionysos mußte sich mit einfachem Antentempelchen, die Ptolemäer 
mit offener Nische begnügen, ihre ägyptischen Götter und ihr Statt- 
halter Artemidor mit seinem Pantheon erhielten gar nur offene re- 
wévy vor geglätteten Felswänden, deren Bildschmuck in letzterem 
Falle tief in archaische Tradition getaucht erscheint. Was aus die- 
ser wie aus anderen Zeiten den Fortschritt der griechischen Kunst ver- 
anschaulicht, wird auf irgend eine Weise aus culturkräftigeren Plätzen 
eingeführt sein. Wie zurückgeblieben die Kunstansprüche der 
Theräer auch noch in der Kaiserzeit waren, lehrt am besten die 
Bewunderung, mit der sie von ihrer dürftigen alten Stoa sprechen, 
während draußen in der Welt überall, auch in kleineren Städten, 
prachtvolle Marmorsäulenhallen die Märkte umfaßten. Nur in einer 
Kunst muß Thera zeitweilig Namhaftes geleistet haben, das ist die 
Buntweberei (die Zeugnisse bei H. S. 154 A. 69); aber die Gewän- 
der auf den Vasen des benachbarten Melos wie auf den attischen 
vom Dipylonstil bis auf Klitias lehren, gleich orientalischen Teppi- 
chen, wieviel auf diesem Gebiete mit den einfachen Formen der 
»mittelalterlichen«, geometrischen Kunst zu leisten war. 

In derselben Periode wurzelt die Lust an der Ausbildung der 
Körperkraft, von der das offenbar sehr alte Gymnasion der Epheben 
mit seiner Hermesgrotte, seinem lakonischen Schwitzbad — wenn 
der Rundbau oben richtig gedeutet ist — und dem Stein des Euma- 
stas Zeugnis ablegt; ebenda die Freude an dem draiarara xat- 
&eıv der »Gymnopädien<e sammt ihren erotischen Begleiterschei- 
nungen, von denen nirgends mit solch urwüchsiger Offenheit die Rede 
ist, wie in den erst von H. gelesenen Inschriften aus der guten alten 
Zeit Theras. 

Dieses trotz, ja gerade in seiner Armut und Roheit geschicht- 
lich höchst wertvolle Bild einer im hellenischen Mittelalter wurzeln- 
den und über alle äußern Einflüsse hinweg ihr Lebtag darin stecken 
gebliebenen, in diesem Sinn auch echt dorischen Stadt ist es, was 
uns H. auf Thera errungen hat. 


IX. 


Dargestellt hat H. dieses Bild mit viel eigenem Wissen und 
Können und dazu, was sich nicht von selbst versteht, mit der ge- 
wissenhaften Bescheidenheit des echten Fachmanns, der überall, wo 
er sich nicht ganz sicher fühlt, das Wort lieber Kundigeren über- 
läßt; aber auch mit der ganzen Liebe des echten Dilettanten, das 
heißt, wie so hübsch erklärt worden ist, eines Mannes, der Freude 


558 Gött. gel. Anz. 1%1. Nr. 7. 


hat an dem, was er tut. Diese Liebe hat ihn vielleicht da und dort 
etwas zu weit geführt. Sie hat ihn in sein Buch Dinge aufnehmen 
heißen, die, wie nun einmal diese schlechte Welt ist, das zunächst 
in Betracht kommende Publicum nicht recht zu verwerten weiß und 
deshalb nicht gerne — sit venia verbo — bezahlt. Daß auch sonst 
noch manches an dem vom Hbg. und seinen trefllichen Mitarbeitern 
geleisteten auszusetzen war, teilt es mit allem Menschenwerk. Am 
bedauerlichsten scheinen uns die Mängel der architektonischen Auf- 
nahmen, Beschreibungen, Erläuterungen. Aber das durch die nach- 
träglichen Grabungen notwendig gewordene Ergänzungsheft wird ja 
Gelegenheit geben, hierin wie überhaupt nachzubessern. 

Auch in der Ausstattung des Werkes zeigt sich die ganze 
Liebe des Verfassers zu seiner Insel. Schön sind Papier und Druck, 
dieser freilich nicht durchaus auf der Höhe des Gottlob auch bei 
uns wiedererwachten typographischen Geschmacks; man sehe nur 
die Kapitelüberschriften oder gar die der Landkarten. Die Ab- 
bildungen, Kupferlichtdrucktafeln und Textzinke, meist nach guten, 
im Landschaftlichen oft glänzenden Photographien, um deren Auf- 
nahme sich besonders A. Schiff verdient gemacht, hergestellt, sind 
zum Teil vortrefflich , durchschnittlich wenigstens besser, als wir an 
Berliner Publicationen gewöhnt sind. Nur die Sculpturentafeln leiden 
meist unter der Unzulänglichkeit der Aufnahmen und dem Ungeschick 
der Retouche. Auch hier geht übrigens der Luxus etwas zu weit; 
wem werden z.B. die braven Kalojeri des Eliasklosters mitsammt 
ihrem hochwürdigen Igumenos eine teure Heliogravure wert sein? 
(Tf. 29). Um so dankbarer muß anerkannt werden, daß sich H. 
nicht, wie eben erst Koldewey und Puchstein bei dem Text ihres 
schönen Werkes, verleiten ließ, ein größeres Format zu wählen, als 
ein handliches Quart, an dem selbst S. Reinach nichts auszu- 
setzen haben dürfte. 

In diesem Zusammenhange seien noch einige Worte dem In- 
schriftbande gewidmet. Auf eine doch nicht wirklich sach- 
kundige Uebersicht seines mannigfachen Inhalts wird der Leser bei 
dem Umfang, den dieser Aufsatz bereits erhalten hat, gerne ver- 
zichten. Auch sind das Wichtigste darin die von H. so sehr ver- 
mehrten und berichtigten theräischen Texte, auf die oben Schritt 
für Schritt zu verweisen war. Ihre Verarbeitung in dem später ab- 
geschlossenen Werk über die Insel bot Gelegenheit zu Nachträgen 
und Correcturen: Inscr. 327 z.B. ist auf Tf. 25 abgebildet, die Lesung 
von 418 auf S. 200 berichtigt, neue Stücke S. 207 A. 18 und S. 306 
gegeben u. a. m. Noch mehr neue Inschriften und Lesungen haben 
die späteren Grabungen gebracht (z. B. oben $. 541. 545f.). Dank- 


Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 559 


bar ist die Freigebigkeit zu rühmen, mit der H. auch den Inschriften- 
band, die anschauungsfremde Tradition des Corpus durchbrechend, 
mit Abbildungen der Urkunden selbst und, wo es ihr Verständnis 
fordert, ihrer Umgebung ausgestattet hat. 

Angesichts eines solchen Versuches, die etwas verknöcherte Ge- 
stalt der großen Inschriftensaminlung zu verjüngen, drängt sich der 
Gedanke an die radicalen Reformvorschläge auf, welche kürz- 
lich an dieser Stelle von Wilamowitz ausgesprochen hat, in seiner 
Anzeige des ersten großen Beispiels der ihm richtig erscheinenden 
Publicationsweise, der von O. Kern mit seiner Unterstützung heraus- 
gegebenen Inschriften von Magnesia. Fortan soll nur das photo- 
graphische Bild des Steines und, als Regel, der Minuskelabdruck gel- 
ten. Niemand wird die Berechtigung dieser beiden Verfahren in Ab- 
rede stellen. Aber müssen deshalb die anderen, bisher noch üblichen 
Arten der Herausgabe zum alten Eisen wandern? Das gezeich- 
nete Facsimile wird, obschon, wie jede Zeichnung, mit den Mängeln 
subjectiver Reproduction behaftet, unentbehrlich bleiben, wo der 
Schriftcharakter genau wiedergegeben werden soll, ohne daß eine zu- 
reichende, d.h. auf diesem Gebiet: eine ganz ausgezeichnete, Photo- 
graphie zu beschaffen ist, was gewiß sehr oft vorkommt und immer 
vorkommen wird. Und das andere Verfahren, der Druck mit epi- 
graphischen Typen, gibt, trotz seiner offenbaren Unzulänglichkeit, 
dem Auge doch viel mehr, viel unmittelbareren Anhalt, sich den monu- 
mentalen Tatbestand zu vergegenwärtigen, als die kleine Buchschrift, 
zumal wenn, wie in den österreichischen Publicationen, eine reiche 
Typenscala den mannigfachen Phasen der griechischen Schriftentwicke- 
lung nachzukommen trachtet. An diesem Vorteil ändert es nichts, 
wenn es da und dort Menschen gab und vielleicht noch gibt, un- 
schuldig genug, um Typendruck und Facsimile zu verwechseln. Noch 
einen andern, indirecten Vorzug des Majuskeldrucks wage ich her- 
vorzuheben, auf die Gefahr hin, von Fachepigraphikern nach der 
Schulbank zurückverwiesen zu werden: es fordert eine wirkliche 
Transscription, das heißt die Uebertragung des Textes in die bei 
uns übliche Schreibweise des Griechischen, und das ist überall dort, 
wo die Schreibung der Steine von jener wesentlich abweicht, die un- 
erläßliche Vorbedingung rascher Lesbarkeit. Für das bekämpfte 
Herkommen ist eben auch ein so erfahrener und angesehener Epi- 
graphiker wie Haussoullier eingetreten (Rev. crit. 1901 S. 205 f.) und 
während der Correctur kann noch angemerkt werden, daß auch 
unser Autor in trefflicher, ausführlicher Darlegung seine nicht min- 
der gewichtige Stimme in demselben Sinn erhoben hat (Berl. phil. 
Wochenschr. 1901 Nr. 26). 


560 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


Ich kann die Feder nicht aus der Hand legen ohne nochmals, 
gewiß im Namen Aller, die es angeht, Hiller von Gaertringen dank- 
bare Bewunderung auszusprechen für die opferfrohe Hingabe, mit 
der er, obgleich durch keine Pflicht gebunden, als echter Freiherr 
die frische Kraft und Tüchtigkeit seiner Person mitsammt den er- 
erbten Vorteilen seiner Stellung in den Dienst unserer schönen, 
jugendlich vorwärtsstrebenden Wissenschaft stellt. Auf solchen Schü- 
ler dürfen die verehrten Meister, denen sein »Thera« gewidmet ist, 
Robert und von Wilamowitz, besonders stolz sein. Möge ihm nebst 
dem Danke der Fachgenossen auch fortan das gute Finderglück loh- 
nen, ob er nun den noch lange nicht erschöpften Boden von 
Kalliste weiter bestellen, oder seinen Spaten anderswo einsetzen wird. 
Ihn rosten lassen dürfte er schwerlich wollen. Wie herrlich wär es 
dann, wenn er, den Spuren seines Ehrenmitbürgers Battos folgend 
und gleich ihm von dem Raben Apollons oder noch besser von dem 
stolzen Adler unserer Kriegsflagge sicher geleitet, das Schiff süd- 
wärts lenken könnte nach der Syrte, um dort das theräische Dorn- 
röschen, das uns nach Herbert Weld-Blundells echt britisch kühnem 
Besuch (Annual of the br. school at Athens II S. 113 ff.) nur noch 
begehrenswerther und nicht ganz unerreichbar erscheint, gründlich 
zu erwecken: Kupdvas dyaxtıusvav addcy. 


Leipzig. Franz Studniczka. 


Liebenam, W., Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 
Leipzig (Duncker u. Humblot). 1900. XVII. 577 S. 8° Preis 14 M. 


Von meiner ursprünglichen Absicht, das umfangreiche Buch kurz 
zu kritisieren, hat mich die Erwägung abgebracht, daß der Verfasser 
Kürze für Oberflächlichkeit nehmen und eine ausführliche Begründung 
des Gesammturteils fordern könnte. Freilich fürchte ich, daß man- 
cher Leser des Buches meine Kritik zu ausführlich finden wird. 
Immerhin will ich lieber diesen Vorwurf hinnehmen als dem Verfas- 
ser Anlaß zu der Klage geben, ich habe die von ihm aufgewandte 
Arbeit nicht gewürdigt. Und Arbeit hat die in dem Buch nieder- 
gelegte Materialiensammlung — schon die Noten und Exkurse neh- 
men weit mehr als die Hälfte des Ganzen ein — gekostet. Schade 
um sie, denn in dem Kampf mit seinem Stoff hat der Verf. gänzlich 
den Kürzeren gezogen. 

Stimmungsvoll beginnt die Einleitung mit der laudatio, daß 
jeder, dem nicht taciteische Anschauungen allein maßgebend seien, 


Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 561 


sein Augenmerk auf das Städtewesen als das Gegengewicht der Ka- 
pitale und der Centralregierung richten und nach einer Geschichte 
der Regierten verlangen müsse. In der That ist eine der dringend- 
sten Aufgaben, die sich heute auf dem Gebiete der römischen Ge- 
schichte darbieten, eine Geschichte des Städtewesens im römischen 
Reich. Denn das ist dasjenige Thema, auf welches das nunmehr 
fast vollendete Corpus der römischen Inschriften zunächst hinweist, 
zugleich freilich in anbetracht der noch nicht so weit gediehenen 
Sammlung der griechischen Steine eine Beschränkung auf die römi- 
sche — übrigens ja auch von der östlichen durch die weite Kluft 
einer selbständigen Entwicklung getrennte — Reichshälfte nahe 
legend. | 

Gewiß hat eine solche Trennung der beiden trotz ihrer histo- 
rischen Divergenz doch schließlich zu einem Organismus gehörenden 
Teile ihre Unzuträglichkeiten, denn auch im Osten ist romanisiert 
worden und mindestens seit der diocletianisch-constantinischen Reor- 
ganisation werden die (xegensätze zwischen Westen und Osten durch 
das Eingreifen der Centralgewalt in die munizipale Entwicklung im- 
mer mehr ausgeglichen. Und dennoch wird man und nicht allein 
bis Diocletian, sondern auch weiterhin beide Sphären gesondert be- 
handeln müssen, weil griechische Städte immer griechische Städte 
geblieben sind. Die spätere Nivellierung der Gegensätze wird man 
in einem besonderen — dritten — Teil darzustellen haben. Jeden- 
falls aber ist eine gesonderte, der historischen Individualität der bei- 
den Organismen gerecht werdende Behandlung trotz gelegentlich 
nicht zu vermeidender Uebergriffe in das andere Gebiet — man 
denke an ein Grenzland wie Thracien — historischer als eine plumpe 
Verquickung des Ostens und Westens ohne Rücksicht auf ihre Ver- 
schiedenheit, wie sie der Verf. geleistet hat. 

Das vorliegende Buch giebt sich als ein Abschnitt aus einer 
vom Verf. unternommenen Bearbeitung dieses großen und gewiß 
nicht leicht zu bearbeitenden Gegenstandes. L. wollte zunächst be- 
antworten, »in wie fern und ob der städtische Haus- 
halt gegenüber den von Kommune und Staat ge- 
stellten Anforderungen in Ordnung gehalten werden 
konnte« (S. VII). Diesem Thema entspricht aber die Ausführung 
nicht im geringsten, denn Verf. handelt von den Einnahmen und 
Ausgaben der Städte, ohne auch nur den Versuch einer Abwägung 
des Soll und Habens zu machen. Dann wird der Stoff begrenzt. 
Seltsam ist, daß außer Rom noch Aegypten und die jüdischen Städte 
ausgeschlossen sind: jenes, weil die Papyrusforschung noch zu sehr 
im Flusse sei, diese, weil Schürer über sie bereits treffliche Nach- 

Gott, gel, Ans, 1901. Nr. 7. 38 


562 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


weise gegeben habe. Und doch gehörte Aegypten zur Darstellung, 
da sie den Osten mit umfaßt, und die jüdischen Städte — die 
übrigens niemand vermißt haben würde — hatten ebenfalls ein An- 
recht auf Berücksichtigung, denn auch sie gehören zur hellenisti- 
schen Welt, in der doch noch andere lokale Besonderheiten wie z.B. 
die kappadokischen Priester- und die galatischen Gaustädte vom Ty- 
pus der zdAıc abweichen, ohne daß der Verf. sie feierlichst ausge- 
schlossen hatte. Die Begründung ist für die Arbeitsweise des Verf. 
charakteristisch: da er statt einer Darstellung Materialien giebt, 
gilt ihm eine Materie, für die er noch nicht alle Notizen beisammen 
hat, als Tabu und diejenige, für die er auf eine fremde Darstellung 
verweisen kann, als erledigt. Bis zu einem gewissen Punkte ist sich 
übrigens Verf. dieser seiner Eigenart bewußt, denn er gesteht selbst 
(S. IX): »Ohnehin hat häufig das Detail dieser Nachweise die Dar- 
stellung überwuchert; der bei solchen Untersuchungen unvermeid- 
lichen Notennot war eben auch hier nicht auszuweichen<. Ferner 
S. X: »Das in der Einzelbetrachtung gewonnene Bild kann, wie die 
Dinge nun einmal liegen, nur einer Mosaikarbeit gleichen. Die 
Ueberlieferung läßt uns allzu oft im Stichec. Verf. hätte die Ueber- 
lieferung aus dem Spiele lassen sollen. Man soll jeder Darstellung 
anmerken, wo sie auf festem, wo auf unsicherem Boden beruht, aber 
eine Mosaikarbeit, d.h. ein Aneinanderreihen einzelner Elemente — 
aber zu einem Bilde: insofern paßt der Vergleich nicht auf die Ar- 
beit des Verf. — soll sie nie werden, wird es aber auch bei der 
besten Ueberlieferung, wenn der Autor außer stande ist sie zu 
beherrschen. Sonderbar macht sich in der Einleitung zu einem 
Buch über den Haushalt der römischen Städte die pathetische Be- 
trachtung über die Städteruinen des Orients (S. VIII). Dergleichen 
fällt doch formell wie sachlich völlig aus dem Rahmen des Themas, 
besonders aber aus dem der Vorrede, heraus. Soviel zur Einleitung. 

Die Darstellung zerfällt in drei Bücher; das erste behandelt 
Einnahmen und Ausgaben, das zweite die Finanzverwaltung, das 
dritte »Staat und Stadt« — ein Inhalt, zu dem der Titel: »Städte- 
(besser: Stadt-)Verwaltung«, der mehr verheißt, nicht paßt, was ja 
heute öfter vorkommt (Weber, Römische Agrargeschichte!). Zuerst 
werden die Einnahmen, dann die Ausgaben behandelt — gewöhnlich 
macht man es übrigens und mit gutem Rechte umgekehrt. 

S. 1 führt uns sofort in medias res, aber nicht im horazi- 
schen Sinne, denn wer hätte nicht zu allererst eine Geschichte 
des städtischen Vermögens erwartet? Verf. beruhigt uns mit der 
Versicherung (S. 2 Anm. 1): »Auf eine Erörterung der Fragen 
nach den ersten Anfängen des städtischen Grundeigentums ist hier 


Liebenam , Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 563 


nicht einzugehen«. Diese Behauptung ließe man sich in einem juri- 
stischen Compendium gefallen, in einer historischen Darstellung be- 
fremdet sie. Nein, Verf. mute hier oder im dritten Teil kurz aber 
bündig eine Geschichte der Gemeinde im römischen Staatswesen 
und speziell der finanziellen Selbstverwaltung entwerfen, wie es 
Mommsen im Staatsrecht IIL S. 773 f. (besonders 819 f.) gethan hat. 
Ferner war, sei es bei jeder einzelnen Position des Gemeindehaus- 
halts, sei es vorab im allgemeinen, auf das Vorbild oder die Analogie 
des römischen Haushalts zu verweisen. Bei der Behandlung der 
munizipalen Begriffe: territorium und pascua publica mußte z.B. das 
Verhältnis des ager romanus zum ayer publicus und ager privatus 
berührt werden. Aber nicht einmal über das munizipale Bodenrecht 
herrscht Klarheit: unter »stadtischer Grundbesitz< (S. 2 f.) plaudert 
Verf. in buntem Durcheinander bald vom ¢errttorium, bald vom Ge- 
meindeland, als ob das dasselbe wäre. Hier mußte scharf der Be- 
griff des territorium — der Gemeinde- und Privatland umfassenden 
Stadtflur — und der seiner Bestandteile: des ager privatus der 
Bürger, der pascua publica (Gemeindeland) und der compascua (im Ge- 
meinbesitz mehrerer Hufner befindliches Weideland) definiert und ihr 
Verhältnis zu einander und zum Staat bestimmt werden. Statt des- 
sen bringt Verf. Notizen über den Umfang einiger Stadtgebiete und 
eine lange Zusammenstellung von Zeugnissen für termini territoriales. 
Vom Detail erwähne ich nur, daß Cäsar Gallien in 64 »Stadtbezirke« 
geteilt haben, daß praedia »Unterkuuftstätten« bedeuten soll (S. 6), 
daß sich, wo von den Territorien gehandelt wird, eine Notiz über den 
Umfang einer Stadt, des römischen Köln, findet (S. 8). Unter 2. a. 
(>Gemeindeweide<) werden die compascua — auf die sich die ange- 
führte Hyginstelle bezieht — mit der Gemeindeweide identifiziert 
' (S. 14; ebenso bei Marquardt, Staatsverwaltung II? S. 157 Anm. 5) 
und deshalb behauptet, sie sei den Bürgern gegen eine Recognitions- 
gebühr überlassen worden, wo doch ihre Verpachtung den 
wichtigsten Posten des Budgets ausgemacht haben muß, da der 
Grundbesitz der Gemeinden schlechthin pascua publica heißt, ganz 
ebenso wie im römischen Haushalt pascua für ager publicus gesagt 
wird: guia diu hoc solum vectigal fuerat (Plin. n. hk. 18 $ 11). Der 
besonders in geschichtlicher Hinsicht so wichtige, aber auch in der 
Zeit des ausgebildeten Städtewesens noch bedeutsame Begriff der 
compascua (s. über sie Weber, Agrargeschichte S. 120) ist dem Verf. 
dunkel geblieben; er fehlt denn auch im Index. Außerdem redet er 
nur von Gemeindeweide, Wald, Salinen etc., ohne des Fundaments 
der städtischen Finanzen : des ager vectigalis, von dessen Verwertung 
S. 313 gehandelt und der vorher (S. 4) kurz erwähnt wird, zu ge- 
38 * 


564 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


denken. Schließlich bekommt er es fertig, die in der Sententia Miı- 
nuciorum vom ager publicus zu leistenden Quoten von Wein und 
Getreide als Entgelt für Benutzung der Viehweide aufzufassen 
(S. 15)! Die Elemente des munizipalen Bodenrechts sind also dem 
Verf. nicht geläufig: Territorium wird mit Gemeindeland, dieses mit 
den compascua, die Weide mit dem Ackerland zusammengeworfen. 
Während der städtische Grundbesitz auf 3!/s Seiten abgethan wird 
— und doch war er in den Munizipien so gut das Fundament des 
Stadthaushalts, wie in Athen’) und Rom —, füllt Verf. 11 Seiten 
(43 f.) mit Belegen für Grabmulten, eine gewiß wenig bedeutende 
Einnahmequelle, überdies ohne diese Materialfülle statistisch brauch- 
bar zu gestalten (denn nur die lateinischen Belege sind vollständig 
verzeichnet: s. S. 40) und (was für den lateinischen Westen ging) *) 
zu verwerten. Ebensowenig geschieht das bei der S. 57—65 ge- 
gebenen Zusammenstellung von summae honorariae, die übrigens 
nicht einmal gehörig geordnet ist (besonders S. 63 stehen Belege 
aus anderen Bänden des Corpus zwischen solchen aus CIL. VIII). 
So war die Bedeutung der Aemtergelder für den Haushalt der afri- 
kanischen Städte eingehender zu würdigen; ihre Häufigkeit und 
Höhe — für den Decurionat werden in mehreren Städten 20000 Se- 
sterzen gezahlt — ist für die dortige Plutokratie bezeichnend. Ein 
sonderbarer Einnahmeposten findet sich unter 8. (S. 66): die Ge- 
meindesklaven oder vielmehr (wie Verf. S. 1 sagt) der Gewinn aus 
ihrer Arbeit®). Gewiß gehört der Sklavenbestand zum Gemeinde- 
vermögen, aber darum ihre Arbeit noch nicht ins Budget, denn sie 
läßt sich als solche nicht kapitalisieren. Mit demselben Rechte 
könnte man sonst auch die Frohnden der Bürger aufführen, die doch 
auch dem Haushalt der Stadt zugute kommen. Die Sklavenarbeit 
hat höchstens einen indirekten Kapitalwert: sie kann in etwaigen 
durch sie versehenen landwirtschaftlichen oder industriellen Be- 
trieben der Stadt und ihr Kapitalwert in deren Erträgnissen stecken ; 
im allgemeinen wird man aber, da die Städte nicht selbst wirt- 
schaften, sondern verpachten, mit solchen Betrieben nicht zu rechnen 
haben. Direkt am Einkommen beteiligt wären die Sklaven nur, wenn 
man ihre Arbeit systematisch vermietet hätte, wovon keine Rede 


1) s. Böckh, Staatshaushalt I? 408. Xenophon sagt (oecon. 13468): cavene 
(des Stadthaushalts) d2 xgarlorn piv aedcodog 1 And Tür idlay dv cH zeoe 
yıvouevov. Ebenso xdeor cap. 1. 

2) Es scheint, daß in dieser Sphäre die Mult in der Regel dem Staate, 
nicht der Gemeinde zugewiesen wurde. 

8) Auch Humbert (Essai sur les finances I 409) nennt die Gemeindesklaven 
als Einnahmequelle. 


Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 665 


sein kann. Die Sklavenarbeit gehört vielmehr in dieselbe Kategorie 
wie die munera personarum der Bürger: beide ersparen der Stadt 
Ausgaben, sind aber deshalb nicht Einnahmen, sondern nützliche Fak- 
toren wie die öffentlichen Plätze, Gebäude, Mauern u. dgl., die der 
Bürgerschaft zu nutze kommen ohne etwas einzubringen'). Dagegen 
durfte die Sklavenschaft unter »Ausgaben« nicht fehlen, denn ihr 
Unterhalt fiel der Gemeinde zur Last. Aber das ist nichts: was 
soll man dazu sagen, daß Verf. die freiwilligen Geschenke nicht un- 
ter den Einnahmen, sondern am Schluß der Ausgaben (S. 166) — 
weil sie die Ausgaben vermindert hätten! — behandelt, sodaß der 
in der Disposition (S. 1) vorgesehene 2. Hauptteil (außerordentliche 
Einnahmen) in der Ausführung durch Abwesenheit glänzt. Ebenso 
fehlt ein Kapitel über die Steuern. Gewiß ist diese Basis des mo- 
dernen Gemeindehaushalts in dem der Antike wenig entwickelt, aber 
das mußte gesagt und die vorkommenden Fälle (Kuhn, Stadt-Ver- 
fassung I, 64) um so genauer behandelt werden. So aber hören wir 
von den Steuern unter munera (S. 417f.). Die römischen Juristen 
fassen freilich die Steuern und die Naturalleistungen unter dem Be- 
griff der Leistung (munus) zusammen, aber wer den Einnahmeetat 
feststellen will, muß bei ihm die Steuern aufführen und die Leistungen 
für sich behandeln (wie Böckh die Leiturgien : Staatshaushalt I’, 593 f.). 

Der 2. Teil — Ausgaben — beginnt mit den Aufwendungen 
für den Kult. Der Inhalt des Kapitels ist, daß diese zumeist 
aus dem Ertrag der Tempeln oder Collegien überwiesenen, aber 
der Gemeinde gehörigen Liegenschaften bestritten worden seien. 
Warum wird also dieser Kategorie nicht unter den Einnahmen ge- 
dacht? Die loca sacra waren unter den Einkünften aus städtischen 
Immobilien, das andere heilige Gut als ein dem Staate gehöriges, 
wenn auch zumeist den Priestern zu sacralen Verwendungen über- 
lassenes Vermögen unter den Einkünften aus Kapitalien zu behan- 
deln. Ferner wird gar kein Unterschied zwischen römischen und 
griechischen Verhältnissen gemacht, obwohl doch die griechischen 
Tempel nicht wie die römischen Staatseigentum waren, sondern eine 
autonome Verinögensverwaltung hatten, was Verf. selbst S. 346 be- 
merkt. Hier sind die bösen Folgen des kritiklosen Vermengens der 
Städtewelt des Ostens mit der des Westens besonders deutlich. 

Die Ausführungen über das antike Unterrichtswesen S. 73—82 
gehören nicht oder wenigstens nicht in dem Umfang zur Sache, da 
dasselbe — wie Verf. wiederum selbst feststellt — im allgemeinen 
keine städtische Angelegenheit war. 

1) L. 6 D. 18,1 pr.: .. publica (loca) quae non in pecunia populi sed in 
publico usu habentur ut est campus Martius. 


566 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


Auch unter 3 (Gesandtschaftswesen) sind Nebensachen gehäuft, 
während das Wichtige fehlt. Es mußten vor allem die drei Fälle 
unterschieden werden, daß die Ausgaben dafür 1) der Gemeinde, 2) 
Privaten (munus legationis), 3) beiden Teilen gemeinsam zur Last 
fielen. An dieser Stelle waren Belege nur für 1 und 3 zu geben, 
während 2 unter den munera zu behandeln war. 

In Cap. 4 (Staatspost und Einquartierung) wird, ohne daß Verf. 
es besonders hervorhebt, die wichtige Kategorie der Ausgaben für 
staatliche Zwecke berührt. Es ist ein Dispositionsfehler, daß Verf. 
diese und andere hierhergehörige Posten — Ausgaben für Aufnahme 
des Census, für Erhebung der Staatssteuern, Verwaltung der Ali- 
mentarstiftungen, Befestigungen (s. S. 143) etc. — nicht, wie es ihre 
Wichtigkeit und prinzipielle Verschiedenheit von den communalen 
Zwecken dienenden Ausgaben erheischte, in einem besonderen Ab- 
schnitt zusammengestellt hat (wie es Kuhn mit besserer Einsicht 
that: I, 49). Auch für das Finanzwesen der römischen Städte 
empfiehlt sich eine verständige Systematisierung, und es liegt nahe 
genug, etwa die Roschersche Einteilung ') in Ausgaben 1) für staat- 
liche, 2) für obligatorisch-, 3) für fakultativ-communale Zwecke an- 
zuwenden. Uebrigens hätten auch in der Ausführung viel mehr, als 
geschehen ist, die modernen Verhältnisse im Auge behalten werden 
müssen. Ein solcher Vergleich ist ebenso nützlich, als eine Ergän- 
zung unserer Kenntnis antiker Dinge durch moderne Parallelen be- 
denklich ist. Nur so wird die Verschiedenheit des römischen vom 
modernen Gemeindewesen deutlich und der Darsteller gezwungen, 
die Darstellung lebendig zu gestalten — eine Aufgabe, der freilich 
die Art des Verf. wenig entspricht. Die Ausgaben für den Kaiser- 
kult werden unter 9 (Ehrenerweisungen) statt unter den Ausgaben für 
den Kultus (cap. 1) behandelt. 

Besonders bei diesem Teil des Buches ist das Fehlen einer ge- 
hörigen Systematisierung zu tadeln. Statt alle möglichen Beispiele 
für die verschiedenen Objekte, für die Ausgaben gemacht werden 
mußten, zu häufen, hätte Verf. bei jedem einzelnen Posten nur die 
über die Deckung der betreffenden Ausgabe belehrenden Zeugnisse 
behandeln und gruppieren sollen nach 1) Leistung der betreffenden 
Ausgabe durch die Stadt, 2) durch munera, 3) durch Munifizenz. 
Aus dem quantitativen Verhältnis der jeden dieser drei Modi be- 
legenden Zeugnisse hätte sich auch ein Urteil über die Belastung 
des städtischen Etats durch den betreffenden Posten gewinnen las- 
sen. So aber ist nicht einmal durch verständige Gruppierung des 


1) System der Finanzwissenschaft? S. 655. 


Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche, 567 


Materials der Versuch einer Statistik gemacht, und der gewissen- 
hafte Leser dürfte nach der Lektüre der beiden Abschnitte: Ein- 
nahmen und Ausgaben zu dem Geständnis kommen: »mir wird von 
alle dem so dumm, als ging’ mir ein Mühlrad im Kopf herum«. 
Nebenbei sei erwähnt, daß unter »Ausgaben< der Unterhalt der Ge- 
meindesklaven und die Besoldung der Subalternbeamten (scribae, 
viatores etc.: 8. lex Urson. cap. 62) anzuführen war. 

Nach den Einnahmen und Ausgaben hätte auf Grund dieser 
Statistik in einem 3. Abschnitt die Munifizenz, in einem 4. die 
Liturgie der Bürger erörtert werden ınüssen, wie es wenigstens 
mit den munera Roth in der alten aber wenigstens Liebenam gegen- 
über noch nicht veralteten Schrift de re municipali gethan hat (p. 114 f.). 
Beide sind eine Ergänzung des Gemeindehaushalts, und ohne ihre 
systematische Würdigung wird das Fehlen wichtiger Posten des mo- 
dernen Etats — wie der Steuern — nicht verständlich. Besonders die 
munera sind recht eigentlich die Stütze des Gemeindehaushalts, der 
späteren Zeit: deshalb werden sie in dem vom Munizipalwesen han- 
delnden 50. Buch der Digesten zuerst (hinter den allgemeinen Din- 
gen) und besonders ausführlich (tit. 4—7) behandelt. Auf die Be- 
deutung der freiwilligen Zuwendungen weist. der Umfang des tit. 
de pollicitationibus (50, 12) deutlich genug hin. Die Bedeutung die- 
ser beiden Faktoren für Einnahme- und Ausgabeetat wird aber 
nicht durch die Notizen, welche Verf. S. 166 f. über die Munifizenz 
und S. 412f. »mit wenigen Worten< über die Munera giebt, und 
erst recht nicht durch die vorher, unter einzelnen Ausgabeposten, 
mitgeteilten zerstreuten Belege, sondern nur durch die oben bezeich- 
nete statistische Behandlung der drei sich in die Ausgaben teilenden 
Finanzkräfte deutlich. Auch würde sich auf diesem Wege manches 
für die Individualität der einzelnen Gemeinden ergeben haben, in- 
dem sich sicher gezeigt hätte, daß in der einen Stadt oder gar 
Landschaft die Munifizenz sich besonders etwa auf Bauten, in der 
anderen mehr auf Spiele etc. geworfen hat, hier gewisse Ausgaben 
durch Liturgien, dort dieselben aus dem Gemeindesäckel gedeckt 
wurden. Diese und andere weitere Gesichtspunkte liegen aber offen- 
bar der Arbeitsweise des Verf. recht fern, und doch gewinnt durch 
sie erst die rudis indigestaque moles des epigraphischen Materials 
Leben. Schon deshalb verdiente die Munifizenz und das Liturgien- 
wesen eine besondere Behandlung, weil sie kulturhistorisch höchst 
merkwürdig sind. Die Freigebigkeit der reichen Bürger beweist — 
auch wenn sie dabei zumteil ihre Rechnung fanden — eine Opfer- 
willigkeit gegenüber dem Gemeinwesen, die zu der germanischen 
Auffassung, nach der umgekehrt die Steuerfreiheit das Vorrecht der 


568 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


Großen ist, in grellem Gegensatze steht. Das im entwickelten Städte- 
wesen der Kaiserzeit mehr denn je ausgebildete Liturgienwesen ist 
für die maßlosen Anforderungen, welche der antike Staat an seine 
Bürger stellte, und ferner für den die späte Kaiserzeit bezeichnenden 
Rückfall aus der Geld- in die Naturalwirtschaft charakteristisch. 
Ganz verunglückt ist der Aufbau des zweiten Buches (Städti- 
sche Vermögensverwaltung). Die das Städtewesen im allge- 
meinen, nicht aber das Finanzwesen angehenden breiten Ausführungen 
über Stadtrecht, Bürgerschaft, Rat, Beamte, welche nicht weniger als 
90 Seiten füllen (206—296), sind zum größten Teil überflüssig, denn 
uns interessieren ja nur die mit dem städtischen Haushalt beschäf- 
tigten Personen. Das über die Erbfähigkeit der Städte Gesagte 
(S. 174—205) gehörte entweder unter »Einnahmen< oder in einen 
allgemeinen Teil, an den Anfang. Man würde sich vergeblich fragen, 
warum Verf. hier eine Abhandlung über das Städtewesen im allge- 
meinen eingelegt hat, wenn er uns nicht selbst in der Einleitung (be- 
sonders S. X) aufklarte. Er hat gesammelt zu einem Werk über 
das Städtewesen überhaupt (S. VID) und sich trotz der Beschränkung 
des Themas auf den Gemeindehaushalt nicht versagen können, bald 
hier bald da einen Teil seiner Notizen zu thesaurieren. Das ist vor 
allem im zweiten Buch geschehen. Zum Glück hat der Verleger 
diese Ueberfülle beschnitten (s. S. X), aber des Ueberflüssigen ist 
noch genug geblieben. Besonders ärgerlich sind die vollkommen 
entbehrlichen Citatenhaufen auf S. 218, wo statt eines Verweises auf 
die von Kornemann und mir gegebene Darstellung der conventus 
civ. romanorum eine ganze Seite mit den bei uns vorgefundenen Be- 
legen gefüllt wird, und S. 220 f., wo vier Seiten Citate für griechische 
Phylen stehen. Noch schlimmer ist, daß über all dem Ueberflüssigen 
das Notwendige vernachlässigt wird. So tritt, während Verf. von 
Volk, Rat, Beamten im allgemeinen handelt, gar nicht hervor, wel- 
chen Anteil diese Faktoren am Gemeindehaushalt haben. Das mußte 
ein besonderer Teil werden, in dem das Facit aus dem über die 
Verwaltung der einzelnen Posten des Etats gesagten (S. 296—401) 
gezogen wurde. Statt dessen müssen wir uns die finanziellen Ob- 
liegenheiten der in betracht kommenden Beamten aus dem Wust der 
Notizen über das ganze Beamtenwesen einer- und aus den Aus- 
führungen über die Verwaltung der einzelnen Posten andererseits 
heraussuchen. Ueber das wichtigste Organ des städtischen Finanz- 
wesens, die Curie, kann man unmöglich aus den wenigen 8. 251—52 
gegebenen Bemerkungen und den unter den einzelnen Posten für 
ihre Thätigkeit beigebrachten Belegen Klarheit gewinnen. Während 
über die gar nicht zum Thema gehörigen Wahlen von S. 268—72 


Liebenam, St&dteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 569 


gehandelt wird, fallen fiir die wichtigsten Exekutivbeamten des Fi- 
nanzwesens, die Quinquennalen, kaum einige Seiten ab (S. 257 f.). 
Die noch dazu zersplitterte Darstellung der Quaestur (S. 266, 298) 
ist ganz ungenügend, und wichtige Beamte wie die III virs locorum 
publ. persequendorum werden eben nur erwähnt (S. 266). Bei dieser 
das wichtige über dem unwichtigen vergessenden Arbeitsweise nimmt 
es kein Wunder, daß man vergebens nach einer historischen Würdi- 
gung des munizipalen Census sucht. Die übrigens ganz oberfläch- 
liche Skizze des griechischen Städtewesens (S. 229—296) ist nur ge- 
eignet zu zeigen, daß die Vermengung der beiden so grundverschie- 
nen Sphären:: des lateinischen und des hellenischen Städtewesens ein 
Hauptfehler des Buches ist. | 

Auf S. 296 kehrt Verf. endlich wieder zum Thema zurück. Die 
hier einsetzenden Bemerkungen über Grundbegriffe des städtischen 
Finanzwesens: Stadtkasse, Budget, Rechtsvertretung der Gemeinde 
stünden besser — ebenso wie die bereits erwähnte Abhandlung über 
die Erbfähigkeit der Gemeinde (S. 174—205) — am Anfang des 
Buches. In der nun folgenden Partie: über die Haft- und Rechen- 
schaftspflicht der mit der Verwaltung des städtischen Vermögens be- 
trauten Beamten (S. 304—16) fällt auf, daß Humberts zweibändiges 
Werk über diesen Gegenstand (Essai sur les finances et la compta- 
bilité publique chez les Romains, Paris 1887) dem Verf. offenbar un- 
bekannt ist; es wird denn auch unter der Litteratur (S. VI) nicht 
erwähnt. Das ist um so bedauerlicher, als Humbert, wenn auch nur 
kurz, das ganze Finanzwesen der Gemeinden behandelt (Vol. I, cap. 4: 
le budget des communes: p. 402—417; Vol. II, cap. 3: de l’admi- 
nistration des finances comm.: p. 60—95) und als ehemaliger Be- 
amter des Rechnungshofs für seinen speziellen Gegenstand jenes 
praktische Verständnis besitzt, von dem der Historiker, der nicht 
selbst darüber verfügt, nur lernen kann. 

In der viel zu kurzen (S. 313—18) Behandlung der Verwaltung 
des ager vectigalis (S. 513) vermisse ich die historische Auffassung 
der Institution. Ihr Verhältnis zu den älteren Kategorien: den als 
ager publicus privatusque (s. Festus s. v. possessiones) definierten 
Possessionen auf dem ager publicus und dem a. privatus vectigalisque 
der lex agraria vom Jahre 111 v.Chr. mußte verfolgt werden. Auch 
ist der offenkundige Zusammenhang des ius in agro vectigali mit 
den jüngeren Arten des erblichen Besitzes: ius occupandi der afrika- 
nischen Saltus, ius perpetuum salvo canone und Emphyteuse der nach- 
constantinischen Domanialverwaltung (His, Domänen S. 93 £.) viel zu 
wichtig, als daß man sich mit den vom Verf. gegebenen Notizen be- 
gnügen könnte. Die wichtige Institution läßt sich nur historisch, 


570 Gott. gel. Anz, 1901. Nr. 7. 


also mit Bezug auf alle ähnlichen Verhältnisse der früheren und 
spateren Zeit ganz verstehen, so wie ich, wenn auch in aller Kiirze, 
im Anschinß an die lex Manciana die emphyteutischen Rechtsver- 
haltnisse behandelt habe (Lex Manc. 8S. 39 f.). Ich vermisse feraer eine: 
Benutzung der fiir die juristische Auffassung des Vectigalrechts wich- 
tigen Darstellung bei Weber, Agrargesch. S. 175. Sie wird nicht 
einmal citiert. Daß statt der Anmerkung (1 auf S. 317) zur Ara 
legis Hadrianae ein Hinweis auf meine Behandlung dieser Urkunde, 
durch die der entscheidende Begriff ex[er]centur hergestellt und damit 
die frühere Litteratur antiquiert wurde, genügt hätte, bemerke ich nur 
deshalb, weil auch sonst in den Anmerkungen eine kritische Sichtung 
der Litteratur vermißt wird. Auch durfte hier ein Hinweis auf die 
der lex Hadriana so nahe verwandte lex Manciana nicht fehlen. 
Beim Gemeindeschuldenwesen (332 f.) wären durch einen Vergleich 
mit dessen modernen Gestaltung seine Mängel im antiken Städte- 
wesen — z.B. der ungenügende Schutz gegen die Gläubiger — viel 
drastischer hervorgetreten. 

Von S. 340—408 wird die Verwaltung der einzelnen, unter 
»Einnahmen« .und »Ausgaben« festgestellten, Posten der Vermögens- 
verwaltung behandelt. Auch hier stören wieder -Dispositionsfehler. 
Statt daß 1) auch bei der Verwaltung die der Einnahme von der 
der Ausgabe getrennt und 2) die früher gewählte Reihenfolge der 
einzelnen Ressorts beibehalten wird, entsprechen die Kapitel 1—3 
denen des Abschnitts »Ausgaben<, 4 und 5 dagegen den Kapiteln 5 
und 4 von »Einnahmen<; Kap. 6 (Postwesen) greift dann wieder auf 
Kap. 4 der »Einnahmen< zurück u.s.w. Ganz ungehörig ist es 
vollends, wenn der Kommunalärzte, die früher unter »Ausgaben: 6< 
(Wohlthätigkeit etc.) angeführt sind, hier unter »Erziehungswesen« 
gedacht wird (S. 353). Das sind formale, nicht eben auf sorgfältige 
Arbeit und Beherrschung des Stoffes hinweisende Fehler. Unter 
>Kultverwaltung< steht der merkwürdige Satz (S. 346): »auch 
im Osten besorgten seit alter Zeit die Heiligtümer ihre Angelegen- 
heiten selbständige — obwohl vorher ganz richtig ausgeführt ist, 
daß dieses bei den römischen Tempeln nicht der Fall war'). Es ist 
schon oben (S. 565) gesagt, daß bei keinem Zweig des Stadthaus- 


1) Etwas ähnliches findet sich S. 409. Es heißt da: »Eigene Beamte (für 
die Wasserwerke) kommen nur vereinzelt vor«, dann (nach einem Satz über die 
venafranische Leitung): »Daß in den Städten ein zahlreiches Personal zur Be- 
dienung der Leitungen vorhanden gewesen, ist anzunehmen, wenn auch nur wenige 
Beispiele bekannt geworden sind«. Das ist entweder ein Widerspruch oder eine 
Wiederholung — das eine wie das andere charakterisiert die wenig sorgfältige 
Arbeitsweise des Verf. , 


Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 571 


halts die fundamentalen Unterschiede des griechischen und römischen 
Städtewesens so hervortreten wie hier. Auf das Kultpersonal brauchte 
gar nicht eingegangen zu werden, ebenso wenig wie vorher auf die 
nicht an der Verwaltung des Gemeindehaushalts beteiligten Beamten 
(s. oben S. 568). Hinter »Bauverwaltung« findet sich eine lange Zu- 
sammenstellung über die privaten Servituten (S. 417), die doch mit der 
Bauverwaltung nicht das geringste zu thun haben — ein neues Bei- 
spiel für die Liebhaberei des Verf. bei jeder passenden und unpas- 
senden Gelegenheit Material zu häufen. 

Was über die munera gesagt wird (S. 417—430), ist mit dem 
Abschnitt über das Ausgabebudget wohl äußerlich (als $ 12), aber 
nicht innerlich verbunden. Jedes einzelne der S. 422 aufgezählten 
munera mußte bei einem Ausgabeposten berücksichtigt werden, denn 
jedes einzelne munus ersparte der Gemeinde eine Ausgabe. Verf. hat 
nur einen Teil der Liturgien bei den Ausgaben erwähnt (er zeigt 
das selbst durch die beigesetzten Verweise). Auf Grund des unter 
den einzelnen Ausgabeposten über den Anteil des betreffenden Munus 
an demselben Festgestellten wäre dann in dem zusammenfassenden 
Abschnitt über die munera zu sagen gewesen, welche Bedeutung die 
einzelnen Liturgien in den verschiedenen Gegenden und Gemeinden 
für das Ausgabebudget hatten. Statt dessen giebt Verf. eine Zu- 
sammenstellung der munera in der Unordnung, wie sie bei den Ju- 
risten stehen. Da mögen wir uns die beiden Fragen: 1) nach ihrem 
Verhältnis zum Ausgabeetat und zur Munifizenz (s. oben S. 566) und 
2) nach ihrer lokalen Bedeutung selbst beantworten. Die wichtige 
Frage nach der historischen Entwicklung des Liturgienwesens (s. S. 419) 
wird aufgeworfen, aber sofort bei Seite geschoben. 

Das dritte Buch ist überschrieben: Staat und Stadt (S. 431 
—538). Auch hier fehlt der organische Zusammenhang mit dem 
Früheren. Unter »Ausgaben< mußten vorher die Ausgaben für 
Staatszwecke hervorgehoben und hier auf Grund dieser Untersuchung 
der Anteil der Stadt am Staatsleben: die Stadt als staatliche In- 
stitution gewürdigt werden. S. 431—51 steht ein Abriß des Städte- 
wesens. Er tritt mit bescheidenen Ansprüchen auf (s. S.431 Anm. 2), 
aber es giebt Dinge, die sich mit bescheidenen Mitteln nicht wohl 
leisten lassen, und eine Darstellung des Städtewesens im weiten, 
vielgestaltigen römischen Reich, die wenig mehr als eine Aufzählung 
der wichtigsten Städte und die zugehörige — recht fleißig gesam- 
melte — Litteratur bietet, ist auch dann ohne Wert, wenn man 
sie nicht mit Mommsens glänzender Schilderung der Provinzen ver- 
gleicht. Für das vorliegende Buch vollends ist dieser Abriß ohne 
Belang, denn der bunten Mannigfaltigkeit des Städtewesens, wie 


572 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


sie der Abriß darzustellen versucht, wird die vorhergehende Be- 
handlung nicht gerecht. Und doch hätte eine genügende Darstellung 
des städtischen Haushalts Gelegenheit zu einer interessanten Ueber- 
sicht über das ganze Städtewesen vom ökonomischen Gesichtspunkt 
aus geben können. Das Fehlen des inneren Zusammenhangs zwi- 
schen den einzelnen Teilen des Buchs macht sich eben überall be- 
merklich. Es folgen dann einige — für das Thema entbehrliche — 
Bemerkungen über die Städtepolitik Roms und die Assimilation der 
Provinzen, wobei wie üblich die Grenze zwischen Darstellung und 
Noten eine ganz äußerliche ist (S. 456!). Den Beschluß macht eine 
Zusammenstellung über die Namen der verschiedenen Gemeinde- 
kategorien. Auch dies ist, wie so vieles nicht zum Thema gehörige, 
offenbar ein Fragment der ursprünglich geplanten umfassenderen 
Darstellung. 

In einem 2. Kapitel (S. 463—76) wird das Verhältnis der Staats- 
gewalt zur städtischen Selbstverwaltung erörtert. Wieder einmal 
behauptet Verf. auf die Hauptsache — die Schilderung des Stei- 
gens und Sinkens der munizipalen Autonomie — verzichten zu müs- 
sen (S. 463). Allgemein gehalten wie er ist — wir hören einiges 
über die Freistädte und das Gewohnheitsrecht —, konnte der Ab- 
schnitt überhaupt fehlen; vom Verhältnis der Regierung zu dem 
Finanzwesen der Städte — das ist ja doch das Thema — ist 
überhaupt nicht die Rede, geschweige daß konkrete Belege in histo- 
rischer Folge beigebracht würden. Wie wenig der Verf. seinen Stoff 
durchgearbeitet hat, zeigt der verwunderliche Widerspruch zwischen 
zwei unmittelbar auf einander folgenden Sätzen auf S. 474. Von 
S. 473 an wird das Eingreifen der Staatsregierung in die städtische 
Selbstverwaltung behandelt, dann liest man: »zweifellos hat diese 
Politik, freien Städten wie den Municipien und Colonien eine weit- 
gehende Selbständigkeit .. zu gewähren .. nicht zum wenigsten 
zu der großen Entfaltung des städtischen Wesens im Reiche beige- 
tragen<. Es folgt ein emphatischer Preis der Blüte des freien 
Stidtewesens. Was soll man zu einer solchen Confusion sagen?! 
Aehnliche Fälle habe ich oben (S. 570) zusammengestellt. 

Ein 3. Kapitel heißt: »Der Niedergang der Stadte< (S. 476—503). 
Der Inhalt ist durchaus eine Fortsetzung des 2. Kapitels, denn dar- 
gestellt wird die immer drückender werdende Bevormundung der 
Städte durch die Regierung: die Einsetzung von Kontrollbeamten, 
die Umwandlung des Stadtrats in eine Steuerbehörde und Zwangs- 
corporation etc. Verf. hat diesen engen Zusammenhang der beiden 
Abschnitte durch ihre Trennung gestört. Aber es ist ja nicht das 


Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 678 


erste Mal, daß wir ihn einen historischen Zusammenhang mißachten 
sehen. 

Kap. 4. »Rückblick« (S. 504—538). In ihm hören wir etwas 
über die Ursachen des Verfalls der Städte oder vielmehr des Rei- 
ches. Auch hier liegen Bruchstücke aus einer umfassenderen Arbeit vor 
uns. Zu den städtischen Finanzen (dem Thema!) haben all die 
mehr oder weniger brauchbaren Notizen (über Abgabendruck, agra- 
rische Mißstände, und vor allem die an und für sich recht erfreuliche 
Ablehnung der von Seeck beliebten Anwendung materialistischer 
Theorien auf die Geschichte) zwar allerhand Beziehungen, aber diese 
treten nicht hervor. Wie gerne hätten wir diese überflüssigen Noten- 
schätze hingegeben für eine knappe Zusammenfassung der aus der 
Untersuchung des städtischen Gemeindehaushalts gewonnenen Er- 
gebnisse! Hat doch Verf. sein Thema als Frage formuliert, auf die 
er uns jetzt die Antwort schuldig bleibt. 

Aber ich verlange zu viel: wer zu keinen Ergebnissen gelangt 
ist, kann sie auch nicht vorführen. 

Wir haben wohl gehört: im ersten Buch, daß die Gemeinden 
eine Menge Einnahmen und eine Menge Ausgaben, im zweiten, daß 
sie viele Beamten, auch Finanzbeamten, hatten und daß die Bürger 
durch freiwillige und erzwungene Naturalleistungen den Ausgabe- 
etat erleichterten, im dritten, daß der Staat den Städten manche 
Freiheit ließ, aber auch oft sich in ihre Angelegenheiten einmengte, 
aber das sind keine historischen und keine statistischen Daten, son- 
dern Notizen. Ueber das Verhältnis der Einnahmen zu den Aus- 
gaben, über das Verhältnis der drei an der Erfüllung der städtischen 
Obliegenheiten beteiligten Faktoren: 1) Ausgaben der Gemeinde, 2) 
Munifizenz, 3) Liturgien der Bürger zu einander, über die lokalen 
Unterschiede des Finanzwesens, über die geschichtliche Entwicklung 
zuerst der finanziellen Autonomie, dann der Staatsknechtschaft: über 
alle diese und andere wichtige Fragen giebt das Buch keine Aus- 
kunft. Gestreift wird die eine oder andere gelegentlich, aber der 
Verf. bedauert dann immer auf sie nicht eingehen zu können (S. 2 
Anm. 1: die Frage nach der Geschichte des städtischen Grundeigen- 
tums, S. 419: nach der Geschichte der munera, S. 463: nach den 
Wandlungen der städtischen Autonomie). 

So muß denn die Bearbeitung des Gegenstandes als verun- 
glückt bezeichnet werden. Weder ist die das eigentliche Thema dar- 
stellende Frage beantwortet noch auch, abgesehen von ihr, das 
städtische Finanzwesen genügend behandelt. Ueber wichtige Gegen- 
stände herrscht Unklarheit. Das angehäufte Material ist nicht verar- 
beitet (s. o. S.564) und im Text fallen seltsame, ebendahin weisende 


574 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


Widersprüche auf (s. o. S. 572). Die Disposition ist oft verfehlt 
(s. 0. S. 565, 566, 570, 572), Griechisches und Römisches wird durch- 
einandergemengt, überall zeigt sich ein Mangel an historischer Auf- 
fassung. Kritiklos wird das Wichtige oberflächlich, das Unwichtige 
breit behandelt (s. 0. S. 568, 571, 572, 573) — kurz, selbst wenn man 
das Buch als eine Stoffsammlung bezeichnen will, muß man ihm den 
Vorwurf machen, daß es den Stoff nicht geordnet hat. Und das 
liegt wohl nicht so sehr an einem, übrigens auch gar nicht zu ver- 
kennenden, Mangel an Sorgfalt, sondern mehr daran, daß dem Ver- 
fasser diejenige schaffende und gestaltende Kraft fehlt, ohne welche 
die Behandlung einer größeren Materie nicht möglich ist. Hülflos 
steht er dem Chaos, welches er gestalten soll, gegenüber. Sein Ma- 
terial ist ihm um so mehr über den Kopf gewachsen, als er seine 
Sammlungen zum ganzen Städtewesen in das nur ein Kapitel des 
Städtewesens behandelnde Buch wie in eine zu enge Form hinein 
gepreßt hat. | 

Zum Schluß giebt es noch einen »Anhang<: fast 30 Seiten mit 
inschriftlichen Belegen für griechische Gemeindeämter. Ohe tam 
satis est! 

Ueberall erstickt die Darstellung in Notizen; sie geht denn auch 
oft genug ohne weiteres in eine Anmerkung über (so S. 12, 422, 
477, 510, 514, 520, 527, 536); die Grenze zwischen Text und Noten 
ist aber auch sonst oft eine rein äußerliche. Auf stilistische Mängel ') 
gehe ich nicht ein; auch sie charakterisieren die Formlosigkeit der 
Arbeit. 

Muß ich nun zum Schluß noch sagen, daß man das Buch wegen 
des in ihm, zumal in den Noten und Exkursen (so besonders S. 476 f.), 
angehäuften Materials trotz alledem oft zur Hand nehmen wird und 
daß es auch manches Brauchbare~exthalt — das versteht sich bei 572 
Seiten am Ende von selbst —, soll Ih dem Verfasser bescheinigen, 
daß er offenbar viel Zeit daran gewandt (aber noch zu wenig, 
denn die Gestaltung der ungefügen Materie Myja kaum begonnen)? 
Ich thue es hiermit, hoffe aber dafür, er erke®g an, daß ich sein 
Buch gewissenhaft — und geduldig — geprüft ha Seine metho- 
dischen Mängel scharf zu formulieren und zu zeigen: daß eine über- 
reiche Materialsammlung noch kein Buch macht, sc mir gerade 
jetzt eine Pflicht, wo bei der täglich zunehmenden Wasse der In- 
schriften diese bequeme Art, den epigraphischen ®eichtum zu 
nutzen, Mode werden und der alten Zeit, die ein besc Menes Ma- 


















1) 8. 808 Anm. 7 steht: »die von Sintenis ... gezogene, überall ¥ Wider 


spruch gestoßene Folgerung«. 


L. Apulei Madaurensis apologia et florida rec. J. van der Vliet. 575 


terial gewissenhafter benutzt habe, ein Lobredner entstehen könnte. 
So zu arbeiten, heißt aber auch der unendlichen Mühe, die an die 
Sammlung der Inschriften gewandt worden ist, schlechten Dank ab- 
statten. Wenn »epigraphische« Arbeiten bei einigen in Mißkredit ge- 
kommen sind, so liegt das nicht an der Epigraphik, sondern an dem 
Unvermögen, aus der Fülle das Wichtige herauszufinden und wiederum 
den oft in der kleinsten Notiz, in dem unscheinbarsten Denkmal ver- 
borgenen Gehalt zu erkennen. 


Göttingen, 1. Mai 1901. A. Schulten. 


L. Apulei Madaurensis apologia et florida recensuit J. van der Vliet. 
Lipsiae Teubner 1900. IX und 202 S. 8°. Preis 4 Mk. 


Van der Vliet hatte im Jahre 1897 eine Ausgabe der Meta- 
morphosen des Apuleius erscheinen lassen, die heftigen Tadel ge- 
funden hat sowol wegen des wunderlichen Einfalles, statt der ein- 
zigen Handschrift eine Abschrift zu vergleichen, als auch wegen der 
willkürlichen und unüberlegten Conjecturalkritik. Einem Autor wie 
Apuleius, dem markantesten Vertreter der raffinierten griechischen 
Moderhetorik auf römischem Boden, konnte ınan wirklich eine bes- 
sere Behandlung wünschen. Daher werden sich nur wenige gefreut 
haben, Herrn vy. d. Vliet wiederum als Herausgeber des Apuleius zu 
begegnen; und die neue Ausgabe ist auch nicht viel besser als die 
alte. Besser doch insofern, als diesmal nicht blos die Abschrift 9, 
sondern auch die Originalhs. F nachverglichen ist, wodurch beson- 
ders der Apparat der apologia gewonnen hat, da Krüger hier auf 
einer schlechten Collation gefußt hatte; auch der eigenen Conjec- 
turen des Herausg. sind es etwas weniger geworden. Nicht viel 
besser, weil der Herausg. auf dem Standpunkt steht, daß er eine 
Umarbeitung der letzten Ausgabe, wie sie auch beschaffen sein mag, 
für genügend hält, dagegen auf eine consequente Durchführung neuer 
Gesichtspunkte verzichtet. 

Bekanntlich beruht die Ueberlieferung des gesamten Apuleius, 
abgesehen von den philosophischen Schriften, auf einer einzigen Hs., 
Laur. 68,2 saec. XI (F), derselben, die auch für Tacitus’ Historien 
und den zweiten Teil der Annalen die einzige Quelle ist. Daß sie 
verhältnismäßig correct ist, verdanken wir dem Grammatiker Sallu- 
stius, der den Text 395 in Rom und 397 in Constantinopel durch- 
gesehen, d.h. wahrscheinlich aus einer zweiten Hs. verbessert hat, 


576 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


wie seine in F übergegangene subscriptio zeigt). F ist ziemlich stark 
verbessert, angeblich von drei Händen, und die ursprünglichen Schrift- 
züge sind dadurch vielfach unkenntlich geworden. Der letzte Herausg. 
der apologia und der florida, Gustav Krüger, hatte daher eine um 
ein Jahrhundert jüngere Abschrift von F herangezogen, Laur. 29,2 (9), 
die angeblich dazu dienen sollte, den Text von F, wie er vor der 
Correctur war, zu erkennen. Aber Beyte zeigte in einer Göttinger 
Dissertation von 1888, daß F bereits einmal von einer zweiten Hand 
corrigiert war, als gm daraus copiert wurde, und v.d. Vliet teilte in 
seiner Vorrede zu den Metamorphosen weitere Tatsachen mit, durch 
welche der Wert von @ bedeutend reduciert wurde. Man durfte 
daher erwarten, @ jetzt nur noch da herangezogen zu sehen, wo er 
wirklich zur Erkenntnis der früheren Schreibung in F beitrug: aber 
was geschieht? Der Apparat wird weiter mit sämtlichen Varianten 
von @ belastet; wo er comedica statt comoedica schreibt, wo er um- 
quam in unquam verbessert, Dinge die uns selbst bei F kaum inter- 
essieren würden, da wird uns das nicht vorenthalten; auch die Blatt- 
anfänge von gm werden gewissenhaft am Rande notiert. Auf eine 
kurze Strecke (S. 93 ff.) erscheint sogar außerdem noch ein codex 
Dorvillianus (0), der gar keine Bedeutung für die recensio hat; wozu 
uns 158,11 ausführlich mitgeteilt, was de Furia am Rande von F 
bemerkt hat, ist auch nicht einzusehen. Das ist bei einem so schwie- 
rigen Autor wie Apuleius doppelt bedauerlich; denn nicht blos wird 
der Apparat dadurch unübersichtlich, es geht auch eine Menge Raum 
verloren, die zu kurzen Erklärungen, zur Anführung von Parallel- 
stellen u. dgl. mit Nutzen hätte verwendet werden können. Aber 
auch die Art, wie die Abweichungen von F mitgeteilt werden, ist 
nicht einwandsfrei; es werden einzelne Buchstaben in Haken oder 
Doppelhaken eingeklammert, ohne daß uns gesagt wird, was diese 
m. W. nirgends üblichen Zeichen bedeuten; es werden griechische 
Buchstaben gebraucht, z.B. 41,6 lslkü, 114,27 penttere, um ich weiß 
nicht was auszudrücken; es werden Abkürzungen typographisch 
wiedergegeben — was stets mißlich ist — und dadurch auch an sol- 
chen Stellen Mißverständnisse nahe gelegt, an denen gar kein Zwei- 
fel über die Lesung besteht (z.B. 72,8. 93,10. 170,7). Da ich die 
Hs. selbst nie gesehen habe, so will ich nicht behaupten, daß sich 
eine sichere Scheidung der verschiedenen Hände noch weiter hätte 
durchführen lassen; aber ich darf nicht verschweigen, daß Lütjohann 
vier Hände geschieden und Beyte gezeigt hat, daß nur die Correc- 


1) Eine durchgreifende Revision des Textes hat er ebenso wenig vorgenom- 
men wie Calliopius Victorinus u.s. w. — was für Terenz von Belang ist, 


L. Apulei Madaurensis apologia et florida rec. J. van der Vliet. 577 


turen von der Hand des Schreibers selbst Ueberlieferungswert haben; 
jedoch gerade die wichtigste Angabe, daß eine Aenderung von F? 
herrührt, findet sich ziemlich selten in der neuen Ausgabe. Demnach 
wird ein künftiger Herausg. nicht umhin können, die Hs. noch ein- 
mal anzusehen (von den Metamorphosen gilt das erst recht). 

Im Text findet man ziemlich viel Cursive und denkt natürlich, 
sie solle die Abweichungen von der Ueberlieferung bezeichnen. Aber 
incredibile dictu! das ist nicht der Fall: vielmehr ‘zeigen cursive 
Buchstaben an, daß der Kriigersche Text verlassen ist; von den 
Klammern, die moderne Zusätze einschließen, gilt dasselbe. Auch 
hier ist der Herausg. nicht consequent gewesen; hätte er aus ästhe- 
tischen Gründen gar keine typographischen Unterscheidungen ange- 
wendet, so hätte man sich zufrieden gegeben; nun aber führen sie 
den Leser nur in die Irre. Ueberhaupt ist Krüger (dessen Ver- 
dienste um den Text nicht eben groß sind) eine Autorität für ihn: 
Kr. bedeutet ihm häufig die Ueberlieferung, die er vorgefunden hat, 
ganz gleich, ob Krüger selbst oder Casaubonus oder die Vulgata für 
die einzelne Lesart verantwortlich zu machen ist. Es wäre ange- 
gangen, die Urheber der einzelnen Verbesserungen gar nicht zu 
nennen, so wie es Buecheler im Herondas gemacht hat; wollte der 
Herausg. das nicht — und es empfiehlt sich im Apuleius auch 
nicht —, so mußte er die älteren Ausgaben sorgfältiger benutzen, 
anstatt, wie es den Anschein hat, nur Krüger und die nach dessen 
Ausgaben (1864 und 1865) erschienene Litteratur einzusehen. Es 
kommt daher nicht selten vor, daß statt des scrips:, mit dem v. d. Vliet 
sehr freigebig ist, ein älterer Name einzusetzen ist; so steht 56,15 
de magis et pueris bereits in abgeleiteten Hss.; 114,3 quem bei Hil- 
debrand ; 158,18 ist natura comparatum est statt comprobatum richtig, 
aber alt; aber Krüger erwähnt es nicht und Hildebrand einzusehen 
ist etwas viel Arbeit für einen Herausgeber. Das 47,26 ergänzte 
cu:n hat sogar Krüger selbst vorgeschlagen (übrigens wol mit Un- 
recht, trotz der freien Stelle in F, vgl. z.B. met. III 9). In der 
Anführung fremder Conjecturen ist v.d. Vliet sparsamer als man 
wünschen möchte, auch von neueren fehlt manche (z.B. 5,10 [quz] 
Dilthey; 147,10 admotum Klussmann; 157,16 clavulae Crusius), die 
man gern erwähnt sähe und die der Herausg. aus Burkhards Be- 
richten (Bursian 84. 93) bequem kennen lernen konnte; auch hier 
wird ein künftiger Herausgeber von vorn anfangen und namentlich die 
älteren Ausgaben genau durchsehen müssen; denn außer E. Rohde 
hat Keiner der Jüngeren viel für die Textverbesserung geleistet. 

Unter den sehr zalreichen eigenen Aenderungen des Herausg. 
sind einige richtig oder beachtenswert, z. B. 60,19 didicerit statt 

Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 7. 39 


578 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


dicerit; 92,1 omnis illa tam foeda animi mutalio statt tum; 186,1 
die Tilgung von confestim; auch die Erklärung von 29,9: quod paw 
cioris habeo = halito ist schlagend. Aber diese wenigen Perlen 
verschwinden unter der Spreu von unnötigen oder verfehlten Aende- 
rungen, die man nur aus einer prurigo contectands begreift und die 
z.t. von mangelhafter Kenntnis des Sprachgebrauches oder mangeln- 
dem Gefühl für die Grenzen der Weahrscheinlichkeit zeugen. Die 
Kritik des Apuleius ist außerordentlich schwer, weil man auf die 
albernsten Pointen und auf Reminiscenzen aus Autoren der ver- 
schiedensten Zeiten gefaßt sein muß; Zurückhaltung ist hier mehr 
am Platze als anderswo. 

S. 7,s ist multo tanta überliefert, ebenso 55,s und an einigen 
Stellen der metam.; man ändert in multo tanto, läßt aber 108,19 di- 
midio tanta stehen. Schon Hildebrand hat zu letzterer Stelle darauf 
aufmerksam gemacht und neuerdings ist Leo mit Recht für die Bei- 
behaltung der Ueberlieferung eingetreten. 

S. 8,6 item Zenonem illum antiquum Velia oriundum, qui... 
ddlissolverit, eum quoque Zenonem ... tilgt v.d. Vliet wie üblich das 
zweite Zenonem; aber Vahlen hat Herm. 33,259 gezeigt, daß eine 
derartige Epanalepsis nicht ungewöhnlich ist, nachdem bereits Hilde- 
brand zu metam. 8 und apol. 540 den Sprachgebrauch behandelt 
hatte (vgl. Hygin. fab. 34,4 Schmidt). 

S. 55,18 nec ultra isti quidem progredi mendacio ausi; enim fa- 
bula ut impleretur, addendum etiam illud fuit ... Hier vor enim ein 
sed einzuschieben empfiehlt sich nicht, da Apuleius es liebt, nach 
dem Vorbilde der Komiker enim an erste Stelle zu setzen, und zwar 
als begründende Partikel; so met. IV 8 de deo Socr. 8. 19 u. 0. 
Vgl. Hildebrand zu unserer Stelle. 

S. 109,9 wird atgue ego scio mit Scaliger in atqui geändert, da- 
gegen 71,17 geduldet. Letzteres Verfahren ist das richtige, wie 
wiederum Hildebrands Anmerkung zu der Stelle zeigt. 

S. 123,9 dico exiguum herediolum sexaginta milibus nummum — 
id quoque non me, sed Pudentillam suo nomine emisse. Wer weil, 
wie Apuleius das Anakoluth als Stilwiirze auch da verwendet, wo 
gar kein Anlaß dazu vorliegt, wird sich hüten, hinter nummum ein 
emptum zuzusetzen. Vgl. 53,33 solus tlle quantum scram, cum si 
cetera exossis, duodecim numero ossa ... in ventre eius conexa et ca- 
tenata sunt. S. Hildebr. zu metam. 219. 

S. 124,20 eminiscimini quod respondeatis, qui vos tta rogarit. 
Ein s+ qui sieht sehr verführerisch aus; aber auch oblique Casus von 
ss werden vor dem Relativum leicht weggelassen, nicht blos bei 
Apuleius; apol. 24,16 hoc mshi adversum te usu venit, quod qui forte 


L. Apulei Madaurensis apologia et florida rec. J. van der Vliet. 579 


constitit. ... metam. V 21 tune lae non ignarae quae gesta sunt 
vgl. I 4 ex. 16 bell. Alex. 17,3 praemiis magnis propositis, qui prt- 
mus insulam cepissct. Bach Studem. Stud. II 347 Sydow de fide 
libr. Calliop. 27. 

S. 125,14 steht in F dentes splendidos, wo der Sinn keinen 
Zweifel darüber läßt, daß es heißen muß: »Du putzest dir die 
Zähne«. Das richtige splendidas hat schon Lipsius gefunden, aber 
v.d. Vliet schreibt splendicas unter Berufung auf zwei Stellen, an 
denen beiden das Wort »glänzen« heißt. 

S. 183,15 »sates< inquit »mihr fuerit mercedis« Thales sapiens, 
»si id... Hier klammert v.d. Vliet Thales sapiens mit Krüger ein; 
aber inquit wird nicht selten so von seinem Subject getrennt, einer 
der vielen Graecismen, die bei einer künftigen Behandlung des kaum 
angeschnittenen Themas »Graecismen in der lateinischen Syntax< zu 
besprechen sein werden: vgl. zuletzt H. Schoene, Rh. Mus. 54, ess ff. 

Ich habe solche Stellen herausgegriffen, an denen ich sprach- 
liche Bemerkungen machen konnte'). Wenn man sehen will, wie 
v.d. Vliet die Ueberlieferung mißhandelt, so schlage man z.B. 54, 51 
nach: me non negabunt in Gaetuliae mediterraneis montibus fuisse, 
ubi pisces per Deucalionis diluvia repperientur. quod ego gratulor 
nescire istos legisse me Theophrasts quoque xeglt daxerav xal BAnte- 
xy et Nicandri Onovaxd: ceterum me etiam veneficii reum postularent. 
Das sieht in der neuen Ausgabe so aus: ubt p. post D. d. <non> 
reperiantur. ceterum <st scirent> quod e. g..... Onovaxd, me etiam 
... Die Stelle ist ganz in Ordnung. Aehnlich ist 117,17 geschaltet; 
ich notiere kurz 11,6. 23,8. 37,95. 78,8. 104,23. 165,19. 

In der Interpunction zeigt sich eine weitgehende Abhängigkeit 
von Krüger, der seinerseits wieder auf Hildebrand fußt; vgl. 38, se. 
63,20. 164,6. Die Testimonia unter dem Text sind sorgfältig aus 
Krüger abgedruckt; hätte der Herausg. S. 110 die Arnobiusstelle 
nachgeschlagen, so hätte er Belus gedruckt, nicht Velus; hätte er 
zu S. 161 die Pliniusstelle nachgesehen, so hätte er gefunden, daß 
Apul. seine Wissenschaft vom Papagei allein aus ihr schöpft, und 
nicht das Solinuscitat noch außerdem aus Krüger übernommen. 
Einiges hat er aus Weymans und Gatschas Arbeiten und etliche 
Parallelstellen aus den Metam. de suo hinzugefügt, ohne rechtes 
Princip. 179,19 hören wir zwar, daß die Verse aus Plautus sind 


1) Rasch hinweisen will ich noch auf 26,,, haec et alia flagitia divitiarum 
alumns solent, wo V1. esse vor solent einschiebt (warum nicht wenigstens patrare,?). 
Aber ganz ähnlich 28,,,. 181, ., coeptt nolle quod pepigerat, wo man dare zufügt. 
Unser Autor hat Manches der Art, z.B. met. I 7 quod unctui quod tersus spse 
praeministro. 

39 * 


680 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


und auch bei Priscian stehen (was nicht unter die Testimonia ge- 
hört); aber die interessanten Varianten der Plautusüberlieferung wer- 
den uns nicht mitgeteilt. Die Indices nominum sind ebenfalls die 
Krügerschen, kaum um einen Federstrich verändert; selbst die kleine 
Mühe hat der Herausg. gescheut, aus den beiden Indices éinen zu 
machen, und so haben wir hinter der Apologie und hinter den Flo- 
rida je zwei Indices (denn der Herausg. hat indices verborum ange- 
fertigt, die in dieser Knappheit geringen Wert besitzen ; die Sprache 
des Autors muß von historischen Gesichtspunkten ganz und gar 
durchgearbeitet werden, wie auch Norden Kunstprosa 604 bemerkt), 
als ob es Werke verschiedener Autoren wären. 

Es sei mir gestattet, einige eigene Bemerkungen mitzuteilen. 

S. 7,18 homo vere le quidem non disertissimus ist das vere 
vielleicht aus Z. 20 eingedrungen; vgl. 186, :. 

S. 13,21 in Apuleius’ Liebesgedicht möchte ich vorschlagen: 

et Critias mea delicies; sed salva, Charine, 
pars in amore meo, vita, tıbı remanet. 
delitescet hat F, aber tescet auf Rasur von zweiter Hand, wie ich aus 
Krüger entnehme (v. d. Vliets Angabe ist unverständlich) ; delicie stet 
g, woraus man gewöhnlich delicies et macht. 

S. 28,12 cur eius (sc. paupertatis) pudeat tenuiores, qui eam non 
simulata sed vere fungimur? Man schreibt mit Acidalius simulato; 
hat noch Niemand an simulate gedacht ? 

S. 46,33 celera maris evectamenta, quae ubique litorum ventis ex- 
pelluntur, salo expuuntur, tempestate reciprocantur, tranquillo dese- 
runtur. Hier las man statt liforum früher locorum, weil in F an 
dem Wort corrigiert ist und 9 /ocorum haben sollte; v.d. Vliet giebt 
aber ausdrücklich an, daß er auch litorum hat, zieht jedoch nicht die 
Consequenz so zu edieren. Was soll aber deseruntur am Schluß? 
Ich hatte mir deferuntur notiert und finde es bei Hildebrand aus 
einem Apographum angeführt. 

S. 47,14 So sehr Apuleius das Asyndeton liebt (z.B. flor. 151,15. 
169,7 vgl. Fälle wie Vergil Aen. I 364, der auch hierin von der 
Rhetorik abhängig ist), so scheint es mir hier doch nicht seinem Sprach- 
gebrauch gemäß zu sein, und ich möchte ein e¢ hinter curat ein- 
schieben. 

S. 49,20 wel dicant nobis, Aemiliane, patroni tus: vielleicht velsm. 

S. 58,2 (es ist die Rede von einem epileptischen Sklaven) omnium 
rerum convictum me fatebor, nist rusa de omnium dıu ablegatus est in 
longinquos agros. Hier hat Zink vorgeschlagen rus ab ore omnium; 
v.d. Vliet hat das zu verbessern geglaubt, indem er n:s3 streicht und 
rus adeo <ab ore> liest. Sollte etwa zu schreiben sein rus a domino dis ? 


L, Apulei Madaurensis apologia et florida rec. J. van der Vliet. 581 


S. 65,4 quod dexterae auris crebriores tinnitus fatebatur , signum 
erat morbi penitus adacti. Ich glaube nicht, daß man sagen kann: 
morbus adigitur, und halte adaucts für das Richtige. 

S. 85,25 sed puerorum avus invitam eam conciliare studebat cete- 
rum filio suo Sicinto Claro. Pudentilla war erst mit Sicinius Amicus 
vermählt und hatte zwei Söhne von ihm, aber er starb noch bei 
Lebzeiten seines Vaters, der jetzt eine Heirat zwischen Pudentilla und 
seinem zweiten Sohne herbeizuführen sucht. Rieses derum fiir cete- 
rum ist daher nicht übel, aber ich möchte zu bedenken geben, ob 
nicht cetero filio = to Aoın® vid möglich wäre. 

S. 109,18 haec ego quamquam possim merito dicere, tamen vobis 
condono nec satis mihi duco, st me omnium quae insimulastis abunde 
purgavi, si nusquam passus sum vel exiguam suspicionem magiae con- 
sistere. Apuleius ist im Begriff zu zeigen, daß ihm eine Anwendung 
von Zaubermitteln gar keinen Vorteil hatte bringen können. »Viele 
würden in meinem Falle es für eine ausreichende Verteidigung hal- 
ten, wenn sie zeigten, daß ihr sonstiges Leben zu einem derartigen 
Verdacht keinen Anlaß giebt; ich verzichte auf eine derartige Ver- 
teidigung, so gut ich sie mir zu eigen machen könnte; ich gebe 
mich nicht damit zufrieden, eure Beschuldigungen zu widerlegen, so 
lange noch der Schatten eines Verdachtes auf mir ruht<. Also ss 
usquam passus sum. 

S. 169,14 in der bekannten Charakteristik des Philemon: rarae 
apud illum corruptelae et uti errores concesst amores. So haben alle 
Herausgeber mit der Hs. geschrieben und wol verstanden: »es kom- 
men zwar Verirrungen vor (auf erotischem Gebiet), aber die Lieb- 
schaften halten sich in den Grenzen des Erlaubten<. Das ist Non- 
sens; es wird zu ändern sein: corruptelae, tuts errores, d.h. Ver- 
irrungen, die keine ernstliche Gefahr mit sich bringen. 

S. 171,16 inde acerbus dolor intestinorum coortus modico ante 
sedatus est, quam me denique violentus examimaret. Die Schmerzen 
horten auf, fingen aber dann mit erneuter Heftigkeit wieder an; 
sollte der Autor nicht denuo geschrieben haben ? 

S. 173,19 testimonium mihi perhibuit in curta ... vir consularis, 
cui etiam notum esse tantummodo summus honor est: is etiam laudator 
mihi... astititt. Das Gefüge wird besser, wenn man schreibt: <ef> 
cui ... est, is eliam ... 

S. 180,8 sed verum est profecto, qui aiunt halte ich für unmög- 
lich; daß die Vulgata quod liest, hätte v.d. Vliet erwähnen können. 
Aber Apuleius hat eher geschrieben: sed verum profecto, qui aiunt. 
Z. 13 id ego cum ante alias, tum etiam nunc inpraesentiarum usu ex- 
perior, Aber ante ist nur alte Conjectur statt a, das als Ditto- 
graphie zu tilgen sein wird. 


582 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


S. 183,7 lunae vel nascentis incrementa vel senescentis dispendia 
vel delinquantis obstacula. Der letzte Ausdruck bezieht sich natür- 
lich auf die Finsternisse; man ändert richtig in delinquentis, ohne 
es zu erklären: es ist gedankenlose Uebersetzung von &xAsızovens. 
Und ich schließe mit dem Wunsche, daß ein etwaiger Herausgeber 
der philosophischen Schriften in der Teubnerschen Bibliothek außer 
anderen notwendigen Dingen auch ordentlich Griechisch versteht. 


Greifswald, 13. April 1901. W. Kroll. 





Chronik der Stadt Zürich, mit Fortsetzungen, herausgegeben von Johannes 
Dierauer. XLVII u. 308 S. Gr. 8°. Basel, Ad. Geering, 1900. (Quellen 
zur Schweizer Geschichte, herausgegeben von der Allgemeinen Geschichtforschen- 
den Gesellschaft der Schweiz. Band XVII). 


Schon seit Jahren galt in den Kreisen schweizerischer Geschicht- 
forschung und Quellenedition als eine der wichtigsten, aber auch 
schwierigsten Aufgaben eine den Anforderungen der Kritik ent- 
sprechende Ausgabe des Zürcher Chronikenmateriales. Schon seit 
den sechsziger Jahren und vollends seitdem mit dem Jahre 1874 
das Programm für die »Quellen zur Schweizer Geschichte festge- 
stellt worden war, fand sich auf diesem als ein Hauptpostulat eben 
diese Aufgabe. Aber verschiedene in Anfrage gestellte Forscher, so 
der St. Galler Scherrer, der schon 1862 mit Eindringlichkeit diese 
Fragen zu behandeln begonnen hatte, hatten die Aufforderung ab- 
gelehnt. So war es als ein großer Erfolg zu betrachten, daß der 
durch seine Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft — 
vgl. Gött. gel. Anz. 1889 Nr. 15, 1892 Nr. 17 — bestens bekannte 
St. Galler Historiker Johannes Dierauer sich gewinnen ließ, die Edi- 
tion zu übernehmen. Schon 1895 konnte, als aus dem Nachlaß von 
Georg von Wyß durch die Allgemeine Geschichtforschende Gesell- 
schaft die »Geschichte der Historiographie in der Schweiz« veröffent- 
licht wurde, nach seinen Mittheilungen der ganze Abschnitt über die 
Zürcher Chroniken neu bearbeitet mitgetheilt werden. 

Allerdings fehlte es schon bisher nicht an einzelnen Druck- 
legungen von Bestandtheilen der Chronik. Im. achtzehnten Jahrhun- 
dert erschien in der von Bodmer herausgegebenen »Helvetischen 
Bibliothek« — 1735 und 1741 — ein ansehnlicher Theil der hernach 
zu charakterisierenden Gloggnerschen Copie. Ludwig Ettmüller ließ 
1844 in Band II der »Mittheilungen« der zürcherischen antiquari- 
schen Gesellschaft >die beiden ältesten deutschen Jahrbücher der 
Stadt Zürich« erscheinen, doch ohne irgend eine klare Einsicht in 
die Frage des Verhältnisses der Texte zu einander, und mit der 


Chronik der Stadt Zürich, mit Fortsetzungen, herausg. von Dierauer. 588 


Liebhaberei des Germanisten, die Färbung einer älteren Sprachform 
einzuführen. Vollends war Anton Hennes Publication des Codex San- 
gallensis 645, von 1861, unter dem Titel einer »Klingenberger Chro- 
nik<, eine Edition, die Waitz alsbald — Gott. gel. Anz. 1862, St. 5 — 
beleuchtete, am allerwenigsten geeignet, zur Klärung der Frage bei- 
zutragen. Denn, abgesehen von dem ganz irreführenden Titel, ist 
das hier abgedruckte Werk eine um die Mitte des fünfzehnten Jahr- 
hunderts angelegte Compilation eines anonymen Autors, von pro- 
fanen und kirchlichen, von deutschen und schweizerischen, von wirk- 
lich zürcherischen und österreichisch gefärbten Stücken. Freilich 
sind dann wieder Copieen dieser Sammlung auch in zürcherischen 
Handschriften — des Gebhard Sprenger, A 78 der Zürcher Stadt- 
bibliothek, worauf eben Ettmüller griff, des Hans Huopli, A 113 der 
gleichen Bibliothek — in ziemlich übereinstimmender Form vorhan- 
den, und eine gewisse Anlehnung an die alte Zürcher Chronik fehlt 
da nicht. Doch die Neigung zu breiterer Ausdrucksweise, Vorliebe 
für epische, sagenhafte Züge, mannigfache Ueberarbeitung sind überall 
spürbar. Besonders in dem wichtigen Abschnitte der hernach zu 
kennzeichnenden sogenannten Mülnerschen Chronik tritt das Eigen- 
mächtige einer im österreichischen Sinne, zu Gunsten der Zürich 
feindseligen Nachbarstadt Rapperswil thätigen Tendenz zu Tage, 
und vom Sempacher und Näfelser Kriege an ist die österreichische 
Färbung ganz entschieden; die am Schlusse stehende Darstellung 
des alten Zürichkrieges ist wahrscheinlich in Rapperswil geschrieben. 

So war ganz besonders infolge der Henneschen Veröffentlichung 
eine reinliche Ausscheidung des wirklich zürcherischen Materiales und 
hier wieder der ältesten Fassung überall zur wahren Verpflichtung 
für den wahrhaft kritischen Bearbeiter gemacht worden. 

Kurze gleichzeitige Aufzeichnungen müssen schon im dreizehnten 
Jahrhundert in Zürich gemacht worden sein. Dahin gehören die 
Daten über die Fehde der Stadt mit dem Freiherrn von Regensberg, 
über die Königswahl Rudolfs und dessen Gegner König Ottokar von 
Böhmen, über eine große Feuersbrunst in Zürich im Jahre 1280. 
Eine einzelne Notiz, über Lebensmittelpreise in der Zeit König Ru- 
dolfs, ist dabei auf einen bestimmten Namen, des Ulrich Krieg, zu- 
rückzuführen. Die letzte dieser Nachrichten betrifft die arge Nieder- 
lage, die Zürich 1292 vor Winterthur erlitt. Dann aber sind aus 
der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts fast durchaus nur 
ganz dürftige Mittheilungen vorhanden, eine »niichterne, abrupte 
Annalistik<; bloß an wenigen Stellen, so über die Gefechte am Mor- 
garten und bei Schloß Grinau 1315 und 1337, über die Schlacht bei 
Laupen 1339, über eine Wassersnoth in Zürich 1343, ist die Er- 
zählung ein wenig einläßlicher. Ganz anders wird dagegen über die 


584 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


Jahre 1350 bis 1355 die Fülle der Mittheilungen. Die wichtigen 
Ereignisse dieser Jahre, von der Zürcher Mordnacht 1350 und dem 
Kriege zwischen Zürich und Herzog Albrecht von Oesterreich, mit 
den drei Belagerungen der Stadt, bis zum Regensburger Frieden von 
1355 — allerdings ohne alle Erwähnung des Bündnisses von 1351 
mit den Waldstatten —, sind da in zusammenhängender Darstellung 
von einem Zeitgenossen im Auftrage des Schultheissen Eberhart 
Mülner — 1352 und 1357 bis zum Tode 1382 war Mülner in die- 
sem Amte — aufgezeichnet worden. Hernach jedoch folgen unter 
diesen Materialien zur Zürcher Geschichte von 1355 an bis 1382 
abermals nur ganz vereinzelte trockene annalistische Notizen. Erst 
mit 1382 setzt neuerdings eine ausführliche planmäßige Schilderung 
der Zeitereignisse im Zusammenhang ein, der Begebenheiten seit dem 
Ausbruche der Kiburger Fehde bis zum Abschlusse des siebenjährigen 
Friedens mit Oesterreich 1389, eine Erzählung, die in Vielem an 
jene Chronik von 1350 bis 1355 erinnert, so daß wohl jenes ältere 
Stück dem Verfasser dieser jüngeren Aufzeichnung als Vorbild diente. 
Der gut eidgenössisch gesinnte anonyme Autor stand den amtlichen 
Kreisen nahe und hatte Zutritt zu den Acten; allerdings verzeichnet 
er aus den thatenreichen Jahren, des Sempacher, des Näfelser Krie- 
ges, eingehender und mit sicherer Kunde bloß die Dinge, an denen 
Zürich betheiligt war. Endlich liegen bis zum Jahre 1418 wieder 
nur mehr abgerissene annalistische Notizen vor, die — abgesehen von 
localen Nachrichten, so über den Bau des neuen Rathhauses — nicht 
häufig zu ausführlicherer Berichterstattung sich erweitern, nur bei 
den Appenzeller Kriegen, für die Feldzüge nach dem Eschenthale — 
Domo d’Ossola — 1410 und 1411, für das Concil von Constanz und 
die aus der Aechtung des Herzogs Friedrich von Oesterreich sich 
ergebenden Ereignisse. 

Aus diesen sehr ungleichen Materialien gestaltete nunmehr um 
das Jahr 1415 oder kurz vorher ein Ungenannter »ein coronik der 
edlen und loblichen statt Zürich«, wahrscheinlich ein einfacher Bür- 
ger, der nicht in der Lage war, die Archive zur Benutzung officieller 
Actenstücke heranzuziehen. Immerhin hat er durch diese Compila- 
tion mehrere werthvolle Stücke der alten zürcherischen Annailistik 
und Geschichtschreibung in ihrer ursprünglichen Form bewahrt, voran 
jene sogenannte Mülnersche Chronik, die er wörtlich aufnahm, dann 
ebenso die Erzählung über die Jahre 1382 bis 1389. Doch schickte 
er dem Ganzen einen einleitenden Theil voraus, die an die Trierer 
Gründungsgeschichte sich anlehnenden Fabeln vom Ursprung Zürichs, 
die Legende von der thebäischen Legion und den Zürcher Stadt- 
heiligen, die im dreizehnten Jahrhundert gemachten Aufzeichnungen 
über die Anfänge der Zürcher Kirchen, und dann ließ er die ganz 


Chronik der Stadt Zürich, mit Fortsetzungen, herausg. von Dierauer. 588 


vereinzelte, durch keine andere Nachricht bestätigte Notiz über die 
Berührung Zürichs bei der Translation der Reliquien der heiligen 
drei Könige nach Cöln folgen. Erst hernach kommen jene schon er- 
wähnten zahlreicheren Nachrichten aus dem dreizehnten Jahrhundert, 
deren erste — zu dem Jahre 1251 — »ein gross misshellung under den 
burgren« wegen des päpstlich -kaiserlichen Conflicts meldet. Alle 
die oben charakterisierten Bestandtheile zürcherischer Geschichts- 
schreibung stellte im Weiteren der Anonymus chronologisch geordnet, 
so daß deren Ungleichheit so recht in die Augen springt, in sein 
Buch ein. Wie weit er etwa da, bis 1418, noch einige selbst ver- 
faßte Mittheilungen aus der eigenen Zeit zu dem sonst nur von ihm 
zusammengestellten Stoffe hinzugab, läßt sich selbstverständlich nicht 
feststellen. 

In äußerst klarer Weise hat Dierauer diese Verhältnisse, S. X— 
XIX, behandelt, die verschiedenartigen Stücke nach ihrer Eigenart 
gekennzeichnet. 

Die Chronik ist nur in Abschriften überliefert, und von einer der 
ältesten — A. 116 der Stadtbibliothek in Zürich, nach Dierauers Zäh- 
lung Handschrift 3 — ist auch der Urheber, Hans Gloggner, der 
wohl nach 1439 seine Arbeit begann, bekannt; doch fehlt diesem Texte 
leider der Anfang und ein weiteres namhaftes Stück. Aber der Heraus- 
geber stellt eine bisher noch niemals im vollen Umfange herange- 
zogene auf der Innsbrucker Museumsbibliothek liegende Handschrift 
als Nr. 1 voran, von dem Constanzer Stadtschreiber Klaus Schultheiß, 
der um 1420 die kurz vorher entstandene Chronik zu copieren be- 
gann, allerdings nicht das Ganze, aber so, daß von 1350 — Dier- 
auers Cap. 46 — an der gedruckte Text auf dieser Handschrift be- 
ruht. Aber außerdem finden sich in den Varianten noch weitere 
neun Handschriften mehr oder weniger weitgehend berücksichtigt. 
Die Codices 631 und 657 der Stiftsbibliothek in St. Gallen, aus dem 
Nachlaß Tschudis, Nr. 5 und Nr. 2, sowie A 80 der Zürcher Stadt- 
bibliothek, Nr. 4 — die sogenannte Kriegsche Chronik, ein Sammel- 
werk, das aus sehr verschiedenen fragmentarischen Bestandtheilen zu- 
sammengefügt ist — , im Weiteren Codex 643 der St. Galler Stifts- 
bibliothek aus Tschudis Besitz, Nr. 7, aber ganz besonders Nr.8 — 
Stadtbibliothek Zürich B 95, die 1862 durch G. von Wyß: »Ueber 
eine alte Zürcher Chronik aus dem fünfzehnten Jahrhundert und ihren 
Schlachtbericht von Sempach< hervorgezogene Handschrift mit eigen- 
artigen Nachrichten zum Jahre 1353 (S. XXXV, in n. 3), seien hier 
genannt. Aber allerdings weichen gegenüber den älteren und besseren 
Texten 3 und 2 die jüngeren Copieen mehrfach stark ab, so in der 
Legende der Thebäer und der Zürcher Stadtheiligen, wo die jüngeren 
eine wahrscheinlich auf Konrad von Mure zurückgehende ausführ- 


588 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 7. 


lichere Erzählung enthalten, oder auch in späteren Theilen, z.B. den 
Schilderungen der Regensberger Fehde mit dem Antheil des Grafen 
Rudolf von Habsburg, zu denen 2, im Wesentlichen auch 4 und 5 
allerdings sagenhafte und anekdotische Züge hinzusetzen. Einige 
chronologische Notizen mehr haben, vor dem Mülnerschen Texte, 2 
und 5. Eigenthümlich ist auch das Verfahren des Schreibers von 5: 
augenscheinlich ein Glarner von Geburt, suchte er durch kleine Aen- 
derungen den Schein zu erwecken, daß die Chronik nicht in Zürich 
selbst entstanden sei. 

Allein außerdem enthalten nun auch diese Handschriften noch 
Fortsetzungen zu der eigentlichen »Chronik< im engeren Sinne des 
Wortes. Codex 3, die sogenannte Gloggnersche Chronik, bringt von 
1420 bis 1438 Aufzeichnungen, zumal über die Kriegszüge gegen 
Bellinzona und Domo d’Ossola, worauf eine zweite Hand mit den An- 
fängen des alten Zürichkrieges bis 1440, eine dritte mit Ereignissen 
der Jahre 1464 bis 1468, eine vierte mit den Begebenheiten des Bur- 
gunder-Krieges 1468 bis 1476 weiter fuhr. Codex 2 hat eine Fort- 
setzung über die Zeit von 1420 bis 1450, also bis zum Abschluß des 
alten Zürichkrieges. Eine dritte Fortsetzung endlich schließt der auch 
schon erwähnte Codex 7 in sich, zuerst über die Jahre 1425 bis 1433, 
mit wichtigen Nachrichten über den Feldzug nach Domo d’Ossola 1425 
und über die Zürcher Gesandtschaft nach Rom 1433, dann über die 
Zeit von 1460 bis 1478, wo weit mehr eidgenössische, als zürche- 
rische Dinge behandelt werden, und zwar so, daß man einen Glarner, 
der in Glarus selbst schrieb, als Verfasser annehmen möchte. Diese 
drei Fortsetzungen, von denen besonders die dritte größeren Raum 
einnimmt, füllen S. 187—271 der Ausgabe. 

Die Ausgabe der Chronik und der Fortsetzungen ist in der sorg- 
fältigsten Weise durchgeführt. Von S. 6 bis S. 46 ist Handschrift 3 
(Gloggner), von S. 47 bis S. 183 (Schluß der Chronik) Handschrift 1 
(Schulthaiß) zu Grunde gelegt, und das letztere ist auch insofern er- 
wünscht, als der Herausgeber (S. XXXVII, wo von der Herstellung 
der Ausgabe gesprochen wird) bezeugen kann, daß die Orthographie 
dieser Haupthandschrift im Allgemeinen eine gute sei. Die von Dier- 
auer getroffene Eintheilung des Textes in 197 Kapitel, mit Columnen- 
titeln, erleichtert die Uebersichtlichkeit in hohem Grade. Die Varianten 
und Zusätze der neueren Handschriften finden sich unter dem Texte 
vollständig verzeichnet. 

Ganz besonders aber hat der Herausgeber, mit jener Genauigkeit 
und Vollständigkeit der Arbeit, der einsichtigen Selbstbeschränkung, 
die seine wissenschaftlichen Leistungen stets kennzeichnet, dem Com- 
mentar den größten Fleiß zugewandt. Berichtigungen, Ergänzungen 
zu den Aussagen des Textes, topographische, chronologische, über- 


Chronik der Stadt Zürich, mit Fortseteungen, herausg. von Dierauer, 587 


haupt Erläuterungen jeglicher Art, dann ausgedehnte Litteraturnach- 
weise sind gegeben; große Sorgfalt wurde auch der Erklärung der 
zahlreichen Personennamen zugewandt, so z.B. S. 96 ff. den in den 
Fehdebriefen bei Ausbruch des Sempacher Krieges erwähnten Per- 
sönlichkeiten. Dem Benutzer der Edition ist auf diese Weise in einem 
Umfang, der auch den weitgehendsten Anforderungen entspricht, das 
nothwendige Material zum Verständnis des Textes dargereicht. Ein 
Glossar und ein Namenregister, in denen in höchst erwünschter Weise 
auch die Ziffern der Zeilen angegeben sind, finden sich angehängt. 

Der Herausgeber hat sich um die schweizerische historische 
Quellenkunde durch diese längst erwartete Erfüllung einer wichtigen 
Aufgabe ein wahres Verdienst erworben. Wenn es ihm möglich sein 
wird, in einem weiteren Bande der »Quellen«, so wie es ursprünglich 
geplant gewesen war, auch noch das im weiteren Sinn um die eigent- 
liche Zürcher Chronik sich gruppierende Material zu edieren, wird 
ihm neuer Dank entgegengebracht werden. 


Zürich, 26. September 1900, G. Meyer von Knonau. 





Die Zürcher Stadtbüeber des XIV. und XV. Jahrhunderts. Auf Veranlassung 
der Antiquarischen ‘Gesellschaft in Zürich herausgegeben von H. Zeller- 
Werdmüller. II. Band. (VI u. 422 S. gr. 8°). Leipzig, S. Hirzel, 1901. 

Auf den GGA., 1900, S. 662—669, besprochenen Band I der 

Edition der Zürcher Stadtbücher folgt der über die Jahre 1412 bis 

1428 reichende zweite Band. Er enthält die schon dort, S. 664, er- 

wähnten Stadtbücher III — das Rathsbuch des Großen Raths der 

Zweihundert — und Va — das Rathsbuch des Kleinen Rathes —, die 

neben einander über den bezeichneten Zeitraum sich erstrecken. 

Eine verhältnißmäßig kurze Epoche tritt aus diesen Aufzeichnungen 
an das Licht. Allein es ist eine Zeit kräftigster Entwicklung, in der 
die individuelle Thätigkeit der Bürgermeister, voran des Heinrich 

Meiß, sich deutlich heraushebt. Zürich fühlt sich noch als Reichs- 

stadt und es hält enge Beziehungen zu König Sigmund ; aber zugleich 

steht es mit Bewußtsein, und daneben in fester Betonung auch der 
eigenen Interessen, im eidgenössischen Verbande, und mit Glück be- 
ginnt die Stadt durch Erwerbung landesherrlicher Rechte ein eigenes 

Gebiet für sich abzurunden. In diesen Worten hat der Herausgeber 

(S. II) die sechszehn Jahre richtig gewürdigt. Schreiber der beiden 

Stadtbücher ist der Stadtschreiber Nell, über den (S. IV und V) 

noch einige biographische Daten nachgebracht werden; jedenfalls war 

er 1432 schon länger nicht mehr am Leben. Besonders Buch III ist ein 
ganz in sich abgeschlossenes ausgezeichnet erhaltenes Protokollbuch, 
in der Hauptsache eben durchaus ein Werk Johannes Nells, im All- 


588 Gott. gel. Ans. 1901. Ne. 7. 


gemeinen streng chronologisch geordnet. Stadtbuch Va dagegea 
enthält am Ende, am Schluß der Protokolleintrage, noch ein besor- 
deres Heft mit Copieen eingegangener oder abgeschickter Schreibea 
oder von Zürich nur mittelbar berührenden Actenstücken. 

Gleich dem ersten Bande, bringt auch diese Fortsetzung ebenn 
wohl Beiträge zur Geschichte der auswärtigen Politik, als zu der- 
jenigen der inneren Entwicklung des erstarkenden Staatswesens. 
Buch III ist in der ersten Hinsicht weit reicher, als das Rathsbuch 
des Kleinen Rathes. 

Schon gleich einer der ersten Einträge des Stadtbuches III be- 
leuchtet eine der häufigen Störungen der friedlichen Ordnung. In 
Nr. 2 und 3, von 1412, tritt ein Dynast, Graf Wilhelm von Montfort- 
Bregenz, entgegen, der in Folge von Selbsthülfe der Freiheit beraubt 
worden war; die Zürcher hatten für den in ihr Bürgerrecht einge- 
tretenen und durch die Ritterschaft des St. Georgen-Bundes einge- 
kerkerten Hermann von Hünwil keine Genugthuung bekommen kon- 
nen, und deswegen lag der Graf in Zürich gefangen. Eine ganz 
klägliche Persönlichkeit, obschon der Sohn eines ehemaligen Schult- 
heißen von Zürich, war der 1412 (Nr. 11) als »StraGrauber< in Haft 
liegende »her Hans von Seon«, der gleiche völlig verkommene Mensch, 
den wieder Buch Va in Nr. 171 als Todtschläger und Nr. 243 und 
244 als wüsten Friedensbrecher aufführen; doch ist auch Nr. 31 in 
Va sehr bezeichnend, nach der dem Grafen Hans von Löwenstein 
durch den Nachrichter in Zürich ein Ohr abgehauen wurde, dafür, 
daß er 1414 dem Wirthe zum Schwert zwei Leintücher gestohlen 
hatte. Nr. 82 von Buch III ist bemerkenswerth wegen der Nennung 
des Stadtschreibers Nell 1416: der Metzger Rudolf Hemmerli, selbst 
ein Zürcher, der wegen unredlicher Thaten schon mehrfach gebüßt 
worden war, hat mit einigen Mitschuldigen den Stadtschreiber be- 
raubt und gefangen genommen, und dafiir wird diesem Frevler das 
freie Geleite versagt. Beachtung verdienen ferner Nr. 142, 191 und 
192. In der von dem Berner Johannes Gruber wegen eines Erb- 
streites gegen Zürich und andere Eidgenossen, seit 1416 gegen die 
gesammte Eidgenossenschaft angehobenen Fehde hatte Graf Itelfrits 
von Zollern sich Gruber und dessen Helfershelfer Reinhold von Urs- 
lingen »Herzog von Schiltach< angeschlossen, während dessen Bruder 
Graf Friedrich von Zollern sich 1417 in der 8. 113 n. 1 aus dem 
Zürcher Staatsarchiv abgedruckten Urkunde gegenüber Zürich ver- 
pflichtete und versprach, »den egenanten Graf Itel Fritzen< (d.h. also 
den ihm verfeindeten eigenen Bruder) zu »ertöden«, worauf Zürich 
ihm einen Vorschuß von 150 rheinischen Gulden lieferte; aber Graf 
Friedrich, der in der Sache nichts ausgerichtet hatte, verlangte jetzt 
1418 Aufschub für Zahlung des vorgeschossenen Geldes und ein wei- 


Die Zürcher Stadtbücher des XIV. und XV. Jahrhunderts. II. Band. 589 


res Darleihen, da er doch einen der Mitschuldigen Grubers ge- 
ıgen halte, andere in Hechingen belagere; hernach hinwider 1422 
ınte Zürich ein Hülfsbegehren der Reichsstädte, die jetzt, gemein- 
m mit Itelfritz, den Grafen Friedrich auf der Burg Hohenzollern 
lagerten, von sich ab. Wieder ein anderer Beweis für Störung der 
entlichen Ordnung durch adlige Willkür ist 1419 — Buch Va: 
. 107, 108, 109 — der Ueberfall von Pilgern durch Hermann, ge- 
nnt Bick, von Hohen-Landenberg; auch ein Anderer des gleichen 
schlechtes, Beringer von Landenberg-Grichensee, erscheint 1422 
d 1428 (Buch UI: Nr. 181, Buch Va: Nr. 221) als schuldig, 
rcherische Angehörige der Freiheit beraubt zu haben. 

Sind hier kleine Fehden, Händel mehr zufällig privater Art, häß- 
he Raubthaten, die das Sinken der feudalen Gliederungen ver- 
then, durch Einträge in das Licht gerückt, so sind andere Dinge 
n höherer politischer Bedeutung. 

Wie schon gesagt, stand Zürich in vielfacher Verbindung mit 
jnig Sigmund, und besonders als sich der König während des Con- 
anzer Concils 1415 veranlaßt sah, gegen den geächteten Herzog 
‘iedrich von Oesterreich die Eidgenossen in die Waffen zu rufen, 
wies sich diese Gemeinschaft der Interessen unverkennbar. Eine 
oße Menge von Einträgen in Buch III, aus dem Jahre 1416 und 
r folgenden Zeit zeigt das ganz deutlich. Alsbald tritt dann nach 
‘oberung des Aargaues Baden als wichtiger Gewinn für Zürich in 
n Vordergrund. Wegen Schleifung der dortigen Veste wird an 
gmund geschrieben (Nr. 44), dann ein zürcherischer Vogt für Baden 
ıgesetzt (Nr. 45), weiter an die Eidgenossen der Antrag gestellt, 
3 Oesterreich abgenommenen Gebiete als gemeineidgenössischen Be- 
z zu behandeln (Nr. 46), und so folgen im Weiteren Anordnungen 
ver die Neubesetzung des Raths zu Baden, nachher in Buch Va 
Ir. 63, 64) bezügliche Abrechnungen. Zu 1421 (von Buch III: Nr. 
‚4 an) ist von der Hülfeleistung zumKriegegegen die Hussiten die Rede. 

Sehr zahlreiche Einträge in Buch III haben die auf Wallis und 
f die Festsetzung. der Eidgenossen an der Südseite der Alpen — 
ı Eschenthal, am Tessin, besonders in Bellinzona — bezüglichen 
"agen zum Gegenstande; 1418 suchte Zürich um jeden Preis den 
ısbruch des drohenden Krieges zwischen Bern und Wallis zu ver- 
ten und schickte seine beiden Bürgermeister auf einen Tag zur 
»rmittlung nach Meiringen (Nr. 137), und als 1422 die Zusage einer 
ilfe gegen den Herzog von Mailand — »reis gen Lamparten< — 
mer dringender von den Eidgenossen begehrt wurde, näherte man 
+h in Zürich nur allmählich, nach langer Ablehnung, dem Gedanken 
ser Hülfeleistung und schickte 1425 gleichfalls ein Contingent über 
8 Gebirge. Zürich theilte im Wesentlichen in diesen Dingen, die 


590 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


für die Eidgenossenschaft nothwendigerweise neue weitgreifende Kraft- 
anstrengungen herbeiführen mußten, die vorsichtig zurückhaltende 
Politik von Schwyz, das, besonders in der Walliser Angelegenheit 
(vgl. Nr. 151 und 152, von 1419), die aggressive Auffassung der an- 
deren Waldstatte nicht billigte. 

Ueberhaupt ist von der Mißstimmung, die bald darauf zwischen 
Zürich und Schwyz Platz griff und die Eidgenossenschaft von 1437 an 
in den verderblichen inneren Krieg stürzte, noch nichts zu sehen. 
Bei dem späteren Ausbruche der Entzweiung schoben zwar als einen 
Beschwerdepunkt gegen Zürich die mit den Schwyzern enge verbur- 
denen Glarner vor, daß Zürich dem Lande Glarus ein Bündnis mi 
dem Bischof und dem Gotteshause Cur widerrathen habe — nur mw 
dann Cur, Gotteshaus und Stadt, 1419 in sein eigenes Burgrecht auf- 
nehmen zu können —, unter dem Vorgeben, das sei geschehen, um dea 
Bischof um so eher mit dem Grafen von Toggenburg, der gleichfalls 
dem Zürcher Burgrecht angehörte, aussöhnen zu können. Doch aus 
dem Eintrage Nr. 135 des Buches III, vom 27. August 1418, schließt 
vielmehr der Herausgeber (S. 107 n. 1), daß dieses Bündnis der Zür- 
cher mit Cur, eben achtzehn Jahre später, in entstellender Weise 
gehässig gedeutet wurde, da nämlich Zürich gerade schon 1418 >ummb 
den byschof von Cur und den von Toggenburg< mit Vermittlung sich 
alle Mühe gab (vgl. dann weiter Nr. 156 bis 160 von 1420, Nr. 140 
und 141 von 1421)'). Uebrigens gaben die Beziehungen zu dem 
Grafen Friedrich VII. von Toggenburg auch sonst Zürich zu thun 
Den wichtigen Platz Feldkirch, den der Graf aus dem selbstver- 
schuldeten Mißgeschick des Herzogs Friedrich von . Oesterreich an 
sich gebracht hatte, half Zürich 1417 belagern (Nr. 109 und 110, 
auch schon Nr. 86); ebenfalls 1417 handelt es sich um ein Darleihen 
für den Grafen auf Sargans, Windegg und Gaster (Nr. 104); in Han- 
deln zwischen dem Grafen und den Appenzellern 1428 nahm sich die 
Stadt ihres »burgers« an (Nr. 262, 265 und 266). 

Eine hervorhebenswerthe Mahnung richtete Zürich 1418 an die 
Stadt Schaffhausen (Nr. 130). Diese nördliche Nachbarin war infolge 
der Aechtung Herzog Friedrichs, in Aufhebung der 1331 geschehenes 
Verpfändung an das Haus Habsburg, wieder reichsfrei gewordes, 
und nun wurde sie von Zürich aufgefordert, sich nicht vom Reiche 
drängen zu lassen, sondern Reichsstadt zu bleiben. 

In dieser ebenso mannhaften, als zugleich vorsichtigen Politik, 
die sich von dem bald danach unter Bürgermeister Stüssi von 1430 
an eintretenden blinden Dazwischenfahren und hitzigen Vorwärts 
treiben so wohlthuend unterscheidet, sieht der Herausgeber mit Recht 

1) So fällt auch hiernach das Urtheil entgegen der GGA. von 1894, S. 70, 
charakterisiorten Auffassung Bütlers, in dessen Abhandlung über Friedrich VIL, sus 


Die Zürcher Stadtbücher des XIV. und XV. Jahrhunderts. Il. Band. 591 


vorzüglich die Thätigkeit des Bürgermeisters Meiß ausgesprochen. 
Die Achtung, die Meiß entgegengebracht wurde, fand 1424 ihren 
Ausdruck, als Räthe und Bürgerschaft eine Verläumdung ihres Bür- 
germeisters durch einen Nidwaldner Tagsatzungsboten als öffentliche 
Angelegenheit anerkannten (Nr. 226). Ganz besonders war eben auch 
die geschickte Vergrößerung des Zürcher Gebietes Meiß zu verdanken. 
Eine große Zahl von Einträgen gehört in diesen Zusammenhang der 
Dinge. Zu den schon vorher herangezogenen Gebietsstücken zählte 
die Herrschaft Grüningen, die Zürich 1408 als ein Pfand von Oester- 
reich von den Gebrüdern Geßler, den Pfandinhabern, erworben hatte, 
und wie gegenüber den Herzögen von Oesterreich selbst, die an 
Wiedereinlösung der Pfandschaft dachten, ganz wie bei anderen Ver- 
suchen, hier sich festzusetzen, verhielt sich Zürich entschieden ab- 
lehnend, so 1412, als der in Zürich neu zugewanderte reiche und 
anspruchsvolle Geldmann Göldli Grüningen von der Stadt zu lösen 
wünschte (Nr. 12, ferner Nr. 20 und Nr. 23 von 1414); 1416 be- 
willigte dann Zürich die Bestätigung des Wochenmarktes im Städt- 
chen Grüningen (Nr. 89), und deswegen geriethen die, wie sie mein- 
ten, dadurch beeinträchtigten Rapperswiler in solche Aufregung, daß 
sie — seit Herzog Friedrichs Aechtung ebenfalls Reichsstädter — 
eine Verwendung König Sigmunds bei Zürich veranlaßten (abgedruckt 
S. 66 in n. 1), worauf Zürich seinerseits 1417 in Nr. 114 dem Kö- 
nige — dazu noch über andere vorliegende Fragen — antwortete. 
Außerdem wurde aber auch schon die Erwerbung des nachher wich- 
tigsten Theiles des Kantonalgebietes, der Grafschaft Kiburg, 1418 
ernsthaft erwogen, dann 1424 mit Erlaubnis Sigmunds die Sache mit 
der Pfandinhaberin Gräfin Kunigund von Montfort, Gemahlin des 
vorhin erwähnten Grafen Wilhelm, in Ordnung gebracht, allerdings 
so, daß auch dem Könige, dem an Stelle des geächteten Herzogs 
das Lösungsrecht gebührt hätte, eine Summe auf das Pfand vorge- 
streckt werden mußte (Nr. 127 und 128, Nr. 216 und 221, wozu 
n. 1 von S. 185). 

Der weit größte Theil der Eintragungen in Buch Va, aber auch 
sehr viele von Buch Ill, beziehen sich dagegen auf innere städtische 
Angelegenheiten, polizeiliche Anordnungen und ähnliche Fragen. 
Mannigfache, Ordnungen und Vorschriften, Ertheilung von Erlaub- 
nissen, besonders in Vermögensangelegenheiten von Bürgern, in Vor- 
mundschaftssachen, und dergleichen, die verschiedenartigsten Verbote, 
ferner Urfehden und Verbannungen, viele andere bemerkenswerthe 
Einzelheiten fallen auf dieses Feld; besonders zahlreich sind wieder 
Münzverordnungen, Abrechnungen mit Beamten, Festsetzungen von 
Preisen, Ausschreibungen von Steuern und ähnliche finanzielle Be- 


592 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7. 


schlüsse. Nur beispielsweise mögen da noch einige Punkte heraus- 
gehoben werden. 

Für die Rathsverhandlungen stellt Nr. 118 von Buch III fest, 
daß als Sachwalter ihrer Gäste auftretende Wirthe, die im Rathe 
sitzen, in Ausstand gehen sollen, ebenso Nr. 120 das Gleiche für im Rathe 
sitzende Vogt- und Lehnsherrn bei Behandlung von Angelegenheiten 
ihrer Lehnsleute ; Nr. 217 verbietet, über Dinge, die nicht vom Rathe 
aus vorgelegt worden sind, im Großen Rathe anzufragen; nach Nr. 24 
und 25 von Buch Va sind Mitglieder der beiden Räthe für das, was 
sie im Rathssaale sagen, nicht verantwortlich. In Nr. 54 von Buch DI 
ist die Anlage neuer Weinberge verboten, in Nr. 55 das Verbot für 
eine Stelle, wo wegen zu großer Höhe für die Anlage ein Gedeihen 
der Weinrebe ausgeschlossen war, wiederholt. Sehr detailliert ist 
unter den Ordnungen für die Schiffer diejenige für die Niederwasser- 
Schiffahrt, für die Benutzung des Flußwassers von Zürich abwärts, 
in Nr. 241 von Buch Va. Auch auf bloßen Versuch von Selbst- 
mord steht Verbannung (Va: Nr. 156, 160), und interessant ist Nr. 
111 von Buch IJ, das Gericht über den Leichnam eines Selbst- 
mörders, eines Geistlichen, der aus dem Kirchhof wieder ausgegraben 
und in einem Faß in den Fluß, in dem er sich ertränkte, geworfen 
werden soll, doch sichtlich nur aus Nachgiebigkeit gegenüber dem 
Aberglauben der Eidgenossen, die durch das Land schreien und das 
arge Unwetter auf die Bestattung des Selbstmörders in geweihter 
Erde zurückführen. Oder es sei auf die Behandlung der Judenfrage 
hingewiesen: 1423 entzieht Zürich ihnen das Aufenthaltsrecht, er- 
theilt aber noch im gleichen Jahre die Bewilligung an einen jüdischen 
Arzt, prüft 1424 die Frage, ob Juden zugelassen werden sollen, und 
thut das bei einigen Juden, was 1425 wiederholt wird (Buch II: 
Nr. 196, 205, 225, 229, 257). 

Zu dem reichen nach den verschiedensten Richtungen aufschluß- 
reichen Inhalte der beiden Bücher fügte der Herausgeber abermals 
eine Fülle belehrender Anmerkungen, die die Benutzung des Werkes 
nach jeder Seite so sehr erleichtern und auch dem einheimischen 
Leser eine reiche Auswahl von Aufschlüssen bringen. Besonders hat 
er sich dabei bemüht, die Notizen der Stadtbücher durch ander- 
weitiges Material, das vielfach wörtlich eingeschaltet ist, aus dem 
Staatsarchiv, zu erläutern und zu ergänzen. Vorzüglich wird auch 
die culturgeschichtliche Forschung hier neuerdings gern schöpfen. 


Zürich, 16. Mai 1901. G. Meyer von Knonau. 


Für die Redaktion verantwortlich: Prof, Dr. Georg Wentzel in Gottingen. 


August 1901. Nr. 8. 


Blass, F., Die Rhythmen der attischen Kunstprosa: Isokrates- 
Demosthenes-Platon. Leipzig, Teubner, 1901. XI und 199 S. 


Blass stellt in diesem Buch eine neue Theorie über die Rhyth- 
men der attischen Kunstprosa, speziell des Isokrates, Demosthenes 
und Platon auf, die, wenn sie richtig wäre, von großer Bedeutung 
für die ästhetische Beurteilung sowie für die Textkritik der genann- 
ten Schriftsteller sein würde, wie sie denn auch von dem Verf. selbst 
nach diesen Gesichtspunkten ausgebeutet wird. Leider vermag sich 
jedoch der Ref. nicht zu der mit gewohnter Gründlichkeit vorge- 
tragenen Ansicht zu bekehren. 

Das höchste Prinzip bei der Behandlung eines so schwierigen 
Problems, wie es der Rhythmus der Prosa ist, muß m.E. eine scharfe 
Interpretation der von den maßgebenden Autoritäten des Altertums, 
besonders Aristoteles und Theophrast aufgestellten Theorieen sein, 
die für uns so lange als verbindlich zu gelten haben, als wir sie 
nicht, wozu a priori wenig Grund und Aussicht ist, durch bestimmte 
Argumente als falsch erweisen können. In dieser prinzipiellen For- 
derung glaube ich mich mit B. eins zu wissen, denn auch er geht 
von den genannten Autoritäten aus und glaubt offenbar, daß die 
praktische Analyse zahlreicher Partieen aus Isokrates, Demosthenes 
und Platon, die er im zweiten Teil gibt, durchaus im Einklang mit 
der antiken Theorie steht. Dieser Glaube beruht aber auf einer 
Selbsttäuschung ; seine Analyse würde m. E. von den analysierten 
Schriftstellern noch weniger verstanden worden sein als die von B. 
selbst mit Recht verurteilte des Dionysios von Halikarnass. 

Das — mit Aristoteles selbst zu reden — zeärov petdog der 
B.schen Argumente ist seine Definition des Rhythmus der Prosarede. 
Wir anderen, und B. selbst in seinen früheren Schriften, waren der 
Meinung, daß der Rhythmus der Kunstprosa an die nach Kola ge- 
gliederte Periode gebunden sei. Das wird von B. jetzt durchaus in 
Abrede gestellt; aber die Art, wie er die entgegenstehenden antiken 
Zeugnisse beseitigt, ist nicht zu billigen. Ueber Aristoteles sagt er 

Gött, gol. Anz. 1901. Nr. 8. 40 


594 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


(S. 14), die Lehre von den prosaischen Rhythmen sei bei ihm ganz 
entschieden nicht mit der von den prosaischen Perioden und Kola 
verknüpft. Nun aber sagt dieser doch kurz und bündig (Rhet. II 9. 
1409b 5) dgıduov Eyer n Ev nepiodoıg Agéig: diese Worte citiert 
auch B. (S. 15,1), aber nur nebenbei, wodurch allerdings seinen 
Lesern, denen dieser Satz nicht grade im Gedächtnis ist, die That- 
sache verborgen bleibt, daß Aristoteles ausdrücklich den Rhythmus 
an die Periode, d.h. den nach x@da gegliederten Satz, bindet. 
Ebenso wenig vermag B. das Zeugnis des Theophrast zu beseitigen, 
das Cicero de or. III 185 f. beibringt: si numerosum est ..., quod 
metiri possumus intervallis aequalibus, recte genus hoc numerorum, 
dummodo ne continua sint, in orutwnis laude ponetur. nam si rudis 
et impolita putanda est illa sine intervallis loquacitas u.s. w. (186). 
Numerus autem in continuatione nullus est; distincho et aequalium aut 
saepe variorum intervallorum percussio numerum conficit .... 
Membra illa modificata esse debebunt, quae st in extremo breviora sunt, 
infringitur ille quasi verborum ambitus, stcentm has ora 
tionis conversiones Graect nominant. Um nicht zugestehen 
zu müssen, daß Theophrast hiernach den Rhythmus von der ge 
gliederten Periode abhängig gemacht hat, zerreißt B., der doch sonst 
zu solchen Analysen nicht geneigt ist, hier die straffe Beweisführung 
Ciceros, indem er behauptet (S. 16), Theophrast habe zwar, wie 
Aristoteles, die Lehre von den Perioden nach der von den Rhyth- 
men gegeben, aber die Verknüpfung beider Lehren habe erst 
Cicero hinzugethan : eine Behauptung, die sich nicht nur dadurch 
widerlegt, daß Cicero am Schluß dieser Stelle (187) ausdrücklich auf 
seine periputetischen Gewährsmänner hinweist, deren Führer Theo- 
phrast er auch an ihrem Anfang (184) citiert hatte, sondern auch 
dadurch, daß er kurz zuvor (171 ff.) für den an die Periode gebun- 
denen Prosarhythmus Isokrates und dessen Schüler Naukrates citiert, 
offenbar aus Theophrast, denn diesen citiert er dafür in der fast 
wörtlich übereinstimmenden Stelle or. 228. Aber B. glaubt auch 
einen >direkten Beweis« gegen die Verknüpfung von Rhythmen und 
Kola gefunden zu haben (S. 16). Nach der bekannten Geschichte 
bei Cicero or. 190 hat der Peripatetiker Hieronymos dem Isokrates 
30 Verse aufgemutzt; aber, bemerkt Cicero dazu, er ist dabei bös- 
willig verfahren, denn er hat diese Verse nur dadurch zusammen- 
gebracht, daß er die Worte über die Satzinterpunctionen hinweg mit 
einander verband. Also, sagt B., hat nach Hieronymos (und mithin 
den Peripatetikern überhaupt) die Satzinterpunction, d.h. also die 
Periodengliederung, mit dem Rhythmus nichts zu thun gehabt, und 
erst Cicero, für den beides allerdings eng zusammenhing, hat das 


Blass, Die Rhythmen der attischen Kunstprosa. 595 


Verfahren des Hieronymos als »böswillig< bezeichnet. Hier begeg- 
nen wir bei B. wieder der petitio principii, daß das rhythmische Ge- 
fühl Ciceros von dem seiner peripatetischen Quellen ein diametral 
verschiedenes gewesen sei, eine Behauptung, die von ihm nicht be- 
wiesen ist und, von allem anderen abgesehen, schon deshalb wenig 
wahrscheinlich ist, weil Cicero sich dann doch nicht grade solche 
Gewährsmänner ausgesucht haben würde. Doch wozu noch viele 
Worte? Es genügt festzustellen, daß die Abhängigkeit des Prosa- 
rhythmus von der periodischen Gliederung durch sämtliche griechi- 
sche und lateinische Zeugen, primäre und autoritative wie secundäre, 
erhärtet ist. Wenn mithin Blass in der zusammenfassenden Ueber- 
sicht der Resultate (S. 185) dem modernen Leser, falls er etwas von 
der Wirkung des Prosarhythmus spüren wolle, den Rat gibt: »er 
mache keine großen Pausen, wo Interpunktion ist, oder ein neuer 
Satz oder Teil eines Satzes beginnt. Auch die Schriftsteller selbst 
müssen ohne große Pausen vorgetragen haben<, so werden wir uns 
hüten, diesem eigentümlichen Rate zu folgen, zu dem B. nur durch 
den Zwang seiner eigentümlichen Theorie gedrängt worden ist. 

Ref. mußte bei diesem Punkt ausführlicher werden, weil er für 
den Verf. der Ausgangspunkt für die praktische Darlegung seiner 
Theorie ist. Um so kürzer dürfen wir bei dieser Praxis verweilen, 
da sich uns die Theorie als nicht haltbar erwiesen hat. Aber auch 
abgesehen davon ist diese Praxis so compliciert, daß Ref. ihr zu 
folgen außer stande gewesen ist; sagt doch B. selbst (S. 41), es 
handle sich um etwas »mit Fleiß Verstecktes<. Am eigentümlichsten 
ist dabei wohl, daß der Verf. die Behauptung aufstellt (vgl. S. 184f.), 
Rhythmen könnten in einander übergreifen, so daß eine oder meh- 
rere Silben, mitunter viele, gleichzeitig verschiedenen Rhythmen an- 
gehören<; z.B. soll (um aus den mehreren Hunderten von Beispie- 
len ein ganz beliebiges S. 52 herauszugreifen) ein Satz des Isokrates 
nach B. so rhythmisiert werden (die rhythmisch zu wiederholenden 
Silben in Klammern): &xısrag tots yuyvopevors 006% &v = uulvsodaı 
xal rapappovsiv tuds (xal rapappoveiv tuds) vouloer = -Ev, ol 
pilorıuovusda pty E- (da piv Earl tots tov neoydvov Epyoıs = xal 
thy nökıv Ex tév été noaydevrov. Dieses Uebergreifen von Silben 
soll sogar zwischen Hauptteil der Rede und Epilog statthaft sein 
(S. 56)! Auf diese Weise analysiert B. eine große Anzahl von Par- 
tieen aus Isokrates, Demosthenes und Platon, und stellt die Resul- 
tate in Schemata zusammen, die in ihrer Verzwicktheit auch dem 
Auge deutlich machen, daß dies nicht der richtige Weg sein kann. 
Bemerkt sei noch, daß B. seiner Rhythmisierung zuliebe auch nicht 
vor zahlreichen, z. T. recht eingreifenden Textänderungen zurück- 

40 * 


596 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


schreckt, und zu einer eigentümlichen Hiattheorie seine Zuflucht 
nimmt, wonach z.B. Aysı eivaı oder dovAoı Zaovraı keine verbote- 
nen Hiate sein sollen (S. 38). 

Um zusammenzufassen : nach Ansicht des Ref. muß die neue 
Theorie und Praxis abgelehnt und zu den einfachen und klaren Dar- 
legungen unserer alten Gewährsmänner zurückgekehrt werden, die 
B. selbst früher als richtig anerkannt hat und auf Grund deren er 
damals zu schönen und bleibenden Resultaten gelangt ist. 


Breslau, 1. August 1901. E. Norden. 


Delbrück, H., Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der po 
litischen Geschichte. 1 Theil. Das Alterthum. Berlin 1900. Georg 
Stilke. XV 533 8S. 8°. 


In diesem Buche hat Hans Delbrück seine früheren Studien zu 
den Perserkriegen, zur römischen Taktik und über Perikles zusam- 
mengefaßt und mit den erforderlichen Aenderungen zu einer Ge- 
schichte der Kriegskunst im Alterthum erweitert, die in 7 Büchern 
von den Perserkriegen bis zu den Bürgerkriegen zwischen Cäsar und 
Pompeius reicht. Die einzelnen Theile sind nicht ganz gleichartig: 
einige sind kurz gefaßt, dagegen das 1. 5. und 7. Buch, die Perser- 
kriege, der 2. punische Krieg und die Kriege Cäsars, heben sich 
durch Ausführlichkeit und eingehendere Behandlung merklich ab und 
sind als die Hauptstücke des Werks zu bezeichnen. 

Der leitende Gedanke des Ganzen ist Kritik, und zwar Sach- 
kritik, die an die Ueberlieferung wie an die herrschenden Vorstel- 
lungen unserer Gelehrten angelegt wird. Delbrück fragt überall: 
wie stehen die Nachrichten der Alten und die Ansichten der Neue- 
ren mit den Gesetzen der Kriegführung und mit den sonstigen be- 
dingenden Umständen, mit Ort, Zeit und Staatsverfassung in Ein- 
klang? Er hat sich, wie er in der Vorrede berichtet, durch persön- 
lichen Verkehr mit kundigen und erfahrenen Militärs, durch das 
Studium der neueren militärischen Litteratur ein Urtheil über die 
Gesetze der Kriegführung verschafft und leuchtet nun mit seinem 
Licht in die antike Kriegsgeschichte hinein. Wenn die überlieferten 
Nachrichten die Probe nicht bestehen, so werden sie verworfen oder 
umgedeutet. 

Delbrück ist zwar nicht der erste, der dies unternommen hat, 
aber er wendet sein Princip viel allgemeiner und kräftiger an als 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 597 


vorher geschehen ist. Bei diesem Verfahren, wo der Kritiker die 
eigene Einsicht zum Maßstab der Geschichte macht, besteht die Ge- 
fahr, daß er seine Einsicht überschätze und hingegen den Werth der 
Ueberlieferung zu gering achte. Immer wird es hier wie anderswo 
auf richtige Abschätzung der Quellen ankommen; einem zuverlässigen - 
Zeitgenossen gegenüber kann nicht erlaubt sein, was bei einem lange 
nach den Ereignissen schreibenden Rhetor ohne Bedenken ist. In 
dieser Hinsicht freilich kennt unser Verfasser keinen Unterschied ; 
alle, auch die besten und zuverlässigsten Autoren, die er selbst als: 
solche anerkennt, müssen sich gelegentlich starke Zurechtweisungen 
gefallen lassen. 

Der Verfasser hat schon in seinen früheren Schriften durch leb- 
hafte Anregung verdienstlich gewirkt und viel Lob geerntet. Er 
hat der Alterthumswissenschaft kräftig zu Gemüthe geführt, daß sich 
auch die antike Kriegführung nicht vom Boden der Wirklichkeit ent- 
fernt haben kann; er hat ein lebhaftes, wohlthuendes Gefühl für die 
Bedeutung des Feldherrn, für den unschätzbaren Werth, den die 
Persönlichkeit des Führers im Kriege hat. An Perikles und Hanni- 
bal hat er es hervorgehoben. Mit Grund richtet sich seine Kritik 
ferner gegen manche Schlachtbeschreibungen, die in der That oft 
sehr viel zu wünschen übrig lassen. Da, wie bekannt, auch die 
Schlachten der neueren Geschichte, wo die Quellen viel reichlicher 
fließen, sehr oft unrichtig und unvollständig erzählt werden, und die 
Ermittelung des wahren Herganges nicht ganz leicht ist, so werden 
wir den Alten aus den Fehlern ihrer Schilderungen nicht allzu 
schwere Vorwürfe machen dürfen. Es muß aber doch gesagt wer- 
den, und es schadet nichts, wenn Delbrück, wie z.B. die letzte 
Untersuchung des Schlachtfeldes von Sellasia gezeigt hat, zuweilen 
auch fehl schießt.‘ Besonders aber ist seine Kritik gegen die 
hohen Heeresziffern gerichtet, wie sie uns vielfach überliefert wer- 
den. Nachdem er in seiner früheren Schrift über die Perser- 
kriege die Heere der Perser und Griechen beschnitten hatte, maeht 
er jetzt den hohen Zahlen durch das ganze Alterthum einen un- 
barmherzigen Krieg, besonders wo es sich um Barbaren handelt, 
bei den Persern, bei den Galliern, wie bei den Heeren Mithridats 
und Tigrans. Man weiß in der That, wie unsicher oft die richtige 
Schätzung der Heere ist, und wie oft Patriotismus, besonders aber 
Rhetorik die Zahlen übertrieben haben. 

Delbrück legt seiner Zahlenkritik die Bevölkerungsstatistik zu 
Grunde, er behauptet, der Stand der Bevölkerung habe solche 
Heeresziffern, wie sie z.B. in den Perserkriegen erscheinen, nicht 
gestattet. Für das Urtheil ist also von entscheidender Bedeutung, 


598 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. $. 


welche Vorstellungen man sich über den Stand der Bevölkerung zu 
machen hat. Hierin hat sich Delbrück an Belochs Arbeiten über 
die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt angeschlossen. Be- 
lochs Neigungen sind denen Delbrücks nahe verwandt; auch er ist 
geneigt, die Bevölkerungsdichtigkeit der alten Welt geringer anzu- 
schlagen als sonst vielfach geschieht. Hieraus ergibt sich nun zu- 
gleich eine Schwäche der Delbrückschen Beweisführung: denn be- 
kanntlich ist die Berechnung der Bevolkerungsziffer der antiken Welt 
sehr streitig, und auch Belochs Schätzungen ruhen auf sehr ur 
sicherer Grundlage. So ist neuerdings in einem Punkte die Rech- 
nung Delbrücks erheblich verändert worden. Kap. 1 S. 15 behan- 
delt der Verf. die bekannte Stelle des Thukydides II 13, wo die 
Gesammtzahl der attischen Streitkräfte aufgeführt werden, nämlich 
an Feldtruppen 13000 Hopliten, 1200 Reiter und 1600 Schützen, 
ferner 16000 Hopliten als die zur Vertheidigung der Stadt bestimm- 
ten ältesten und jüngsten Jahrgänge mit Einschluß der kriegspflich- 
tigen Metöken. Delbrück meint, Thukydides sei ungenau, seine 
Zahlen umfaßten in Wahrheit nicht bloß die Hopliten, die bekannt- 
lich aus den drei ersten Censusklassen genommen wurden, sondern 
die ganze waffenfähige Bürgerschaft mit Einschluß der letzten Classe, 
der Theten, und er habe zu sagen vergessen, daß diese in den 16000 
des zweiten Aufgebots mit einbegriffen seien. Delbrück berechnet 
demnach die gesammte Bürgerschaft auf 36000 Mann. Aber vor 
kurzem ist E. Meyer zu ganz andern Ergebnissen gelangt '), was um 
so mehr hervorzuheben ist, als sich Meyer früher der Belochschen 
Rechnung angeschlossen hatte. Er berechnet die attische Heeres- 
macht alles einbegriffen auf 34300 Mann, die Bürgerzahl der drei 
oberen Classen auf 35500, die Gesammtzahl der Bürger auf 55500, 
und ich glaube, daß diese Rechnung der Wahrheit viel näher kommt 
als die Beloch-Delbrücksche, die den Worten des Thukydides offen- 
bare Gewalt anthut und einen guten Theil der Bürgerschaft, die für 
den Flottendienst bestimmten Theten, viel zu gering anschlägt, ja 
fast unberücksichtigt läßt. 

Bei so unsicherer Grundlage wird auch die Kritik über eine 
subjective Gewißheit nicht herauskommen. Diese Gewißheit ist nun 
freilich beim Verfasser im hohen Grade vorhanden; die Sachkritik, 
aus der Delbrück die Einsicht schöpft, wie die Dinge hätten sein 
oder sich ereignen müssen, ist stärker als die besten Zeugnisse, und 
diese müssen im Falle des Widerspruchs weichen oder doch geändert 
werden. Vielleicht am seltsamsten berührt uns das Verfahren gegen- 


1) Forschungen zur alten Geschichte II 149 ff. 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 599 


über dem polybianischen Bericht von der Schlacht bei Kannä. Von 
diesem Bericht ist D. geradezu begeistert; er stammt nach seiner 
Meinung von keinem geringern her als von Hannibal selbst, der ihn 
einem griechischen Begleiter in die Feder dictierte (S. 279 f. 289). 
Ueber diese Vermuthung läßt sich nicht viel sagen, sie läßt sich 
weder beweisen noch widerlegen. Was mich aber wundert, ist, daß 
Delbrück dieses nach seiner Meinung von Meisterhand entworfene, so 
zuverlässige und anschauliche Schlachtbild dennoch stark corrigiert und 
es z.B. für unrichtig erklärt, wenn Polybios III 113,2 erzählt, die Romer 
hätten ihre Front nach Süden gehabt. Dies scheint ihm unmöglich, 
also wird es verworfen. Aber woher nimmt er die Berechtigung 
dazu? Kennt er alle maßgebenden Umstände, kennt er die Vorge- 
schichte der Schlacht bei Kannä so genau, daß er es wagen kann, 
wozu sich ein Historiker nicht leicht entschließen wird, die einzige 
vorhandene Nachricht außer Acht zu lassen? In Wahrheit läuft 
dies Verfahren doch auf Willkühr hinaus. 

Der Verfasser erweist sich überhaupt als strengen Dogmatiker, 
der seinen Satz allen Hindernissen zum Trotz durchführt. Dies er- 
kennt man z.B. an seiner Darstellung des römischen Kriegswesens, 
besonders der Kriegsverfassung. Während er auf dem griechischen 
Gebiet alles was vor den Perserkriegen liegt als dunkel und unbeglaubigt 
bei Seite läßt und nicht einmal für die so wichtige und vorbildliche 
spartanische Wehrordnung ein Wort übrig hat, schildert er die rö- 
mische Kriegsverfassung von den Anfängen, von der Königszeit und 
dem Beginne der Republik an. Er glaubt hier eine streng durchge- 
führte allgemeine Wehrpflicht zu erkennen, die dann seit dem zwei- 
ten punischen Kriege außer Uebung gekommen sei. Zwar gibt er 
zu, daß wir aus der älteren römischen Kriegsgeschichte irgendwie 
brauchbare Nachrichten nicht haben, aber er citiert hier den Satz 
von der continuierlichen Entwickelung der römischen Verfassung und 
des römischen Rechtes, wodurch es ermöglicht wird, aus den Ein- 
richtungen der späteren Zeit die ältesten Zustände auch ohne Zeug- 
nisse zu erkennen. Da haben wir nun eine Thatsache, die spätere 
Normalstärke der Legion von 4200.Mann, und diese setzt er an den 
Anfang des Heerwesens zurück. Da nach seiner wiederholt ausgespro- 
chenen Behauptung die Legion mehr eine administrative als eine militä- 
rische Einheit ist, glaubt er annehmen zu dürfen, daß sich die ur- 
sprüngliche Stärke unverändert erhalten, daß also zu Anfang das rö- 
mische Heer eine Stärke von 4200 Mann gehabt habe. Diese Zahl 
muß aber, wenn man den Umfang des ältesten Rom erwägt und 
darnach mit Beloch die Bevölkerungszahl berechnet, das Gesammt- 
aufgebot bezeichnen, das alle Bürger ohne Unterschied der Klassen 


600 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


und Stände umfaßte, nicht blos die Besitzenden. Es war also eine 
allgemeine Wehrpflicht in einer Ausdehnung, wie sie den Griechen 
fremd war (S. 226). Nach diesem Princip wird dann auch die ser- 
vianische Klassen- und Centurienordnung behandelt und gedeutet. 
Der Ausgangspunkt seiner Ausführungen ist also die vermeintlich 
uranfängliche Zahl der ältesten Legion. Aber dies ist eine gar 
schwache Grundlage für einen so hohen Bau; denn es ist im Gegen- 
theil nach den erhaltenen Zeugnissen der Teberlieferung wahrschein- 
lich, daß die Stärke der Legion sich im Laufe der Zeit bedeutend 
verändert hat, und daß die Zahl 4200 erst aus der Zeit der 35 Tri- 
bus stammt. Auch das Dogma von der Continuität des römischen 
Staatsrechts kann, selbst wenn es richtig sein sollte, doch auf das 
militärische Gebiet nicht in der Weise angewendet werden, da hier 
technische Erwägungen gelten. Staatsrechtlich ist es völlig gleich- 
gültig, ob die Legion 1000 oder 3000 oder 4200 Mann zählt. 

Die Nachrichten, denen zufolge die Römer in ihrem Kriegs- 
wesen die Schüler fremder Völker gewesen seien, der Etrusker, Sam- 
niter und Griechen, schätzt Delbrück gering. Er nimmt offenbar 
an, daß die Römer alles von sich selbst hätten. Es ist wahr, daß 
jene Nachrichten etwas unbestimmt lauten, aber es ist eine Tra- 
dition, die als solche nicht zu verachten ist. Eins wenigstens ist 
klar: die Römer haben in ihrem Kriegswesen unendlich viel von den 
Griechen gelernt; ihre Kriegsverfassung ist durchaus und in allen 
wesentlichen Stücken nach griechischem Muster eingerichtet. Je 
tiefer man eindringt, um so mehr wird man sich davon überzeugen. 

Nach dem zweiten punischen Kriege ist, wie Delbrück meint, 
die allgemeine Wehrpflicht thatsächlich in Wegfall gekommen, und 
das Berufsheer an Stelle des Bürgerheeres getreten, während Poly- 
bios doch die Wehrpflicht als noch zu seiner Zeit bestehend schil- 
dert. Der Verf. entkräftet dieses Zeugnis durch die Behauptung 
(S. 385), daß Polybios ein Idealbild gebe, nicht die Wirklichkeit 
schildere. Niemand kann ihm dies verwehren, aber er kann auch 
nicht verlangen, daß wir ihm darin folgen. Uns ist dies ein sicherer 
Beweis, daß das von ihm gezeichnete Bild der römischen Kriegsver- 
fassung im wesentlichen Phantasie ist, die auf irrigen Voraussetzun- 
gen beruht. So behauptet er, und das ist für seine Anschauung von 
Bedeutung, die Römer hätten nach dem zweiten punischen Kriege 
alljährlich etwa 50000 Mann unter den Waffen gehabt (S. 377), 
was ganz und gar unrichtig ist. Die Römer haben vielmehr, wenn 
keine Kriege zu führen waren, auch ihre Truppen nicht aufgeboten. 
Es wurde zwar regelmälig jedes Jahr das Heer gebildet, aber wenn 
es nicht gebraucht ward, wieder entlassen. So hören wir denn aus 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 601 


dem Jahre 157 v.Chr., daß der Senat den Krieg gegen die Dal- 
mater außer andern Gründen auch deshalb beschlossen habe, um das 
Volk in Italien nicht allzulange des Krieges zu entwöhnen. Von 
dauernder Unterhaltung einer ansehnlichen Kriegsmacht kann also 
keine Rede sein. Allerdings kann mir der Verfasser hier entgegen 
halten, daß Polybios (32, 23), der uns dies erzählt, sich geirrt habe 
oder schlecht unterrichtet gewesen sei; denn mit widersprechenden 
Zeugnissen findet sich Delbrück leicht ab, wenn es ihm auch zu- 
weilen, wie ich aus S. 388 entnehme, etwas schwül dabei zu Muthe 
wird. Außerdem hält er sich keineswegs immer an die besten Quel- 
len, sondern nimmt auch mit geringeren fürlieb, wie mit Livius, 
mit dem er im übrigen scharf ins Gericht geht, z.B. S. 255ff. 
Gleichwohl beruht ein wichtiges Stück seines Systems, die Berech- 
nung der römischen Heeresstärke im zweiten punischen Kriege, nur 
auf Livius, und auch sonst hat er ihn an Stellen benutzt, wo er 
wenigstens nach meiner Meinung nicht benutzt werden darf'). 

Noch eine andere Bemerkung habe ich zu machen. Der Ver- 
fasser hat sich mit der Alterthumswissenschaft nur beiläufig be- 
schäftigt, und man kann daher billiger Weise von ihm keine voll- 
ständige oder correcte Kenntnis des historischen und antiquarischen 
Stoffes erwarten. Er ist stark von seinen Vorgängern, von den 
gangbaren Handbüchern abhängig. Nicht selten sind ihm erhebliche 
Versehen und Irrthümer begegnet. Dazu gehört z.B. das Kap. 3 
S. 33 über die athenische Heeresverfassung gesagte. Es heißt dort: 
»In Athen gab es von Alters her vier Schätzungsklassen, von denen 
die beiden oberen zu Pferde, die dritte, die Zeugiten (Ausspänner), 
die ein Einkommen zwischen 200 und 300 Scheffel (Metreten) Ge- 
treide, Wein oder Oel hatten, als Hopliten dienten«. Verkehrteres 
läßt sich kaum denken ; denn nicht nur die Zeugiten, sondern auch 
die beiden ersten Klassen dienten als Hopliten. Wunderliche Vor- 
stellungen muß der Verf. nach S. 140 von der griechischen Reiterei 
haben. Offenbar hat er nicht überlegt, daß die griechischen Reiter, 
wie Athen, Syrakus, Thessalien u. a. lehren, eine stehende, auch im 
Frieden dienende Truppe bildeten. Seltsam ist S. 305 die Schilde- 
rung der römischen Armee zur Zeit des zweiten punischen Krieges. 
Offenbar hat den Verfasser das Bedürfnis geleitet, einen möglichst 
kräftigen Gegensatz zwischen Römern und Karthagern herauszu- 


1) So stammt das S. 389 über die Freiwilligen gesagte aus den annalisti- 
schen, d.h. schlechten Stücken des Livius. S. 396 theilt er in extenso die Ge- 
schichte des Ligustinus mit, eine völlig werthlose, etwas antiquarisch aufgeputzte 
Anecdote, die nur für Livius charakteristisch ist, nicht für die Zeit des dritten 
makedonischen Krieges. 


602 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


arbeiten; das Ergebnis ist ein stark verzeichnetes Bild, auf dem die 
Römer als eine Bürgerwehr nach dem Muster etwa der ehemaligen 
Hamburger Stadtmiliz erscheinen. 

Auf einem Irrthum beruht der Satz (S. 319), daß zwischen den 
Jahren 70 und 28 v.Chr. eine Massenverleihung des römischen Bür- 
gerrechts nur an die Transpadaner stattgefunden habe. Der Verf. 
vergiGt die umfangreichen Biirgerrechtsverleihungen Cäsars, der 
Triumvirn und des Brutus und Cassius. Verwirrt und irreführend 
sind die Ausführungen über das Verhältnis des Heeres zur socialen 
Gliederung der Bürgerschaft in Rom (S. 391 ff, Es kommt hier 
nicht zum Ausdrucke was gesagt werden mußte, daß man erst nach 
dem Richtergesetz des Gaius Gracchus die Klasse der wohlhabenden 
Geschäftsleute, die von Polybios noch djwoc genannt wird, Ritter 
(equites) zu nennen begann, während vorher die Ritter zum guten 
Theil mit den Senatoren zusammenfielen. Ebensowenig durfte ver- 
gessen werden, daß der Legatus erst später zum Offizier wird. Auch 
sonst finden wir in diesem Theile (Buch 6) mancherlei Versehen und 
Fliichtigkeiten. Wenn es sich um Nebensachen und Kleinigkeiten 
handelte, so könnte man es mit Stillschweigen übergehen, obschon 
derartige Dinge einem Buche niemals zur Zierde gereichen !), aber 
gerade in den wichtigsten Dingen, auf die es dem Verfasser an- 
kommt, im Kriegswesen, in der Kriegsverfassung und ihren Grund- 
lagen erweist er sich nicht selten als mangelhaft unterrichtet. 

Nach diesen Bemerkungen gehe ich zur Besprechung der wich- 
tigsten Theile des Delbrückschen Werkes über und beginne mit dem 
ersten Buche, den Perserkriegen, von denen Delbrücks Kritik aus- 
gegangen ist, wo sie auch vielen Anklang gefunden hat. In der 
That ist anzuerkennen, daß hier manche lehrreiche, treffende und 
anregende Bemerkung gemacht worden ist, aber die Hauptsache, die 
Zahlenkritik in der Ausdehnung, die ihr Delbrück gegeben hat, be- 
währt sich nicht. Dies läßt sich gerade am Feldzuge des Xerxes 
zeigen, der ja durch seine hohen Ziffern am frühesten und mit Grund 
der Kritik Anlaß zu Zweifeln geboten hat?). Es wird dazu nützlich 
sein, kurz an den Verlauf der kriegerischen Ereignisse zu erinnern, 
was deshalb nicht überflüssig ist, weil der Rahmen der politischen 


1) Curios ist, daß S. 295 der Historiker Silenos als eine anerkannt vorzüg- 
liche Quelle gepriesen wird. Weshalb Delbrück sich gerade diesen auserseben 
hat, ist mir nicht verständlich. 

2) Schon früher hat Amédée Hauvette, Herodote, historien des guerres M& 
diques, die Delbrücksche Kritik zu widerlegen versucht. Delbrück setzt sich 8. 55 
einmal mit ihm auseinander. Hauvettes Buch ist als eine gediegene Leistung anzu- 
kennen, wenn ich auch in vielen Punkten anderer Meinung bin als der Verfasser. 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 608 


Geschichte, in den Delbrück sein kriegsgeschichtliches Räsonnement 
eingespannt hat, äußerst dünn und ärmlich, zuweilen auch etwas 
seltsam ausgefallen ist *). 

Die Grundlage des griechischen Widerstandes gegen die Perser 
war zu Lande der Peloponnes, der außer Argos und Achaia unter 
Sparta geeinigt war, eine gewisse militärische Organisation hatte 
und sich fest entschlossen zeigte, dem persischen Angriff äußersten 
Widerstand zu leisten. An ihn schlossen sich Athen und einige an- 
dere Gemeinden an. Ueber die Rüstungen der Verbündeten haben 
wir, abgesehen vom Flottenbau der Athener, keinerlei Nachrichten, 
doch dürfen wir ohne Gefahr annehmen, daß man sich nach Kräften 
auf den bevorstehenden Angriff einrichtete. Als dann Xerxes heran- 
zog, ward im Bundesrathe beschlossen, zunächst an der Nordgrenze 
Thessaliens Stand zu halten. Zehntausend Hopliten gingen dorthin 
ab, um zusammen mit der thessalischen Reiterei den Tempepaß zu 
vertheidigen*). Rechnet man dazu noch die Leichtbewaffneten, an 
denen die Thessaler und ihre Unterthanen Ueberfluß hatten?), so 
waren wohl etwa 25000 Mann versammelt. Als jedoch die Stärke 
der anrückenden Perser bekannt wurde, glaubten die Hellenen sich 
mit den vorhandenen Streitkräften in Thessalien nicht behaupten 
zu können; sie zogen daher ihre Truppen zurück, überließen Thessa- 
lien seinem Schicksal und beschlossen jetzt an den Thermopylen 
Stellung zu nehmen, im Zusammenhang mit der Flotte, die sich an 
der Nordküste Euböas versammelte. Es fanden sich bei Thermopyla 
3100 peloponnesische Hopliten ein, außerdem noch 700 Thespier, 
400 Thebaner, die opuntischen Lokrer und 1000 Phokier*). Die 
Peloponnesier waren nach der Versicherung der Verbündeten nur die 
Vorhut einer größeren Macht, die jedoch in Wahrheit nicht eintraf. 
Die kleine Schaar blieb allein und konnte der persischen Uebermacht 
nur kurze Zeit widerstehen, da sie bald umgangen war. Leonidas, 
der lakedämonische König, schickte daher die peloponnesischen Kon- 
tingente zurück und opferte sich mit den Spartiaten und Thespiern 
auf. Delbrück hat seine That und Leistung gut gewürdigt. Leoni- 
das hielt das persische Heer eine Zeit lang auf und gab den Ver- 


1) So verstehe ich nicht, weshalb Delbrück einen so großen Nachdruck auf 
Orakel und Opfer legt; er scheint diese Dinge für die Hauptsache zu halten, 
während sie doch nur die unerläßlichen und herkömmlichen Begleiterscheinungen 
kriegerischer und politischer Ereignisse sind. 

2) Herodot VII 172 ff. 

3) Xenophon Hell. VI 1 8 9. 19. 

4) Herodot VII 202 £. 


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bündeten nördlich des Isthmos, besonders den Athenern Zeit, sich zu 
retten und ihr Land zu räumen. 

Warum aber, so fragt man hier, schickten die Verbündeten nur 
so geringe Streitkräfte nach Thessalien und an die Thermopylen’ 
Es gab und gibt darüber keine Nachrichten. Die Olympien und 
andere Feste, von denen Herodot spricht, kommen gewiß nicht ernst- 
lich in Betracht; wahrscheinlicher ist, daß die Rüstungen der Pelo- 
ponnesier noch nicht fertig waren. Es war der erste große aus- 
wärtige Krieg, den sie zu führen hatten, und abgesehen von Sparta 
war die Kriegsverfassung der peloponnesischen, wie überhaupt der 
hellenischen Gemeinden noch wenig entwickelt. Die Peloponnesier 
mußten also Waffen schmieden und ihre Leute einüben und waren 
damit vermuthlich noch im Riickstande. Mit einer ungenügenden 
Streitmacht aber wollten die Lakedämonier sich nicht auf einen ent- 
scheidenden Kampf einlassen und hielten sich daher zurück. Die 
unerwünschte Folge freilich war, daß alles Land nördlich vom Isth- 
mos dem Feinde preisgegeben werden mußte. 

Nach dem Verluste der Thermopylen und dem Rückzuge der 
Flotte von Artemision eilte das gesammte peloponnesische Aufgebot 
schleunigst unter Führung des Lakedämoniers Kleombrotos an den 
Isthmos. Die Zugänge wurden zerstört und man baute mit aller 
Macht über die Landenge eine Mauer, die im nächsten Frühling 
(479 v. Chr.) fertig ward'). Erst als dies geschehen war, sammelte 
sich das peloponnesische Heer und zog gegen die Perser unter Mar- 
donios ins Feld?). Also waren jetzt vermuthlich die Kriegsrüstungen 
im wesentlichen und zur Genüge vollendet, so daß man hoffen 
konnte, sich gegen die Perser zu behaupten. Man erkennt ohne 
Schwierigkeit einen wohl bedachten Plan der Verbündeten und ihrer 
Führer, der Lakedämonier. Ehe sie sich mit dem Feinde messer, 
wollen sie eine ausreichende Macht beisammen haben und sich zu- 
gleich in der Befestigung des Isthmos für den schlimmsten Fall 
einen sichern Rückhalt verschaffen. Auch durch die dringenden Vor- 
stellungen der Athener und der übrigen mittelhellenischen Bundes- 
genossen ließen sie sich darin nicht irre machen. 

Das Heer, welches sich jetzt unter Pausanias bei Platää sam- 
melte, hatte nach Herodot IX 28 eine Stärke von 38700 Hopliten, 
dazu kamen an Leichtbewaffneten 35000 Heloten und 34500 andere 
Hellenen, zusammen also 108,200 Mann, die dann durch Zuzug der 
Thespier auf etwa 110000 Mann anwuchsen. Delbrück hält diese 


1) Herodot VIII 72. IX 10. 
2) Herodot IX 7ff. vgl. VIII 131. 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 605 


Zahl für weit übertrieben. Auf Grund der Ansichten, die er im An- 
schluß an Beloch über die Stärke der antiken Bevölkerung gewonnen 
hat, berechnet er S. 82 das Heer des Pausanias auf etwa 20000 
Hopliten und 20000 Leichte ; Herodots Zahl, meint er, beruhe nicht 
auf Ueberlieferung, sondern auf willkührlicher Schätzung des Autors. 
Es ist zuzugeben, daß dies vielleicht, aber auch nur vielleicht für 
die leichten Truppen gelten kann, von denen Herodot, ausgenommen 
die Spartiaten, je einen auf den Hopliten rechnet, aber bei den letz- 
teren, den Hopliten, liegt für eine solche Annahme kein Grund vor. 
Um Herodots Zahlen richtig zu würdigen muß man die Einzelposten 
betrachten, aus denen sich die Summe zusammensetzt, die uns der 
Autor in folgender Reihenfolge aufzählt: 


Lakedämonier 10000 Mann 
Tegeaten 1500 » 
Korinther 5000 > 
Potidäaten 300 > 
Orchomenier | 600 >» 
Sikyonier 3000 > 
Epidaurier 800 >» 
Trözenier 1000 > 
Lepreaten 200 > 
Mykenäer und Tirynthier 400 > 
Phliasier 1000 » 
Hermioneer 300 > 
Eretrier und Styreer 600 > 
Chalkidier 400 > 
Ambrakioten 500 > 
Leukadier und Anaktorier 800 > 
Paleer 200 »> 
Aegineten 500 > 
Megarenser 3000 > 
Platäer 600 > 
Athener 8000 > 


Den Stein des Anstosses bilden für Delbrück die 10000 Lake- 
dämonier; soviel, meint er, habe das Land nicht stellen können. 
Wenn es sich um das Jahr 430 v. Chr. handelte, würde ich seine 
Bedenken vielleicht theilen; denn damals sah Sparta ganz anders 
aus als 50 Jahre früher. Dagegen für 480 v. Chr. ist in dieser 
ausserordentlich blühenden und bevölkerten Gemeinde eine derartige 
Leistung ohne Bedenken zuzulassen. Aber ich will von den Spar- 
tanern vorläufig absehen; Delbrück hat darüber offenbar andere An- 
sichten als ich; es ist ein strittiger Punkt. Prüfen wir lieber die 


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übrigen Zahlen Herodots; wenn sich diese als gut erweisen, so 
werden wir auch die Zahl der Lakedämonier mit günstigen Augen 
anzusehen haben; denn es ist klar, daß sie alle aus gleicher Quelle 
stammen, und daß, was für einen Theil gilt auch für das übrige zu 
gelten haben wird. 

Zunächst bemerke ich als selbstverständlich, daß Herodots Zah- 
len offenbar die Stärke der Kontingente bezeichnen sollen, in der 
ausgerückt ward. Was ferner die Glaubwürdigkeit des ganzen Ver- 
zeichnisses anlangt, so ist schon längst und mehr als einmal be- 
merkt worden, was ich bei Delbrück nicht beachtet finde, daß näm- 
lich die Namen der theilnehmenden Gemeinden ebenso wie die ver- 
wandten Verzeichnisse der Flottenkontingente bei Artemision und 
Salamis!) mit geringen, leicht erklärlichen Ausnahmen aufs genaueste 
mit einer gleichzeitigen Urkunde übereinstimmen, dem bekannten 
platäischen Siegesdenkmal, das sich jetzt in Konstantinopel befindet ?). 
Dies erweckt ein günstiges Vorurtheil auch für die Ziffern. Ebenso 
entsprechen die einzelnen Posten durchaus dem, was .wir sonst aus 
etwas späterer Zeit von dem militärischen Vermögen der einzelnen 
Städte glaublich vernehmen. Wenn man ferner die Kontingentzahlen 
unter einander vergleicht, so stehen sie zur Bedeutung und Grösse 
der einzelnen Gemeinden in möglichst richtigem Verhältnisse®). Es 
würde gewiß sehr wunderbar sein, wenn es einem Fälscher oder 
Dichter gelungen wäre, die Ziffern in so richtiger Abstufung zu 
geben. Gegen die Mehrzahl der Ziffern hat daher Beloch und ver- 
mutlich auch Delbrück nichts einzuwenden. Wem würde es auch wohl 
einfallen, die 200 Lepreaten oder die 400 Hopliten aus Mykene und 
Tiryns zu beanstanden ? Ebenso wenig Zweifel erwecken die 800 
Ambrakioten. Ambrakia war eine ansehnliche Stadt, die im Winter 
426/5 v. Chr. 3000 Hopliten zum Angriff auf die benachbarten 
Amphilocher schicken konnte, und zwar war dies nicht etwa das 
ganze Aufgebot‘). Zur Zeit der Perserkriege sind also 800 Hopliten 
eine ganz angemessene, keineswegs übermässige Leistung. Wenn 


1) Herodot VII 1. 48. 

2) Abgedruckt z.B. bei Dittenberger syll. I? nro. 7. | 

8) Das gleiche läßt sich von dem Verzeichnis der nach Thermopylä aur 
rückenden Truppen sagen (Herodot VII 202), abgesehen von den 800 Spartanern. 
Die übrigen sind je 500 Tegeaten und Mantineer, 120 Orchomenier, 1000 andere 
Arkader, 400 Korinther, 200 Phliasier, 80 Mykenier. Das Verhältnis ist nicht 
ganz dasselbe, denn es handelt sich ja nur um einen Theil des Aufgebots. Na- 
türlich stuften sich die Leistungen auch nach andern Rücksichten ab; x. B. die 
entlegeneren, außerpeloponnesischen Städte stellten gewiß verhältnismäßig weniger 
als die Peloponnesier und die andern nächst betheiligten. 

4) Thukyd. III 105. 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 607 


also die kleineren Ziffern den Eindruck voller Zuverlässigkeit machen, 
so sind auch die größeren nicht zu verdächtigen. Für Korinth sind 
5000 Hopliten nicht zu viel; denn es war eine bevölkerte, reiche 
Stadt mit ansehnlichem Landgebiet und geordneter Wehrverfassung. 
Daß die Korinther ein zieinlich bedeutendes Aufgebot ins Feld stel- 
len konnten, zeigen die spätern Kämpfe mit Athen'). Noch später, 
bei der ersten Expedition nach Epidamnos brachten sie ohne Mühe 
30 Kriegsschiffe und 3000 Hopliten auf?); da es sich um ein Unter- 
nehmen handelte, bei dem es nicht Leib und Leben galt, so war dies 
natürlich nur ein Theil, etwa ein Drittel, höchstens die Hälfte des 
Aufgebots. Auch was Thukydides IV 42f. aus dem Jahre 425 v. Chr. 
berichtet, läßt auf eine Hoplitenmacht von mindestens 7000 Mann 
schließen. Es ist also durchaus glaublich, daß die Korinther in der 
dringenden Gefahr der Perserkriege, wo sie selbst zunächst am 
Feinde waren, nachdem sie ferner mehr als ein Jahr Zeit gehabt 
hatten, sich zu rüsten, 5000 Hopliten ins Feld schicken konnten.. 
Ebenso wenig brauchen wir an den 3000 Sikyoniern, den 3000 Me- 
garensern oder den 1000 Phliasiern Anstoß zu nehmen. Was wir 
von der Bedeutung dieser Städte wissen stimmt gut zu diesen Zah- 
len*), und ebenso die übrigen. Demnach wird auch der Haupt- 
posten, die 10000 Lakedämonier in Ordnung sein. 

Unter diesen Umständen ist es höchst unwahrscheinlich, daß 
Herodots Zahlen auf willkührlicher Schätzung beruhen sollten; sie 
müssen vielmehr, ebenso wie das Verzeichnis der Gemeinden auf 
gleichzeitige Ueberlieferung zurückgehen; man kann vermuthen, 
daß sie auf einem der nicht wenigen Monumente der Perserkriege 
verzeichnet waren; die Zahl von 38700 Hopliten kann also für gut 
bezeugt gelten. Die von Delbrück geäußerten Bedenken, als ob es 
den Griechen unmöglich gewesen wäre, so große Massen zu er- 
nähren, kann ich nicht theilen. Platää lag dem Peloponnes sehr 
nahe, und es standen mehrere Wege zur Verfügung. Am bequem- 
sten ging es vermuthlich zur See über Kreusis oder einen der be- 


1) Thukyd. I 105. 

2) Thukyd. I 27, 2. 

3) Sikyon war eine größere Stadt, die es unter der Tyrannis des Kleisthenes 
mit Argos aufnehmen konnte. Freilich hat Beloch, Bevölkerung 118f. einen 
geringeren Begriff von ihr; nach ihm vermochte Perikles mit 1000 attischen Ho- 
pliten das ganze Aufgebot Sikyons vor den Thoren der Stadt in die Flucht zu 
treiben. So erzählt nämlich Diodor; aber Thukydides I 111 sagt wesentlich 
anders Zixvorlov tovs neooulkavrag pozy éxeadrnoay, und dies ziehe ich vor. 
Phlius wird 100 Jahre nach den Perserkriegen als eine Stadt von mehr als 
5000 Bürgern bezeichnet (Xenophon Hellen. V 3, 16). 


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nachbarten Häfen; denn die See gehörte den Hellenen, und die Zu- 
fuhr aus Italien und Sicilien stand ihnen ungehindert zu Gebote '). 

Mit dem platäischen Heere von etwa 110000 Mann, darunter 
mehr als 80000 Peloponnesiern, war jedoch die Wehrkraft der ver- 
bündeten Hellenen keineswegs erschöpft. Einige peloponnesische 
Gemeinden, nämlich die Mantineer und Eleer kamen zu spät ?), an- 
dere, wie die Mehrzahl der Arkader, welche bei Thermopylä 1000 
Mann gestellt hatten, sind überhaupt nicht zum Ausrücken gelangt, 
wahrscheinlich nicht aus bösem Willen, sondern weil sie in ihren 
Vorbereitungen zurückgeblieben waren?®). Aber auch diejenigen 
Städte, deren Kontingente bei Platäa fochten, haben gewiß nicht 
den letzten Mann aufgeboten. Die 5000 lakedämonischen Periöken 
waren, wie ausdrücklich bezeugt wird, Auserlesene *), und in Sparta 
werden nicht wenige, besonders die ältesten und jüngsten Jahrgänge, 
zu Hause geblieben sein, und ähnlich anderswo. Die Verbündeten 
führten den Krieg mit großer Vorsicht und haben gewiß nicht alles 
auf einen Wurf gesetzt, sondern auf alle Fälle eine Reserve bereit 
gehalten. Außerdem waren einige, offenbar nicht ganz geringfügige 
Truppenkörper mit der Flotte nach Asien hinübergegangen, die- 
jenigen nämlich, welche das persische Lager bei Mykale stürmten, 
außer Athenern Lakedamonier , Korinthier, Sikyonier und Trözenier 
(Herodot IX 102). Rechnet man alles dies mit ein, so zeigt sich, 
daß die Verbündeten, besonders der Peloponnes, nachdem er sich 


1) Besonders starken Anstoß erregt bei Delbrück die Nachricht Herodots, 
daß jeder der 5000 Spartiaten 7 Heloten bei sich gehabt habe. Er hat dies als 
handgreiflichen Unsinn zu Anfang seines Buches S. 11 an den Pranger gestellt. 
Ich sehe jedoch keinen ausreichenden Grund zu einem solchen Urtheil, da dies 
Verfahren der Spartaner mit dem was wir sonst über ihre Einrichtungen, in- 
sonderheit über die Stellung der Heloten wissen, gut stimmt. Auch später wur- 
den diese in dringenden Fällen zum Kriegsdienst herangezogen (z.B. Thukyd. V 
57,1. 64,2). Wenn sich ein Auszug der Heloten in dem von Herodot geschilder- 
ten Maße auch nicht wiederholt zu haben scheint, so beweist es nichts, da man 
in der Noth der Perserkriege zu starken Mitteln griff und manches that was 
später nicht mehr geschah. Ueberhaupt unterscheidet sich das Sparta der Perser- 
kriege nicht wenig von dem späteren. Vor allem der dritte messenische Krieg 
macht einen starken Einschnitt. 

2) Herodot IX 77. Herodot gibt die Stärke ihrer Contingente nicht an; er 
kennt sie nur bei denen, die wirklich mitgefochten haben. Hiedurch kann die 
Vermuthung, daß seine Zahlen aus einem Monument stammen, Bestätigung finden. 

8) Selbstverständlich kann man auch an andere Hinderungsgründe denken. 
Die Arkader haben im übrigen eifrig mitgethan, auch an der Isthmosmauer mit 
allem Volke gebaut. Die kleinen Gemeinden, Gaue und Kantone des westlichen 
Arkadiens waren damals wenig leistungsfähig. 

4) Herodot IX 11. 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 609 


einige Zeit hatte rüsten können, eine recht ansehnliche Kriegsmacht 
aufzubringen im Stande war, viel mehr als Beloch und Delbrück ihnen 
zutrauen. Man wird darnach auch die freie Bevölkerung des Pelo- 
ponnes höher zu berechnen haben, und was für den Peloponnes gilt, 
wird auch ebenso auf das übrige Griechenland anzuwenden sein. 
Ich darf hier auf eine Stelle der Einleitung des Thukydides hin- 
weisen, (I 10,2), wo der Historiker die Zahl der Streiter, die mit 
Agamemnon gen Ilion zogen, nach Homer ausrechnet. Er zählt 
1200 Schiffe mit einer durchschnittlichen Bemannung von je 85 Mann, 
also im Ganzen 102,000 Mann. Wenn man erwägt, sagt er, daß der 
trojanische Krieg ein gemeinsames Unternehmen aller Hellenen war, 
so ist diese Zahl offenbar nicht groß: ob zxodAol paivovraı éhddvrss 
as And naans tio EAAddog xoıvij weunousvo. Zu seiner Zeit also 
ging nach seiner Meinung das militärische Vermögen des gesammten | 
Griechenlands weit über diese Ziffer hinaus, und dem Urtheil dieses 
sachkundigen, nüchternen Beobachters werden wir uns lieber an- 
schließen als den von vorgefaßten Meinungen beherrschten, oft sehr 
zweifelhaften statistischen Berechnungen unserer Kritiker. 

Wenn also das hellenische Landheer bei Platää in Wahrheit so 
stark war, wie Herodot berichtet, so fällt damit zugleich ein Licht 
auf die Zahl der Perser. Denn wenn die verbündeten Griechen ein 
so hohes Aufgebot für nöthig hielten, so müssen auch die Perser 
ein großes Heer gehabt haben. Dies ergibt sich nicht minder aus 
andern Gründen. Ein Feldzug zur Eroberung von Hellas, wie ihn Xer- 
xes unternahm, konnte mit Aussicht auf Erfolg nur von einem mächtigen 
Heer unternommen werden; nur ein solches konnte bei den zu er- 
wartenden starken Abgängen, bei den Besatzungen, die unterwegs 
zurückbleiben mußten, in genügender Stärke am Ziele ankommen. 
Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die Perser den Hellenen bei 
Platää an Zahl überlegen waren und gewiß viel mehr als 100000 
Streiter gezählt haben, und daß man ihre Zahl nicht so weit herab- 
drücken darf, wie Delbrück S. 82 es versucht, wo er dem Mardonios 
nur 15—20000 Mann eigentlicher Krieger geben will'). Er stellt, 
ohne sich übrigens auf die Grundlagen der persischen Heeresbildung 
näher einzulassen, die Behauptung auf (S. 38), daß wir uns die Per- 
ser als Qualitätskrieger in nicht großer Zahl vorstellen müßten. 
Worauf er das gründet, weiß ich nicht. Wohl aber ist kein Zwei- 
fel, daß die Perser völlig im Stande waren, große Heere aufzu- 


1) In einer früheren Schrift (die Perserkriege und Burgunderkriege 8. 140 f.) 
geht er nicht so weit. Auf Grund der Angabe Herodots, das persische Lager 
habe ein Quadrat von 10 Stadien Seitenlänge gebildet, rechnet er etwa 100000 
Krieger heraus, hält jedoch diese Zahl für zu hoch. 

Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8 4l 


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bringen. Das herrschende Volk, die eigentlichen Perser, waren krie- 
gerisch und zahlreich; es bestand eine allgemeine Wehrpflicht, die 
streng gehandhabt wurde. Die Geschichte lehrt, daß sie es gelernt 
hatten, große Heere zu bilden, in Bewegung zu setzen und zu ver- 
pflegen. Als Kyros mit den Völkern, die ihm damals unterthan 
waren, gegen Krösos zog, war er diesem, wie glaublich berichtet 
wird (Herodot I 76 f.), numerisch überlegen, und dabei hatte Krösos 
gewiß eine recht ansehnliche Macht, außer den Lydern verbündete 
Kontingente und Söldner. Wie stark die Streitmacht des Kyros war, 
wird bei Herodot nicht überliefert, aber wir wissen doch, daß später 
ein Theil davon unter Mazares und Harpagos ausreichte, um Ionien, 
Karien, Lykien u.s. w. zu unterwerfen und einen recht erheblichen 
Widerstand zu überwinden '). Auch das Heer, mit dem Kyros den 
. letzten babylonischen König aus dem Felde schlug, Babylon ohne 
Schwertstreich eroberte und seinen Gegner in Borsippa gefangen 
nahm, wird nicht klein gewesen sein. Noch größer war vermuthlich 
die Truppenmacht, die Kambyses gegen Aegypten führte. Sie be- 
stand aus den Kontingenten des ganzen Reichs und war von einer 
starken Flotte begleitet. Unter andern mußten die kleinasiatischen 
Griechen mitziehen, z.B. Polykrates von Samos stellte 40 Trieren, 
woraus man abnehmen kann, daß die Flotte mehrere Hundert Schiffe 
zahite*). Ferner der Feldzug des Darius gegen Europa, gegen 
Thraker und Skythen ward mit sehr bedeutenden Streitkräften unter- 
nommen °). Herodot zählt 600 Kriegschiffe und 700000 Mann Land- 
truppen, die aus allen Theilen des Reiches kamen‘). Wenn auch die 
letztere Ziffer bedeutend übertrieben sein wird, so ist doch nach allem 
was wir hören, ersichtlich, daß ein großes Heer zusammen kam. Um 
den Uebergang zu erleichtern und zu beschleunigen ließ Darius den 
Bosporus überbrücken, eine schwierige und kostspielige Arbeit, die 
sich nur für ein großes Heer lohnte. Nur ein großes Heer konnte 
ferner das leisten was geleistet ward, die Unterwerfung vieler und 
kriegerischer thrakischer Stämme, darunter der Geten, den Zug über 
den Balkan und die Ueberschreitung der Donau. An den Feld- 
zug erinnerten zwei Säulen bei Byzanz, von denen zu Herodots 
Zeiten noch Reste vorhanden waren. Es war eine große, lange In- 
schrift in griechischer und assyrischer Sprache und Schrift, worin der 


1) Herodot I 154 ff 161. 171 f. 

2) Herodot II 1. III 1. 44. Außer Polykrates wird das Kontingent von My- 
tilene genannt. Herod. III 13. 

3) Wobei zu erwähnen ist, daß gleichzeitig von Aegypten aus der Zug gegen 
Barka unternommen ward. Herodot IV 145. 

4) Herodot IV 87. 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 611 


Uebergang über den Bosporos verewigt und die Kontingente der 
Völker des Reichs aufgeführt waren'). Ein Heer, in dem sämmt- 
liche Völker des persischen Reiches vertreten waren, kann nicht klein 
gewesen sein und darf auf Hunderttausende beziffert werden. 

Ohne Zweifel hat nun Xerxes gegen Griechenland noch bedeu- 
tend mehr aufgebracht als Darius. Mehrere Jahre ward mit Sorg- 
falt gerüstet, Proviant gesammelt, der Athoskanal gegraben, der 
Hellespont überbrückt, alles Anzeichen, daß etwas Großes in Wer- 
den sei. Freilich die Zahlen Herodots, der das Landheer auf 1,800000 
Mann beziffert *), sind, wie man längst erkannt hat und auch Del- 
brück bemerkt, weit übertrieben. Wie Herodot selbst sagt, standen ihm 
keinerlei Angaben zur Verfügung’), sond@®n alles beruht nur auf 
einer Schätzung, die dann sehr ungenügend ausgefallen ist. Wäh- 
rend er bei den griechischen Streitkräften und bei der persischen 
Flotte die Höhe der einzelnen Kontingente zu nennen im Stande 
ist, fehlte ihm für das persische Landheer die Möglichkeit eine 
Summe zu ziehen, und auch seine Zahl des unter Mardonios in 
Thessalien zurückbleibenden Heeres, 300000‘), kann als beglaubigt 
nicht angesehen werden. Bestimmt beziffert werden nur die Garde- 
truppen, 2000 Reiter, 2000 Lanzenmänner und die 10000 Unsterb- 
lichen). Da diese aus den übrigen Persern immer vollzählig er- 
halten wurden, so muß das gesammte persische Kontingent minde- 
stens 30000 Mann stark gewesen sein®). Ohne Zweifel war es das 
stärkste von allen; ihnen am nächsten standen die Meder, aber 
auch andere, wie Baktrier und Saker konnte zahlreiche Mannschaften 
liefern. Wer das bezweifelt, möge sich nur in die Geschichte der 
baktrischen Feldziige Alexanders vertiefen, aus denen man von der 
Leistungsfahigkeit dieser Gegenden einen hohen Begriff gewinnt. 
Perser, Meder, Baktrer und Saker zusammen können recht wohl mit 


1) Herodot IV 87f. Delbrück, Perserkriege und Burgunderkriege S. 147 
deutet an, daß dem guten Herodot mit dieser Inschrift wohl ein Mißverständnis 
begegnet sei. Wer die Worte des Historikers genau liest, wird sich dem nicht 
anschließen. Herodot selbst hat die Inschrift wohl nicht mehr gelesen, trotzdem 
kann ihr Inhalt recht wohl in seine Erzählung übergegangen sein. 

2) Herod. VII 184 f. 

3) Herodot VII 60 800» u» vor Exacroe xagsizor nindos ds Agıdudr, 06x 
Eym sineiv td cegexts, of yao Akyeraı xeds obdapay dvdohrer. 

4) Herodot VIII 113. 

5) VII 40f. 83. Die Gesammtzahl der Reiter wird auf 80000 angegeben; 
die Sagartier, einer der persischen Stämme, haben (nach VII 85) 8000 Reiter 
gestellt. 

6) Die Kardaker in der Schlacht bei Issos werden auf 60000 beziffert. 
Arrian Anab. II 8,6. 


4\* 


612 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


100000 Mann und mehr ausgerückt sein), und darnach können wir 
uns von dem Gesammtheere des Xerxes einen annähernden Begriff 
machen, wenn wir auch darauf verzichten müssen, eine bestimmte 
Zahl zu geben oder etwa die Angabe des Ktesias, 800000 Mann, als 
beglaubigt anzusehen. 

Während Herodot über das Landheer der Perser ohne nähere 
Kenntnis ist, gibt er von der Flotte genauere Nachrichten. Nach 
VII 89 zählte die persische Flotte, als sie von Asien abfuhr, folgende 


Kontingente: 
Phönizier und Palästiner 300 Schiffe 
Aegypter 200 > 
Kyprier ® 150 > 
Kiliker 100 > 
Pamphyler 30 > 
Lykier 50» 
asiatische Dorier 30 > 
darunter war die Königin Artemisia aus 
Halikarnasos und Umgegend mit 5 Schiffen. 
Karer 70 > 
Ionier 100 >» 
Inseln 17 >» 
Aeoler 60 > 
Hellespontier 100 > 
aus dem Pontos 100» 
zusammen 1207 Schiffe, 


zu denen dann später noch 120 aus Europa hinzukommen welche 
letztere Zahl jedoch nur auf Schätzung beruhen mag, da die einzel- 
nen Kontingente nicht aufgeführt werden. Delbrück hält die Schiff- 
zahl für weit übertrieben und meint, daß z.B. bei Arter.’ sion und 
Salamis die Perser den Hellenen numerisch nicht überlegen gewesen 
seien, vielleicht sogar weniger Schiffe gehabt hätten. Da man be- 
kanntlich Schiffe viel leichter zählen kann, als Menschen, so ist die- 
ser Zweifel schon früher auf starken Widerspruch gestoßen; in der 
That spricht alles dafür, daß hier eine gute Ueberlieferung vorliegt. 
Zunächst ist zu bemerken, daß Herodot die Gesammtzahl von 1207 
Schiffen überliefert vorgefunden hat, da schon Aeschylos in den 473 
v. Chr. aufgeführten Persern (V. 339 ff.) dieselbe gibt. Auch sind 
die Ziffern, sobald man wiederum die einzelnen Posten prüft, durch- 
aus nicht unglaublich, sondern entsprechen sehr gut allem, was wir 


1) Die Flottensoldaten, Perser, Meder und Saker, beziffert Herodot VII 184 
auf über 36000 Mann, 30 auf die Triere. 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 613 


sonst von den Leistungen der persischen Seestaaten wissen. Ver- 
hältnismäßig das Gleiche, nämlich 600 Schiffe, ward gegen die auf- 
ständischen Ionier gestellt; dies waren nämlich nur die Kontingente 
von Phönizien, Kypros, Aegypten und Kilikien’). Im Skythenfeld- 
zuge allerdings war die Flotte des Darius, 600 Schiffe, viel kleiner, 
aber hier war auch kein erheblicher Widerstand zur See zu erwar- 
ten, wie später im Jahre 480, da es an der thrakischen Küste keine 
Seemacht gab. Dagegen wurde später unter Darius Kodomannus 
gegen Alexander verhältnißmäßig dasselbe geleistet, wie unter Xerxes. 
Die persische Flotte zählte damals 400 Schiffe, die von den Phöniziern 
und Kypriern gestellt wurden; davon brachten die Kyprier minde- 
stens 120 auf; die Gesammtleistung der phönizischen Städte ist nicht 
bekannt; nur hören wir, daß das Kontingent von Arados, Byblos 
und Sidon zusammen 80 Schiffe betrug‘). Was die Zahl angeht, so 
bleibt die damalige Leistung hinter den Perserkriegen um 50 Schiffe 
zurück, dafür waren aber die Schiffe durchweg größer; es waren 
nicht nur Trieren, sondern auch Tetreren und Penteren, und damit 
wird sich der Unterschied der Zahl ziemlich ausgleichen. Was also 
Herodot den Kypriern und Phöniziern zuschreibt, entspricht ihrer 
Leistungsfähigkeit, und ebenso sind die übrigen Kontingentzahlen 
durchaus glaublich*). Daß die Ionier, die bei Lade 283 Trieren 
stellten, unter Xerxes 100 geben können, setzt nicht in Erstaunen. 
Verhältnismäßig hoch erscheinen die Zahlen der hellespontischen und 
pontischen Schiffe; aber es ist zu erwägen, daß diese Gegenden im 
ionischen Aufstande viel weniger gelitten hatten als die Ionier. Kurz 
diese Schiffzahlen machen einen durchaus vertrauenswürdigen Ein- 
druck und gehen offenbar auf gute, genauere Ueberlieferung zurück, 
und daß dem Herodot eine solche nicht nur für die Perserkriege, 
sondern auch für den ionischen Aufstand zur Verfügung stand, zeigt 
z. B. das offenbar sehr zuverlässige Verzeichnis der griechischen 
Tyrannen auf der Flotte des Darius und der verschiedenen Abthei- 
lungsführer unter Xerxes*). Um zu verstehen, wie der Historiker 
zu diesen Nachrichten gekommen ist, müssen wir uns erinnern, daß 
auf den verschiedenen persischen Flotten das griechische, ionische 
Element sehr stark vertreten war, und daß er einen guten Theil 


1) Herodot VI 6. 9. 

2) Arrian Anab. I 15, 8. 7. TI 20, 1. 

3) z.B. die 5 Schiffe der Artemisia (Herodot VIII 99) lassen den Gedanken 
an eine Uebertreibung nicht aufkommen. 

4) Herodot IV 138. VII 96 ff. An letzterer Stelle theilt Herodot nur die 
namhafteren Personen mit, die übrigen verschweigt er, da es nicht nöthig sei, sie 
zu erwähnen. Es sind die griechischen Kontingentsherren, die er übergeht. | 


614 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


seiner Nachrichten ionischen Quellen verdankt. lIonische Griechen, 
wie Dionysios von Milet und Charon von Lampsakos sind die ersten 
Historiker der Perserkriege geworden. Aus solchen zeitgenössischen, 
wohlunterichteten Autoren konnte Herodot schöpfen, und wir haben 
daher allen Grund, die Schiffzahlen, wie er sie gibt, für wohl be- 
glaubigt anzusehen. Es ergibt sich daraus die Folgerung, daß der 
Heereszug des Xerxes in der That sehr große Massen in Bewegung 
setzte, viel größere als Delbrück annehmen will, und daß wir so- 
wohl bei den Persern wie bei den Griechen eine militärische Lei- 
stung ersten Ranges anzuerkennen haben. 

Die Perser gaben ihren Rüstungen einen solchen Umfang, um 
das Gelingen des Unternehmens zu sichern. Ohne Zweifel waren 
sie über die Natur, die politischen Zustände und die Streitkräfte des 
griechischen Landes genügend unterrichtet und wußten, daß man 
sich namentlich zur See auf einen starken Widerstand gefaßt machen 
müsse. Selbstverständlich fanden sich ferner in der großen Flotte 
manche minderwerthige Elemente, von denen nicht viel zu erwarten 
war; auch hatten die Perser Erfahrung genug, um zu wissen, daß 
bei einem solchen Heereszuge starke Verluste unvermeidlich waren; 
mit Menschenleben und Material pflegte man nicht eben sparsam 
umzugehn. Außerdem konnten natürlich nicht alle Kriegschiffe für 
den eigentlichen Kampf verwandt werden, sondern nicht wenige wa- 
ren anderen Diensten vorbehalten. Man hielt daher für den end- 
lichen Erfolg eine sehr große Zahl für nöthig, um auf alle Fälle 
einer starken Ueberlegenheit sicher zu sein. Damit mußten freilich 
nicht geringe Uebelstände in den Kauf genommen werden, Schwer- 
fälligkeit, Schwierigkeit der Uebersicht, der Unterkunft und der Er- 
nährung ; man suchte diesen Schwierigkeiten möglichst zu begegnen ‘), 
konnte aber nicht hindern, daß durch die Ungunst der Elemente die 
Verluste sehr groß wurden und die Flotte zur Ueberwältigung der 
Hellenen nicht mehr ausreichte. Würde es etwa anders gewesen 
sein, wenn Xerxes mit einer kleineren Flotte ausgezogen wäre? Ich 
glaube nicht. Delbrück behandelt die Perser immer als den Helle- 
nen militärisch mindestens ebenbürtig; das trifft aber nicht zu, son- 
dern das hellenische Kriegswesen war dem orientalischen weit über- 
legen, wie die Orientalen schon seit längerer Zeit dadurch anerkannt 
hatten, daß sie hellenische Söldner in ihre Dienste nahmen. Diese 


1) Die Flotte war in vier große Abtheilungen getheilt (Herodot. VII 97), und 
für die Verpflegung waren umfassende Vorkehrungen getroffen. Sie wurde da- 
durch erleichtert, daß das Landheer mit dem Meer in Verbindung blieb. Ueber 
diese Schwierigkeiten vgl. Herod. VII 49, wo dem Artabanos eine Betrachtung in 
den Mund gelegt wird. 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 615 


Ueberlegenheit konnte nur durch eine größere Zahl ausgeglichen 
werden, und darnach haben die Perser ihre Rüstungen eingerichtet. 

Der militärische Aufschwung, den die Perserkriege den Helle- 
nen brachten, war für die meisten nur kurz und ohne nach- 
haltige Folgen für die Entwickelung des Heerwesens. Die Fort- 
setzung des Krieges blieb allein den Athenern und ihren Bundesge- 
nossen überlassen und führte nun zu einer überaus kräftigen Ent- 
wickelung der attischen Wehrkraft. Es wurden zwar auch im übri- 
gen Griechenland Kriege genug geführt, aber sie waren beschränk- 
teren Umfanges, und erst der peloponnesische Krieg brachte die 
militärischen Kräfte aller Hellenen zu voller Entfaltung und legte 
den Grund für die Folgezeit. Delbrück behandelt diese ganze Zeit 
von den Perserkriegen bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts im 2. Buche, 
das wiederum manches anregende enthält, z. B. das Kapitel über die 
Strategie des Perikles, der fein und gut gewürdigt wird. Anderes 
ist dagegen sehr anfechtbar und verräth ganz unhaltbare Anschau- 
ungen, wenn z.B. S. 110 angenommen wird, daß die Athener in der 
Regel einen Theil ihrer Flottenmannschaften aus den Sklaven ge- 
nommen hätten, was damit zusammenhängt, daß der Verfasser, wie 
schon erwähnt, die Zahl der Freien und Bürger zu gering ansetzt, 
und nur durch diese ganz willkührliche Annahme die nöthige Schiffs- 
mannschaft herausschlägt. Das Ganze ist gar zu dürftig behandelt; 
es sind mehr zerstreute Bemerkungen. Am meisten fällt auf, daß 
dem peloponnesischen Kriege, wo wir doch die zuverlässigsten Nach- 
richten haben, so geringe Beachtung geschenkt worden ist. Die- 
ser Krieg müßte in Wahrheit der Ausgangspunkt der Erörterungen 
sein. In ihm haben die Hellenen und besonders die Athener ihre 
volle Kraft gezeigt; so ist die sicilische Expedition trotz ihrem 
Mißlingen dennoch eine der größten militärischen Leistungen des 
Alterthums. Im peloponnesischen Kriege kann man, wenn man 
sich in die Ereignisse etwas vertieft, die Entwickelung der Kriegs- 
kunst am besten erkennen. Lehrreich ist z.B. ein Vergleich der 
Schlacht bei Delion mit dem Treffen bei Syrakus; man sieht, 
wie die Athener auch im Landkriege ihre Fortschritte mach- 
ten. Schade, daß der Verfasser über diese für die Geschichte der 
Kriegskunst so wichtigen Dinge so kurz hinweggegangen ist. Später 
werden die bekannten Hauptactionen etwas eingehender behandelt, 
z.B. S. 132f. die Schlacht bei Leuktra. Delbrück nimmt hier an, 
daß das lakedämonische Heer dem thebanischen an Zahl gleich ge- 
kommen sei, was ich nicht für richtig halte. Auf die Zusammen- 
setzung und Grundlage des thebanischen Aufgebotes ist er dabei 
nicht eingegangen. 


616 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


Er geht im nächsten Buch zu den Makedoniern und zu den 
Alexanderfeldzügen über (S. 139 ff.), wobei wiederum der Kampf ge- 
gen die überlieferten Truppenzahlen mit Eifer geführt und darüber 
manches andere vergessen wird’). Sein Interesse concentriert sich 
vornehmlich auf die Hauptschlachten, am Granikos, bei Issos, Gau- 
gamela und am Hydaspes; das dazwischen liegende wird kürzer ab- 
gethan. In der Schlacht bei Issos weicht er von der neuesten, ver- 
dienstlichen Behandlung Ad. Bauers etwas ab (S. 154). Er be- 
streitet hier, daß der Perserkönig so viele griechische Söldner gehabt 
habe, wie die Berichte angeben, scheint aber dabei nicht beachtet zu 
haben, daß Darius kurz zuvor die Armee Memnons unter Thymodes 
an sich gezogen hatte. Den Fluß Pyramos, an dem die Schlacht ge- 
schlagen ward, hält er nicht für den Deli-Tschai, sondern für den 
Paias Tschai. In eigenartiger Weise sucht er die Schwierigkeiten zu 
lösen, die bei der Schlacht am Hydaspes unleugbar vorhanden sind. 

Nach einem kürzeren Abschnitt über die Diadochen, der eine 
Kritik der verschiedenen Schlachtberichte aus jener Zeit enthält, 
geht er dann zu den Römern über, beginnend mit der schon oben 
charakterisierten Darstellung der altrömischen Heer- und Wehr- 
verfassung. 

Die beiden nächsten Kapitel behandeln den Pyrrhischen und 
den ersten punischen Krieg, der trotz seiner 24jährigen Dauer nur 
oberflächlich (S. 266—273) behandelt wird. Ueber das Kriegswesen 
der Karthager schweigt der Verf., erwähnt auch nicht die für die 
Kriegsgeschichte wichtige Thatsache, daß die Römer an Hieron von 
Syrakus einen sehr leistungsfähigen Bundesgenossen gewannen. Erst 
der zweite punische Krieg wird eingehender behandelt, er bildet ein 
besonderes, das 5. Buch (S. 277—357); es ist, wie schon gesagt, 
eins der Hauptstücke des Werks. Mit diesem Kriege und seinen 
Feldherrn Hannibal und Scipio hat sich der Verfasser mit besonde- 
rer Liebe beschäftigt. Er widmet dem großen Karthager Worte 
höchster Bewunderung, denen ich nur zustimmen kann. Im übrigen 
bin ich, was den Krieg und seine Beurtheilung angeht meist anderer 
Meinung als der Verfasser, der sich leider durch einige neuere Hypo- 
thesen hat verblenden lassen. 

Er beginnt mit der Schlacht bei Kannä, um aus ihr zunächst 
von der damaligen Schlachtentaktik einen richtigen Begriff zu ge- 
winnen und darnach auf die Strategie seine Schlüsse zu ziehen. Von 
hier geht er auf Beginn und Verlauf des Krieges über, um mit der 


1) Wunderlich ist die Behauptung S. 150, daß die griechischen Kontingente 
die größere Hälfte des Heeres Alexanders ausgemacht hätten. 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 617 


Schlacht bei Zama zu schließen. Ich will hier zunächst auf die ein- 
leitenden Ereignisse und Anfänge des großen Krieges etwas eingehen 
und darf dazu den Leser an die bekannten Thatsachen in Kürze er- 
innern, und zwar im Anschluß an Polybios, den auch Delbrück mit 
Recht sehr hoch schätzt, wenn er auch in Praxi oft von ihm ab- 
weicht. Uebrigens könnte bei Delbrück auch hier die Orientierung 
über die Vorgeschichte des Krieges besser und genauer sein als 
sie ist. 

Es ist begreiflich, daß zu Anfang des Krieges Hannibals Ab- 
sichten klarer zu Tage liegen, als die römischen, weil nur der Kar- 
thager seinen Plan rein und vollständig zur Ausführung brachte. 
Daß ein Krieg bevorstand, wußte man schon seit einiger Zeit. Seit- 
dem die Römer die Schwäche der Karthager am Ende des Söldner- 
krieges benutzt hatten, um sich Sardinien anzueignen, bestand zwischen 
beiden Gemeinden eine bittere, unverhohlene Feindschaft. Die Römer 
betrachteten die Fortschritte der Karthager in Spanien mit äußer- 
stem Mißtrauen, mußten sie aber gewähren lassen, weil sie besonders 
durch die gallischen Kriege alle Hände voll zu thun hatten. Sie er- 
langten nur, daß Hasdrubal, der karthagische Strateg in Spanien, 
sich verpflichtete, nicht über den Ebro zu gehen. Später nahmen 
sie dann Sagunt in ihren Schutz, und darüber kam nunmehr der 
Krieg zum Ausbruch. Hannibal beschloß, während er zugleich für 
Spaniens und Afrikas Vertheidigung sorgte, nach Italien zu gehen, 
um die römische Macht in der Wurzel zu treffen und dem feindlichen 
Angriffe zuvorzukommen. Mit Recht bemerkt Delbrück dazu, wie 
schon andere vor ihm, daß bei der römischen Ueberlegenheit zur 
See ihm zur Ausführung des Planes nur der Landweg über die Alpen 
übrig blieb. 

Im Princip entschieden war der Krieg schon 219 v. Chr., als 
sich Hannibal zum Angriff auf Sagunt entschloß. Die Römer zöger- 
ten aber, da sie zunächst noch eine andere, ebenfalls dringliche Auf- 
gabe zu erfüllen hatten, nämlich ihre bedrohten illyrischen Besitzun- 
gen zu schützen. Dazu unternahmen sie 219 v.Chr. einen Feldzug 
gegen Demetrios von Pharos, wozu die Zeit günstig war, da in 
Makedonien der junge König Philipp in einen Krieg mit den Aetolern 
verwickelt ward und daher seinen illyrischen Bundesgenossen nicht 
zur Hülfe kommen konnte. Den illyrischen Krieg wollten sie be- 
endigt haben, ehe sie sich gegen Karthago wandten ; denn sehr un- 
gern hatten sie mit zwei Feinden zugleich zu thun. Sie hofften be- 
stimmt, Sagunt würde sich bis zum nächsten Jahre halten können; 
dann wollten sie nach Spanien gehen und von Sagunt aus den Krieg 
gegen die Karthager beginnen. Diese Rechnung schlug jedoch fehl. 


618 Gott. gel, Anz. 1901. Nr. 8. 


Zwar in Illyrien erreichten sie ihr Ziel, dagegen in Spanien ward 
Sagunt von Hannibal mit Aufgebot einer großen Macht rasch über- 
wältigt, Hannibal brachte damit ganz Spanien südlich vom Ebro in 
seine Gewalt und konnte nunmehr seinen Angriff auf Italien ins 
Werk setzen. 

Auch nach dem Falle Sagunts dachten die Römer zunächst an 
den Angriff. Von den beiden Consuln ward der eine, Scipio, mit 
Flotte und 2 Legionen nach Spanien bestimmt, der zweite, Sem- 
pronius, ging ebenfalls mit 2 Legionen und einer starken Flotte, 
200 Penteren, nach Sicilien, um von hier nach Afrika überzusetzen. 

Hier setzt nun die Sachkritik Delbrücks ein, der sich dabei an 
Joseph Fuchs anschließt (S. 320 ff.). Weder die nach Afrika be- 
stimmte Expedition noch die spanische sei ausreichend gewesen, um 
die ihr bei Polybios zugewiesene Aufgabe zu erfüllen. Besonders 
die Truppen Scipios hätten gegenüber der großen Macht Hannibal 
in keiner Weise genügt. Deshalb vermuthen Delbrück und Fuchs, 
die Absicht der Römer sei gar nicht gewesen, den Feind in Spanien 
aufzusuchen; sie hätten vielmehr von Anfang an von Hannibals Plä- 
nen Kenntnis gehabt und ihm nicht in Spanien, sondern an der 
Rhone zu begegnen vorgehabt, um ihm den Weg zu verlegen. Man 
habe beabsichtigt, ihn hier festzuhalten, und erst wenn dies ge- 
schehen den Sempronius nach Afrika hinübergehen zu lassen, um 
nunmehr mit den karthagischen Heeren in Afrika, die jetzt nicht 
mehr auf die Unterstützung Hannibals hätten rechnen können, fertig 
zu werden. 

Die Vermuthung widerspricht der Ueberlieferung und dem was 
wirklich geschah, durchaus. Die Römer erfuhren von dem Ueber- 
gange Hannibals über den Ebro noch ehe die Heere gebildet waren, 
Frühjahr 218 (Pol. III 40, 2). Von seinem Uebergang über die 
Pyrenäen hörte Scipio erst auf der Fahrt (c. 41,5), er landete da- 
her an den Rhonemündungen, um ihm wo möglich zu begegnen, als 
er ihn jedoch verfehlte und Hannibal den Weg über die Alpen ein- 
schlug, begab er sich nach Oberitalien, zu den dort stehenden Trup- 
pen, während er seinen Bruder mit Heer und Flotte nach Spanien 
gehen ließ. Dies alles wäre nicht begreiflich, wenn die Römer wirk- 
lich die von Delbrück entwickelten Absichten gehabt hätten. Gewiß 
würden sie dann auch in Oberitalien etwas mehr zur Vertheidigung 
gethan haben, und vor allem würde dann nicht Scipio sein Heer nach 
Spanien geschickt, sondern mit sich nach Italien zurückgenommen 
haben. Daß er es nach Spanien schickte, weist deutlich darauf hin, 
daß darauf auch sein Auftrag ging. Er muß der Meinung gewesen 
sein, daß dies nothwendig sei, und mit Recht; denn Spanien war für 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 619 


die Karthager von der größten Bedeutung und lieferte ihnen außer 
hohen Einkünften die brauchbarsten Mannschaften in fast unbegrenz- 
ter Zahl. Es war also für die Römer dringend geboten, sie nicht 
im ruhigen Besitze dieses Landes zu lassen, und von vorne herein, 
seit dem Vertrage mit Hasdrubal, sind daher ihre Augen dorthin ge- 
richtet. Dadurch daß P. Scipio sich durch Hannibals Angriff nicht 
beirren ließ, sein Heer nicht mit sich zurücknahm, sondern nach 
Spanien sandte, ist es den Römern gelungen, sich dort festzusetzen. 
Scipio hat damals die späteren Erfolge seines Sohnes vorbereitet und 
ermöglicht. 

Auch die Voraussetzungen der Delbrückschen Kritik sind nicht 
zutreffend. Ihm scheinen die römischen Heeresziffern zu gering, aber 
dies ist ein Irrthum; vielmehr sind sie vollkommen ausreichend für 
die zu erwartenden Aufgaben. Zwei römische Legionen mit Bundes- 
genossen betrugen rund 20000 Mann. Viel zahlreicher waren auch 
die Kerntruppen Hannibals nicht. Es ist zu erwägen, daß die Rö- 
mer hiebei auf Verstärkungen durch ihre spanischen Bundesgenossen 
rechneten und rechnen durften, zunächst auf die Völker zwischen 
Ebro und Pyrenäen, daß sie ferner mit überlegener Flotte kamen, 
daß ihnen endlich die nicht zu verachtende Hülfe der Massalioten 
zur Seite stand. Das gleiche gilt von der Expedition nach Afrika. 
Ohne Zweifel gedachten sich die Römer zunächst durch Hieron und 
ihre sicilischen Unterthanen zu verstärken, auch in Afrika konnten 
sie auf Zuzug zählen, da unter den numidischen Stämmen sich stets 
Mißvergnügte befanden, die bereit waren, zu einem landenden Feinde 
überzugehn. 

Ueberdies entspricht die Stärke der römischen Heere vollkom- 
men der Tradition und den militärischen Einrichtungen der Römer. 
Zwei Legionen bildeten das ordentliche consularische Heer, und, 
wenn nicht ein ungewöhnliches Bedürfnis vorlag, ging man davon 
nicht ab. Dies zeigt die frühere wie die spätere Geschichte. Da 
die Dienstpflicht auf den besitzenden Theil der Bürgerschaft sich be- 
schränkte, Proletarier und Freigelassene gesetzlich ausgeschlossen 
waren, so ist es durchaus begreiflich, daß man den heerespflichtigen 
und zugleich politisch maßgebenden Theil der Bevölkerung nach 
Möglichkeit schonte. Außerdem sprachen auch finanzielle Gründe 
mit, die Delbrück nicht in den Kreis seiner Erwägungen gezogen 
hat. Die römische Staatswirthschaft war noch wenig entwickelt ’), 
die italischen Bundesgenossen zahlten keinen Tribut, ein Staatschatz 
wurde, wie es scheint, nicht gesammelt. Die Einkünfte der Stadt 


1),.Vgl. Diodor XXIX 6, 1. 


620 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


reichten aus zur Bestreitung der gewöhnlichen Bedürfnisse, wenn 
aber ein Krieg kam, so mußte man auf außerordentliche Weise Geld 
schaffen, zunächst durch eine directe Steuer, das Tributum. Ein gu- 
ter Theil der Kriegsausgaben ward zwar von den Bundesgenossen 
getragen, die ihre Truppen selbst bezahlten, aber für die Bürger- 
schaft blieb doch immer noch genug übrig. Ein Krieg legte immer 
bedeutende Opfer auf, und es ist deutlich, daß man sich darnach 
einrichten mußte. Die Rüstungen der Römer entsprechen also durch- 
aus ihren militärischen und politischen Institutionen. Sie waren an- 
sehnlich genug und nach der bisherigen Erfahrung vollkommen aus- 
reichend. Wenn es sich diesmal zeigte, daß sie nicht genügten, so 
lag es daran, daß sie weder die Person Hannibals genauer kann- 
ten, der ja erst vor kurzem zum Kommando gelangt war, noch die 
Kraft und Umsicht seiner Kriegführung, noch auch die Stärke seiner 
Streitmacht. Sie werden im allgemeinen wohl orientiert gewesen 
sein, daß er aber den weiten und gefährlichen Marsch über die Alpen 
antreten und durchführen werde, haben sie ohne Zweifel nicht ge- 
wußt. Sie konnten es auch dann nicht erwarten, als sie hörten, daß 
er über den Ebro gegangen sei; denn hiebei konnte es sich ja zu- 
nächst um die Eroberung des Landes bis zu den Pyrenäen handeln. 

Auf der anderen Seite hat Hannibal, um sein Unternehmen 
durchzusetzen, Opfer gebracht, die ein römischer Feldherr mit römi- 
schen Truppen nicht hätte bringen können. Er überschritt mit 
90000 Mann Fußvolk und 12000 Reitern den Ebro, und unterwarf 
rasch, unter heftigen Kämpfen und mit großen Verlusten die zwischen 
Ebro und Pyrenäen wohnenden Völker der Küstenlandschaft. Er 
ließ hier 10000 Mann und 1000 R. als Besatzung zurück und ent- 
ließ die gleiche Zahl in die Heimath (Polyb. IH 35). Mit 50000 
M. z. F. und 9000 R. ging er dann durch die Pyrenäen. Der Krieg 
hat ihn also gegen 20000 Menschen gekostet, und man sieht, Hanni- 
bal hat, um sein Ziel rasch zu erreichen, das Leben seiner Soldaten 
rücksichtslos geopfert. Ohne Zweifel fällt der Verlust hauptsächlich 
auf die spanischen Kontingente; die Afrikaner und Karthager wird 
er nach Kräften geschont haben. Delbrück hat zwar die Zahlen des 
Polybios bezweifelt und stark beschnitten, aber sie sind ungewöhn- 
lich gut überliefert; denn sie gehen wahrscheinlich auf Hannibals 
eigene Aufzeichnung zurück, und aus sachlichen Gründen liegt zu 
Zweifeln kein Anlaß vor!). Gerade dadurch, daß Hannibal seine 

1) Es liegt sehr nahe zu vermuthen, daß Polybios die Ziffern der Inschrift 
verdankt, die Hannibal am Lakinion bei Kroton setzen ließ, der Polybios andere 


analoge Ziffern entlehnt hat. Polyb. IH 33,17. 56,4. Delbrück selbst hält es 
für wahrscheinlich und will auch dem Hannibal den Glauben nicht versagen, aber 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Ralımen der politisch. Geschichte. 621 


Leute nicht zu schonen brauchte, hat er die Unterwerfung des Lan- 
des und seiner kriegerischen, den Karthagern durchweg feindlichen 
Völkerschaften so rasch beenden und den Widerstand brechen kön- 
nen. Gerade in dieser Absicht ist er mit einem so großen Heere 
ausgerückt; denn wenn er Italien erreichen wollte, durfte er keine 
Zeit verlieren. 

Nördlich von den Pyrenäen hatte er es dann mit den Kelten zu 
thun, die er theils in Güte, theils mit Gewalt bezwang, und sich so 
den Weg bahnte. Daß es dabei blutige Kämpfe gab, sehen wir aus 
seinen erheblichen Verlusten, gegen 12000 Mann'). Wiederum meint 
Delbrück, die Verlustziffern seien weit übertrieben, der Widerstand 
der Völker habe zwar den Marsch sehr aufgehalten, da man mit 
Vorsichtsmaßregeln habe marschieren müssen, aber sie hätten sich 
bei der großen numerischen Ueberlegenheit der Karthager auf Ge- 
fechte kaum einlassen können. Gewiß haben sie keine rangierten 
Schlachten geliefert, aber sie haben die Pässe, Befestigungen ?) Fluß- 
übergänge und sonstige Hindernisse gesperrt und dadurch den Han- 
nibal zu verlustreichen Kämpfen genöthigt. Nähere Angaben fehlen; 
Polybios drückt sich ganz allgemein aus, da er auf diesem Gebiete 
grundsätzlich auf Einzelheiten nicht eingeht, sondern sich auf die 
Erzählung des Rhoneüberganges beschränkt, und die spätern sind 
von ihm abhängig; daß aber gekämpft ward, deutet er verständlich 
genug an. Auch waren die Gallier keineswegs wehrlos, sondern 
kriegerisch und genügend bewaffnet. Durch die Berührung mit den 
Griechen von Massalia wie mit den Karthagern hatten sie schon ge- 
nug gelernt. Wir erfahren, daß Hannibal nach dem Rhoneübergange 
bei einem gallischen Fürsten freundliche Aufnahme fand und von 
ihm sein Heer nicht nur mit Nahrung, Kleidung und Schuhwerk, 
sondern auch mit Waffen neu ausgestattet ward. Ohne Zweifel war 
Hannibal über die Widerstandskraft der Völker, die er durchziehen 
mußte, genügend unterrichtet und traf darnach seine Vorbereitungen. 
Aus den früheren Ereignissen (Polyb. III 13f.) sieht man, daß bis 
dahin die gewöhnliche Feldarmee in Iberien von mäßiger Stärke war. 
Wenn also auch in unsern sehr summarischen Berichten nichts davon 
geschrieben steht, so wird doch anzunehmen sein, daß Hannibal zu- 
erst für den Angriff auf Sagunt und dann für den Zug nach Norden 


Polybios, meint er, habe die Inschrift mißverstanden (8. 326). Man sieht, zu 
welcher Willkühr diese Kritik ausartet. 

1) Nach dem Ucbergang über die Rhone hatte Hannibal noch 38000 Mann Fuß- 
volk und über 8000 Reiter. Polyb. III 60,5. 

2) ’Avvißas pty obv Evezelgesi zaig dsexPolaig rdv Ilvonvalor beady xardgo- 
Bos wy tots Kelrots dia tas Öyvodınrag tev téxav Polyb. DI 40, 1. 


622 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


sein Heer aus den spanischen Völkerschaften bedeutend verstärkt 
hat, um jeden Widerstand unterwegs unterdrücken und dennuch mit 
ansehnlicher Macht in Italien eintreffen zu können. 

In merklichem Gegensatze zum Eifer, mit dem Delbrück die 
von Polybios überlieferten hohen Ziffern des karthagischen Hee- 
res bekämpft, steht die Nachsicht, die er den jüngeren Nachrichten 
über die römische Heeresstärke während des zweiten punischen Krie- 
ges schenkt. Auch seine Grundansicht über die römische Kriegsver- 
fassung scheint dadurch beeinflußt zu sein. Vielleicht ist für sein 
Urtheil nicht ohne Bedeutung, daß Beloch diese Zahlen unter seinen 
Schutz genommen hat. Darnach haben die Römer im zweiten puni- 
schen Kriege jährlich 18 Legionen und mehr unter den Waffen ge- 
habt, also etwa 90000 Mann, was 81/3 Prozent der gesammten Be- 
volkerung , ein Drittel der Bürgerschaft ausgemacht hätte. So er- 
zählt nur Livius, ein Historiker, der wie Delbrück selbst weiß und 
zugibt, ganz unzuverlässig ist. In der That sind diese Zahlen wie 
seine ganze Geschichte des zweiten punischen Krieges unbeglaubigt 
und stark übertrieben. Die einzige brauchbare Angabe der Art, die 
aus der Zeit nach der Schlacht bei Kannä vorhanden ist, steht bei 
Polybios VIII 3. Daraus sehen wir, daß in Italien 4 Legionen stan- 
den, und dabei ist es allem Anscheine nach meistens verblieben. In 
Sicilien befanden sich in der Regel nicht mehr als zwei Legionen; 
auf Spanien kann man vielleicht die gleiche Zahl rechnen, obwohl 
es zweifelhaft ist; denn das Heer, welches die Scipionen 218 v. Chr. 
dahin führten und das noch nicht abgelöst war, bestand in der 
Hauptsache aus bundesgenössischen Kontingenten, nicht aus Römern !); 
noch später hatte Scipio Afrikanus sehr viele Bundesgenossen bei 
sich. In Sardinien hat während der dortigen, übrigens nicht be- 
deutenden Kämpfe kaum mehr als eine Legion gestanden. In Nly- 
rien endlich, Makedonien und Hellas gab es überhaupt keine Legio- 
nen, sondern nur Seesoldaten, die ohne Zweifel zum größten Theil 
aus den Bundesgenossen genommen waren. Ebensowenig wie die 
Legionszahlen des Livius darf man mit Delbrück das glauben, was 
bei ihm über die Bildung besonderer Truppenkörper aus Sclaven, 
Freigelassenen und Sträflingen erzählt wird. Derartiges widerspricht 
gründlich den antiken Anschauungen, insonderheit den römischen. 
Erst in der Noth des Bundesgenossenkrieges haben sich die Römer 
einmal entschlossen, Freigelassene in die Legionen zu nehmen?) und 
sogar Augustus hat dazu nur in dringendsten Fällen gegriffen. Ich 

1) Polyb. II 40, 14. 


2) Livius epit. 74 ibertint tunc primum militare coeperunt. Vgl. Appian b. 
civ. I 49. 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 623 


wundere mich, daß der Verfasser, der sonst so ungläubig ist und so 
leicht Wachtstubengespräche und Adjutantengewäsch wittert, dem 
Livius gegenüber in solchem Grade jede Vorsicht außer Acht ge- 
lassen hat. Gewiß wollen wir vor den Leistungen der Römer im 
zweiten punischen Kriege allen Respekt haben, aber so groß wie 
Livius will sind sie doch nicht gewesen. Solche Zahlen wären über 
ihre Kräfte gegangen; denn die Soldaten mußten bezahlt und er- 
nährt werden und auch die daheim bleibenden wollten leben. 

In engem Zusammenhange zu dem eben hervorgehobenen Irr- 
thum Delbrücks stehen die bereits oben erwähnten eigenartigen An- 
sichten, die er von der Entwickelung der römischen Wehrpflicht hat. 
Gegen das Zeugnis des Polybios glaubt er, daß auch die ärmeren, 
nichtbesitzenden Bürger in den Legionen dienen mußten, und da- 
durch kann er die hohen Legionsziffern des Livius zur Noth er- 
“klären. In Wahrheit braucht man sich darum keine Mühe zu geben. 
Man muß streng an der überlieferten Vorstellung festhalten, daß der 
Dienst in den Legionen auf die Besitzenden beschränkt war; die 
unterste Schicht der Bürgerschaft war vom Dienst im Heere frei 
und ward auf die Flotte geschickt. Dieses System hatte auch seinen 
guten Grund und ermöglichte eine verhältnismäßig sehr starke An- 
spannung der Heerespflichtigen. Die arbeitenden Hände blieben 
zum großen Theil zu Hause, Handwerk und Landbau konnten ihren 
Fortgang nehmen. Um die Widerstandskraft der Römer im zweiten 
punischen Kriege zu erklären muß man dabei erwägen, daß die 
Landschaften, in denen die römische Bürgerschaft saß, also Mittel- 
italien, zum größten Theil nur auf kurze Zeit von den Verheerungen 
des Kriegs berührt worden sind. Was das zu bedeuten hatte, sieht 
man an dem einen Jahre, wo Roms nächste Umgebung von Hannibal 
heimgesucht ward, 211 v. Chr.’). Damals brach eine gewaltige 
Theuerung aus, und die Römer mußten sich, um Brotkorn zu er- 
halten, an den König von Aegypten wenden. Es war ein Glück, daß 
sie nicht öfters ähnliche Jahre zu ertragen hatten. 

Ein besonderes Interesse hat bei Delbrück die Schlacht bei Zama 
und ihre Vorgeschichte. Als 202 v.Chr. nach schon geschlossenem 
Frieden die Karthager den Waffenstillstand brachen und nun der 
Krieg wieder anging, stand Scipio bei Utika, während sein Bun- 
desgenosse Massinissa mit einem Theil seiner Truppen und der 
Reiterei nach Numidien gegangen war. Scipio brach nun sofort ver- 
heerend ins karthagische Gebiet ein, worauf Hannibal, der seine 
Truppen bei Hadrumetum gesammelt hatte, gegen ihn bis Zama 


1) Die Erzählung vom Zuge Hannibals gegen Rom verwirft Delbrück 8. 314. 





624 Gött. gel. Auz. 1901. Nr. 8. 


vorriickte. Scipio befand sich nun, wie Delbrück ausführt, in einer 
kritischen Lage. Ohne Massinissa, der einen großen Theil seiner 
Reiterei bei sich hatte, konnte er sich nicht mit Hannibal messen. 
Zurückgehen konnte er ebenso wenig; denn alsdann hätte ihn Han- 
nibal eingeschlossen und dauernd von Massinissa getrennt. Was that 
er? Kühn verzichtete er auf die Verbindung mit der See und zog 
dem Massinissa weit nach Numidien, nach Naragara entgegen, um 
sich mit ihm zu vereinigen und dann dem Hannibal die Schlacht zu 
liefern. Und das Glück belohnte seinen kühnen Entschluß. Del- 
brück folgt hier einer von Konrad Lehmann N. Jahrb. f. Philol. 
Suppl. 21 S. 559 ausgesprochenen Vermuthung; er vergleicht S. 349 
den Zug Scipios mit dem Rückzuge Blüchers von Ligny auf Wavre 
und dem Abmarsch der Schlesischen Armee von der Mulde über die 
Saale im Oktober 1813. Scipio, meint er weiter, habe seine Kühn- 
heit selbst nicht einzugestehen gewagt aus Furcht vor den Kritikern 
in Rom, und daher die Schlacht nach dem näher gelegenen Zama 
genannt, nicht nach dem wirklichen Orte Naragara, was dann in den 
Polybios übergegangen sei. Mit dieser Vermuthung und Betrachtung 
stehen die Quellen stark in Widerspruch ; denn Polybios '), von dem 
alle übrigen im wesentlichen abhängen, erzählt die Sache anders in 
folgender Weise: Hannibal rückt bis Zama in die Nähe Scipios vor 
und läßt ihn um eine Unterredung bitten, Scipio willigt ein, be- 
hält sich aber vor, den Zeitpunkt zu bestimmen, am nächsten Tage 
trifft der erwartete Massinissa mit 10000 Mann im römischen Lager 
ein, nun geht Scipio bis Naragara vor und läßt dem Hannibal sagen, 
er sei zur Zusammenkunft bereit, Hannibal rückt näher an Scipio 
heran, die Feldherrn haben ihre 'Begegnung, Scipio lehnt die Frie- 
densvorschläge des Karthagers ab, und es folgt am nächsten Tage 
die Schlacht. Also es ist keine Rede davon, daß Scipio dem Massi- 
nissa entgegenzieht, sondern er wartet auf seinen Bundesgenossen, 
der zu ihm eilt. Vorher ist demgemäß erzählt worden, daß Scipio 
den Massinissa durch wiederholte und dringende Botschaften zu sich 
berufen habe. 

Delbrück hat keine Bedenken getragen, sich von seiner Quelle 
zu entfernen, weil er zu erkennen glaubt, daß Polybios’ Erzählung 
hier recht mangelhaft und von mythischen Elementen durchsetzt ist. 
Er rechnet dazu, wiederum nach K. Lehmanns Vorgange, die Er- 
zählung?) von den Kundschaftern Hannibals, die Scipio aufgreift und 
in seinem Lager umherführen läßt, und die Unterredung der beiden 

1) Polyb. XV 6. 


2) Die Konrad Lehmann auf Ennius zurückführen will N. Jahrb. f. Philol. 
Bd. 158 S. 573 ff. 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 625 


Feldherrn. Das erste erweckt in der That Verdacht, weil es eine 
alte Geschichte ist, die schon Herodot') von Xerxes erzählt. Ich 
will nicht behaupten, daß dies unbedingt entscheidet, aber die Ge- 
schichte ist verdächtig; auch läßt sich nicht leugnen, daß bei Poly- 
bios zuweilen aus seinen rhetorisch angehauchten Vorlagen derartige 
Sachen hängen geblieben sind. Es liegt aber kein Grund vor, 
deshalb die Substanz der Erzählung anzufechten und die Unter- 
redung der beiden Feldherrn zu streichen. Ebenso gut könnte man 
dann noch weiter gehen und die Schlacht bei Zama leugnen. 

Der eigentliche Grund der Delbrückschen Combination ist die 
Schwierigkeit, die bei Polybios der Ort Naragara macht, bei dem 
die Schlacht statt fand. Naragara ist ein in Numidien drei Tage- 
märsche westlich von Zama liegender Ort, während er nach Polybios 
ganz nahe bei Zama liegen müßte. Um diese Schwierigkeit zu be- 
seitigen, hat Mommsen an ein zweites, gleichnamiges Naragara bei 
Zama gedacht?). Jedoch muß vor allem hervorgehoben werden, daß 
der Name Naragara gar nicht fest steht), denn bei Polybios ist 
Meoyaoov überliefert, und bei Livius XXX 29, 9 gibt zwar der Pu- 
teanus Naraggara, aber die gleichwerthige Recension des Spirensis 
Narcara, so daß es sehr zweifelhaft ist, ob Polybios den Ort wirklich 
Naragara nannte, womit den strategischen Combinationen Delbrücks 
vollends jeder Boden entzogen wird. 

Im 6. Buche, »Die Römer als Welteroberer«, durchfliegt der Ver- 
fasser die Geschichte nach dem zweiten punischen Kriege bis zu den 
Bürgerkriegen. Zuerst behandelt er die Kämpfe mit Makedonien 
und den Seleukiden. Bemerkenswerth sind hier (S. 362) seine auf 
praktische Versuche gestützten Untersuchungen über die makedoni- 
sche Phalanx und ihre Bewaffnung. Die Berichte über die Haupt- 
schlachten, bei Kynoskephalä, Magnesia und Pydna werden kurz kri- 
tisiert; am ungünstigsten beurtheilt er den Bericht über die Schlacht 
bei Magnesia, die freilich einen eigenartigen Verlauf genommen hat. 
Noch kürzer behandelt er das Spätere, die Kriege mit Mithridates und 
den Parthern. Die Ueberlieferung hierüber ist nach Delbrück (S. 400 ff.) 
so schlecht, daß es nicht der Mühe werth ist, sich mit ihr zu beschäf- 
tigen; besonders sind es wiederum die hohen Heeresziffern, an denen 
er Anstoß nimmt, aber auch in anderer Hinsicht scheinen ihm die 
Berichte äußerst mangelhaft, so daß eine wirkliche Kriegsgeschichte 
unmöglich ist. Es wird uns z.B. erzählt, daß Sulla vom Sommer 87 


1) VII 146. 
2) Hermes 20, 155. 
3) Konr. Lehmann hat diesen Thatbestand richtig hervorgehoben, Delbrück 
schweigt davon. 
Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 8. 42 


626 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


bis Frühling 86 v. Chr. Athen und den Piräus belagerte, während 
gleichzeitig ein großes mithridatisches Heer über den Hellespont 
nach Makedonien hinübergegangen war. Das ist unmöglich, sagt 
unser Verfasser; denn dieses Heer hätte ja die Römer bei der Be- 
lagerung Athens stören müssen, folglich hat es gar nicht existiert, 
es ist Phantasie der Berichterstatter, eitler Rhetoren, die den Din- 
gen selbst gleichgültig und unkundig gegenüberstanden, zu denen 
diesmal, wie ich hinzufügen darf, Sulla selbst gehört, der in seinen 
Denkwürdigkeiten diese Ereignisse erzählt hat, und der Stoiker Po- 
sidonius, einer der angesehensten Historiker des Alterthums. Auch 
hat Delbrück nicht beachtet, daß das mithridatische Heer in Make- 
donien sehr ernstlichen Widerstand fand, den es erst überwinden 
mußte, ehe es nach Griechenland gelangen konnte. Die Schlachten 
von Chäronea und Orchomenos ferner scheint der Verfasser für iden- 
tisch zu halten, was sich jedem, der es nicht verschmäht, die Ereig- 
nisse im Zusammenhange und nach den Quellen zu betrachten, so- 
fort als unmöglich herausstellen wird. Die beiden Schlachten sind 
durch eine Reihe von andern Ereignissen getrennt, vor allem 
durch das Eingreifen des Valerius Flaccus, des Rivalen Sullas. Sulla 
befand sich eben in etwas verwickelter Lage, da er nicht nur gegen 
Mithridates Krieg führen, sondern sich auch mit der inzwischen in 
Rom zur Herrschaft gelangten marianischen Partei abfinden mußte. 
Tigranes von Armenien endlich soll an 300000 Mann ins Feld geführt 
haben; nach Delbrück S. 404 ist diese Zahl ganz unmöglich, da er nur 
ein mittelgroßes Gebiet beherrschte. Ohne Zweifel sind die Heeres- 
ziffern des Tigranes stark übertrieben; unsere Ueberlieferung ') selbst 
läßt erkennen, daß hier nur eine oberflächliche Schätzung vorliegt. 
Aber Delbrück befindet sich in einem starken Irrthum, wenn er dem 
Gebiete des Tigranes nur eine mäßige Ausdehnung gibt. Er scheint 
es auf Armenien zu beschränken, während der König in Wahrheit 
große Theile Mediens, Mesopotamiens und Syriens beherrschte. Nicht 
minder flüchtig und von manchen Irrthümern durchsetzt ist die Be- 
handlung der Partherkriege. Die neueren, verdienstlichen Unter- 
suchungen Kromayers scheinen ihm unbekannt geblieben zu sein. 
Man thut dem Verfasser und dem Werke kein Unrecht, wenn man 
diesen Theil des Buchs als werthlos bezeichnet. 

Offenbar hat der Verfasser diese Abschnitte nur der Vollstän- 
digkeit halber hinzugethan; er eilt zum letzten Buche, den Kriegs- 
thaten Cäsars, wo er mit einer ihm sympathischen Persönlichkeit, 
einem großen Feldherrn zu thun hat, wo er auch wieder festen Bo- 


1) Am genauesten bei Plutarch Lucull. 26. 


Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 627 


den unter den Füßen hat. Der Stoff ist längst gesammelt und all- 
seitig verarbeitet; besonders in den Werken des Obersten Stoffel 
und des Engländers Holmes giebt es sehr nützliche Vorarbeiten. 
Zunächst werden die Feldzüge gegen Ariovist und Vercingetorix, 
dann die Bürgerkriege behandelt. Unter allen Theilen des Buchs 
ist keiner, in welchem die Delbrücksche Sachkritik so gerechtfer- 
tigt ist wie hier. Dies liegt an der Beschaffenheit der Haupt- 
quelle, der Commentarien Cäsars, die Delbrück nach meiner Meinung 
durchaus zutreffend würdigt (S. 516). Bei Cäsar ist in der That die 
höchste kritische Vorsicht geboten. Zu positiven Resultaten gelangt 
man freilich nur, wenn eine andere, bessere Ueberlieferung vorhanden 
ist, deren Spuren jedoch von D. nicht verfolgt werden. Auch hier wer- 
den die hohen Ziffern, besonders der Barbarenheere bekämpft. Del- 
brück verficht die Ansicht, daß die numerische Ueberlegenheit eher 
auf römischer Seite gewesen sei. Im übrigen wird wesentlich neues 
nicht gesagt; es findet sich manche Unklarheit und mancher Irr- 
thum, aber auch manche beachtenswerthe Vermuthung, z.B. über 
die Gründe des Auszuges der Helvetier, die beabsichtigt haben sol- 
len, den Aeduern gegen Ariovist zur Hülfe zu kommen. Dies sei 
der Erwägung des Lesers empfohlen, wobei ich jedoch nicht bemerkt 
finde, daß der Auszug der Helvetier schon 3 Jahre vor der Aus- 
führung geplant wurde, und daß damals die römische Provinz von 
Narbo sich ernstlich bedroht sah, woraus man über die Richtung des 
Zuges immerhin Schlüsse ziehen kann. 

In der Geschichte der Bürgerkriege erörtert Delbrück (S. 481. 
495 f.) die Möglichkeit, daß Cäsar seine Truppen aus Italien über 
Land durch Illyrien gegen Pompeius hätte führen können. Dieser 
Weg kann jedoch in Wahrheit nicht in Betracht kommen; er ist erst 
von Augustus nach langen und schweren Kämpfen eröffnet worden, 
für Cäsar oder Pompeius war er nicht gangbar. 

Kein Leser wird, denk ich, am Schluß das Delbrücksche Buch 
aus der Hand legen, ohne sich lebhaft angeregt zu fühlen, und 
darin liegt der eigentliche Vorzug des Werkes. Hingegen der un- 
mittelbare Werth für die Kriegsgeschichte des Alterthums ist nur 
gering. Eine solche kann nur auf den Quellen erbaut werden, 
während der Verfasser sich in seinen kritischen Bemerkungen von 
den Quellen lossagt und auf Wegen wandelt, wo er die Forschung 
nur mittelbar fördern kann. Man lernt aus seinem Buche zugleich, 
daß noch viele Theile der alten Kriegsgeschichte einer gründlichen 
Bearbeitung im hohen Grade bedürftig sind. Wie diese anzustellen 
ist, hat ktirzlich Kromayer an einigen Fällen gezeigt. Wenn die- 
ses rühmliche Beispiel Nachfolge gefunden hat, wenn auf solchem 

42* 


628 | Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


Wege Thatbestand und Bedingungen der Kriegführung festgestellt 
sind, dann wird man mit Nutzen das Delbrücksche Buch zur Hand 
nehmen und aus ihm Anregung und Belehrung schöpfen. Diejenigen 
hingegen, welche mit der antiken Kriegsgeschichte noch weniger ver- 
traut sind, wird es leicht in die Irre führen. 


Marburg, Juli 1901. Benedictus Niese. 


Waitz, H., Das pseudotertullianische Gedicht adversus Mar- 
cionem. Ein Beitrag zur Geschichte der altchristlichen Litteratur sowie zur 
Quellenkritik des Marcionitismus. Darmstadt (Joh. Waitz) 1901. VIII 158 5. 8°. 
Preis 5,60 Mk. 


Den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bildet ein in 
5 Biicher von durchschnittlich etwa 260 Versen eingeteiltes Poem, 
das 1564 zuerst von Fabricius unter dem Namen Tertullians publi- 
ciert worden ist und längst, obwohl Niemand es mehr diesem großen 
Afrikaner zuschreibt, in den Ausgaben seiner Werke einen festen 
Platz erhalten hat, gleichsam ein poetisches Seitenstück zu seinen in 
machtvoller Prosa geschriebenen 5 Büchern adv. Marcionem. Eine 
Handschrift des Gedichts existiert nicht mehr, der Text ist in sehr 
dürftigem Zustande; da auch die litterargeschichtlichen Fragen, die 
das der Originalität nicht entbehrende Werk anregte, keineswegs ein- 
fach zu beantworten sind, hat es die Aufmerksamkeit schon vieler Ge- 
lehrten auf sich gezogen. Neben E. Hückstädt hatte sich besondere 
Verdienste darum A. Oxe, der auch im Wiener Corpus script. eccl. 
eine neue Textausgabe veranstalten soll, erworben. Aber so wenig 
wir bisher einen zuverlässigen Text besitzen, so wenig ist ein Ein- 
verständnis über Zeit, Heimat, Quellen und kirchliche bzw. theolo- 
gische Stellung des Verfassers erzielt; eine neue Monographie über 
dies Thema kann sonach nicht überflüssig erscheinen. 

H. Waitz ist bei quellenkritischen Arbeiten über Marcion und 
die antimarcionitische Polemik auf unser Gedicht gestoßen und hat 
bei näherer Erforschung desselben neue Ergebnisse gewonnen, die 
er (wenn sie feststiinden, mit Recht) als für die Geschichte des 
Christentums und der Kirche im Abendlande nicht unwichtig er- 
achtet. In 3 Kapiteln behandelt er Heimat, Zeit und Quellen des 
Gedichts (S. 4—75), weist dann S. 76—112 die älteren Hypothesen 
über den Verfasser zurück, um von S. 112 an uns den wirklichen 
Verfasser in Commodian, dem bekannten Dichter der Instructiones 
und eines Apologeticum vorzustellen. Der lange Umweg, den der 


Waitz, Das pseudotertullianische Gedicht adversus Marcionem. 629 


Verf. da nimmt, ehe er uns sein Ziel verrät, der eine Reihe von 
Wiederholungen zur Folge hat und in andern Fällen Zeitverschwen- 
dung wäre, ist hier, weil Commodian auch eine ziemlich dunkle Ge- 
stalt für uns ist, berechtigt; W. bemüht sich ehrlich, die Rechnung 
mit unbekannten Größen nach ihren eigenen Gesetzen zu führen. 
Schade, daß er es doch auch nicht über einen in vielen Einzelheiten 
dankenswerten Beitrag zur Verfasserfrage hinaus und nicht zu einer 
abschließenden Darstellung dessen gebracht hat, was wir mit größe- 
rer oder geringerer Wahrscheinlichkeit über die Person des Anony- 
mus und den geschichtlichen Wert seiner Dichtung jetzt feststellen 
können. 

Die wichtigsten Resultate von Waitz sind: Das Gedicht ist afri- 
kanischen Ursprungs, es kann nicht viel später als Cyprian ange- 
setzt werden, gehört also (?) ins 3. Jahrh. Dazu stimmt auch das 
Ergebnis der Forschung nach seinen Quellen, unter denen obenan 
stehen ein von dem Unbekannten gemeinsam mit Irenaeus benutzter 
antignostischer Tractat, der eine römische, bei Anicet endende, Bi- 
schofsliste enthielt, wahrscheinlich Justins Syntagma, und eine von 
ihm wie von Tertullian verwertete Streitschrift wider Marcion, wahr- 
scheinlich des Theophilus von Antiochien Buch xard Magx/ovos, 
außerdem hat er den Hippdlytus gründlich studiert. Die Identificierung 
des Verfassers mit Commodian gründet W. — vielfach im Anschluß 
an Oxe, der allerdings unsern Anonymus nur als Nachahmer 
Commodians ansieht — auf beinahe wörtliche Uebereinstimmungen 
in der Schilderung der religiös-sittlichen Zustände in der Heidenwelt, 
auf Gleichheit ihrer Anschauungen über Kirche und kirchliche Einrich- 
tungen sowie ihrer theologischen Eigenart, ihre gleichartige Stellung 
zur h. Schrift und die Benutzung des gleichen Bibeltextes, die Be- 
kanntschaft mit den gleichen kirchlichen und Profanschriftstellern bei 
beiden, endlich (S. 137—153) eine ganz außergewöhnliche Ueberein- 
stimmung in Stil, Sprachgebrauch und Metrik beider Dichter. Den 
Nachweis, daß die äußeren Lebensverhältnisse, soweit sie feststellbar 
sind, zu dem Gesammtbilde passen, werden wir trotz S. 153—5 
Waitz gern erlassen, denn >eine gewisse Kenntnis des Hebräischen« 
verrät uns c. adv. M. sowenig wie Commodian, den bischöflichen 
Rang (»nur ein Mann in einer solchen Stellung konnte so ängstliche 
Sorge um die Neulinge im Christentum haben, wie sie c. a. M. IV 
11—15 verrät<!) finden wir weder für Commodian noch für den 
Verf. des carmen gesichert, und von dem syrischen Gaza als seiner , 
Heimat sollte man doch lieber nicht mehr reden. 

Ein bischen Uebereifer in der Ansammlung von Empfehlungen 
für das von dem Autor gewonnene Resultat und einige Ueberschätzung 


oH Giet. al. Awe 1561 Sr = 


4arcliuchlazeaden Pride dieser Umerswrusg werim Eur (wa 
schlimme Fehler verbindern. an denen sie 3300. arge Nectar n 
der Form und eine zu große Zahl unhakiarer. beweum rem ve- 
kehrter Debauptungen, luftiger Constructkece. Ge tus Verzemn 
auch zu dem solid Pundamestierten erschitiern 

Für die Nonchalance. mit der W. schreit. mt er Sur > ti 
sch nicht der kräftigste Beweis: >Und doch st es: ales wom 
als nebensachlich, von wo aus es die mancherlei Zastind „asnn- 
tet, die es zur Voraussetzung hat<. Schreibungen wie jsFus. Aer 
kus werden wol noch weniger Billigung als de schism. de_ -ur int 
natistarum) dial. c. tryph. (st. Trspbone) u. dgl finden. das Teieixcz 
ist die unglaubliche Unzuverlassigkeit der hier gerade so rahlreamer 
Citate. Als Beispiel nenne ich die kleine Iuvencusspalte 3. 72£. wt 
IV 790 in 791, sub-begit, in sub-eyii, II 303 in III 303 (oder m II 3=3°_ 
sequitur vestigia in vestigia sequetur, 1 154 in 1354, 1461 m I455.0 = 
in 1137 £, placidum in placidam, gaudia canta in g. cana zu Verbesserz 
ist; die falsche Stellenangabe für peccata renutti II 267 vermag ich nic 
zu rectificieren. Wie viel ist von dem Irenaeuscitat S. 50 n. 2: 4 
ixtog deu thy dzocıdiev xadloraraı Sveros wohl in Ordsze:: 
S. 39 wird uns ein Irenaeustext so verwirrt angeboten, daß er v= 
dem einen Gott Marcions aussagt, bonum esse ei bellorum comceapir- 
centem! Einige dieser Druckfehler, die überhaupt oft den Sinn ra 
nieren wie ignari st. wmorari, tectis st. lectis, angulos terrae x 
angelos t. lassen auf unzureichende Sprachkenntnisse schließen: 3. 9 
n. 1 wird ein tertullianisches fruticaverant in fructicaverant, S. 108 
de jud. Dom. v.135 fruticat in fructicat »verbessert« ; S. 108 schreit 
W. de jud. Dom. v. 158: mofantur sanguine venae als mutantfur, um 
es ohne eine Ahnung von der Verschiedenheit der Verba als Par- 
allele zu c. a. M. II 158 mutari .. sanguine vents anzubieten: eine 
andere Accentuation als dvriypisron begegnet nirgends. Waitz 
Vorschläge zur Textemendation sind selten einleuchtend, S. 119 
wird man wenigstens sicher nicht wegen Commod. Apol. 123 (gus 
formatur modo, <modo> se diffundit in auras) im c. a. M. 
IV 24 »Spirius, aeris est divisor, conditor, auctor< das divisor in 
diffusor verbessern dürfen, S. 122 ist die Conjectur dei munera sal- 
vus st. munere kaum möglich, da das Object zu cognoscat I 238 folgt: 
ammensum virtute deum; 8. 50 n. 1 wird ein apostolicis doch gar zu 
„fink »nach den Parallelen< in apostolis verwandelt, und ein aller- 
dings verdorbener Text c. III 298 wird durch Waitz’ Conjectur re- 
clusit st. reclusum nur noch corrupter. Von seinen Vorgängern eig- 
net er sich neben vorzüglichen auch recht zweifelhafte Emendationen 


Waitz, Das pseudotertullianische Gedicht adversus Marcionem. 681 


an, wie von Hückstädt (S. 63 n.) in c. II 234 mortua dejiciunt et 
rursus viva resurgunt statt des überlieferten deficiunt — von den 
Blättern der Bäume, von Blumen und Gras ist die Rede! — oder 
von Oxé S. 29 n. 2 das pedantisierende locuta est st. loguuniur in 
I 34 (Subject turba prophetarum); auch spiritu sancto dei st. spiritu 
deque dei erscheint mir unnötig. Der begreiflichen Neigung, den 
Text des c. a. M. nach den neuerdings veröffentlichten versus Victo- 
rini, einem wol im 8. Jahrh. mit kräftiger Ausplünderung unseres 
Gedichts fabricierten Cento umzugestalten, giebt m. E. Waitz zu viel 
nach. II 37f. z.B. liest er wie der Cento: hunc sequitur Joseph, 
cuius sine sorde juventa, carceris et dura conficta calumnia poena st. 
h. s. Joseph, foedae sine sorde juventae (d. h. der Mann mit der 
trotz seiner Schuldlosigkeit so erbärmlichen Jugend) carceris ei durae 
c. c. poenae; muß denn der Centoknöpfer überall noch einen besseren 
Text als Fabricius besessen und, falls er ihn hatte, ihn immer rich- 
tig verstanden haben? — Auch W. hat seine Texte nicht immer 
verstanden, S. 10 weist er zwar Hückstädts Träumereien über c. U 
186—8 gut ab, setzt aber schwerlich Besseres an die Stelle, wenn 
er darin den allgemeinen Gedanken findet, daß die christliche 
Wahrheit, reich wie sie ist, keiner äußeren Zeugnisse bedarf, son- 
dern sich durch sich selber rechtfertigt. Der Context läßt keinen 
Zweifel, daß die ganz spezielle Idee von Christus als dem zwei- 
ten Adam in diesen Versen gerechtfertigt werden soll in den Bahnen 
der Recapitulationstheorie. Gleichviel ob wir c. 125 partito gras- 
satus tempore oder praeterito lesen, nie heißt partito tempore, wie W. 
S. 11 es für Commod. Apol. 834. 184 fordert: >in der Mitte eines 
bestimmten Zeitraums«, sondern: während des ihm zugeteilten Zeit- 
raums oder zu der bestimmten Zeit. Instr. I 21,2 wird nicht wie 
c. III 14 Abel magister genannt (so Waitz S. 132 n. 2), sondern 
c. HI 14 heißt Abel pecudum magister, Instr. II 21 ist der apse 
magister, der von Abel unterschieden wird, Jesus. An derselben 
Stelle verwechselt W. zu Instr. I 36, 6 f. offenbar den Kainiten Enoch 
mit dem berühmten Offenbarungstriger. Mit rätselhaften Worten 
zwängt er in Commodians Apol. 314 f. »eine Kenntnis der Legende 
vom Grabe Adams auf Golgatha« hinein. Aehnliche Haarspalterei 
findet in dem ¢raditur c. IV 132 den Hinweis auf eine Auslegung 
Anderer und Aelterer, unmöglich aber einen auf die vom Dichter sel- 
ber in einer anderen Schrift gegebene Auslegung. Ich dächte, we- 
der das eine noch das andere, durch ¢raditur wird lediglich die vom 
Dichter gegebene Erklärung als überliefert, d. h. gut begründet 
empfohlen. 

Was die Thesen Waitz’ angeht, so stimme ich ihm am ent- 


632 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


schiedensten in der Ablehnung der vielen als Verfasser des c. adv. 
Marc. aufgebotenen Victorini bei, obschon ich bedaure, daß der Victo- 
rinus von Pettau bei dieser Gelegenheit so schlecht wegkommt, wie 
wenn er nur Uebersetzer gewesen wäre (S. 99 n.), gegenüber dem »geist- 
vollen< Commodian eine ältere Idee »geistlos weiterspinnend<, oder wenn 
sein Fragment de fabrica mundi >ein abgeschmacktes schriftstelleri- 
sches Produkt< heißt (S. 91 n. 3). Hoffentlich ist die Annahme einer 
Entstehung unsers Poems indernachnicänischen Zeit und seiner 
Abhängigkeit von Dichtern wie Ausonius oder Verecundus definitiv 
abgethan, fast möchte ich sagen, trotz Waitz, denn in seinen Be- 
weisen vergreift er sich hier bisweilen stark: der einzige durch- 
schlagende, aber auch völlig ausreichende Grund ist die rudimentäre 
und widerspruchsvolle Theologie des Verfassers. Die Annahme, daß 
Commodian der Verf. ist, hat Waitz ziemlich wahrscheinlich gemacht, 
während er es bei den reconstruierten Quellen (Justin und Theophi- 
lus) nicht über interessante Anregungen hinaus bringen konnte: daß 
er jene vermeintlichen Quellenwerke z.B. S.56 sogar zu charakteri- 
sieren wagt, >dieselbe klare und übersichtliche Gliederung des Stoffes, 
dieselbe gedrängte Art der Stoffbehandlung, dieselbe Vorliebe für 
kleinere historische Notizen, derselbe präcise Stil<, wo er doch nur 
ein paar abgerissene Zeilen vor sich hat, zeigt einen bei solchen 
Debatten bedenklichen Wagemuth. 

Daß ich die Hauptfrage, die nach Commodian als dem Verfasser 
des carmen a. M., ohne eigene Neubearbeitung des Stoffes immerhin 
noch nicht für erledigt halten kann, hat folgenden Grund. W. hat 
zwar ältere Vorarbeiten, wie namentlich die wertvollen Oxeschen 
Tabellen, geschickt benutzt und vielfach ergänzt, aber er hat die 
Arbeit nicht von Grund aus aufgenommen. Er stützt sich auf den 
gewiß vortrefflichen Index in Dombarts Commodianausgabe, zieht 
aber daraus Folgerungen wie (S. 121) über den Gebrauch der Prä- 
dikate omnipotens und summus für (oder neben) Gott in den Instruct. 
und im Apol., ohne nachzusehen, ob diese Verzeichnisse vollständig 
sein wollen, resp. unter welchem Gesichtspunkt sie angefertigt sind. 
Unzähliges bringt er als Beweise für Verwandtschaft des Commodian 
mit dem carmen a. M. vor, was Beide aus älteren Vorlagen schöpfen 
oder was sie der gemeinen Sprache ihrer Zeit entnehmen. Ueber 
das afrikanische Latein redet W., als wüßte er nichts davon, daß neuer- 
dings dessen Existenz ganz bestritten wird, aber auch wenn er diese 
für die Commodianthese nicht ausschlaggebende Behauptung glaubte 
ignorieren zu dürfen, mußte er bei dem grammatischen und lexikali- 
schen Detail etwas mehr als immer blos Commod. und c.a.M. bieten. 
Die Anfertigung eines genauen Index verborum et locutionum zu c. a. M. 


Waitz , Das pseudotertullianische Gedicht adversus Marcionem. 633 


wäre die erste Vorbedingung für abschließende Arbeit, nach einem 
solchen müßte der Index zu Commodian ergänzt werden und die an- 
dern Lateiner von Tertullian bis Arnobius und vielleicht noch etwas 
weiter herab in Auswahl sorgfältig verglichen. Eins der wertvollsten 
Beweismomente, das aus dem von den Autoren benutzten Bibeltext, 
wird bei W. mit ein paar Worten abgethan; weil eine so inter- 
essante Stelle wie Mt. 5, 22 mit elxi (sine causa) — Tertullians 
Bibeltext weiß von dem ein nichts — bisher in Instr. II 39,4 un- 
bemerkt geblieben ist, übersieht sie auch Waitz, und keine Silbe 
erfährt der Leser davon, daß c. a. M. IV 35 Eph. 3,15 so wieder- 
giebt: ex quo omnis patria in caelo terruque vocatur. Dies patria 
wird auch nicht unter den Gräcismen des c. a. M. notiert, zu denen 
es wahrhaftig gehört; m. W. ist noch kein Lateiner bekannt, der 
zereıa an dieser Stelle (anders liegt es Act. 3,25) patria übersetzt 
hätte. Bei Besprechung der Beziehungen zwischen dem carmen a. M. 
und Cyprian ist W. stolz auf seine (auf Victorini versus gegriindete) 
Beobachtung, daß beide den letzten ATlichen Propheten Malachiel 
nennen und daß der Wortlaut von Jes. 54,1 bei Cyprian Test. I 20 
genau mit dem c. III 9f. übereinstimmen. Allein die Malachiel- 
stellen bei Cyprian werden nur in einer Handschrift (W) überliefert, 
von allen andern, auch der besten, L, ausgelassen, mindestens die 
Schreibung des Namens ist dadurch als cyprianische beinahe unhalt- 
bar geworden, und Jes. 54,1 lautet bei Cyprian nach den allein zu- 
verlässigen Zeugen: Jocundare, sterilis, im c.a. M.: laetare, o sterilis. 
Bei Vergleichung der Berichte über die vier Prophetenmärtyrer Je- 
saias, Jeremias, Zacharias, Johannes in c. a. M. III 173 ff. und bei 
Commod. Apol. 221 f. 513 ff. wird nicht mitgeteilt, daß im carmen 
jene 4 verstreut in einer Aufzählung aller Propheten auftreten, bei 
Commod. dagegen wie bei Tert. und bei Ps-Cypr. adv. Judaeos für 
sich allein. Sectum ligno c. III 177 soll einen Hinweis auf den Baum 
enthalten, in den sich Jesaias flüchtete — ich meine, auf die Holz- 
sige, mit der ihn die eine Form der Legende zerschneiden läßt —; 
und während von der Reihenfolge Esaias, Hieremias bei Commod. 
und im c.a.M. viel Aufhebens gemacht wird (gegenüber Tert. und Ps- 
Cypr.: Hierem., Esaias), bleibt die weit interessantere Frage, an wel- 
chen Zacharias jeder der genannten Autoren gedacht habe, die 
allerdings tief in die Geschichte der Exegese hineingeführt hätte, 
unangeschnitten. Ein Argument wie S. 116, daß Commod. Instr. I 
22,15 die gleiche Abneigung gegen die Institution der doctores 
zeige wie c. a. M. IV 3, kann trotz S. 15 kein Sachkundiger ernst 
nehmen ; diese »Kategorie von Gemeindebeamten< ist erträumt, 


684 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


da lediglich ein unschuldiger Rückblick des Dichters auf Jac. 3, 1 
neben Mt. 23,8 und II Tim. 4, 3 vorliegt. 

So nötigt Vieles zur Zurückhaltung in der Annahme von Waitz’ 
Vorschlägen, immerhin hat er auf ein noch nicht genügend gewür- 
digtes Ueberbleibsel der ältesten Poesie aus der lateinischen Kirche 
mit manchen verdienstlichen Untersuchungen und Tabellen neu die 
Aufmerksamkeit gelenkt, und auch darin, daß er es später als Com- 
modians Instr. und Apolog., wenngleich von demselben Poeten ver- 
faßt, ansieht, m. E. richtigen Tact bewiesen. 


Marburg, Juni 1901. Ad. Jülicher. 


Meyer, Ph., Die theologische Litteratur der griechischen Kirche 
im sechzehnten Jahrhundert. (Studien zur Geschichte der Theologie 
und der Kirche III 6). Leipzig, Dieterich (Theodor Weicher) 1899. XII u. 
179 S. Preis 4 M. 


Nachdem Philipp Meyer sich durch seine »Haupturkunden für 
die Geschichte der Athoskléster< sowie durch eine Reihe von Ar- 
tikeln in den »Theologischen Studien und Kritiken<, der » Zeitschrift 
für Kirchengeschichte<, der »Theologischen Literaturzeitung<, der 
»Byzantinischen Zeitschrift« und endlich in der 3. Auflage der 
Hauckschen »Realencyklopädie< als einen der wenigen evangelischen 
Theologen ausgewiesen hat, welche sich in der neueren Geschichte 
der griechischen Kirche umgesehn haben, kann es nur mit Freuden 
begrüßt werden, wenn er seine Vorarbeiten und Studien nunmehr zu 
einem ausführlichen und abschließenden Werke zusammenfaßt. Das- 
selbe gilt speziell der von der neueren griechischen Kirche seit 
1453 hervorgebrachten theologischen Litteratur und schließt sich da- 
her ergänzend dem Abschnitte an, welchen A. Ehrhard für die 2. 
Auflage der Krumbacherschen »Geschichte der byzantinischen Litte- 
ratur< geliefert hat. Der Plan zu diesem Unternehmen stammt be- 
reits aus den achtziger Jahren, als Philipp Meyer noch Pfarrer der 
deutschen evangelischen Gemeinde in Smyrna war. Da aber die 
Herbeischaffung der nötigen Materialien einen großen Zeitaufwand 
verursachte und den Abschluß der Arbeit peinlich verzögerte, so 
bietet Verf. einstweilen der gelehrten Welt in der vorliegenden 
Theologischen Litteratur der griechischen Kirche im sechzehnten 
Jahrhundert< als einem ersten Teile eine Abschlagszahlung. 

Er hat seine guten Gründe für diese Abgrenzung. Die Er- 


Meyer, Die theologische Litteratur der griechisch. Kirche im sechz. Jahrh. 635 


oberung von Konstantinopel, ein welthistorisches Ereignis ersten 
Ranges, hat gleichwohl nicht sofort auch auf dem Gebiete der Wis- 
senschaft eine Umwälzung herbeigeführt. Vielmehr zehrt man noch 
eine Reihe von Jahren vom Erbteil der Väter, bis erst im 16. Jahr- 
hundert die Einwirkungen des Abendlandes, die Unionsversuche der 
Jesuiten, die Auseinandersetzungen mit den Protestanten der grie- 
chischen Theologie einen anderen Charakter geben. Zugleich sieht 
sich der Klerus angesichts der wachsenden Unfähigkeit des Volkes, 
die altgriechische Kirchensprache zu verstehn, nach einigem Zögern 
schließlich dazu gezwungen, den Gläubigen das Wort Gottes in ihrer 
Sprache zu übermitteln und damit eine bisher völlig unbekannte 
Erbauungslitteratur im Volksdialekte zu schaffen. Das Alles sind in 
der Tat charakteristische Momente, welche auf dem Gebiete der 
griechischen Theologie nötigen, als zeitliche Grenze zwischen Mittel- 
alter und Neuzeit rund das Jahr 1500 festzuhalten. 

Schwerer ist es einzusehen, warum Verfasser sich vorerst mit 
einer Darstellung der Litteratur des 16. Jahrhunderts begnügt. Es 
sind indessen nicht blos praktische Rücksichten, welche ihm diese 
Beschränkung auferlegt haben. Vielmehr hat auch die griechische 
Kirche trotz allem Konservatismus in der Neuzeit ihre Entwicklungs- 
phasen durchgemacht, von denen die erste durch die Ablehnung der 
Tübinger Lutheraner und den Widerspruch gegen die Kalender- 
reform Gregors XIII. charakterisiert wird und sich also etwa mit 
dem 16. Jahrhundert deckt. Ein ruhiges Zurückgreifen auf die 
orthodoxe Lehre und eine konziliante die Gegner bis zu einem ge- 
wissen Grade anerkennende Form sind den griechischen Theologen 
damals eigen. Von Aufklärung ist noch keine Spur zu bemerken 
und ein Einfluß der abendländischen Bildung auf das griechische 
Volk nirgends nachweisbar. In diesen ihren Eigentümlichkeiten son- 
dert sich daher die theologische Litteratur jener ersten Periode von 
derjenigen der drei folgenden Geschichtsabschnitte, welche durch 
die Patriarchennamen Kyrillos Lukaris, Jeremias III. und Gregor VI. 
gekennzeichnet sind. 

Daß Verf. dieses zeitlich klar abgegrenzte Gebiet nunmehr stoff- 
lich gliedert, liegt ziemlich auf der Hand. Aber man muß sich hü- 
ten, aus dem Umfange, welcher den einzelnen Disziplinen in der 
Meyerschen Behandlung zuteil wird, sichere Schlüsse auch auf ihre 
einstige Bedeutung für das kirchliche Leben im 16. Jahrhundert 
ziehn zu wollen. Erst gegen Ende, jedenfalls erst in der zweiten Hälfte 
des 16. Jahrhunderts kommt neues Leben in die systematische Theologie 
durch die Polemik gegen Jesuiten, Lutheraner und Sekten. Gleich- 
wohl nimmt die Besprechung dieser systematischen Schriften bei 


636 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


Meyer die erste Stelle ein und füllt zugleich das halbe Buch. Un- 
ter ihren zwölf Titeln sind einige entschieden von allgemeinerem 
Interesse. Der klassisch gebildete Pachomios Rhusanos ver- 
teidigt in temperamentvoller Weise die Orthodoxie gegen wirkliche 
und vermeintliche Ketzer. Nicht minder bekämpft er die sittlichen 
Schäden im Volksleben und speziell die Laxheit der Idiorrhythmiker 
im Kloster, welche vom gemeinsamen Leben der Mönche nichts wis- 
sen wollen: eine nicht uninteressante Zeiterscheinung, auf welche 
Verf. bereits in seinen »Haupturkunden für die Geschichte der 
Athosklöster« näher eingegangen ist. Eine Schrift ist an den >Fra 
Marti Luteri< gerichtet; aber ihr Inhalt, der die sittliche Berechti- 
gung der Wallfahrten zum heiligen Lande darlegt, scheint in der 
Hauptsache einer griechischen Adresse zu gelten. Kartanos war in 
verdienstlicher Weise bestrebt, die religiöse Bildung des gemeinen 
Mannes zu fördern, freilich nicht ohne daß er sich dabei mancherlei 
dogmatische Inkorrektheiten zu schulden kommen ließ. Rhusanos 
weiß mit Sicherheit diese schwachen Stellen aufzuspüren und wird 
nicht müde, den in der Vulgärsprache schreibenden unwissenschaft- 
lichen Phäaken und seine Sekte an den Pranger zu stellen. Mele- 
tios Pegas, Patriarch von Alexandrien, einer der bedeutendsten 
griechischen Gelehrten und Kirchenfürsten in der zweiten Hälfte des 
16. Jahrh., beherrscht vortrefflich die klassischen Sprachen und ist in 
der Bibel wohl bewandert. In seiner Polemik gegen Katholiken, 
Protestanten und Juden zeigt er Milde, Weitherzigkeit und allge- 
meine Gesichtspunkte. Sein Hauptwerk ist eine Monographie über 
das Wesen der Kirche. Maximos Margunios und Gabriel 
Severos leben, obwohl der eine Bischof von Cerigo, der andere 
Metropolit von Philadelphia, dauernd in Venedig und streiten über 
die große Frage der Zeit. Denn der geistvolle und philosophisch 
gebildete Margunios denkt gering von den Unterscheidungslehren der 
beiden katholischen Kirchen und empfiehlt in seinen Schriften über 
die Lehre vom Ausgang des heiligen Geistes die Union; er ist nahe 
daran, mit der Inquisition in Berührung zu kommen. Ihm gegen- 
über verficht Severos, ein Mann der Praxis, der als Priester an 
St. Georg in Venedig eine reich gesegnete Tätigkeit entfaltet, die 
ausschließliche Giltigkeit des griechischen Dogmas. Und die Tat- 
sache, daß dieses damals von Bellarmin schlechtweg als häretisch 
bezeichnet wurde, war nur allzusehr dazu angetan, daß man seiner 
ablehnenden Haltung in der Unionsfrage vollauf recht gab. Der 
kraftvolle Patriarch Jeremias II. spielt gegen Ende des Jahr- 
hunderts in der Kirchengeschichte des Ostens eine respektable Rolle. 
Zwar steht er den Wissenschaften ziemlich fern, aber unter seinem 


Meyer, Die tbeologische Litteratur der griechisch. Kirche im sechz. Jahrh. 637 


Namen gehn neben verschiedenen Erlassen, welche sein kirchliches 
Selbstgefühl gegenüber römischen Annäherungsversuchen zum Aus- 
druck bringen, vor allem die Acta et scripta, welche in den sieben- 
ziger Jahren zwischen Tübingen und Konstantinopel gewechselt wur- 
den; sie legen von der griechischen Selbstgenügsamkeit ein nicht 
minder charakteristisches Zeugnis ab. 

Weit anziehender als diese Produkte einer versteiften und sich 
stets in denselben Kreisen bewegenden Orthodoxie wirken indessen 
die Erbauungsschriften, welche das zweite Kapitel des Meyerschen 
Buches ausmachen. Nur die wenigsten von ihnen sind hochgriechisch 
geschrieben. Denn die klassische Sprache behauptete sich nach dem 
Zusammenbruch der alten Bildungsanstalten zwar noch im Kultus 
und hielt dadurch den Zusammenhang zwischen der Kirche der Vä- 
ter und der Kirche der Gegenwart aufrecht, aber sonst war sie zu 
einem Vorrechte kleiner Kreise zusammengeschrumpft. Wollte man 
daher an das Gros der Gemeinde selbst herankommen können, so 
war man genötigt, das Wort Gottes in der allgemein verständlichen 
Volkssprache darzubieten. Eine Opposition der Konservativen gegen 
die Neuerung ward leicht überwunden, denn rasch widmeten sich 
die besten Kräfte dieser zeitgemäßen Gattung der religiösen Litte- 
ratur. Den Anfang machen Volksschriften, deren religiös-moralischer 
Inhalt allgemeinerer Natur ist, die neben der kirchlichen Frömmig- 
keit auch den Aberglauben und Volksglauben zur Darstellung brin- 
gen und gewissermaßen den Einfluß des Christentums auf das welt- 
liche Leben repräsentieren. Da findet man Schilderungen der Pest, 
des Erdbebens, einer Hadesfahrt mit erbaulichen Nutzanwendungen. 
Zu solchen muß ein anderes Mal die Geschichte von Susanna und‘ 
Daniel den Anlaß bieten. Neben der Klage über die Vergänglich- 
keit des Lebens und neben einem Lehrgedicht von den bösen und 
guten Weibern findet sich die Opferung Isaaks als legendarisch aus- 
geschmücktes geistliches Schauspiel. Ein Schulbuch stellt den Haupt- 
tugenden die Hauptlaster gegenüber, und den Sohn geleiten triviale 
Moralitäten und Lebensweisheiten vom Elternhause in das Treiben 
der Welt. Steht bei all diesen Stücken der Verfasser ziemlich 
im Hintergrunde, so weist die kirchliche Erbauungslitteratur im 
engeren Sinne, die etwas später in die Erscheinung tritt, mehrere 
scharf markierte Physiognomieen auf, die sich charakteristisch von 
den sonstigen Alltagsgesichtern abheben. Mit dreien hat Philipp 
Meyer die theologische Welt bereits durch einen Artikel in den 
»Theologischen Studien und Kritiken« 1898 bekannt gemacht, mit 
Kartanos, Rharturos und Damaskinos. Von dem bereits genannten 
Kartanos, dem das Lebensglück — ob mit, ob ohne seine Schuld, 


638 Gött. gel. Anz. 1%1. Nr. 8. 


mag dahin gestellt bleiben — wenig hold war, besitzt die griechische 
Kirche ein merkwürdiges Konglomerat von dogmatischen, historischen, 
ethischen und liturgischen Materien, welches ausgesprochenermaßen 
das Volk mit allen diesen Gegenständen bekannt machen will und 
deshalb die Vulgärsprache gewählt hat. Zwar zeigt die ganze An- 
lage den Dilettanten und kritiklosen Stümper, der Echtes und Apo- 
kryphes durcheinanderwirft, und dem es auf eine Hand voll Hetero- 
doxieen nicht ankommt, weshalb Pachomios Rhusanos im Namen der 
Orthodoxie vor dieser gefährlichen Lektüre warnte. Aber andere 
Partieen wiederum, besonders die ethischen Traktate und eine vor- 
treflliche Erklärung des Vaterunsers, sind zum Gemeingut des grie- 
chischen Volkes geworden und behaupten sich an Popularität ent- 
schieden neben den Heiligenerzählungen seines erbitterten Gegners. 
Nicht ohne Bedeutung sind des Rharturos blumenreiche Fasten- 
predigten. Indessen treten sie entschieden zurück hinter dem The- 
sauros des Damaskinos, einem vielfach aufgelegtem Werke, aus 
dem man in den Dorfkirchen vorlas, das der kirchlichen Volkslitte- 
ratur eigentlich erst die Wege ebnete und das heute noch in Vene- 
dig gedruckt wird. Es ist eine Sammlung von hagiographischen und 
Perikopenpredigten, die im Anschluß an die Väter und ohne jede 
römische Anwandlung die Linie der griechischen Orthodoxie streng 
einhalten. Diesem sicheren Takte entsprechend hat Damaskinos auch 
aus dem Werke des Kartanos die unzweifelhaft wertvollen Partieen 
ausgeschieden und ihnen durch Aufnahme in seinen Thesauros zu 
einer Verbreitung verholfen, an der sie wohl sonst der anrüchig ge- 
wordene Name ihres Verfassers gehindert hatte. Und nicht minder 
sind als ein Erbauungsbuch die Heiligenleben des geistvollen Maxi- 
mos Margunios gedacht, die noch im 17. Jahrhundert überaus 
häufig gelesen wurden. Man bedauert mit dem Verf. sich bei die- 
sen wenigen Proben griechischer kirchlicher Volkslitteratur begnügen 
zu müssen, und man stinmt gern mit ihm in den Wunsch ein, daß 
die Zahl derjenigen Gelehrten wachsen möge, die uns aus den Hand- 
schriften immer neues Material dieser Art zu Tage fördern. Denn 
bei diesen Schriften fallen die engen Schranken der Schuldogmatik, 
von ihnen aus kann man allein in das Wesen der griechischen Kirche, 
in die Lebensideale der griechischen Frommen befriedigende Ein- 
blicke gewinnen. 

Soviel über den Inhalt der beiden umfangreichen Hauptkapitel. 
Außer ihnen bietet etwa noch die von Meyer an fünfter Stelle ge- 
nannte kirchenhistorische Litteratur allgemeineres Interesse. Alles 
Uebrige hingegen, Liturgie, Bibel und Exegese, Kirchenrecht, Edi- 


Meyer, Die theologische Litteratur der griechisch. Kirche im sechz. Jahrh. 639 


tionen, kommt nicht über den Standpunkt dürrer Namensverzeichnisse 
hinaus, so daß das ganze Buch ziemlich matt ausklingt. 

Ueberhaupt hätte sich wohl aus dem Stoffe etwas Anmutigeres 
machen lassen. Freilich handelt es sich in der ganzen Schrift ja nur 
um ein Verzeichnis von Namen und Titeln, und mehr hat Meyer über- 
haupt nicht geben wollen. Bereits einen Einblick in das litterarische 
Treiben des 16. Jahrhunderts zu bieten, lag ihm noch durchaus fern. 
Es galt und gilt nach seiner eigenen Erklärung noch immer in erster 
Linie, das weitschichtige, aber schwer zugängliche Material über- 
haupt erst einmal herbeizuschaffen, zu ordnen und zu sichten, ehe 
Spätere mit Hülfe dieser Bausteine es wagen können, ein wirkliches 
litterarisches Gebäude aufzuführen. Das sind Alles unzweifelhafte 
Tatsachen. Trotzdem wäre es möglich gewesen, hier und da bereits 
so etwas wie ein Stückchen Bauriß, eine kleine harmlose Skizze dar- 
zubieten, dem Verfasser zur Ermutigung, dem Leser zur Belohnung. 
Es ist keine behagliche Arbeit, sich durch diesen Katalog durchzu- 
arbeiten, und doch ist er geschrieben, um gelesen zu werden. Auch 
ich habe mich dieser Mühe unterzogen, und zwar um dadurch in ein 
mir noch völlig fremdes Stück Kirchengeschichte eingeführt zu wer- 
den. Aber ich habe mich, indem ich die Sache pflichtgemäß er- 
ledigte, wiederholt fragen müssen, ob man sie dem Anfänger nicht 
hätte bedeutend leichter und freundlicher gestalten können. Es 
ist doch gar zu viel Knochengerüst und zu wenig Fleisch in dem 
ganzen Buche. Und obendrein sind die bibliographischen Notizen 
und die kirchen- und kulturhistorisch anziehenden Resultate nicht 
klar geschieden. Der Leser muß beständig über dürre Stoppelfelder 
wandern, wenn er ein Blümlein pflücken will. Für solch eine Ar- 
beit bedarf es der Scheidung der Materialien durch einen zwiefachen 
Druck. In Text und Anmerkungen muß getrennt werden, was in- 
haltlich nicht zusammengehört, damit der Leser rasch findet, was 
ihn interessiert, der eine die Bibliographie, der andere die litterar- 
geschichtlichen Auseinandersetzungen, der dritte die inhaltlichen Er- 
gebnisse von allgemeinerer Bedeutung. 

Eine solche Gruppierung des Stoffes dürfte obendrein ebenso- 
wohl dem Stile wie der sorgfältigen Durchführung der Einzelheiten 
zu Gute kommen. Dagegen sieht man bei der gegenwärtigen Anlage 
der Schrift nur allzu oft im Geiste das Konzept vor sich mit seinen 
Kürzungen, Zusätzen und daraus entstandenen Unebenheiten, denen 
die letzte glättende Hand nicht zuteil geworden ist. Dahin gehört 
das häufige und obendrein zwecklos wechselnde (»Ich« und »Wir«) 
Personalpronomen, wenn der Verfasser von sich, seinen Bemühungen, 
seiner Privatbibliothek spricht (Vgl. S. 20: So kann ich mich doch 


640 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


auf eine Reihe trefflicher Vorarbeiten stiitzen. Wir nennen zuerst 
u.s. w.). Dahin ferner unschöne Wiederholungen (S. 24: Vor allen 
haben die Griechen u.s. w. Namentlich haben sie sich u.s.w. Auf 
die innere Entwicklung der Theologie haben sie u.s.w. S. 71: Er 
wurde der Inquisition verdächtig u.s.w. Er knüpfte mit vielen Ge- 
lehrten u.s.w. Er starb in der Nacht u.s.w. S. 85: Doch hat er in 
Padua studiert. Er führte u.s.w. In der zweiten Hälfte des Jahr- 
hunderts hielt er sich u.s.w. Er war Priester u.s.w. S. 122: 
Quellen — Hauptquelle). Dahin drittens die Härte, den Artikel vor 
Eigennamen zu setzen, wo er entbehrlich ist, und ihn ein anderes 
Mal wegzulassen, wo er um der Verständlichkeit willen dringend not- 
wendig wäre (S. 17: Den Franz Budde, den Hauptvertreter. S. 35: 
Litteratur über den Manuel. S.89: Auf den Jeremias; übrigens ist 
hier das sinnstörende Komma zu streichen. Dagegen der harte Da- 
tiv S. 46: Gennadius Scholarius liegt es nahe). Dahin endlich irre- 
führende Wechsel der Konstruktion (S. 90: Schüler des H. von M., 
A. von T. und dem Studiten Damaskinos. S. 132: Die Ideen der 
Vergeltung, vom Gehorsam gegen die Kirche und von der Askese. 
S. 147: L. P., Metropoliten von Cypern und L. de B., dem Metro- 
politen von Rhodos). Unbeholfen klingt der Uebergang S. 20: Wie 
ich oben bemerkte, ist nun ein kurzer Ueberblick über die Litteratur 
zu geben. Ebenso eine Stelle wie S. 85: Der Titel des Werkes lau- 
tet u.s. w. Der Titel fährt nun fort. Ueberhaupt ist an stilistischen 
Versündigungen in dem Buche kein Mangel, so daß man manchen 
Satz lesen und wieder lesen muß, ehe man sicher weiß, was Verf. 
hat sagen wollen. S. 33: Die systematische Litteratur hat aber (statt: 
zwar) nie ganz geruht u.s.w. Doch erst am Ende des Jahrhunderts 
u.8.w. Schief sind die Sätze S. 54f.: Den Protestanten gegenüber 
stand er milder, wiewohl auch er an eine Union nicht ernstlich 
dachte. Doch scheint er von protestantischen Gedanken nicht unbe- 
einflußt zu sein. Auch verteidigte er das Christentum gegen die 
Juden. Misverständlich lautet S.86: Zum Vierten fragt der Kardinal 
nach dem Charakter des Opfers in der Eucharistie, ob es ein Dank- 
oder ein Sühnopfer sei. Der Grieche läßt es beides sein. 
Nicht minder dunkel klingen S. 86: Väter und Synodalbeschlüsse 
bilden den Grund; S. 91: Nach außen hin hob er das Ansehen der 
Kirche durch den Anschluß an Rußland, denn das bedeutete für 
ihn der neue Patriarchat im Norden; S. 99: Nur die Anordnung ist 
eigen (= Eigentum des Autors). Unerlaubt ist eine Beziehung auf 
die Ueberschrift wie S. 105: Zweites Kapitel. Die Erbauungslitteratur. 
Hiermit betreten wir ein Gebiet u.s. w. Eine fatale Härte bringt 
S. 131: Die Kirche ist die Heilsvermittlerin durch Kultus und Sakra- 


Meyer, Die theologische Litteratur der griechisch. Kirche im sechz. Jahrh. 641 


mente. Misverständlich sind S. 144: In der Zeit (statt: In dieser Z.); 
S. 147: Inhalt die drei Hauptliturgien (statt: Die Ausgabe enthält 
die drei H.). Daran reihen sich eine Menge von Flüchtigkeiten und 
Wunderlichkeiten (S. 28: Beachtbaren Katalog; S. 52: Er breitet 
sich dann in diesem Sinne über die Sache weiter aus; S. 55: Bei 
aller Polemik hielt sich Mel. u.s.w. und betont; S.97: Daß er 
nicht Selbständiges bringen wolle; S. 101: Daß Rom darum den 
ersten Rang unter den Bistümern erhalten, weil Petrus dort den 
Märtyrertod erlitten; S. 105: Seit langem; ebendas.: Entpupt; 
ebendas.: Wie ihn Niemeyer abgedruckt; S. 128f.: Der dritte Da- 
maskinos ist gewesen — gilt — und war; S.131 : Der Sakramente sind 7). 

Es scheint vielleicht kleinlich, derartige Nachlässigkeiten und 
Unrichtigkeiten in einem Buche zu rügen, bei dem der Verf. auf 
andere Dinge Wert zu legen gehabt hat als auf peinliche Stilkorrekt- 
heit. Laufen solche Kleinigkeiten ja doch jedem Schriftsteller einmal 
mit unter. Aber sie müssen hier berührt werden, da sie für die 
ganze Arbeit charakteristisch sind. Der unfertige Zustand des Kon- 
zeptes tritt überall zu Tage und beleidigt auch auf andern Gebieten. 
Mit der Orthographie ist es heutzutage zwar eine misliche Sache, 
aber man kann sich doch wenigstens konsequent bleiben und braucht 
nicht zu schwanken zwischen Cardinal (S. 85) und Kardinal (S. 86), 
Constantin (S. 102) und Konstantinopel (S. 64), Corinthios (S. 35) 
und Korinthios (S. 120), Pachomius (S. 40) und Pachomios (S. 41), 
Margunios (S. 70) und Margunius (S. 74), Demetracopulos (S. XI) 
und Demetrakopulos (S. 69), Hellenomnemon (S. XI) und Helleno- 
mnimon (S. 120), an St. Georg und an St. Johannis Baptista (S. 125); 
am allerwenigsten aber in solchen Fällen, wo dem Leser Zweifel in- 
betreff der Identität aufsteigen könnten wie bei Buddeus und Budde 
(S. 17), luthersch (S. 45) und lutherisch (S. 46); oder bei selteneren 
Namen und Titeln, mit denen der Neuling auf dem Gebiete der by- 
zantinischen Geschichtswissenschaft ohnehin seine Last hat. So wird 
nicht jeder gleich ohne Weiteres einen Cod. Ath. (S. 123) für einen 
Athous (S. 127) ansehn, und ebensowenig trägt es zur Uebersicht- 
lichkeit bei, wenn auf derselben Seite (133) Cod. 1169 Athous neben 
Cod. Athous 2128 steht. Bei einer Lektüre dieser Art wird das 
Auge von jeder Unregelmäßigkeit besonders peinlich berührt. Die 
Tugend eines Katalogs besteht nicht blos in seiner sachlichen Rich- 
tigkeit, sondern zugleich in seiner äußeren Sauberkeit. Und an die- 
ser hat es Verf. leider sehr oft fehlen lassen. Auf Schritt und Tritt 
fragt man sich, ob hier eine beabsichtigte Unterscheidung oder ein 
bloßes Versehn vorliegt. Und man gerät nicht gerade in die ange- 
nehmste Stimmung, wenn man immer und immer wieder das letztere 
konstatieren muß. 

Gött. gel. Anz. 1001. Nr. 8. 43 


642 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


Die Art und Weise, wie Verf. die Litteratur zu citieren beliebt, 
ist auch oft unerfreulich. Bei bekannten Werken mag es noch hin- 
gehn, wenn bald Herzog R. E?. Bd. 4 (S. 25), bald blos Herzog’, 
aber daneben Bd. II (S. 20), bald wieder Herzog Realencyklop.* 
(S. 128) geschrieben wird. Dasselbe gilt, wenn bei der »Byzantini- 
schen Zeitschrift« bald die Bände (S. 32), bald die Jahrgänge (S. 47. 
99) genannt werden. Und ebenso mag es hingehn, wenn das be- 
ständig als »Krumbacher?< herangezogene Werk mit einem Male 
S. 111 überflüssiger Weise als »Krumbacher, Gesch. der byz. Litt.*« 
erscheint. Aber schön sieht es gleichwohl nicht aus. Auch nicht, 
wenn wir neben Hist. eccl. Rit. (S. 119) noch Hist. Eccl. Rit. (S. 142) 
und sogar, was jedenfalls irreführend sein kann, H. E. Rit. (S. 144. 
145) lesen. Ebenso wechseln Gr. orth. (5.102), Graec. orth. (S. 103), 
Graecia orthodoxa (S. 29) und Graecia Orthodoxa (S. 77). Ein vom 
Verf. viel gebrauchtes Werk führt den wechselvollen Titel Bibl. 
grecque vulgaire (S. 107), Bibl. Grecque vulgaire (S. 109), Bibl. gr. 
vulg. (S. 103), Bibl. Gr. vulg. (S. 111). Besser bekannt als mit die- 
sem modernen Sammelwerk Legrands ist wohl der Leser mit dem 
alten Fabricius; trotzdem sieht er nicht ein, warum derselbe als Fabr. 
Bibl. Gr. ed. Harl. (S. 69), Fabr. Bibl. Gr. (S. 116), Fabr. Harl. B. 
Gr. (S. 119), Fabr. Harl. Bibl. Graec. (S. 128), Fabr. Harl. (S. 135), 
Fabr. Harl. a.a.O. (S.96) abgekürzt und variiert werden muß. Auch 
habe ich erst eine Stichprobe machen müssen, ehe ich glauben konnte, 
daß die hinter Migne (S. 36) oder Migne Pr. Gr. (S. 38) stehenden 
ebenso auffallenden als überflüssigen Buchstaben B. und C. nichts 
anderes als Band und Kolumne bezeichnen solleu; denn zur Ab- 
wechselung erscheint wieder Migne C. (S. 39) oder Migne a.a.0. C. 
(S. 40). Dieser Mangel an Ordnung im Citieren führt fort und fort 
zu Weitschweifigkeiten, ohne daß dem Leser daraus irgend ein Vor- 
teil erwiichse. So S. 113: Ueber u.s.w. hat neuerdings Hesseling 
gehandelt in der oben S. 108 genannten Schrift. Warum nicht ein- 
fach : Vgl. Hesseling, Charos? zumal dieser Titel zwei Zeilen später 
schon wieder begegnet. Oder: Wie man bei Legrand nachsehn wolle 
(S. 127). Oder: Welches Werk hier auch heranzuziehen ist (S. 55). 
Oder S. 120: Wie ich in dem oben genannten Artikel in den Theol. 
Studien und Kritiken nachgewiesen habe. Unnütz breit und doch 
ungenau. Nun kann der Leser wieder auf die Suche nach dem »Oben« 
gehn. In der Regel habe ich dabei Erfolg gehabt, zuweilen aber 
verlor ich die Geduld und gab die Jagd auf, z.B. bei dem »Oben« 
auf S. 128. Auch das trägt nicht zur Annehmlichkeit bei, wenn ein 
obskurer Theologe wie Zacharias Skordylios (S. 85) bald mit dem 
einen, bald mit dem andern Namen genannt wird. Unwillkürlich 
stutzt der Leser und fragt sich, von wem denn eigentlich die Rede 


Meyer, Die theologische Litteratur der griechisch. Kirche im sechz. Jahrh. 643 


ist. Auch empfiehlt es sich, wenn man ein Siglenverzeichnis an die 
Spitze gestellt hat, sich nach diesem zu richten. Denn nicht jeder 
kann sofort erraten, daß Gedeon ’E. ’4/. V (S. 135) einen Artikel 
von M. J. Gedeon in der Zeitschrift ‘“ExxAnovatixn ’AArdsıa bedeuten 
soll. Mag sein, daß ein Kenner der einschläglichen Litteratur hier 
einen besseren Ueberblick hat. Aber es gibt doch in jeder Disziplin 
auch Anfänger, und auf diese hat der Autor Rücksicht zu nehmen. 
Drum ist es gut, wenn er nicht Ausgabe und Auflage (S. 23) ver- 
wechselt und wenn er auch deutsche Büchertitel korrekt wiedergibt. 
Daß Verf. konsequent das bekannte Buch von Kattenbusch »Lehr- 
buch der vergleichenden Konfessionskunde« (S. 22. 23. 55) statt 
»Confessionskunde<« nennt, läßt sich leidlich verschmerzen. Dagegen 
mußte ich lange nach Crakau (S. 80) suchen. Endlich erkannte ich 
ihn in >Cracau, Die Liturgie des h. Joh. Chrysostomus.< Zwei Feh- 
ler in einem Titel! Und wenig angenehm wirkt es, wenn Verf. sein 
bisheriges Hauptwerk S.46: Haupturkunden für die, S. 47 aber: zur 
Geschichte der Athosklöster betitelt, oder wenn er einen gern benutz- 
ten Artikel von Steitz über »Die Abendmahlslehre der griechischen 
(S. 80: Gr.) Kirche« S. 61 in der Z. f. d. Th., S. 80: J. f. D. Th,, 
S. 96: J. D. Th. erscheinen läßt. Mit solchen Fällen verglichen will 
es dann nur wenig besagen, wenn Verf. dem Leser die Wahl läßt 
zwischen S. 60: Theol. St. u. (und) Kr., S. 120: Theol. Studien und 
Kritiken, S. 121: Theol. Stud. und Krit., S.127: Th. Stud. u. Krit., 
S. 130: Stud. u. Krit., S. 131: Studien und Kritiken, wenn den 
Band-, Kapitel- oder Seitenzahlen die betreffenden Bezeichnungen 
bald vorangehen, bald nicht (z.B. S.59: Lib. XI cap. 1., Lib. XV, 5; 
S. 113: Krumbacher? S. 814; S. 116: Krumbacher? 556; S. 117: 
Legrand? 1183; S. 119: Legrand® IS. 203), wenn lateinische Titel einmal 
große, ein andres Mal kleine Anfangsbuchstaben führen (S. 97. 99: 
Responsum ; 8. 100: responsum; S. 99: De coena domini, de Con- 
fessione, de poenitentia; S. 73: eine disputatio u.s.w.; S. 75: der 
Brevis tractatus), wenn man bald liest »Königliche Bibliothek zu 
Hannover< (S. 89), bald »Kgl. Bibl. zu Hannover (S. 92), bald Kgl. 
Bibl. Hannover (S. 96), oder S. 93: Gött. Un.-Bibl.; S. 101: Göt- 
tinger Universitätsbibliothek, wenn die der Münchener Hof- und 
Staatsbibliothek entnommenen Bücher teils mit, teils ohne ihren 
Standort (S. 114. 116) angegeben sind und es dann wieder scheinbar 
sehr genau und in Wirklichkeit ungenau S. 117 heißt: das Münche- 
ner Exemplar A. Gr. b. 47. 4°., wenn Verf. beim Citieren der eig- 
nen Schriften im Zweifel ist, ob er »mein< (S. 46. 47) oder »Mein« 
(S. 80. 120) schreiben soll. Solch ein Mangel an Akkuratesse kann 
die Lektüre des Buches geradezu erschweren. So fand ich S. 90. 
92 Sathas, ozyedéaopa, S. 92 außerdem noch Sathas, Zysd. angeführt. 
43* 


644 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


Was war es mit diesem Buche? Das Siglenverzeichnis gibt zwei 
Schriften des Sathas an, aber unter ihnen kein oyeddacpa. Die 
litterargeschichtliche Einleitung wiederum, die ich zu diesem Zwecke 
wiederholt durchlas, nennt zweimal ein oyediasue«, aber das eine 
stammt von Joseph De-Kigalla (S. 26), das andere von Matthäus K. 
Paranikas (S. 28). Als ich schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, 
fand ich das Gesuchte endlich unter der den Patriarchen Jeremias I 
betreffenden Speziallitteratur als Bioypayındv oysdiasun megi tov 
zargıcpyov Iegeulov B’ (S. 89). Eine solche Art abzukiirzen ist 
unerlaubt. Warum nicht wenigstens Bioygagixdy oyedlacua, damit 
von vornherein jede Verwechselung mit ähnlichen Titeln ausgeschlos- 
sen ist? Warum nicht eine klare Scheidung zwischen Litteratur- 
angaben und übrigem Text, damit der Leser sich rasch und sicher 
orientieren kann? Warum sur ein Verzeichnis der »hauptsächlich- 
sten« und nicht aller Abkürzungen ? 

Philipp Meyer gilt mit Recht als Autorität auf dem Gebiete 
der neugriechischen Kirchengeschichte. Kaum einen andern prote- 
stantischen Theologen dürfte man finden, der jene schwierigen und 
fern abliegenden Materien mit gleicher Meisterschaft beherrscht. Ich 
kann es daher nur mit Freude begrüßen, daß die auch mir lieben 
»Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche< diesen inter- 
essanten Mitarbeiter gewonnen haben. Auch fördert die vorliegende 
Schrift mit ihren in Aussicht gestellten Weiterführungen entschieden 
aufs dankenswerteste unsere Kenntnis des religiösen Lebens in der 
griechischen Kirche der letzten Jahrhunderte. Um so mehr bedaure 
ich jene reiche Auswahl von formellen Unrichtigkeiten und Flüchtig- 
keiten haben treffen zu müssen; der verehrte Herr Verfasser möge 
mich deshalb nicht der Splitterrichterei zeihen. Hätte er uns eine 
Geschichte der griechischen Litteratur geboten, so würde es mir 
nicht in den Sinn gekommen sein, auf derartige Aeußerlichkeiten 
den Finger zu legen. Da es sich aber um die entsagungsvolle und 
notwendige Aufgabe einer vorläufigen Materialiensammlung, um einen 
Katalog handelt, so muß der Leser die peinlichste Korrektheit ver- 
langen. Ja er hat sogar Anspruch auf eine Uebersichtlichkeit, welche 
ihm das leichte Nachschlagen und die rasche Orientierung ermöglicht. 
Beides wird ebensowohl durch typographische Mittel wie durch eine 
ıninutiöse Sichtung und Behandlung der einzelnen Bestandteile erreicht. 
Verf. sei aber um so mehr gebeten, diese Ausstellungen bei der das 
17. bis 19. Jahrhundert umfassenden Fortsetzung seiner litterarhistori- 
schen Arbeit in Erwägung zu ziehn, als er es doch in der Haupt- 
sache mit einer Gemeinde von Laien zu tun hat, die, wie dies bei mir 
der Fall war, gerade erst durch seine Schriften mit Personen und 


Wendt, Das Johannesevangelium. 645 


Verhältnissen vertraut gemacht werden wollen, von denen sie bisher 
kaum allgemeine Umrisse gekannt haben. 
Erlangen, November 1900. Friedrich Wiegand. 





Wendt, H. H., Das Johannesevangelium. Eine Untersuchung seiner Ent- 
stehung und seines geschichtlichen Wertes. Göttingen, Vandenhoeck und 
Ruprecht, 1900. VI und 239 S. Preis 6 Mk. 


Das vorliegende Buch ist, wie W. in seinem Vorwort bemerkt, 
eine erneute und verbesserte Darlegung der von ihm im Jahre 1886 
in seiner »Lehre Jesuc I S. 215—342 vorgetragenen Hypothese, 
daß im vierten Evangelium, speciell in den Redestücken, ältere 
schriftliche Aufzeichnungen verarbeitet seien. Diesen ursprünglichen 
Kern des Evangeliums, den er kein Bedenken trägt dem Apostel 
Johannes zuzuschreiben, glaubt W. aus der späteren Umhüllung los- 
lösen zu können und dadurch seine eigentliche Bedeutung in ein 
helleres Licht zu setzen. 

Zwei Gründe lassen W. eine solche Scheidung notwendig schei- 
nen: 1) Differenzen zwischen den Anschauungen in den Reden und 
den erzählenden Partieen des Evangeliums und 2) Störungen der 
Beziehungen und Zusammenhänge jener durch diese. 

Die Differenzen zwischen den Reden und den erzählenden Par- 
tieen gipfeln nach W.s Meinung darin, daß in diesen Jesus als der 
große Wunderthäter erscheint, der seine Messianität durch Wunder 
und Zeichen beglaubigt, während in den Reden auf diese nicht nur 
kein Gewicht gelegt, sondern sie sogar völlig ignoriert werden. 

Gegen diese Behauptung liegt der Einwurf auf der Hand, daß 
Jesus in seinen Reden doch so nachdrücklich auf seine Werke hin- 
weist und diese Werke nicht wohl etwas anderes sein können als 
die Zeichen, die uns zwischen den Reden erzählt werden. Aber die- 
sen Einwurf beseitigt W. eben durch seine Hypothese. Es ist nur 
der täuschende Rahmen, sagt er, der diesen Schein bewirkt. Ent- 
rücken wir die Reden ihrer historischen Einkleidung, so erkennen 
wir, daß unter den Werken das ganze »Verkündigungswirken« Jesu 
zu verstehen ist, daß sie nicht etwas zweites neben den Worten sind, 
sondern steigernd als der vollere, die Worte mit umfassende Begriff 
eintreten (S. 58). 

Wunderbar, wie kam nur der Verfasser des Evangeliums dazu, 
ein Bild in seinen Rahmen zu stellen, das so wenig dazu paßte? 
Warum zogen ihn Reden, die bewiesen, daß Jesu seine göttliche 
Persönlichkeit ohne Wunderthaten unmittelbar durch ihre geistige 
Natur beglaubigt habe, so mächtig an, wenn er das Uebermenschliche 


646 Gött. gel. Anz. 1%1. Nr. 8. 


doch nur in äußeren Wundern sah? Und wenn er auf Wunder so 
erpicht war, warum erzählte er dann nur von sechsen? Warum 
brachte er diese unter einander und mit den Reden in einen künst- 
lichen Zusammenhang , um auf diesen Unterbau ein Stück von an- 
nähernd demselben Umfang zu setzen, in dem von neuen Wundern 
keine Rede ist? 

Indessen statt ins allgemeine zu schweifen, wird es besser sein, 
die Voraussetzung zu prüfen, aus welcher W. eine Verschiedenheit 
der Anschauung in den Reden und den erzählenden Teilen folgert. 

W. findet einen Beweis dieser Verschiedenheit schon in dem 
sprachlichen Ausdruck. Nur so glaubt er es erklären zu können, 
daß Jesus sich in seinen Reden immer auf seine Werke (£py«) be- 
rufe, während in den erzählenden Partieen dafür der Ausdruck 
Zeichen (onpeta) gebraucht werde. Wenn man diese Erklärung nicht 
annehme, müsse man an einen unbegreiflichen Zufall glauben (S. 56). 

Natürlich leugnet W. nicht, daß unter Werken auch wunderbare 
Werke verstanden werden können, ja er giebt zu und muß es natür- 
lich von seinem Standpunkt aus so auffassen, daß auch der Evange- 
list, d.h. derjenige, der nach seiner Meinung die Reden zu dem 
Evangelium verarbeitet hat, den Ausdruck so verstanden habe. Liegt 
aber die Sache so, so wird man auf einem andern Wege zu dem 
Zufall zurückgeführt, den W. durch seine Erklärung ausschließen 
möchte. Denn wenn für den Evangelisten Werke und Zeichen gleich- 
wertige Begriffe waren, so lag ja für ihn gar keine Veranlassung 
vor, den Ausdruck »Werke« in den erzählenden Partieen zu vermeiden. 

Thatsächlich hat er dies freilich auch nicht gethan, denn 7, 3 
ist in einer erzählenden Partie von Werken die Rede. Gleich hier 
zeigt sich die Achillesferse der W.schen Hypothese: obwohl Erzäh- 
lung, leitet W. dies Stück doch aus der »Quellenschrift« ab. Um 
aber dem Zwange zu entgehen, in der >Quellenschrift< den Begriff 
anzuerkennen, den er auf die Bearbeitung beschränkt, muß er zu 
einer überaus künstlichen Erklärung greifen. Die Brüder Jesu, de- 
nen an jener Stelle der Ausdruck »Werke« in den Mund gelegt wird, 
dächten dabei zwar an wahrnehmbare Wunderthaten, sagt er, aber Jesus 
nehme ihn in einem andern Sinne (S. 60 Anm. und §.132f.). Dem 
widerspricht aber, daß Jesus durchaus nicht gegen die unzweideutige 
Voraussetzung seiner Brüder, sondern nur gegen ihre Zumutung, 
sich schon jetzt in Judaea zu offenbaren, protestiert. 

Aber auch in der Rede 7, 21 ist der Ausdruck so deutlich wie 
möglich auf ein Wunder bezogen. Denn die Heilung des Gelähm- 
ten, um die es sich hier handelt, ist nach 5, 8 durch ein bloßes 
Wort bewirkt worden. W. greift hier wieder zu der Aushilfe, daß 
die Erzählung in der Quellenschrift anders gelautet habe (S. 68 ff.), 


Wendt, Das Johannesevangelium. 647 


und auf Grund dessen behauptet er, die Heilung käme nicht als 
wunderbare That in Betracht, sondern als verbotene Arbeit. 

Wiederholt berührt W. die Stelle 5, 20, wo Jesus von den Wer- 
ken spricht, die ihm der Vater zeigt, und von größeren, die er ihm 
zeigen wird, ohne die einfache Thatsache, die sich aus dieser Stelle 
ergiebt, anzuerkennen. Jesus geht von der Heilung des Gelähmten 
aus und als größere Werke, die ihm der Vater zeigen wird, damit 
die Juden sich verwundern, nennt er Totenerweckungen. Die That- 
sache, daß hier Wunderthaten Werke genannt werden, bleibt von 
den Schwierigkeiten unberührt, die auf den weiteren Ausführungen 
Jesu ruhen. Und wenn diese Ausführungen sogleich eine allge- 
meinere Wendung nehmen und von der Herrschaft des Sohnes über 
Leben und Tod überhaupt handeln, so beweist doch die Form des 
Satzes in v. 20: »und größere Werke als diese — nämlich, die ihr 
gesehen — wird ihm der Vater zeigen, damit ihr euch verwundert«, 
daß zunächst an einzelne Totenauferweckungen gedacht war. 

Derselbe Sinn liegt aber in dem Worte »Werke« auch an andern 
Stellen, die W. für seine Auffassung in Anspruch nimmt. 

14, 10f. und 15, 24 sollen nach W. Werke und Worte wesent- 
lich gleich gesetzt sein. An der ersten Stelle heißt es: 10 »Glaubst 
du nicht, daß ich in dem Vater und der Vater in mir ist? Die 
Worte, die ich euch sage, spreche ich nicht aus mir selbst, der Va- 
ter aber, der in mir bleibt, thut seine Werke. 11 Glaubt mir, daß 
ich in dem Vater und der Vater in mir; wo nicht, so glaubet mir 
wegen der Werke allein !), — Nach W. beruft sich Jesus für den 
Anspruch auf seine Wesenseinheit mit Gott v. 10 auf seine Worte, 
v. 11 auf seine Werke. Daß aber beides der Art nach gleiche Be- 
griffe seien, gehe daraus hervor, daß in dem Zwischensatze v. 10 
dasselbe Urteil erst in negativer, dann in positiver Form gegeben 
wäre (S. 58). Gesetzt dies wäre so, was wird dann aus dem Argu- 
mente, das hier, wenn auch nicht in logischer Form, so doch mit 
thatsächlichem Gewichte geltend gemacht wird? Die Behauptung, 
daß er seine Worte nicht aus sich, sondern von seinem Vater habe, 
ist doch noch kein Beweis dafür, daß Christus im Vater und der 
Vater in Christus, sondern lediglich ein anderer Ausdruck für eben 
das, was zu beweisen war. Jesus läßt ja die Forderung, daß ihm 
um der Worte willen geglaubt werde, ausdrücklich fallen und ver- 
langt nur wegen der Werke Glauben. Daraus geht hervor, daß 
Worte und Werke hier als wesensverschiedene Begriffe gesetzt sind, 
nämlich Worte als etwas, wofür nicht ohne weiteres Glauben gefor- 
dert werden kann, Werke aber als unmittelbar evidente Wirklich- 
keit, gegen die sich nur Verstocktheit sträubt. 

1) ta fey atrod B, alle andern r& feya aür«. 


648 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 8. 


Wo möglich noch deutlicher redet 15, 24: »Wenn ich die Werke 
unter ihnen nicht gethan hätte, die kein anderer gethan hat, so hät- 
ten sie keine Sünde. Jetzt aber haben sie gesehen und doch haben 
sie mich wie meinen Vater gehaßt«. Zwar geht der parallele Ge- 
danke voraus: »Wenn ich nicht gekommen und zu ihnen geredet 
hätte, so hätten sie keine Sünde. Jetzt aber haben sie keine Ent- 
schuldigung für ihre Siinde«. Wenn, wie W. sagt, in v. 24 eine 
Steigerung liegt, so liegt sie doch nicht darin, daß an Stelle des 
speciellen Begriffes der allgemeinere gesetzt ist. Ich weiß nicht, 
wie die Werke als etwas unmittelbar äußerlich wahrgenommenes 
schärfer den Worten hätten entgegengesetzt werden können. 

Vielleicht wird W. sich darauf berufen, daß er ausdrücklich be- 
tont habe, man dürfe natürlich nicht sagen, in den Reden des vier- 
ten Evangeliums seien unter den Werken Jesu einfach seine Worte 
verstanden, sondern seine »Verkiindigungswirksamkeit< überhaupt 
(S. 59). Ich gestehe, daß mir dieser schillernde und im Grunde 
nichtssagende Ausdruck höchst anstößig ist. Die Frage ist doch 
eben, ob dies Verkündigungswirken lediglich in Worten besteht oder 
ob zu den Worten noch etwas anderes hinzutritt. Wenn W. S. 57 
sagt, Werke und Worte seien in solche Verbindung gesetzt, daß sie 
wie gleichwertige Begriffe erschienen, so weiß man, was er sagen 
will. Wenn aber dann sogleich dafür der nebelhafte Begriff »Ver- 
kiindigungswirken< eingeführt wird, so scheint die Definition in Frage 
gestellt, und mehr als zur Hälfte aufgehoben wird sie, wenn zu den 
Werken Christi alle »seine helfenden Liebesthaten« gerechnet wer- 
den (S. 59). Denn was sind diese helfenden Liebesthaten anders als 
eine verschämte Umschreibung des schlichten alten Wortes Wunder? 

Aber selbst wenn man den Begriff zugeben will, den W. mit 
dem Worte »Werke« verbinden möchte, so bleibt die Behauptung 
falsch, daß die Worte in den Werken einbegriffen seien. Daß 
darunter vielmehr Christi Thaten unter Ausschluß der Worte ver- 
standen sind, zeigt ganz besonders deutlich das fünfte Capitel. 
Hier führt Jesus die Zeugnisse an, die für ihn sprechen. Es sind 
1) das Zeugnis des Täufers, auf welches, als das Zeugnis eines 
Menschen, kein Gewicht gelegt, das aber doch als ein Moment des 
Glaubens angeführt wird (v. 33. 34), 2) seiner Werke (v. 36), 3) 
Gottes (v. 37), 4) der Schriften (v. 39). 

Das Zeugnis Gottes ist den Juden unzugänglich, weil sie weder 
jemals seine Stimme gehört, noch seine Gestalt gesehen, und auch 
sein Wort nicht in sich haben, was sich daran zeigt, daß sie an den 
nicht glauben, den er gesandt hat (v. 37. 38). Der Beweis beruht 
offenbar auf dem Satze: Gleiches kann nur von Gleichem erkannt 
werden, und es ist die Meinung, daß Jesus als Gottes Sohn das Gött- 


Wendt, Das Johannesevangelium. 649 


liche unmittelbar zum Ausdruck bringe. Das intuitive Erfassen die- 
ses Göttlichen ist offenbar als die höchste, aber schwerste Art der 
Erkenntnis und des Glaubens gedacht, weil sie Wesensverwandtschaft 
voraussetzt. Die Werke, die wie die Schriften von dem Zeugnis 
Gottes unterschieden werden, müssen wie diese einen objektiven, je- 
dem Verstande zugänglichen Maaßstab in sich tragen. Sie sind gött- 
lich, weil sie von Gott gegeben sind, sie sind also nicht menschlich, 
sondern übernatürlich. Darum sagt Christus 10,57: »Wenn ich die 
Werke meines Vaters nicht thue, so glaubt mir nicht; wenn ich sie 
aber thue, so glaubt den Werken, wenn ihr mir .nicht glaubt«. 
Deutlicher kann man wohl nicht die Werke von den Worten oder, 
um mit W. zu reden, von dem Verkündigungswirken unterscheiden, 
denn eben der Verkündigung, daß Jesus Gottes Sohn sei, hatten ja 
die Juden, die auf das Zeugnis seiner Werke verwiesen werden, den 
Glauben versagt. 

Der Umstand, daß Jesus Wunder gethan hat, ist also auch nach 
den Reden im vierten Evangelium ein höchst bedeutendes Moment 
für den Glauben an ihn. Wenn darauf in den erzählenden Partieen 
so großes Gewicht gelegt wird, so hat man darin vielmehr ein Zei- 
chen der Uebereinstimmung als des Gegensatzes zu sehen. Es bleibt 
die Verschiedenheit des Ausdrucks, Zoy« und onweta. Darf man 
daraus allein auf eine Verschiedenheit der Verfasser schließen ? 

Die Häufigkeit des Ausdrucks »Zeichen« für die Wunder Jesu ist 
ebenso eine Eigentümlichkeit des vierten Evangeliums wie der Ge- 
brauch des Wortes »Werke« für dieselbe Sache. Wie die Synoptiker 
die Bezeichnung der Wunder Jesu als Werke nicht kennen, mit ein- 
ziger Ausnahme des Matthaeus, der 11,2 das Wort genau in dem 
johanneischen Sinne anwendet, so meiden sie dafür auch das Wort 
Zeichen. Es geht aber aus ihnen auch deutlich hervor, daß in den 
Krankenheilungen und Daemonenaustreibungen ursprünglich kein Be- 
weis der Messianität erblickt wurde. Marcus, der die ursprüngliche 
Auffassung am treuesten festgehalten zu haben scheint, führt sie auf 
eine in Jesu innewohnende Kraft zurück, die auch ohne sein Wissen 
und Wollen durch den Glauben dessen, der sie in Anspruch nimmt, 
wirksam werden kann, und die, wo Glauben an sie nicht vorhanden 
ist, auch trotz des Willens dessen, der sie besitzt, versagt. Sie sind 
aber andererseits wiederum etwas, was doch auch übertragen und 
gelehrt werden kann, so daß auch die Jünger in den Besitz solcher 
Kraft gelangen. Es ist zwar auch bei den Synoptikern von Zeichen 
oder vielmehr einem Zeichen die Rede, dessen Ausübung die Messia- 
nität unmittelbar beweist. Wenn man die Parallelberichte darüber 
bei Mc 8,11 = Mt 16,1 = 12,38 = Lc 11, 29 unter einander ver- 
gleicht, so sieht man, wie die ursprüngliche Bedeutung dieses Zei- 


650 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


chens mehr und mehr verblaßt. Es ist ein Zeichen gänzlich anderer 
Art, als Jesus bisher gethan hatte, ein Zeichen vom oder am Himmel, 
wie an den beiden ersten Stellen durch einen Zusatz deutlich ge- 
macht wird. Nach demselben Zeichen fragen auch die Jünger Mt 24, 3 
= Mc 13,4 = Le 21,7, wie aus der Antwort Mt 24,29 Mc 13, 24 
Le 21,25 hervorgeht. Aber dieses Zeichen wird erst erscheinen, 
wenn des Menschen Sohn vom Himmel wiederkehrt. 

Halten die Synoptiker an einer ganz bestimmten Beschränkung 
des Wortes fest, sofern ihnen das Zeichen als die unmittelbare Mani- 
festation der Messianität gilt, so ist dagegen in dem unechten Marcus- 
schluß das Wort in dem Sinne des vierten Evangeliums von den 
Werken gebraucht, die der Herr durch die wirkt, die seinen Namen 
verkündigen. Es zeigt sich darin zugleich eine neue Auffassung der 
Wunder, die nur darum hier nicht so deutlich ist, weil es sich um 
Zeichen handelt, die nicht von Jesu unmittelbar, sondern durch seine 
Jünger zur Erscheinung gebracht werden. Das vierte Evangelium 
zeigt diese neue Auffassung deutlicher, indem es die Werke Jesu zu 
seinen Lebzeiten als die unmittelbare Aeußerung seiner Göttlichkeit 
erscheinen läßt. In wiefern aber die Werke Zeichen genannt sind, 
geht aus dem Schluß des Marcusevangeliums hervor, wo wir alle die 
Begriffe, die uns hier beschäftigt haben, beisammen finden. »Der 
Herr wirkte mit den Aposteln, heißt es da (16, 20), und bekräftigte 
ihr Wort durch die nachfolgenden Zeichen<. Der Herr wirkt also 
die Zeichen zur Bestätigung des Wortes, die Zeichen sind seine 
Werke. Sie sind Werke dessen, der sie thut, Zeichen für den, der 
sie sieht, zwei verschiedene Seiten derselben Sache, die sich wie 
Aktivum und Passivum zu einander verhalten. Nichts natürlicher, 
als daß der Evangelist den Zeichenthäter von seinen Werken spre- 
chen läßt, während er als Berichterstatter von seinen Zeichen erzählt. 
Die Harmonie der Sache wird also durch den Ausdruck nicht ge- 
stört, sondern auch im Ausdruck herrscht zwischen den Reden und 
den erzählenden Teilen des vierten Evangeliums Uebereinstimmung. 

Wenden wir uns dem zweiten Argumente W.s zu, daß durch die 
historischen Partieen die ursprünglichen Beziehungen und Zusammen- 
hänge gestört seien, so muß sogleich die Bemerkung stutzig machen, 
daß auch in der »Quelle< die einzelnen Redestücke durch Mitteilungen 
über ihre geschichtliche Veranlassung eingeleitet gewesen seien (S. 154). 
Die Bemerkung, es sei aber nicht eigentlich auf die Mitteilung der 
geschichtlichen Thatsachen abgesehen gewesen , ist wenig geeignet, 
das geweckte Bedenken abzuschwächen, denn auch dem Evangelisten, 
mag er nun eine Quellenschrift benutzt haben oder nicht, kam es 
zweifellos in erster Linie auf die Mitteilung der Reden an. 

Es zeigt sich aber gleich bei dem ersten Anstoß, den W. an der 


Wendt, Das Johannesevangelium. 651 


Einkleidung der Reden nimmt, daß er sich auch hier von vorgefaßten 
Meinungen leiten läßt. Wir haben bereits oben zu bemerken gehabt, 
daß er dem Evangelisten eine Fälschung der geschichtlichen Ver- 
anlassung zu der Rede 5,17 ff. vorwirft (S. 5). Er findet in dieser 
Rede und den mit ihr zusammenhängenden Bemerkungen 7, 19—24 
Voraussetzungen, denen die Einleitung zu dieser Rede widerspreche. 
Wenn Jesus sage, daß er so gut wie der Vater am Sabbat arbeiten 
und Kranke heilen dürfe, so sei das nur so zu erklären, daß er bei 
der Heilung wirklich Hand angelegt habe, denn nur so könne sie 
unter den Begriff der Arbeit gestellt werden. Dagegen lasse der 
Evangelist Jesus die Heilung durch ein bloßes Machtwort vollziehen 
und die Verletzung der Sabbatordnung dadurch bewirken, daß er den 
Geheilten veranlasse, sein Bett zutragen. Da nun Jesus sich in seiner 
Rede hiergegen mit keinem Worte verteidige, so sei es klar, daß der 
Evangelist eine ältere Ueberlieferung umgestaltet habe, weil die nach- 
apostolische Generation für die durch praktische Handanlegung von 
Jesu bewirkten Heilungen kein Verständnis gehabt habe (S. 68 ff.). 

Wenn der nachapostolische Charakter in der Erzählung des Evan- 
gelisten darin hervortreten soll, daß der Gelähmte bei ihm durch ein 
bloßes Machtwort Jesu geheilt wird, so ist nur merkwürdig, daß die 
parallele Heilung des Gichtbrüchigen bei den Synoptikern genau auf 
dieselbe Weise vor sich geht (Mt 9,6 etc... Auch bei diesen aber 
wird eine solche Heilung als eine nach pharisäischen Begriffen mit 
der Heiligkeit des Sabbats unvereinbare Arbeit dargestellt. Denn sie 
erzählen, wie die Pharisier gegen Jesu Rat halten, weil er einem 
Manne die verdorrte Hand am Sabbat geheilt hatte, was er auch 
nur durch die Kraft des Wortes bewirkte (Mt. 12, 10 ff. etc.). 

Man muß daher in Abrede stellen, daß es W. gelungen sei, dem 
Evangelisten ein für ihn charakteristisches Motiv zur Umgestaltung 
der Ueberlieferung unterzuschieben. Es ist aber auch nicht richtig, 
wenn er sagt, der Evangelist habe den ganzen Nachdruck der Er- 
zählung auf das Lasttragen gelegt (S. 69). In Wahrheit ist das für 
ihn lediglich ein Mittel, das geschehene Wunder zur Kenntnis der 
Juden zu bringen (v. 10. 11). Nachdem sie es erfahren, verfolgen 
sie Jesus, weil er einen Menschen am Sabbat gesund gemacht hat, 
ohne sich um das Lasttragen weiter zu bekümmern (v. 15. 16). 

Man kann aber auch nicht sagen, es sei für den Evangelisten 
eine anstößige Vorstellung gewesen, daß Jesus Kranke durch prak- 
tisches Handanlegen geheilt habe. Die Blindenheilung, in der sich 
steigernden Reihe der erzählten Wunder das zweithöchste, wird wie 
bei Mc 8,23 mittelst Speichels bewirkt. In solchen Zügen ist der 
Evangelist durch die Ueberlieferung gebunden. Für seinen Zweck 
genügte die Erzählung der Heilung des Gelähmten. Aber in seiner 


we Gi. gi hax BAT Sc. 3 


Verssiissr war dam der Boles, zı On Getetites. De Laer m 
dar 02 ler gehe zes wir. ıuzenen Wu IT 
der Aeativints Lewen %7 zeisszeaer Gece. s umber o- 
bunden (rd Mt 9.6 er... dab er gar wear asf Bu Goi ku 
dien Erichl m der Erzählung zu wersen Sac er cL Br 
Kchinthcherrung erfährt zu werden. der Evancoles Zahe Geen eee 
Zug mit einer älteren Ueberiieierung versunien ten vr VEimmir. 
daß diese Verbindung in der älteren Terrier segeDer ox. 
Von dieser älteren Ucherlieferung ist der Evaszemst 3 ahr = 
herrscht, daß er sich allerdings in einen Wiiersprach verwickei ver 
daß er an einer andern Stelle liegt als W. ihn sesackt hat. vs im 
der aufmerksame Leser. der den Zusammenhang der ganzen Erzih- 
lung überlegt, leicht finden wird. 

Nicht glücklicher scheint mir W. in der Interpretation des 6. 
Kapitels zu sein, in dem er gleichfalls eine schreiende Diszomanz ent- 
deckt (8. 7HfL.). Die Rede, in der Jesus sich als Himmelsbrot be- 
zeichnet, schemt ihm nur dann verständlich. wenn sie von dem 
Speisungswunder losgelöst wird. Er läßt sie v. 27 mit dem Worten 
beginnen : »Wirket nicht die vergängliche Speise, sondern die Speise, 
die bis ins ewige Leben bleibt«, alles was vorhergeht gehört nach 
ihm dem Redaktor des Evangeliums an. 

Daß die Kede nicht so abrupt begonnen haben kann, liegt auf 
der Hand. Man dürfte daher wohl erwarten, daß W. sich darüber 
erklärt hätte, wie denn in der »Quelle< diese Rede eingeführt ge- 
wesen sei. Aber hiervon kein Wort. In der Einleitung des Evange- 
listen stört ihn wieder ganz besonders das Wunder. Wenn Jesus ein 
so großes und eindrucksvolles Zeichen gethan habe, so sei es undenk- 
bar, daß die Zeugen eben dieses Zeichens am folgenden Tage wieder 
gekommen seien, um ein Zeichen zu verlangen, als hätten sie gar 
keins gesehen. Und wenn sie es gleichwohl gethan hätten, wie wäre 
es denkbar, fragt er, daß Jesus nicht »auf ihr gestriges Gesehenhaben 
seines großen Zeichens Bezug genommen hätte«? Nun hat freilich 
Jesus v. 26 darauf Bezug genommen, aber W. verlangt eben darum, 
daß es auch v. 30 hätte geschehen müssen. Ich glaube, daß das 
richtige Verständnis von v. 26 diese Forderung beseitigt. 

»Ihr sucht mich, sagt Jesus, nicht weil ihr Zeichen gesehen, son- 
dern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid«. 
Der Vorwurf, der hier erhoben wird, ist der, daß die Zeugen des 
Speisungswunders seine Bedeutung nicht erkannt haben. Sie kom- 
men wegen der Wirkung, nicht wegen der Ursache, deswegen werde 
sic getadelt. Sie haben aus dem Zeichen geschlossen, daß Jesus der 
Prophet ist, der in die Welt kommen wird, aber nicht, daß er ein 
göttliches, vom Himmel herabgestiegenes Wesen ist. Sie wollten ia 





Wendt, Das Johannesevangelium. 658 


zum Könige machen, während doch sein Reich nicht von dieser Welt 
ist. Mit v. 26 wird also deutlich der Zusammenhang zwischen dem 
Wunder und der Rede vermittelt. Es handelt sich darum, das rich- 
tige Verständnis des Wunders zu erschließen als einer unmittelbaren 
Manifestation des göttlichen Wesens Jesu und eines Mittels zum 
Glauben an ihn, nicht eines Vorgangs von rein materieller Bedeutung 
und weltlichen Consequenzen. Es ist durchaus kein Widerspruch, 
wenn die Juden, die das Speisungswunder gesehen, von neuem ein 
Zeichen fordern. Sie verstehen sehr wohl, daß Jesus sie auffordert, 
Gottes Werke zu thun, wenn er von ihnen verlangt, Brot des ewigen 
Lebens zu schaffen. Aber wenn er sagt, daß dies Gotteswerk eben 
in dem Glauben an seine Sendung und seinen göttlichen Ursprung 
besteht, so verlangen sie dafür ein Zeichen, daran sie eben dies er- 
kennen, ein Zeichen wie Moses es ihren Vätern gegeben hat, der 
ihnen Brot vom Himmel gab. Denn was sie gesehen und gegessen 
haben, war doch immer nur Brot, irdisches Brot, wenn auch auf 
wunderbare und unbegreifliche Weise hervorgebracht. Der Messias 
aber muß sich durch ein Zeichen vom Himmel offenbaren. Das alles 
ist ganz consequent, und ebenso consequent, wenn Jesus seinerseits 
ausführt, wie er das wahre Manna, das echte Himmelsbrot ihnen in 
seiner Person selbst darbringt. 

Eine deutliche Beziehung auf das Speisungswunder, zugleich frei- 
lich auch auf die andern Wunder, liegt in v. 36: »ich habe euch ge- 
sagt, daß ihr gesehen [al. mich gesehen] habt und doch nicht glaubt«. 
Bei der ersten, äußerlich schwächer bezeugten, aber innerlich wahr- 
scheinlicheren Lesart (vgl. 1, 34. 19,35) kann die Beziehung auf den 
Anfang der Unterredung v. 26 (»ihr sucht mich nicht, weil ihr Zei- 
chen gesehen habt<) keinen Augenblick zweifelhaft sein, aber auch 
die andere Lesart kann materiell nichts anderes bedeuten als: »ihr 
habt gesehen, was ich gethan habe«. Welcher Art dies Thun ist, 
ergiebt sich aus der Rede nicht. Man kann sie daher nicht aus dem 
Zusammenhange, in dem sie erscheint, loslösen, ohne die Voraus- 
setzung des Verständnisses aufzuheben. Wenn W. die Berechtigung, 
v. 36 aus v. 26 zu erklären, bestreitet, weil v. 26 von Zeichen die 
Rede ist (S. 73), so bleibt er in dem Zirkelschluß, auf dem seine 
ganze Argumentation beruht, indem er das, was zu beweisen ist, als 
bewiesen voraussetzt. 

Hier kommt aber noch etwas hinzu. Die Juden wollten nicht an 
Jesum glauben, sagt W., obgleich sie ihn in seiner das ewige Leben 
verleihenden Heilswirksamkeit gesehen hatten. Das ist eine contra- 
dictio in adiecto. Hätten die Juden gesehen, daß Jesus Wirksamkeit 
das ewige Leben verleihe, so hätten sie auch an ihn geglaubt. Das 
fällt notwendig zusammen oder vielmehr, es ist ein Sehen der Heils- 


654 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


wirksamkeit — wenn man den Ausdruck zulassen will — nur auf 
dem Wege des Glaubens möglich. Nun aber haben die Juden nur 
die Wirksamkeit Christi gesehen, aber nicht den Eindruck und den 
Glauben daraus gewonnen, daß diese Wirksamkeit auf das ewige 
Leben abzielt. Das ist es, was ihnen vorgeworfen wird. 

Der Ausdruck »Heilswirksamkeit«, der hier an die Stelle von »Ver- 
kündigungswirksamkeit« tritt, erregt aber auch nach einer andern 
Seite Bedenken. Wenn die Wirksamkeit Christi schon auf dieser 
Stufe heilwirkende Kraft hat, so hat sein Tod offenbar keine andere 
als eine rein accidentielle Bedeutung. Das ewige Leben wird dann 
nicht durch den Tod Jesu, sondern durch sein Wirken auf Erden 
herbeigeführt. Wenn dieses Wirken seinen Tod zur Folge hatte, so 
mag man darin einen Beweis seiner Berufstreue und insofern ein 
Förderungsmittel des Glaubens erblicken, aber der Erfolg seines 
Wirkens wird durch den Tod nicht bedingt. 

Diese Auffassung drückt W. nicht nur an unserer Stelle implicite 
aus, er sagt in einem andern Zusammenhang (S. 182 f.) ausdrücklich, 
daß in den johanneischen Reden im Gegensatz zu der paulinischen 
Auffassung unter dem seligmachenden Glauben nicht der Glaube an 
den Kreuzestod und die Auferstehung Christi, sondern das Aufnehmen 
seiner Worte und die Befolgung seiner Gebote verstanden werde. 
Mit bezeichnender Halbheit wird dann allerdings diese Behauptung 
hinterher durch die Bemerkung eingeschränkt, daß freilich auch die 
Heilsbedeutung des Todes Jesu in den Reden zum Ausdruck käme. 
Diese Heilsbedeutung wird von W. allerdings nicht in dem Vorgang 
des Todes selbst gefunden, sondern in der Wirkung, die von dem 
Beispiel treuer Berufserfüllung ausgeht. 

W. bringt es fertig, aus einem Worte wie 6, 51: >»ich bin das 
lebendige Brot, der aus dem Himmel herabgestiegene; wenn einer 
von diesem Brote ißt, wird er in Ewigkeit leben, und das Brot, das 
ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt«, die Be- 
ziehung auf den Tod Jesu wegzudeuten und die Bedeutung des Flei- 
sches darin zu sehen, daß es das Organ der lebengebenden Worte 
ist. Das soll aus v. 63 folgen: »der Geist ist das Lebendigmachende, 
das Fleisch nützt nichts<. Da sich diese Bemerkung aber an die Ar- 
deutung anschließt, daß der Sohn des Menschen dahin aufsteigen wird, 
wo er zuvor war, und dadurch die gewünschte Beziehung verdunkelt 
wird, so wird dieser Hinweis auf die Auferstehung von W. als ein Zu- 
satz des Evangelisten beseitigt. So werden Tod und Auferstehung Jesu 
ihrer Heilsbedeutung entkleidet, während das vierte Evangelium von 
vornherein betont, daß (um mit W. zu reden) das Verkündigungswirken 
Jesu nicht zum Heilswirken werden konnte, weil die Menschen die 
Finsternis mehr liebten als das Licht (3, 19). Erst der Tod Jesu 


Wendt, Das Johannesevangelium. 655 


macht seine Lehre lebendig, denn selbst den auserwählten Jüngern 
geht die Erkenntnis, daß Jesus in seinem Vater ist, erst an dem 
Tage auf, wo ihn die Welt nicht mehr sieht (14, 20). 

Es wird nicht nötig sein, W. noch weiter zu folgen. Er findet 
freilich noch andere Anzeichen einer Quellenbenutzung, namentlich in 
einer vermeintlichen Verschiebung in der großen Abschiedsrede K. 13 
—16, wobei er von Anstößen ausgeht, die vor ihm Spitta und B. 
W. Bacon genommen haben (S. 95 ff.). Mich wundert dabei beson- 
ders, daß W. hierin eine Stütze seiner Quellenhypothese erblickt, auf 
deren besondere Merkmale er so großes Gewicht legt (S. 50f.). Denn 
gesetzt es seien in den Reden Verschiebungen eingetreten — m. M. 
sind die Argumente, die dafür angeführt werden, ganz unzureichend 
— so könnte doch diese Erscheinung sehr verschiedene Ursachen ha- 
ben, wie denn Spitta eine rein äußerliche annimmt. W. muß denn 
auch, um seine Hypothese hier anwenden zu können, zu der Annahme 
seine Zuflucht nehmen, daß der Evangelist seine Quelle nicht nach 
einem vorliegenden schriftlichen Exemplare, sondern nach dem Ge- 
dächtnis bearbeitet habe (S. 100). Hiermit wird der Boden, auf dem 
eine Discussion möglich ist, verlassen, denn unter dieser Voraus- 
setzung läßt sich alles mögliche behaupten, aber nichts beweisen. 

Wenn man zum Schlusse fragt, warum eine mit so großer Um- 
sicht und Sorgfalt geführte Untersuchung sich so unfruchtbar erweist, 
so glaube ich, daß der Grund in den Bedingungen liegt, aus denen 
sie hervorgegangen ist. W. hat es sich, wie er in der Vorrede sagt, 
zur Aufgabe gemacht, eine Hypothese zu begründen, die geeignet 
schien, das schwierige johanneische Problem in befriedigender Weise 
zu lösen. Der Gedanke, daß in dem vierten Evangelium ein aposto- 
lischer Kern enthalten sei, ist also das erste, die Interpretation des 
Evangeliums, durch welche die Hypothese begründet ist, das zweite 
gewesen. Demnach ist das Resultat der Untersuchung nicht sowohl 
aus der Interpretation erwachsen, sondern an der Interpretation ist 
eine auf allgemeine Eindrücke basierte Voraussetzung erprobt. Gewiß 
ist dieser Weg an sich möglich, aber ebenso gewiß ist, daß er die 
größten Gefahren in sich birgt. So fest ich von der Aufrichtigkeit 
der W.schen Interpretation überzeugt bin, so sicher scheint es mir 
doch, daß sie, ihm selber unbewußt, von einer vorgefaßten Meinung 
geleitet ist. Er ist mit dem Bilde des Heilands, das er im Herzen 
trägt, an das vierte Evangelium herangetreten und hat das Spiegel- 
bild davon in den Reden dieses Evangeliums zu erblicken geglaubt, 
während in Wahrheit der johanneische Christus ganz andere Züge 
trägt. W. hört ihn reden, wie nach seiner Vorstellung Christus in 
dem Bewußtsein seiner unvergleichlichen Heilsbedeutung von sich 
denken und bei gegebener Gelegenheit von sich reden mußte (S. 180 f.). 


656 Gott. gel. Anz. 1901. Nr.’ 8. 


Da nun von den Synoptikern Christus dasselbe Bewußtsein zuge- 
schrieben werde, so, meint er, entsprächen die johanneischen Reden 
auch dem synoptischen Maaßstab. Auf diese Weise scheint der 
schmerzlich empfundene Widerspruch zwischen dem Christus der 
Synoptiker und dem johanneischen Christus hinwegräumt, als wenn 
die Schwierigkeit nicht dieselbe bliebe, wenn das gleiche Bewußtsein 
zu so völlig verschiedenen Ausdrucksformen führte. In der Vereini- 
gung des johanneischen und synoptischen Christusbildes erblickt W. 
offenbar die eigentliche Schwierigkeit des johanneischen Problems und 
in der von ihm gefundenen Ausgleichung das befriedigende seiner Lö- 
sung. Aber die Differenzen zwischen den Synoptikern und dem vier- 
ten Evangelium bilden lediglich eine Schwierigkeit für die Glaubens- 
lehre, nicht für die voraussetzungslose Wissenschaft, für die es gleich- 
gültig ist, ob sie den Widerspruch aufhebt oder anerkennt. 

Es wäre ein Irrthum, wenn man behaupten wollte, daß die Be- 
einflussung und Störung theoretischer Gesichtspunkte durch praktische 
Motive auf die theologische Forschung beschränkt wäre. Aber es 
liegt in der Natur der Sache, daß gerade sie solcher Gefahr ganz 
besonders ausgesetzt ist, und in jedem Fall um so mehr, je höher 
die Probleme liegen. An dieser Klippe scheint mir auch die vor- 
liegende, mit dem redlichen Streben nach Wahrheit geschriebene Ar- 
beit gescheitert zu sein. 


Berlin, 14. Juli 1901. P. Corssen. 


Braude, M., Die Elemente der reinen Wahrnehmung. Ein Beitrag 
zur Erkenntni8theorie. Lemberg 1899. 222 Seiten. 


Wenn ich der Arbeit des Herrn Braude eine allgemeine Censur 
geben sollte, so würde sie ganz zu seiner Zufriedenheit ausfallen, 
wenn ich aber seine Ergebnisse beurteilen soll, so muß ich in vielen 
und wichtigen Stücken widersprechen. 

Nur beistimmen kann ich seiner Grundvoraussetzung (»dem Satz 
der Immanenz« S. 11, 15 u. 16), daß es kein »transscendentes Sein« 
gibt, welches Objekt unserer Erkenntnis werden könnte, und daß 
alle objektive Wirklichkeit im .Bewußtseinsinhalte liegt. Denn ich 
selbst habe dies gelehrt, und zwar einst, wie ich glaubte, als der 
einzige unter den philosophierenden Zeitgenossen. Aber nun beginnt 
auch mein Dissens. 

Wenn Braude findet, daß durch den Satz der Immanenz der 
Dualismus zwischen dem Erkennenden oder dem Subjekt und dem Er- 
kannten oder dem Objekte noch keineswegs überwunden ist, so kann 
ich nur entgegnen, daß dieser gar nicht überwunden werden soll und 
kann. Seine Ueberwindung würde den Begriff des Denkeng und Er- 


Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 657 


kennens und des Bewußtseins selbst aufheben. Das letztere weiß er 
freilich selbst, aber er schmälert den Wert dieser Anerkennung so- 
gleich durch eine Unterscheidung, welche für mich den Charakter 
der Geheimlehre hat. Denn S. 12 heißt es, >denn auch die ur- 
sprüngliche Tatsache des Bewußtwerdens trägt in der Unmittelbar- 
keit, wie wir sie erleben, bereits den ausgesprochenen Charakter 
einer Korrelation zwischen einem bewußtwerdenden Subjekt und 
einem bewußtgewordenen Inhalt, welche der Beziehung von Sub- 
jekt und Objekt im Akte des Erkennens völlig analog erscheint«. 
Ich finde nicht Analogie, sondern völlige Identität. Ich weiß 
nicht, was Erkennen anderes ist, als Bewußtwerden von solchem und 
solchem Inhalte, und wenn Braude es für etwas anderes hält, so ist 
das schon eine Inkonsequenz. Eine Inkonsequenz, denn er erklärt 
das Erkennen nicht durch Subsumtion unter Bewußtsein als Bewußt- 
sein von dem und dem (S. 13), sondern unter »thätige Stellung- 
nahme, Aktualität unseres Selbst gegenüber dem, was uns als Gegen- 
stand gegenüber tritt<, als wenn er von der erkennenden Seele spräche. 
Diese Aktualität wird uns, so behaupte ich gegen Braude, nicht ein- 
mal >in den Fällen klar, in denen wir ein sog. beziehendes Urteil 
fällen«e. Ich kann nur bedauern, daß mein Versuch, den Begriff der 
Tätigkeit zu erklären, keine Beachtung gefunden hat. Er hätte doch 
wenigstens darauf aufmerksam machen können, daß sie nicht, wie et- 
was Ursprüngliches, was der Erklärung weder fähig noch bedürftig 
ist, vorausgesetzt werden darf. Am nächsten liegt der auch von mir 
angeführte Sinn der Tätigkeit, daß eine Veränderung im Subjekte 
die Ursache einer Veränderung von Objekten sei, vorzugsweise wenn 
die Veränderung im Subjekte der Eintritt eines Willens ist, welcher 
die Veränderung von Objekten zu seinem Inhalte hat. Allein wenn 
ich auch dem Verfasser diese Meinung unterschieben wollte, um die 
Unterlassung der nötigen Erklärung gut zu machen, so wäre noch 
keineswegs klar, welchen Wert für die Erkenntnißlehre die Subsum- 
tion des Erkennens unter Aktualität habe. Denn wer zwei Steine 
sehend den einen größer als den andern findet, ist sich niemals einer 
Tätigkeit bewußt, welche er »von den bezogenen Gegenständen un- 
abhängig und nur den eignen Gesetzen des Denkens gemäß vollzöge. 
Diese >eignen Gesetze des Denkens< möchte ich kennen lernen. Wer 
in seiner Angabe über Gleichheit und Ungleichheit der wahrgenom- 
menen Dinge, z. B. der Größe zweier Steine nur den eignen Gesetzen 
des Denkens gemäß unabhängig von den bezogenen Gegenständen 
verführe, würde sehr bald nicht mehr für glaubwürdig gelten. Aber 
nehmen wir auch an, daß das gedachte Urteil ganz richtig in Ueber- 
einstimmung mit allen andern Wahrnehmenden ausfiele, es wäre doch 
nicht zu ersehen, welche Veränderungen im Subjekte, d.i. im Ur- 
Gétt. gel. Anz. 1901 Nr. 8. 44 


658 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


teilenden, die Ursache welcher anderen eintretenden Erscheinung sein 
sollte. Und wenn die hervorgebrachte Wirkung, — wie wir ver- 
muten müssen — das im Bewußtsein des Subjektes eintretende Urteil 
über Gleichheit oder Ungleichheit der Größe der beiden Steine sein 
soll, so wäre doch die Veränderung im Subjekte, welche dieses Er- 
gebnis hat, nicht entfernt angedeutet. Deshalb ist die »Aktualität« 
nur der allgemeine recht unklare Eindruck, daß Denken’ und Er- 
kennen kein ruhiger gleichmäßig verharrender Zustand, sondern eine 
Tätigkeit ist. Ich habe sie erklärt, aber meine Erklärung der An- 
wendbarkeit des Tätigkeitsbegriffes ist keine Erklärung des Denkens 
und Erkennens selbst. Wenn diese Tätigkeit, welche nach Braude in 
den Fällen des beziehenden Urteils »besonders klar« sein soll, auch 
in diesen Urteilen nach meiner Ansicht so wenig klar ist, muß sie 
für mich in allen andern Fällen noch viel weniger klar sein. Und 
auch bei Braude selbst muß sie etwas sehr Unklares sein, da ihm 
S.13 das Wort möglich ist, was von dieser Tätigkeit sich zu einem 
Erkenntnisakt zu einem Urteil verdichtet etc.<. Also »Verdichtung«! 

Verständlich wird diese Betonung der angeblichen Aktualität zu- 
nächst durch den Gegensatz der »Passivität« (S. 13), oder des Zu- 
standes >des bloßen Bewußtgewordenseins<«, in welchem sich die be- 
zogenen Gegenstände befinden. Aber ebenso verständlich wäre es, 
daß von einem Erleiden einer Einwirkung keine Rede ist, der Gegen- 
satz von Aktualität und Passivität also gar nichts erklärt, sondern 
blos die auch dem naivsten Bewußtsein bekannte Tatsache zum 
(nicht ebenso bekannten) Ausdrucke bringt, daß in jedem Vergleichungs- 
urteile die verglichenen Gegenstände, z.B. die oben genannten 2 
Steine, etwas anderes sind, als der Begriff der Gleichheit oder Un- 
gleichheit, welche von ihrer Größe, oder Farbe oder Gestalt ausge- 
sagt wird. 

Indeß Braude meint es nicht so. S. 17 wird die Aktualität des 
erkennenden Subjektes, an der ich oben gezweifelt habe, darin ge- 
funden, daß es dem Inhalt seines Urteils die Geltung einer Wahr- 
heit zuerkennt. Braudes Lehren über die Elemente der reinen Wahr- 
nehmung ruhen auf dieser Voraussetzung. Aber ich kann weder zu- 
geben, daß dieses >die-Geltung-einer-Wahrheit-zuerkennen< den er- 
klärungsbedürftigen Begriff der Tätigkeit oder Aktualität klarer 
machte, noch daß das Urteil nicht in der Verknüpfung von Vor- 
stellungen, sondern erst in dem »Annehmen oder Ablehnen einer 
Vorstellungsverknüpfung< bestehe. Aus dem Charakter der Aktualität 
wird nichts abgeleitet, er. ist also für uns gleichgültig, aber aus 
jener Lehre werden wichtige Consequenzen gezogen. Es liegt ja 
nichts näher, als daß, wenn nur das Annehmen oder Ablehnen das 
Erkennen oder Urteilen ist, die Verknüpfung nicht zu dem letzte- 


Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 659 


ren, sondern zum Wahrnehmen gehört, was Braude in verdienstlicher 
Ausführlichkeit dartut. Aber er hat sich doch diese seine These 
nicht klar genug gemacht, wenn er sie, S. 17, für gleichbedeutend 
damit hält, daß der Charakter der Erkenntnis doch unzweifelhaft in 
dem Wahrheitswerte liege, den wir dem Inhalte des Urteils beilegen. 

Es liegt ja freilich auf der Hand: ein Urteil, welches wir nicht 
für wahr halten, ist keine Erkenntnis. Das kann man nicht nur 
zugeben, sondern selbst eifrig behaupten, und doch Braudes obiger 
These, daß nicht schon die Vorstellungsverkniipfung , sondern erst 
deren Annehmen oder Ablehnen das Urteil sei, auf das lebhafteste 
widersprechen. 

Ich habe einst Anlaß gefunden, es wie eine neue Entdeckung 
recht hervorzuheben, obgleich es doch eigentlich selbstverständlich 
ist, daß jeder Denkende und Urteilende (das Denken vollzieht sich 
bekanntlich immer nur in Urteilen) überzeugt ist, wirklich Seiendes 
zu denken und im Urteil auszusprechen. Wenn freilich das Bewußt- 
werden dieses Reflexionsbegriffes Wahrheit von dem des Gegensatzes 
Irrtum abhängt, also zur Behauptung der Wahrheit immer der Ge- 
danke möglichen Irrtums als Anlaß gehört, so kann man doch auch 
in den Fällen ganz naiven Denkens, den Anspruch, Wahrheit erkannt 
zu haben, anerkennen, wenn sich ersehen läßt, daß er abweichenden 
Urteilen gegenüber ganz sicher erhoben werden würde, und wenn er 
durch die Tat bewiesen wird. Er gehört zum Wesen des Denk- 
oder Urteilsaktes. Und wird die Vorstellungsverknüpfung nur probe- 
weise als eine der Prüfung werte Möglichkeit gedacht, so ist auch 
diese Möglichkeit als eine wirklich vorhandene behauptet. Aber et- 
was anderes ist es, den Urteilsakt durch Subsumtion unter Wahrheit 
erklären zu wollen, während doch der Begriff Wahrheit (und Er- 
kenntnis) immer schon das Urteil voraussetzt. Wahrheit kann ja 
nur eine Beschaffenheit von Urteilen sein, welche immer erst im 
Gegensatz zu ihrer etwaigen Irrtümlichkeit behauptet wird. 

Wenn wir einem Urteile > Wahrheitswert beilegen<, so ist das 
Beilegen doch auch ein Urteil, welches dem früheren Urteile als 
dem Subjekte das Prädikat wahr beilegt. Soll vielleicht der Vor- 
stellungsverkniipfung: >»dieses Urteil ist wahr«, damit sie ein wirk- 
liches Urteil werde, aufs Neue Wahrheitswert beigelegt werden ? 
Was ist >die Stellungnahme< des Subjektes anderes, als das Urteil: 
»dieses Urteil ist wahr<? Will Braude das Urteil durch Subsumtion 
unter Annehmen oder Ablehnen erklärt haben, so soll er doch sa- 
gen, was das Annehmen anderes ist als wiederum das Urteil: dieses 
Urteil ist wahr, und was das Ablehnen anderes als das Urteil: die- 
ses Urteil ist nicht wahr. Und noch niemand hat gesagt, wodurch 
die Urteile, das Urteil »die Erde ist rund, ist wahr« und das Urteil 
»die Erde ist eine Scheibe, ist unwahr< sich von den Ürtellen rhe 

AA* 


660 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


Erde ist rund< und »sie ist keine Scheibe« anders unterscheidet, als so 
wie die naive Selbstverständlichkeit, daß da Wirkliches Bewußtseins- 
inhalt geworden ist, von der Reflexion auf die Möglichkeit des Irr- 
tums. Und endlich bin ich im höchsten Grade der Belehrung darüber 
bedürftig, worin eine Vorstellungsverknüpfung, welche noch nicht 
Urteil, d.h. noch weder angenommen noch abgelehnt, weder aflır- 
mativ noch negativ ist, bestehen mag. Was ich meine wird durch 
den Gegensatz klar. Wie unterscheiden sich die unverknüpften Vor- 
stellungen Erde und rund von der Verknüpfung? Worin kann denn 
die Verknüpfung von Vorstellungen bestehen außer in der Identifi- 
cierung oder Unterscheidung im Akte der Vergleichung und außer 
in der behaupteten Zusammengehörigkeit, >die Erde ist rund«? 
Oder was bedeutet sonst dieses >ist<«? Ist das noch kein Urteil? 
Ja, wird man antworten, »diese Verknüpfung habe ich ja schon an- 
genommen«. Gut, aber was für eine Verknüpfung ist vor der An- 
nahme oder Ablehnung vorhanden ? 

»Die Auffassung des Erkennens als einer anerkennenden Stellung- 
nahme< soll (S. 18) zum eigentlichen Problem der Erkenntnistheorie 
führen, welches Braude in der Frage nach den Erkenntnisgründen, 
welche das erkennende Subjekt in seiner Stellungnahme gegenüber 
der Geltung unserer Urteile bestimmen können, findet. Aber ich 
meine die »Gründe, welche etc.< müssen selbst Erkenntnisse sein, 
weshalb ich es für richtiger halte, das eigentliche Problem der Er- 
kenntnistheorie in der Frage: was ist Erkenntnis? zu finden, in de- 
ren Beantwortung selbstverständlich auch, wie sie zu Stande kommt 
und ihre Geltung und ihr Umfang zur Darstellung gelangt. Die 
Frage nach den Gründen des Annehmens oder Ablehnens setzt die 
Klarheit des Begriffes Erkenntnis voraus. 

Der Grund für die Anerkennung des Wirklichkeitscharakiers ist die 
Anerkennung eines tatsächlichen Erlebtseins eines Vorstellungsinhaltes. 
Dieses Erleben heißt Wahrnehmen und so kommt Braude zu dem Satz: 
die Wahrnehmung ist der alleinige Erkenntnisgrund aller Wirklichkeit, 
dem ich, obgleich ich selbst das Erleben, d.i. den tatsächlichen Bewult- 
seinsinhalt hier und jetzt als Ausgangspunkt benutzt habe, wider- 
sprechen muß. Die tatsächliche Wahrnehmung ist nicht der Erkennt- 
nisgrund der Wirklichkeit, den das Subjekt erst aus andern Ueber- 
legungen über den Begriff des Wirklichen hinzubringen müßte, son- 
dern die Erkenntnistheorie lehrt: das Wirkliche ist das Erlebte oder 
das Wahrgenommene (natürlich Erklärung des Irrtums vorbehalten). 

Neben diesen Wirklichkeitsaussagen giebt es »beziehende Urteile«. 
Aber Braude findet das Urteil nicht schon in dem Beziehen selbst, 
sondern läßt uns erst »über den Charakter dieser Beziehungen Urteile 
fällen«, S.21 z.B. das Aehnlichkeitsurteil. Die ausgesagte Aehnlich- 
keit ist nichts in dem Inhalt der verglichenen Vorstellungen, sondern 


Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 661 


dieses Prädikat ist >erzeugt durch eine spontane Tätigkeit des ak- 
tuellen Subjekts<. Aber Braude rechnet merkwürdiger Weise Gleich- 
setzung und Unterscheidung nicht zu den so erzeugten Prädikaten, 
sondern zu >den unmittelbaren Bestimmungen des passiven Gegeben- 
seins der Vorstellungsobjekte«. Wie mag er da wol Aehnlichkeit 
definieren ? Doch kommt es darauf jetzt weniger an, als auf den Er- 
kenntnisgrund. Die erkenntnistheoretische Frage, welche in dieser 
Anwendung der Kategorie gefunden worden ist: wie kann diesen vom 
Subjekt erzeugten Begriffen objektive Geltung zukommen ? oder wie 
kann behauptet werden, daß die Vorstellungsinhalte a und b wirklich 
einander ähnlich sind? beantwortet Braude zunächst inhaltlich gar 
nicht. Denn ich halte es für gar keine Antwort, wenn er sich, S. 23, 
nur »auf die unmittelbare Natur des Denkens, der aktuellen Funk- 
tion des Subjektes beruft, und auf die den Gesetzen dieser Funktion 
innewohnende logische Evidenz, die uns unmittelbar zwingt, das be- 
wußtgewordene Ergebnis unseres Denkens als giltig anzuerkennen«. 
Aber S. 29ff. nimmt er sich der Frage an und handelt von der 
Objektivität und der Allgemeingiltigkeit der Erkenntnis. Von jener 
im Sinne der Uebereinstimmung mit ihrem Gegenstande kann keine 
Rede sein, aber die Allgemeingiltigkeit (= Unabhängigkeit vom in- 
dividuellen Subjekt und Notwendigkeit) wird anerkannt, nur kann ich 
seine Begründung nicht gutheißen. Das Subjekt des Erkennens ist 
nämlich nach Braude nicht das individuelle Ich, sondern »das Be- 
wußtsein überhaupt (S. 32), welches das Subjekt schlechthin für alle 
Wahrnehmungsinhalte und alle Urteile ist und welches selbst niemals 
Objekt wird, weil es eben das unentbehrliche Bewuftseinkorrelat zu 
allen Objekten ist«. Und doch denkt auch Braude, wie ich und alle 
andern, das Bewußtsein überhaupt, denkt das Ich, welches sich seiner 
bewußt wird. Er will dem Bewußtsein Vorschriften machen! Nach 
seiner Darstellung der Sache kann es überhaupt keine Erkenntnis 
geben. Die Erklärung der Allgemeingiltigkeit, welche das Bewußtsein 
überhaupt leisten soll und kann, wird vernichtet, wenn es, S. 33, »das 
Gesammtsubjekt< »eine Summe mehrerer Subjekte des Erkennens«, 
S. 36 »ein Komplex mehrerer Einzelbewuftseine<, wenn, S. 37, »das 
Einzelbewußtsein ein Teil des erkennenden Subjekts iiberhaupt< ge- 
nannt wird, und wenn S. 42, »das Bewußtsein überhaupt ja auch nur 
eine Gesammtheit von Einzelsubjekten darstellt«. Es ist auch ganz 
konsequent, wenn er, S.49, den Unterschied zwischen subjektiver und 
objektiver Erkenntnis nicht aus der Notwendigkeit der Ueberein- 
stimmung zwischen den Wahrnehmungen ableiten will. Sie ist ja 
erst das Problem, und, setze ich hinzu, es kann gewiß nicht gelöst 
werden, wenn wir blos die Tatsachen registrieren dürfen, daß die vie- 
len einzelnen Menschen so zu denken pflegen. Der Begriff der 


662 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


Wahrheit und Wirklichkeit kann erst der Ertrag der erkenntnis- 
theoretischen und logischen Untersuchung sein und vorher muß aus 
dem Bewußtsein überhaupt, d.i. nicht der Summe der einzelnen, son- 
dern dem gemeinsamen gattungsmäßigen Wesen erwiesen sein, daß 
die Wirklichkeit, welche Objekt oder Inhalt des Denkens sein soll, 
ein durchgängig zusammenhängendes in sich übereinstimmendes Ganzes 
sein muß und daß diese Wirklichkeit erst von dem Kausalprincip kon- 
stituiert wird, wie ich an vielen Stellen meiner Schriften behauptet habe. 

Gegen die Umdeutung unserer Urteilsevidenz in ein Sollen 
wendet sich Braude S. 49—57 mit bestem Erfolge, und kommt S. 57 
zur Beurteilung eines »weiteren Versuchs der neueren Erkenntnis- 
theorie, über das in Frage stehende Problem hinwegzukommen«. Er 
meint damit den Versuch, auch die reinen Wahrnehmungsurteile als das 
Resultat einer Bearbeitungsfunktion des Denkens darzustellen. Warum 
er dies eine »dogmatische Voraussetzung<, warum nachwirkende 
Tradition des Rationalismus< nennt, warum er Kant »in Bezug auf das 
Wahrnehmungsurteil« der Inkonsequenz beschuldigt, ist mir nicht klar 
geworden. »Wenn wir die Wahrnehmung als letzte Tatsache anerkennen 
müssen, welche uns alle Kenntnis der wirklichen Vorstellungsobjekte 
vermitteln kann, so fehlt uns damit principiell auch jede Möglichkeit, 
die Inhalte der Wahrnehmung noch weiter als ein Produkt gesonder- 
ter Elemente im genetischen Sinne zu erklären« heißt es S. 61. Frei- 
lich, wenn alsletzte. Es fragt sich aber, ob das, was Braude Wahr- 
nehmung nennt wirklich das Letzte nicht mehr Analysierbare ist. 
Leider hat er es nicht zu erklären versucht, sonst würde er wol auch 
darauf verfallen sein, daß es aus lauter mit räumlichen und zeit- 
lichen Bestimmtheiten versehenen Empfindungsinhalten besteht. 

Die »Lehrmeinung, daß wir in der Natur nur das erkennen«, was 
wir in sie hineintragen«, hat Braude nicht gehörig gewürdigt und mié- 
versteht auch den Sinn »der Bearbeitung<, welche ich und andere >in 
die unmittelbare Wahrnehmungserkenntnis hineintragen<. Wenn 
ich in der Wahrnehmung eines blühenden Baumes und der in ihm 
singenden Vögel außer den reinen Empfindungsinhalten auch Be- 
stimmtheiten finde, welche nicht durch die Sinnesnerven gegeben sein 
können, so ist das ein Ergebnis vorurteilslosester Analyse, und ich 
habe nichts in Folge der vorgefaßten »Lehrmeinung< in die unmittel- 
bare Wahrnehmungserkenntnis >hineingetragen<«. Auf das Wort »Be- 
arbeitung< kommt dabei gar nichts an. Braude setzt sich dieselbe 
Aufgabe der logischen Analyse, S. 62, aber er nennt als deren Ob- 
jekt »die Vorstellungswelt<, ohne uns über den Sinn dieses Wor- 
tes ausreichend belehrt zu haben. Denn die eingangs gegebene Be- 
lehrung über das rein passive Bewußtwerden im Gegensatz zur 
»Aktualität« enthielt ja nur die Behauptung, welche jetzt erst erwiesen 


Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 663 


werden soll. Da erfahren wir denn, damit das rein passive Bewußt- 
werden nicht etwa durch unsere falsche Auffassung in der behaupteten 
reinen Passivität bezweifelt werden könne, S. 67, es sei ja von vorn- 
herein klar, daß der Charakter des Subjekts und die Formen seiner 
Betätigung bei der untrennbaren Natur der Subjekt- und Objektkor- 
relation notwendigerweise bei den Objekten selbst zur Geltung 
gelangen und auch deren Inhalte ihren Stempel aufdrücken 
müssen. Noch mehrfach wird von diesem Hülfsmittel Gebrauch ge- 
macht (S. 86 »Produkt des unmittelbaren Verhältnisses des Subjekts 
zu seinen Okjekten und a.a.0O.). Da doch von dem rein Gegebenen 
als solchen gewiß dieser Charakter, das Produkt des unmittelbaren 
Verhältnisses, dieser Stempel zu unterscheiden ist, so hat Braude drei 
Grundfaktoren der Erkenntnis, nicht nur 1) das Gegebene und 2) das 
Denken, sondern noch 3) (wol zwischen ihnen stehend) diesen Cha- 
rakter, Stempel etc. Und das ist nicht etwa der Ertrag einer grund- 
legenden Untersuchung, sondern es kommt so gelegentlich zu Platze, 
wie etwas Selbstverstandliches. Das Demonstrandum ist dabei voraus- 
gesetzt. Worin besteht denn dieses »Zur-Geltung-gelangen des Cha- 
rakters des Subjekts<, und was ist der Stempel? Vielleicht genau 
dasselbe, was ich und andere Bearbeitung nennen, was ich (ich setze 
das Wort »vergleichsweise« dazu) die Wirksamkeit des Identitäts- 
prinzipes nenne, was ich meine, wenn ich die Natur der Kategorie 
mit dem Worte darstelle; es muß am Subjekt liegen, daß ihm nichts 
gegeben sein kann ohne die logischen Bestimmtheiten, die wir Iden- 
titätsprineip nennen. Es ist kein Fortschritt, wenn uns ebenda — 
um das was ich der Kategorie der Identität zuschreibe, zum Gegebe- 
nen zu ziehen — versichert wird, »wie uns ein Vorstellungsinhalt ge- 
geben ist, ist er uns in ‘seiner vollen Inhaltlichkeit und in durch- 
gängiger Uebereinstimmung mit sich selbst, mit der Gesammtheit 
dessen, was er enthält, bewußt, und in dieser totalen Gegebenheit 
ihres Inhaltes gehört jede Vorstellung zur unmittelbaren Wirklich- 
keit<. Natürlich, auch nach meiner Lehre kann uns kein Vorstellungs- 
inhalt anders gegeben sein. Auch ich lasse ihn sich nicht aus Be- 
standteilen, die auch für sich allein existieren könnten, zusammen- 
setzen, auch ich kann für die kategorialen Begriffe dasselbe und 
nicht dasselbe den Ausdruck »gegebene« hinnehmen, aus dem von mir 
angeführten Grunde, weil wir uns nicht bewußt sind, sie erst im 
Laufe unseres Lebens aus eigner Tiefe hervorzubringen. Aber das 
kann alles nicht hindern, daß wir in der Analyse des Bewußtseins- 
inhalts das durch die Sinne Gegebene und die positive Bestimmtheit, 
von der alles Unterscheiden und Wiedererkennen abhängt, unter- 
scheiden. Das Wort Vorstellungsinhalt verdunkelt den Punkt, auf 
den alles ankommt; der Gegensatz ist das durch die Erregung des 


664 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


Sinnesnervs Zugeleitete und die kategoriale Funktion. Will Braude 
etwa, daß diese in derselben Art und Weise wie die Sinnesquali- 
täten gegeben sei, obgleich sie doch für alle noch so verschiedenen 
Nervenerregungen dieselbe ist und nie erfahren oder durch Erfah- 
rung bestätigt zu werden braucht, während, welche Sinnesqualitäten 
es gibt, immer nur erfahren werden kann? Die Fixierung der posi- 
tiven Bestimmtheit im Gegensatz zur Unterscheidung kann freilich 
von der bewußtwerdenden Qualität nicht losgelöst werden, ohne sie 
kann ja keine Qualität bewußt werden, wie ich selbst in der Erk. 
u. Log. und im Grdriß gelehrt habe, aber deshalb ist es doch 
möglich, diese Fixierung nicht der Qualität als solcher, sondern dem 
Bewußtwerden derselben zuzurechnen. 

Braude nennt es das Erfassen einer gegebenen Vorstellung und 
wählt dafür den Terminus >inhaltliches Identitätsbewußtsein«. Dabei 
muß natürlich der Terminus Identität zur Erläuterung kommen und 
Braude bekämpft u. a. auch meine Deutung der Identitätsurteile. 
Wenn man in dem Rot hier und dem Rot dort die räumlichen Be- 
stimmtheiten hier und dort, welche die zur Vergleichung nötige Ver- 
schiedenheit hergeben, wegläßt, so bleibt, meint Braude, doch nur 
das weder räumliche, noch zeitliche Rot übrig, welches nicht mehr 
vergleichbare Zwei, sondern nur eins ist. »Was hat es also für 
einen Sinn zu sagen, das identische Rot sei deswegen verschieden, 
weil es an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gegeben 
erscheint?« S. 75. Damit soll ich widerlegt sein! Das identische 
Rot sei — verschieden, habe ich nie gesagt. Daß es zwei ganz 
gleich rote Stellen geben könne, wird wol Braude nicht läugnen 
wollen; von der Zweiheit der Erscheinungen spreche ich, welche aber 
nicht ausschließt, daß in beiden ein Moment oder Element ist, wel- 
ches, sobald wir von den die Zweiheit begründenden örtlichen oder 
zeitlichen oder sonstigen Unterschieden absehen, nicht mehr zwei, 
sondern nur eins ist. So habe ich es gemeint. Um das Problem zu 
lösen, bestreitet Braude S. 80, daß Identität ein Relationsbegriff sei 
und notwendig eine Zweiheit voraussetze, und schließt S. 82, da bei 
einer wirklichen totalen Selbigkeit gegebener Vorstellungsinhalte von 
einer Zweifachheit derselben gar nicht geredet werden könne, so 
stelle sich »das Bewußtsein der logischen Identität überhaupt nicht 
mehr dar als das Produkt einer beziehenden Funktion des Denkens, 
welches zwei gesonderte Vorstellungsinhalte vergleicht, sondern es 
ist das konstante Bewußtsein des schlechthin mit sich übereinstim- 
menden Vorstellungsinhaltes selbst, der immer wieder, wenn er auch 
im Bewußtsein auftaucht, als derselbe festgehalten und erkannt wird. 

Allein wenn ein Vorstellungsinhalt immer wieder, wenn er auch 

im Bewußtsein auftaucht, als derselbe festgehalten und erkannt wird«, 


Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 665 


so ist er durch Verschiedenheit der Zeitpunkte, in welchen er auf- 
taucht, ein mehrfacher, das rot jetzt und das vorhin oder neulich, 
und wenn Braude es »>als dasselbe festhält und erkennt<, so hat er 
in den beiden oder mehreren der Zeit nach verschiedenen Vor- 
stellungsinhalten das identische Moment erkannt. Das Prädikat 
‚dasselbe< ist ohne Beziehung auf eine zweite Erscheinung, in wel- 
cher es auch vorkommt, vollständig sinnlos. »So betrachtet ist die 
logische Identität — Braude sagt »kein Relationsbegriff< — ich sage 
doch ein Relationsbegriff, S. 82, und wenn er hinzusetzt, »sondern 
nur der sprachliche Ausdruck für das tatsächliche und kon- 
stante Vorhandensein eines Vorstellungsinhaltes im 
Bewußtsein und der Fähigkeit des letzteren, seine Vorstellungen 
stets in der Totalität ihres Gegebenseins aufzufassen<, so ist erstens 
die Totalität des Gegebenseins eine unklare Redensart, zweitens aber 
das »stetse doch wieder die Hindeutung auf die nur zeitlich ver- 
schiedenen Vorstellungsinhalte. Eigentlich hebt Braudes Scharfsinn 
das Zählen auf, da bekanntlich immer nur Gleichartiges gezählt wer- 
den kann und die Gleichartigkeit immer in einem identischen Moment 
besteht. Wenn 1000 Soldaten gezählt werden, so ist doch das Sol- 
datsein dasselbe eine Identische, denn von ihren sonstigen Unter- 
schieden wird ja geflissentlich abgesehn. Nach Braude müssen sie sich 
ebenso wenig als 1000 verschiedene unterscheiden lassen wie die zwei 
rot. Wenn er meinen sollte, daß wir uns beim Wiedererkennen wie 
auch bei Unterscheiden unzähligemale keines Identitäts- und Unter- 
scheidungsurteils bewußt werden, so wäre das doch etwas anderes, was 
ich übrigens ausdrücklich anerkannt habe, s. Grundriß der Erk. und 
Log. S.40. Aber wenn wir sagen sollen, worin eigentlich »das in- 
haltliche Identitätsbewußtsein«, S. 83, besteht, so bleibt uns doch 
nichts anderes übrig, als >die aktuelle Urteilsfunktion«. Freilich soll 
es zu dieser, dem Identitätsurteil, noch »der Anerkennung des im 
Bewußtsein Gegebenen durch das Subjekt des Erkennens« bedürfen. 
Doch möchte ich fragen, ob das »inhaltliche Identitätsbewußtsein« 
sich nicht von dem Nichtidentitätsbewußtsein unterscheidet. Tut es 
dies, so ist ganz sicher in ihm schon das Urteil (nach gemeinem 
Sprachgebrauch), daß das Rot jetzt und das gestern, das hier und 
dort eines und dasselbe ist, nur in verschiedenen Zeitpunkten und 
an verschiedenen Orten erscheinend bez. »im Bewußtsein auftauchend« 
enthalten. Oder heißt Identitätsbewußtsein nicht Bewußtsein von 
Identität? Und was heißt Bewußtsein der Identität, wenn das Sub- 
jekt von der Identität nichts weiß? Ich definiere das Identitäts- und 
Unterscheidungsurteil mit denselben Worten »Bewußtsein der Iden- 
tität und Verschiedenheit«. 

Vermutlich steckt Braude ein nicht zu klarem Bewußtsein gebrach- 


666 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


ter Gegensatz im Sinne, der nicht erkenntnistheoretisch-logischer, son- 
dern psychologischer Art ist. Es ist eine hochbedeutsame psycho- 
logische Tatsache, die ich mehrfach anerkannt habe, daß des Men- 
schen Denken beginnt und sich auch beim Erwachsenen und sogar 
beim gebildeten Erwachsenen oft vollzieht, ohne als solches bewußt 
oder doch ohne klar bewußt zu werden. Mit gleichem Rechte könnte 
man die unzähligen Schlüsse aller Art, welcher sich der gemeine 
Mann nicht bewußt wird, obgleich er die Konklusionen in seinem 
Reden und Handeln verwendet und welche sich so blitzschnell im 
Gedankenlauf vollziehen, daß auch der Gebildete, um sie darzustellen, 
noch der Ueberlegung bedarf, zum Gegebenen, nicht zur Urteils- 
funktion rechnen. 

Wenn das >inhaltliche< Identitätsurteil auf der realen Evidenz< 
(das war die der Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalte) beruhen 
und deshalb der Sphäre der wahrgenommenen Wirklichkeit angehören 
soll, so habe ich ein Zweifaches zu erinnern, 1) daß Braude sich 
dem Schlusse, daß dann die inhaltliche Identität (gegen seine Lehre) 
selbst auch Vorstellungsinhalt sein muß, durch eine nichtssagende 
Redensart entzieht, denn eine solche und nichts anderes sind die 
Worte, S. 84, »die inhaltliche Identität ist zwar nicht selbst Vor- 
stellungsinhalt, sie ist aber der unmittelbare Ausdruck des Ver- 
hältnisses des vorstellenden Subjekts zu seinen Vor- 
stellungen.« Dieses Verhältnis ist sehr dunkel, wenn es nicht das 
des Denkens zum Gegebenen der Sinne als seinem Okjekt ist; er 
hätte es einer eingehenden Untersuchung unterwerfen sollen. 

Und zweitens. Die Wirklichkeit der inhaltlichen Identität kann 
man ganz und gar anerkennen, ohne sie mit Braude in Gegensatz zur 
Denkfunktion als »Wahrnehmung« zu bezeichnen. Ich habe gerade 
vom Standpunkte der Immanenz aus mit besonderer Betonung er- 
klärt, daß die Kategorien, obwol zum Bewußtsein überhaupt gehörig 
oder ihm entstammend, die objektiv wirkliche Welt bilden. Die 
Data sind wirklich einander gleich oder ungleich, stehen wirklich in 
kausalem Zusammenhange. Mein Denken (Anerkennen) dieser Be- 
ziehungen ist kein innerseelisches Abbilden der »wirklichen«, sondern 
ich werde mir der wirklichen bewußt. Das Bewußtsein ist eben mit 
seinem ganzen wirklichen und möglichen Inhalt ein Ganzes, durch 
keine Grenze von ihm abgetrennt. 

Aber diese erkenntnistheoretische und logische Reflexion über 
Natur und Herkunft dieser Beziehungen, ja sogar die Unterscheidung 
derselben von dem Gegebenen der Sinne kann auch fehlen, und dann 
werden sie, die ja sozusagen in den Dingen stecken und das Gerüst 
der Welt bilden, auch ganz wie Gegebenes angesehn. Vgl. Erk. Log. 
8.91. 123 u. Grdriß S. 37. Daß wir in der Formel a = a, dem wieder- 


Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 667 


holten und gleichen A nur den Ausdruck der unveränderlichen Konstanz 
desselben Bewußtseinsinhaltes zu erblicken haben (S. 84), muß ich dem 
Sinne nach gutheißen, bedaure aber den unglücklichen Ausdruck Kon- 
stanz. Erist unglücklich, weil er das Identitätsprincip darin zu finden 
scheint, daß wirkliche Bewußtseinsinhalte es als ihre eigne Eigenschaft 
haben unveränderlich zu verharren, vielleicht im Gegensatz zu solchen, 
welche, veränderlicherer Natur, nicht in Konstanz verharren. Haben 
wir den Bewußtseinsinhalt derselben bestimmten Röte, welche wir 
früher schon gesehen haben, dann sollen wir ihr die unveränder- 
liche Constanz nachsagen ? Wenn wir jetzt aber Grünes sehen, sollen 
wir dem einstigen Rot nachsagen, daß es nicht in unveränderlicher 
Konstanz verharrt habe? Das wird gewiß auch Braude nicht wollen. 
Wenn wir einen alten Bekannten mit ganz unveränderten Gesichts- 
zügen wiedersehen, so ist bei dem Wiedererkennen gewiß das Iden- 
titätsprincip sozusaggn in Funktion, aber nicht das ist sein Sinn, daß 
dieses Ding im Gegensatz zu anderen (bisher !) unveränderliche Kon- 
stanz bewiesen habe. Von den gestern gesehenen Blüten ist heut die 
eine noch so wie gestern, die andere hat sich verändert. Das Prä- 
dikat unveränderlich setzt sein Subjekt, dem es nachgesagt wird, ge- 
rade so in die Zeit, wie das Prädikat veränderlich; jenes hat nur 
Sinn, wenn das Subjekt doch überhaupt der Veränderung fähig ist. 
Von den Eigenschaften eines Dinges kann man ja freilich auch den 
Ausdruck brauchen, daß sie sich veränderten oder aber unveränder- 
lich verharrten, aber doch immer nur in dem Sinne, daß sie noch 
anwesend sind oder aber aufgehört haben, dieses Dinges Eigenschaft 
zu sein, also immer eigentlich dem Dinge wird nachgesagt, daß es 
einmal eine Eigenschaft hat und dann wieder nicht, oder daß es 
eine seiner Eigenschaften dauernd hat. Aber der abstrakte Begriff 
rot ist als Abstraktum der Zeit entnommen und man kann ihm eben 
deshalb unveränderliche Konstanz ebensowenig als seine Eigenschaft 
nachsagen, wie Veränderlichkeit, so wenig wie man den Stein, weil 
er nicht klug ist, unklug nennt. 

Was Braude nun aus seinen bisherigen Aufstellungen, S.86 und 
87, folgert, »daß in der Welt gegebener Wahrnehmungen jeder 
Bewußtseinsinhalt vermöge seiner eignen inhaltlichen Be- 
stimmtheit, sich im wahrnehmenden Bewußtsein von selbst aus der 
Gesammtheit der übrigen Inhalte zu eigener Realität loslöst« und 
daß es unzulässig sei, von der Art, wie Vorstellungsinhalte gegeben 
sind, zu sprechen, verstehe ich wol nicht. Vielleicht findet Braude 
für die von mir gemeinten Unterschiede den Namen »Arten des Ge- 
gebenseins« nicht passend, aber diese Unterschiede selbst, ob als 
gegenwärtige Sinnesempfindung oder als Erinnerungsbild gegeben, 
ob mit aller räumlicher und zeitlicher Bestimmtheit oder ganz 


668 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


ohne solche im Bewußtsein anwesend, wird er doch nicht läugnen 
können. Warum diese Bezeichnung so ganz unzulässig ist, kann 
ich aus seinen bisherigen Darlegungen nicht ersehen. Braude hätte 
vielleicht besser gesagt, daß es bei seiner Untersuchung auf diese 
Unterschiede gar nicht ankomme, sondern blos auf das Gegeben- 
sein. Aber mir kam es bei der Offensichtlichkeit dieser Unterschiede 
darauf an trotz ihrer das Gegebensein zu behaupten, daß die Qua- 
lität rot auch wenn sie ohne alle räumliche und zeitliche Bestimnt- 
heit im Bewußtsein anwesend ist, doch nicht vom Denken erzeugt 
ist, sondern gar kein möglicher Bewußtseinsinhalt wäre, wenn sie 
nicht vorher schon mit aller räumlichen und zeitlichen Bestimmtheit 
Gegebenes gewesen wäre. 

Daß sie (Braude sagt in dem ersten der angeführten Sätze »je- 
der Bewußtseinsinhalt<) »sich im wahrnehmenden Bewußtsein von 
selbst aus der Gesammtheit der übrigen Inhalte zu eigner Realität 
loslöst«, soll die Tätigkeit des Denkens bei diesem Ereignisse aus- 
schließen, damit es ganz und gar der Wahrnehmung verbleibe. Ich 
habe solche Ausdrücke auch gebraucht, nur eben als Bilder, und 
nicht daran gedacht, im Ernste eine Tätigkeit des Sichloslösens einem 
Bewußtseinsinhalt anzudichten. Wir wissen gar nicht, wie es sich 
begibt, daß ein Bewußtseinsinhalt später ohne die Umgebung, in der 
er zuerst erblickt worden ist, auftritt. Auch wie das Subjekt die 
Loslösung vornimmt, kann nicht gesagt werden. Aber für mich ist 
es auch ganz gleichgültig, wer dabei im sprachlichen Ausdruck zum 
Subjekt gemacht wird, da ich doch nur die Tatsache, daß statt 
eines früheren abc nun einmal blos a im Bewußtsein anwesend ist, 
geltend machte und das Denken schon in diesem Im-Bewußtsein-haben 
finde, von einer besonderen rein subjektiven Denktätigkeit aber 
nichts weiß. Braude mißversteht mich, wenn er mir die Meinung 
nachsagt, S. 84, »nur das Gesammtobjekt sei das einzig Wirkliche, 
und das Vorstellungselement (er meint mein »Erscheinungselement«) 
sei ein Nichtwirkliches nur durch funktionelle Unterscheidung zu Ge- 
winnendes«. Das »funktionelle haben wir ja schon abgemacht, und 
ich begnüge mich, wenn Braude nur Unterscheidung zugesteht. Und 
da wird er wol nicht läugnen können, daß, was wir im Gegebenen 
unterscheiden, doch zum Gegebenen gehört und — so wie ich es 
behaupte — die Wirklichkeit des Gegebenen hat, da wird er ferner 
nicht läugnen können, daß uns nicht zuerst die Erscheinungselemente 
gesondert zum Bewußtsein kommen, aus denen wir erst ein konkretes 
Ganzes zusammensetzten, und daß bloße Röte ohne Ort, Größe, Ge- 
stalt niemals ein erlebter Empfindungsinhalt ist. Was ich da gemeint 
habe, ist unschwer zu ersehen. 

Wenn er sie »für sich gegeben< nennt, so hat er den neuen 


Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 669 


Sinn dieses Terminus anzugeben, wenn er sie reale Elemente nennt, 
so hat er nur meine Ansicht ausgesprochen. 

In Sachen der »räumlichen und zeitlichen Wirklichkeitselemente » (im 
zweiten Kap.) befindet Braude sich, obgleich er ganz andre Aus- 
drücke braucht, als ich, fast vollständig in Uebereinstimmung mit 
meinen Lehren. 

Nur seine Erörterung der sog. Allgemeinvorstellungen will ich 
noch hervorheben. 

Ich stimme ganz mit ihm darin überein, daß die Allgemeinheit 
eines Elementes nicht erst das Produkt einer Abstraktion aus meh- 
reren Objekten, sondern eine den Vorstellungen selbst im Bewußt- 
sein unmittelbar innewohnende Eigenschaft ist‘), und auch darin, daß 
die Raumvorstellung nicht in diesem Sinne allgemein ist, sondern daß 
ihre Allgemeinheit nur den ganzen Raum, von welchem jeder be- 
grenzte Raum ein Teil ist, meine. 

Bei der Allgemeinvorstellung Baum, sagt Braude, unter welche wir 
Tanne und Eiche und Palme subsumieren, S. 164, denken wir nicht oder 
brauchen wenigstens nicht zu denken an den naturwissenschaftlichen 
Begriff des Baumes, »sondern wir meinen (ganz richtig) etwas tatsäch- 
lich Wahrgenommenes auszusprechen, indem wir in der Gestalt sowol 
der Tanne, als auch der Eiche und der Palme die Gestalt eines Baumes 
wiedererkennen«. (Ueber welchen Weg der Begriffsbildung zu vergl. 
Erk. Log. 487—495). Und diese Baumvorstellung soll, S. 165, inhalt- 
lich nichts anderes sein, als die unmittelbare Vorstellung der Gliede- 
rung der Teilgestalten und ihrer gegenseitigen räumlichen Lagebe- 
ziehung innerhalb der Gesammtgestalt. Aber Braude irrt, wenn er, S.166, 
diese letztgenanute Vorstellung nicht für eine Allgemeinvorstellung hält. 
Das in allen identische Moment der Gliederung der Teilgestalten und 
ihrer gegenseitigen räumlichen Lagebeziehung ist nach meiner An- 
sicht freilich auch in dem unmittelbaren Gesichtsbild enthalten, aber 
doch nur so, wie das Abstrakte im Konkreten mitenthalten ist. Denn 
in dem tatsächlichen Gesichtsbilde ist bei jedem Baume die gemeinte 
Gliederung eine etwas andere, als bei jedem andern. 

Sehr treffend ist die Bemerkung, S. 186, >die Tatsache, daß wir 
in einem Wahrnehmungsakte die verschiedenen Zeitwerte »durch- 
laufen<« und dieselben zusammenfassend verknüpfen müssen, um die 
gesammte Zeitvorstellung zu gewinnen, ist, wenn wir uns ihrer re- 
flektierend bewußt werden, als objektiver Wahrnehmungsinhalt 
der Zeitvorstellung selbst völlig koordiniert; denn indem sie uns den 
Wahrnehmungsakt in seiner Gegebenheit als psychische Wirklichkeit 
zeigt, gehört sie nicht mehr zum Subjekt des Erkennens, sondern in 
die Objektssphäre des unmittelbaren Bewußtseins«. 

»Die qualitativen Wahrnehmungselemente< (im dritten Kapitel) 

1) Cf. Erk. Log. S. 204f. Grundriß d. Erk. u. Log. 8. 91. 


670 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 


sind, S. 188, erlebter Vorstellungsinhalt, dessen wir uns bewußt wer- 
den,< worin ich vollständig beistimme. Wenn es eben da weiter heißt 
>Und ebenso unmittelbar erlebt und mit der einfachen Tatsache des 
Bewußtwerdens der Vorstellungsinhalte gegeben ist auch das Be- 
wußtsein der inhaltlichen Sonderung der verschiedenen Qualitäten von 
einander. Um zu wissen, daß rot nicht blau und nicht süß ist, 
brauche ich nicht erst rot, blau und süß aus irgend einer inhaltlichen 
Vermischung durch einen besondern Akt des Bewußtseins von einan- 
der zu unterscheiden etc.<, so habe ich darauf hinzuweisen, daß ich 
nirgend etwas von einem besonderen Akt des Bewußtseins dieser 
Art lehre, sondern im Gegenteil auf das nachdrücklichste betone, 
daß die Tätigkeit des Denkens, wenn sie etwas anderes sein soll, als 
das Bewußtsein oder Bewußtwerden der und der Inhalte nichts ist, 
die des Unterscheidens also mit dem Bewußtsein oder Bewußtwerden 
der Verschiedenheit zusammenfallt. Denken nenne ich dieses Be- 
wußtsein, weil dieser Inhalt, obgleich er immer mit Gegebenem zu- 
gleich auftritt, nicht durch die Sinnesnerven gegeben ist, also auf 
Rechnung dessen zu setzen ist, daß etwas einem Bewußtsein 
als sein Inhalt gegeben ist. Braude unterscheidet sich von mir da- 
durch, daß er statt Bewußtseinsinhalt »Wahrnehmungs- oder Vor- 
stellungsinhalt« sagt, das unklare Wort >inhaltliches Identitätsbewußt- 
sein< und endlich das viel unklarere »Stempel etc.< (s. oben) braucht. 
Nur dem Dogma zu lieb, daß das Denken nur eine beziehende Funk- 
tion ist und daß das Bewußtsein der Verschiedenheit von rot und 
blau und süß oder m. a. W. das Bewußtsein, daß rot nicht blau 
und nicht süß ist, keine Beziehung enthielte, also kein Denkakt 
wäre, bekämpft Braude, S. 191, meine Unterscheidung der Erschei- 
nungselemente. Es soll eine unmögliche Annahme sein, daß wahr- 
genommene Vorstellungen in gedachte Begriffe verwandelt würden. 
Aber ich nehme gar nichts an, und am wenigsten dieses. Nichts 
‚verwandelt sich«, sondern es ist etwas anderes, ob ich rot mit der 
nötigen räumlichen und zeitlichen Bestimmtheit wahrnehme, oder ob 
ich es ohne solche Bestimmtheit (um nicht zu sagen »denke«) im 
Bewußtsein habe. Seine Polemik wird hinfällig durch sein eignes 
Zugeständnis, S. 192, denn für uns bedeutet die Tatsache, daß 
‚die Elemente< als solche wahrgenommen werden, nichts anderes, als 
daß die Elemente in ihrem eignen Inhalte den unmittelbaren Cha- 
rakter von gegebenen Vorstellungen besitzen«. Da liegt also offen- 
bar nur ein verschiedener Gebrauch des Wortes vor. Den Charakter 
von Gegebenem (in dem erkenntnistheoretischen Gegensatze) hat das 
Rot ohne räumliche und zeitliche Bestimmtheit auch für mich; es 
behält ihn und wird nicht in seinem Inhalte bloßes Gedankenprodukt, 
da ich es im Gegebenen finde. Aber der Unterschied zwischen ihm 
und dem Ganzen muß doch auch durch Braudes >inhaltliches Iden- 


Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 671 


titätsbewußtsein< gegeben sein. Ich »postulire« S. 192, ihn nicht, 
sondern finde ihn vor. 

Ein Mißverständnis muß vorliegen — ich kann nur nicht sehen 
welches — wenn er S. 193 gegen mich bemerkt »wir wissen ja nichts 
von den Bedingungen der wirklichen Wahrnehmung, wir können nie 
sagen, warum sie so ist, wie sie ist«. Ich habe oft genug einge- 
schärft, daß sich die Erscheinungselemente nur im Gattungsmäßigen, 
nicht im Speciellen fordern und bedingen, daß also zur wirklichen 
Wahrnehmung immer eine (irgend eine) Qualität, räumliche und zeit- 
liche Bestimmtheit gehört, aber daß weder aus der Bestimmtheit einer 
Qualität als solcher noch aus der Bestimmtheit eines Wo und Wann 
als solchen hervorgehe, warum sie verbunden sein müßten, rot grade 
hier und jetzt erscheinen müsse. Aber freilich bin ich sein Gegner, 
wenn Braude ebenda entgegnet, daß im eignen Vorstellungsinhalt 
einer Qualität nichts liege, was uns zu der Behauptung berechtigte, 
daß dieselbe ohne Verbindung mit einem Wo und Wann nicht wahr- 
genommen werden könnte, und »die tatsächliche Verbindung der 
Elemente gibt uns kein Recht, von einer »inhaltlichen« Unzer- 
trennlichkeit derselben zu sprechen<? Um die Meinung, daß alle 
Empfindungsinhalte an Zeit und Raum geknüpft sind, zu widerlegen, 
braucht Braude sich nicht speciell gegen mich zu wenden; sie ist alt 
und heut noch allgemein. Ich habe sie auch nicht als meine Ent- 
deckung vorgetragen, aber in einer erkenntnistheoretischen Logik 
kann dieses Kapitel doch nieht fehlen. Braude gesteht nun selbst, 
194, rot ohne jedes Wann und Wo nicht sinnlich wahrnehmen zu 
können, aber dies sei nur >psychologisch wahr«. Kann nun »erkennt- 
nistheoretisch« falsch sein, was psychologisch wahr ist? S. 195 kommt 
das Mißverständnis heraus, wenn er, oflenbar gegen mich, erklärt, 
daß die tatsächliche Verbindung der Elemente deren inhaltliche Selb- 
ständigkeit und Sonderung nicht beeinträchtige. Ich denke, die Son- 
derung habe ich genug betont. Und was er unter der gegen mich 
behaupteten »Selbständigkeit« versteht, ist leider nicht gesagt. Ich 
vermute: nicht mehr als ich, es sei denn die erkenntnistheoretische 
Möglichkeit des psychologisch Unmöglichen. Dann muß eben die Er- 
kenntnistheorie von der Natur des erkennenden Menschen und der 
Herkunft der einfachsten Vorstellungselemente abstrahieren. Wonach 
sollen wir denn dann die Möglichkeit beurteilen? Sollen wir etwa 
dabei mit in Rechnung bringen, was dem göttlichen Bewußtsein mög- 
lich ist? Ich gestehe, es nicht zu wissen. 

Nicht faßbar ist es mir, wie Brande, S. 195, dazu kommt, meine 
Lehre, daß das ausgesonderte Element für sich allein nicht sinnlich 
wahrnehmbar sei, nur dann für haltbar zu erklären, wenn man die 
Wirklichkeit für etwas Transscendentes und das im Bewußtsein Vor- 
gestellte für Abbilder von jenem halte. Er müßte wissen, daß ich 


672 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 


die wirkliche Wahrnehmung und die Vorstellung nicht als Existieren- 
des und blos Gedachtes unterscheide, sondern auch dem blos Ge- 
dachten (wenn es nicht ein irrtümliches ist), auch dem abstrakt All- 
gemeinen, auch dem Begriffsinhalt der Kategorien objektive Wirk- 
lichkeit zuspreche. Weil ich meine, daß es mehrfachen zu unter- 
scheidenden Bewußtseinsinhalt gibt, solchen, der den Charakter des 
erlebten Sinneseindruckes hat, und solchen, der diesen nicht hat, 
müsse ich das Wirkliche inkonsequenter Weise als Transscendentes 
denken! Gegen ihn S. 195 und 196 muß ich sagen: Vom Stand- 
punkte der Immanenz aus ist es durchaus geboten, die eben genann- 
ten Arten der Bewußtseinsinhalte zu unterscheiden, und die Wucht 
seiner Worte S. 196 beruht nur auf der unerwiesenen Behauptung, 
daß sich rot ohne jedes Wo und Wann, was nach meiner Ansicht 
nicht wirklich gesehen wird, im Bewußtsein unmittelbar als eben 
solcher Vorstellungsinhalt darstellen, wie das wirklich irgendwo und 
wann gesehene. Unmittelbare Realitäten sind die Qualitäten in der 
Aussonderung auch nach meiner Theorie, denn die Aussonderung tut 
ihnen nichts an, nimmt von ihrem eignen Inhalt nichts weg und 
fügt ihnen nichts hinzu, läßt sie als Qualitäten so, wie sie wahrge- 
nommen werden, und lenkt nur den Blick von der räumlichen Bestimmt- 
heit ab, wodurch allerdings ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit wegfällt. 

In Betreff der Allgemeinvorstellungen muß ich der Behauptung, 
S. 211, daß innerhalb jeder Nüance. die Grundfarbe etwas durchaus 
Selbständiges und Anschauliches ist (wenn ich auch »die Selbständig- 
keit« vielleicht nicht ganz ebenso auffasse, wie Braude), das sich in 
jeder seiner Nüancen mit der gleichen unmittelbaren Inhaltlichkeit 
wiederholt und darum auch gleich benannt wird, beistimmen. Aber 
ich kann nicht zugeben, »daß es in Wirklichkeit kein Allgemeines 
sei, sondern ein identischer Vorstellungsinhalt, der sich in verschie- 
denen Complexen in der Wirklichkeit wiederholt und aus denselben 
im vorstellenden Identitätsbewußtsein zur unmittelbaren Selbständig- 
keit erhoben wird«. Ich meine: darin liegt eben die Allgemeinheit, 
bei welchem Worte sich Braude wol etwas anderes denkt, als ich. 
Und ich kann es ferner nicht mit dem Angefithrten reimen, wenn 
sogleich S. 212 behauptet wird, daß die als Farben, Tone u. s. w. zu- 
sammengefaßten Vorstellungsgruppen in ihren eigenen Vorstellungs- 
inhalten keinerlei gemeinsames Vorstellungselement enthalten. Kon- 
sequentermaßen kommt Braude S. 216 zu dem Ergebnisse, »daß es 
unmöglich ist, für die inhaltliche Allgemeinheit als solche einen tat- 
sächlichen Nachweis zu führen«. 


Greifswald, Mai 1901. Wilhelm Schuppe. 


Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen. 


September 1901. Nr. 9. 


Encyclopaedia biblica, a dictionary of the Bible ed. by T. K. Cheyne and 
J. Black. U. Lex. 8. 1143 halbe Seite (1145—2288 des ganzen Werks). 
9 Karten. London, Charles Black, 1901. Preis 20 sh. 


Dem vor Jahresfrist hier angezeigten ersten Bande (Jahrgang 
1900, Nro. 3, S. 177—185) ist rasch ein zweiter, die Buchstaben E 
bis K enthaltender, gefolgt. Auch er zeugt noch von dem intellec- 
tuellen Urheber des Werkes, dem vor 7 Jahren verstorbenen W. Ro- 
bertson Smith. Auf von ihm herrührenden Unterlagen schreiben hier 
Cheyne über Haggai, Marti über Hosea, Driver über Ioel, Bevan 
(fehlt vorn unter »list of contributors<) über hebräische Sprache, 
H. von Soden über Hebräerbrief, Kautzsch über die Königsbücher, 
G. A. Smith und Conder über Jerusalem. Unter den von neu ein- 
tretenden Mitarbeitern gelieferten Artikeln wird man besonders Well- 
hausens Hexateuch begrüßen. Weiter sind als deutsche Namen von 
gutem Klang zu nennen Nöldeke (z.B. Edom, Ester,. Ismael), Budde 
(z.B. Habakkuk), Benzinger Fasten, Feste, Familie, Verwandtschaft, 
Herrschafts- und Verwaltungsangelegenheiten), Jülicher (z. B. Gnosis, 
Häresie). Im ersten Bande noch nicht vertreten sind Deissmann, 
der im zweiten Bande zwei Artikel über oroıyel« (cod xdauov) und 
Epistel-Literatur (im Unterschied von eigentlichen Briefen), und P. Volz 
der den Artikel über den griechischen Esra geliefert hat. 

Mehr noch als im ersten Bande macht sich im zweiten die ori- 
ginelle Gelehrtennatur des Herausgebers Cheyne geltend. Seine Hand 
ist überall, selbstverständlich auch sein Wissen. Demgemäß betreffen 
seine Artikel ebenso die biblische Weltanschauung überhaupt (z.B. 
Erde und Welt, Sonnenfinsternis, Erdbeben), wie die biblische Theo- 
logie insonderheit (diese, im Allgemeinen ausgeschlossene Region wird 
doch berührt in Behandlung von Begriffen wie Ewigkeit, Glaube, 
Kopf, Herz, Feuer, Exorcisten u. a.), weiter auch Geographie (z.B. 
Galiläa, Galiläischer See, Gennesar, Gilead, Gath, Gaza, Haran, Hau- 
ran, Jericho) und Geschichte (z.B. Enos, Enoch, Isaak, Jakob, Joseph, 
Jephta, Jerobeam, Hiskia, Josaphat, Ioram, Jotham, Iehu, Iesaja, Hulda, 
Jona), endlich auch sprachliche und exegetische Fragen (z.B. Ho- 

Gött- gel. Ans, 1901. Nr. 9 45 


674 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


sanna, Hymnen, Hypokrisie, Immanuel). Nicht wenige in diesen Ar- 
tikeln niedergelegte Forschungsresultate werden Widerspruch er- 
regen, zumal auf Seite des sog. moderate criticism. Wenn dieser 
sich aber in den letzten Jahren schon merklich in die Enge getrie- 
ben fühlt und eine dem entsprechende heftigere Sprache führt, so 
ist ein solcher Erfolg fragelos in erster Linie auf Rechnung des 
Oxforder Gelehrten zu setzen, welcher heute in der Festung genannt 
advanced criticism gebietet und selbst sehr entlegene und ausge- 
setzte Posten mit oft überraschend kühnen Combinationen zu be- 
haupten unternimmt. Jedenfalls machen uns seine Artikel stets mit 
dem Neuesten bekannt, was eine von der Tradition emancipierte 
Kritik auf dem Tisch des Hauses alttestamentlicher Gelehrsamkeit 
niedergelegt hat. Während beispielsweise Guthe im Artikel Israel 
den Aufenthalt in Aegypten auf die Rahelstämme beschränkt, ver- 
mittelt Cheyne im Artikel Exodus zwischen dieser und der Ansicht 
Wincklers, wornach Aegypten (Misraim) überhaupt nur mißverständ- 
lich an die Stelle eines nordarabischen Landes (Musri) getreten wäre. 

Aber auch das neutestamentliche Gebiet beschreitet er jetzt häufig, 
und zwar nicht selten mit derselben Vorliebe für neue Versuche und 
Conjecturen. So soll man Marc. 6,45 statt Bethsaida lesen Tibe- 
rias, Matth. 26, 50 statt &p' 6 ndosı vielmehr Öroxgive:, Joh. 12, 6 
Gr. yadexds tv xal cd xoıvdv BaAAdvrov éBdorafe, Apostelg. 8, 26 
adın éorl nindiov rijg Eoriuov, Gal. 4,25 to de “Ayag Live soos 
éotly év ti ‘AgaBig, als sinnlose Unterbrechung des Zusammenhangs 
streichen. Die Lesart @veidısasg Marc. 15,34 Codex D erklärt er 
aus Verschreibung des hebräischen Aequivalents nach Chase. So 
thut bei uns auch Dalman; aber einleuchtender ist doch wohl die 
neuerdings von Harnack in den Sitzungsberichten der Berliner Aka- 
demie (Philosophisch-historische Classe XI, S. 261—265) gegebene 
Auskunft. Der Hymenäus der Pastoralbriefe soll seinen Namen als 
Feind Hymens 2 Tim. 4, 3 tragen (lucus a non lucendo). Die Hero- 
dianer Marc. 3, 6 seien unhistorisch, weil dieser Name in Galiläa viel- 
mehr die Zugehörigkeit zur Familie des Herodes bedeuten würde. 
Die Erzählung vom Verrat des Judas sei unhistorisch, und in der 
gleichfalls mythischen Jairusgeschichte soll der Text des Matthäus 
ursprünglicher sein als der des Marcus. 

Abgesehen von den eignen Artikeln entfaltet Cheyne übrigens 
auch eine redactionelle Thätigkeit in der Form von Bearbeitung und 
Erweiterung fremder Beiträge. Wie er R. Smith fortsetzt, so auch 
den verstorbenen Kosters (Esra und Nehemia). Während Jülicher 
die Essener mehr in Analogie mit der spätgriechischen Asketik (Neu- 
pythagoreismus) verstehen will, verweist Cheynes Zusatz auf zoroa- 


Encyclopaedia biblica, ed. by Cheyne and Black. II. 675 


strische Einwirkungen. Auch der sehr besonnen abwägende Artikel 
über Hellenismus (im Spätjudentum und N.T.) trägt neben dem 
Zeichen Jülichers dasjenige des Herausgebers, welcher auch zu H. 
v. Sodens Bericht über die Genealogien Jesu eine Schlußbemerkung 
in Betreff des Namens Rhesa macht. Den oben genannten Artikel 
Wellhausens versieht er gleichfalls mit einem Anhang, welcher die 
Studenten auf Gunkels Genesis vorbereiten soll. Dagegen bringt auch 
sein eigener Artikel über den Täufer Johannes absichtlich keine den 
Gegenstand erschöpfende Arbeit, sondern nur Ergänzungen zu dem, 
was darüber bei Guthe (Geschichte Israels $ 92 und $ 95), Bruce 
(Jesus § 6) und Schmiedel (Johannes Zebedäi § 17) zu lesen ist. 
Aus diesen und andern Beispielen erhellt die Sorge der Redaction 
für Herstellung einer gewissen Fühlung und Harmonie zwischen den 
einzelnen Beiträgen. Selbstverständlich ließ sich eine solche Tendenz 
oft nur annäherungsweise durchführen. 

Besondere Beachtung verdient eine Anzahl von größeren Ar- 
tikeln, deren jeder, aus dem engen Druck in die gewöhnliche Buch- 
schrift umgesetzt, ein Bändchen, beziehungsweise einen Band füllen 
und als selbständige Monographie auftreten könnte. So was M. W. 
Müller (Philadelphia) über Aegypten (Sesostris ist hier noch Ram- 
ses II, wogegen seither Sethe aufgetreten ist), Charles über Escha- 
tologie (am Anfang mit Inhaltsangabe, am Schluß mit Register ver- 
sehen), Guthe über die Geschichte des Volkes Israel, Cheyne über 
Hiob geschrieben haben (»das Buch ist gewachsen, nicht gemacht«, 
daher ohne schriftstellerische Einheit und Zweck), E. A. Abbott (Lon- 
don) und Schmiedel (Zürich) über die Evangelien geschrieben haben. 
Dieser ausgedehnteste Artikel ist so angelegt, daß der erstgenannte 
Verfasser in 107 Kapiteln (descriptive and analytical) über den that- 
sächlichen Befund berichtet, welcher die Unterlage aller Theorien 
über den Hergang der Evangelienbildung ausmacht (die durchaus 
selbständige Arbeit bietet eine nicht geringe Zahl neuer Beobach- 
tungen und erwägenswerter Urteile), während der diesen aufs Glück- 
lichste ergänzende, zweite in 49 weiteren Kapiteln (historical and syn- 
thetical) eine umsichtig angelegte Geschichte des synoptischen Pro- 
blems mit annähernder Lösung gibt, selbstverständlich im Sinne der 
Zweiquellentheorie. Während aber im ersten Artikel synoptische und 
johanneische Data gemeinsame Behandlung finden, hat Schmiedel die 
johanneische Frage in einem eigenen Artikel in 66 Kapiteln behan- 
delt (» Johannes, der Zebedaide«e),. Von diesen, mit musterhafter 
Sorgfalt geführten Untersuchungen gilt das Gleiche, wie von dem 
Artikel des ersten Bandes über die Apostelgeschichte. Hier pflanzt 
die freieste und zugleich gründlichste Kritik bezüglich des N. T. eine 

45 * 


676 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


für das ganze Lager bezeichnende Fahne auf. Demselben Verf. 
verdanken wir auch zwei Artikel über Galatien und den Galaterbrief. 
Dabei wird die schwebende Vexierfrage »Nord- oder Südgalatien ’« 
in allseitiger und unparteilicher Weise behandelt, indem nämlich 
Woodhouse, der auch über Ephesus, Illyrien und die Herodes-Dynastie 
schreibt, fiir die zweite, Schmiedel dagegen fiir die erste Seite der 
Alternative eintritt und bei dieser Gelegenheit die eingehendste und 
schärfste Kritik der Constructionen Ramsays gibt, die hier zugleich 
auch ihre schwankende Wandelbarkeit offenbaren. Selbst in das Ge- 
biet der Jurisprudenz ist der deutsche Gelehrte dem schottischen 
siegreich nachgeriickt. Ganze Bücher hätten übrigens leicht auch 
aus den Artikeln >Jesus< und »Abendmahl« (Eucharist) werden kön- 
nen. Aber auf diesem Gebiete ist dermalen Alles noch im Fluß, und 
die Redaction hat vielleicht den kürzesten und für ihre Zwecke 
gangbarsten Weg eingeschlagen, wenn sie für das Leben Jesu einen 
kurzen, durchweg an den Synoptikern orientierten, Aufsatz des ver- 
storbenen Professors der freien schottischen Kirche A. B. Bruce in 
Glasgow aufnahm und sich für die verwickelte Herrnmahlsfrage mit 
einer, von 8. Armitage Robinson besorgten, Zusammenstellung des 
altchristlichen Materials begnügte. 

Aus den Reihen der amerikanischen Theologen erscheinen auch 
hier wieder vor allen G. F. Moore (Historische Literatur, Genesis, 
Exodus, Josua, Richterbuch, Höhendienst, Götzendienst), N. Schmidt 
(Jeremia), F. Brown (Geographie), Jastrow (Hittiter). Neu hinzu- 
gekommen ist erfreulicher Weise der durch Wissen und Freimut 
gleich vorteilhaft bekannte Orello Cone, welcher gute Auskunft über 
Personen und Briefe des Jakobus und Judas gibt. Aus der engli- 
schen Theologie heben wir noch hervor Kennedy, welchem erhebliche 
Küchenartikel (food, fowl, fruit) zugefallen sind, A. B. Davidson 
(Kohelet), Toy (Ezechiel, Sirach), Box (Erziehung), Hogg (Ephraim, 
Gad, Isaschar), Bennett (Heiden), Cook (Haus, Hebron), Gaster (Ju- 
dit), Addis (Elia und Elisa), Johns (Euphrat und Hiddekel). Am 
Artikel Pferd sind ihrer drei beteiligt: Shipley, Cook und Cheyne. 
Recht knapp ist der von M. R. James in Cambridge herrührende 
Artikel über das vierte Buch Esra ausgefallen; aber er rechnet auf 
Ergänzung seiner Lücken in den Artikeln über Eschatologie und 
Messias. 

Höchste Anerkennung verdient der uneigennützige Eifer, welchen 
die Gebrüder Black als Verleger auf die Ausstattung des großen 
Unternehmens wenden. Als auf einen besonderen Schmuck dieses 
zweiten Bandes müssen noch die, im ersten nur spärlich vertreten 
gewesenen, Karten und Pläne rühmlichst hervorgehoben werden. Man 


Encyclopaedia biblica, ed. by Cheyne and Black. II. 677 


kennt die nichtssagenden Täfelchen, die unserm einheimischen Bibel- 
werken und Darstellungen der Geschichte des Volkes Israel oder des 
Apostels Paulus u.s. w. beigegeben zu werden pflegen. Welch ein 
Abstand von dem, was hier geboten wird! Mir wenigstens sind der- 
artig zweckmäßige Leistungen in ähnlichen Werken noch nicht vor- 
gekommen. Auf dieser Karte von Kleinasien treten die römischen 
Provinzialverhältnisse deutlichst vor Augen, was z.B. zur Klarlegung 
der galatischen Frage nicht wenig beiträgt. Die vier den Welt- 
gegenden entsprechenden Karten von Palästina lassen in achtfacher 
Färbung die Unterschiede der Höhenlage erkennen, so daß die Augen 
des Betrachters beständig Gänge über Berg und Thal machen. Je- 
rusalems verschiedene Zeitschichten lesen sich ebenso leicht vom 
Blatt ab. Eine große Karte und 4 kleinere, außerdem zahlreiche 
Bilder veranschaulichen die geographische Lage und Altertümer 
Aegyptens. Dem hebräischen Weltbild selbst, wie es sich durch die 
Erfahrungen der Jahrhunderte erweitert hat, sind vier geographische 
Zeichnungen gewidmet, und den Abschluß bildet die Weltkarte Stra- 
bos. Aber auch die ägyptischen, assyrischen und hebräischen Alter- 
tümern gewidmeten Abbildungen sind in hohem Grade lobenswert; 
überhaupt ist die ganze Ausstattung des Werkes so vornehm wie 
sein Inhalt reichhaltig. 


Straßburg i. E., Juni 1901. H. Holtzmann. 


Gunkel, H., Genesis übersetzt und erklärt. Göttingen, Vandenhoeck u. 
Ruprecht, 1901. LXXIV. 450 S. Preis 9,80 M. Handkommentar zum A. T. 
herausg. von Nowack. I Abt. 1. Band. 


Der Herr Verfasser behandelt nach einer sehr ausführlichen Ein- 
leitung den Inhalt der Genesis nach den einzelnen Quellen in folgen- 
der Reihenfolge: 1) Urgeschichte bei J S. 1—92. 2) Urgeschichte 
bei P S. 92—145. 3) Abrahamgeschichten von J und E S. 146— 
236. 4) Abrahamgeschichten bei P S. 237—265. 5) Jakobgesch:ch- 
ten von JE S. 265—346. 6) Nachrichten über Isaak, Jakob und 
Esau bei P S. 347—356. 7) Die Josephgeschichte bei J und E 
S. 356—443. 8) Erzählung von Jakob (Joseph) bei P S. 443—448. 

Der Hr. Verf. übersetzt den Beginn der Urgeschichte bei J 
Gen. 2, 4° ff.: »Zur Zeit, da Jahve Gott Erde und Himmel schuf — 
als noch keine Sträucher auf Erden waren und keine Kräuter ge- 
wachsen waren, weil Jahve Gott noch nicht hatte regnen lassen auf 


678 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9, 


Erden und Menschen noch nicht waren, den Acker zu bebauen ; aber 
ein Strom brach aus der Erde hervor und tränkte die ganze Fläche 
des Ackers — da formte Jahve Gott den Menschen etc.<. Es ‘ist 
wenig glaublich, daß die Quelle, die den einfachsten und edelsten 
Stil zeigt, mit solch plumper Parenthese eingesetzt haben sollte. 
Der Anfang des jehov. Berichtes ist, wie anerkannt, verstümmelt. 
Es ist darauf zu achten, daß nach dem Inhalt der Zustandssätze v5 
Gestriipp und Graswuchs die natürliche Folge des Regens sind: weil 
Jahve damals noch nicht hatte regnen lassen, gab es selbstverständ- 
lich auch noch kein Grün auf Erden; als Er zum ersten Mal regnen 
ließ, erschien natürlich auf der öden Steppe Gras und Halm. Wenn 
es heißt »und die Menschen waren noch nicht da, das Land zu be- 
stellen«, so soll damit gesagt sein: wie es noch kein Gras und Kraut 
gab, wie heute, so gab es auch noch nicht die Menschen, die, wie 
heute, den Acker bestellen. Einen Widerspruch zwischen dieser No- 
tiz und der Paradiesgeschichte kann nur der finden, der diese naive 
ganz unbetonte Bemerkung mißversteht: der Erzähler will weiter 
nichts sagen als: es war noch nicht so wie heute. Daß “x ein 
Strom sei, glaube ich kaum: dem widerspricht zu sehr v 6b, ein 
Strom kann nicht >die ganze Oberfläche der Erde< tränken. Daraus, 
daß nicht gesagt wird, Gott habe den "x geschaffen, darf man nicht 
mit dem H. Verf. den Schluß ziehen, dieser ‘x sei eine Art mytho- 
logischer Größe und von Jahve unabhängig; mit ganz demselben 
Recht könnte man behaupten, daß auch die Erde, deren Existenz ja 
in diesem Bericht vorausgesetzt erscheint — vgl. unten —, dadurch 
als eine mythologische von Jahve unabhängige Größe erwiesen werde. 
Der H. Verf. meint, in der Quelle Gen. 2,4 ff. werde oder sei ur- 
sprünglich die »Schöpfung«e von Himmel und Erde erzählt worden. 
In Wirklichkeit kennt dieser Bericht gar keine >»Weltschöpfung«; 
die »Welt« ist da und Jahve wirkt auf ihr, d.h. er ruft das Pflan- 
zenleben hervor durch den Regen und bildet den Menschen (und die 
Tiere). Die Frage, woher die »Welt«, d.h. Himmel und Erde ge- 
kommen sind, liegt gar nicht im Gesichtskreise des Erzihlers. Die 
ungeheure Abstraktion des qv dre ovx nv kann er für die »Welt< gar 
nicht vollziehen: Die Erde, d.h. Ackerland und Weideland ist selbst- 
verständlich immer da gewesen und die Pflanzen sind selbstverständ- 
lich im selben Augenblick aus der Erde hervorgekommen, als Jahve 
zum ersten Mal regnen ließ, das kann man ja heute noch sehen und 
erleben. Das Dasein des Menschen (und der Tiere) allein ist dem 
Erzähler verwunderlich. Sein einziges Interesse ist der Mensch, die 
Tiere sind nur so nebenbei entstanden und sind dem Menschen an 
Bedeutung untergeordnet. Der Erzähler kennt nur eine »Schöpfung«, 


Qunkel , Genesis übersetzt und erklärt. 679 


wenn es erlaubt ist, diesen für seinen Bericht ganz unpassenden 
Ausdruck zu gebrauchen, die des Menschen (und der Tiere) — Him- 
mel und Erde sind die selbstverständlichen Voraussetzungen dieser 
Schöpfung, in ihrem Vorhandensein sieht er kein Problem. Dieser 
fundamentale Unterschied gegen Gen. 1 ist dem H. Verf. mit den 
meisten Erklärern gar nicht zum Bewußtsein gekommen: er behan- 
delt beide Stücke als Weltschöpfungen und stellt sie in dieser Be- 
ziehung auf eine Stufe. — Durch »das Einhauchen des göttlichem 
Odems in die Nase wird der Mensch ein Lebewesen<. Der H. Verf. 
teilt die gewöhnliche Ansicht über ve> und mw», 8. 5: »die mw» 

. ist das Prinzip des Lebens, das allen gemeinsam ist; die we) 
das gewirkte Leben, das in jedem ein andres ist, das Einzelindivi- 
duum«. Aber auch nach der herkömmlichen Ansicht falsch ist, was 
diesem Satz vorausgeht und nachfolgt: »Dieser göttliche Wunder 
wirkende Odem wurde im Menschen ein selbständiges Wesen« und: 
im Tode nimmt Gott die nv wieder an sich Job 34, 14, die 
wo) aber geht dann in die Sinw<! Wo giebt es im A.T. nur eine 
Stelle, die bewiese, daß die ‘> im Menschen ein selbständiges Wesen 
sei und nach dem Tode in die ‘w gehe! Die Drohung in v. 17 er- 
füllt sich in cap. 3 nicht, einfach aus dem Grunde, weil es eine »leere< 
Drohung war, wie die Geschichte deutlich empfinden läßt. Gott 
schafft dem Menschen ein Weib mit der Begründung: es ist nicht 
gut, daß der Mensch allein sei, nämlich zur Wartung und Pflege des 
Gartens, darum will ich ihm ein Wesen zur Hilfe beigeben. Der 
Mensch soll also eine Hilfe haben zu seiner Arbeit, weiter nichts; 
ganz falsch ist die Eintragung: »Die Wahrheit und Tiefe des Ge- 
dankens, daß der Mensch ohne seinesgleichen nicht glücklich sein 
kann, versteht jeder Einsame« — um das Glück des Menschen han- 
delt es sich nicht im entferntesten. v. 24 kann nicht von dem ur- 
sprünglichen Erzähler stammen, der bei aller >Naivetät« doch be- 
sonnen erzählt; die Geschlechtsgemeinschaft ist nicht der Zweck, zu 
dem Gott das Weib ursprünglich geschaffen hat. »Und die Schlange 
war klüger als alle Tiere des Feldes<, »klüger«, nicht »listiger« ist 
zu übersetzen. Denn die ganze Erzählung giebt nicht den gering- 
sten Anhalt, sich die Schlange als ein listig-böses Tier mit tückischen 
Hintergedanken zu denken. Für die Behauptung des H. Verf. zu 
3,1: »Jetzt stellt sie sich, als ob sie nur ungenau orientiert sei und 
sich jetzt beim Menschen selber genau instruieren wolle. Sie über- 
treibt Gottes Verbot dabei aufs stärkste und thut, als sei sie be- 
fremdet über solche Härte«e — fehlt jeder Anhalt. Auch der Rest 
des Bösen, der der Schlange in der Erklärung heute noch anhaftet, 
ist Einbildung. Sie hat etwas von dem göttlichen Verbote vernom- 


680 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


men und was ihr davon zugekommen spricht sie in der Frage an das 
Weib aus. Aus der berichtigenden Antwort des Weibes lernt sie 
auch die Drohung kennen, durch die Gott sein Verbot, vom Baum 
mitten im Garten zu essen, eindringlich gemacht hat. Sie weiß 
gleich: das ist nicht wahr, von dem Genuß dieser Frucht stirbt der 
Mensch nicht, Gott hat vielmehr einen anderen Grund, ihn zu ver- 
bieten ; und weil sie das weiß, deshalb heißt sie tiny. Sie spricht 
was sie weiß und was nach der Meinung des Erzählers offenbar 
wahr ist. Durch den Genuß der verbotenen Frucht haben die Men- 
schen wirklich 931 ‘oy ns erlangt, d.h. das Wissen und Empfinden 
von dem, was nützlich und schädlich, passend und unpassend ist; 
dies Wissen beginnt mit dem Bemerken, daß sie nackt sind und der 
Scham darüber als dem ersten Schritt zu dem, was wir Kultur nen- 
nen. Die Worte des Menschen in 3,10 »ich fürchtete mich, denn 
ich bin nackend< sind durchaus kein Vorwand, wie die Erklärer mei- 
nen — als ob es eigentlich heißen müßte: ich fürchte mich, denn 
ich habe dein Gebot übertreten —, sondern ganz wirklich gemeint. 
In dem Fluche über das Weib muß es statt des alten Schreibfehlers 
snpron 3,16 heißen swpn, parallel zu 73 won, vgl. bereits Gött. 
gel. Anz. 1900 Nr. 11 S. 836. 

In einem Exkurs §. 21 ff. redet der H. Verf. über die Quellen 
dieser jahvistischen Urgeschichte. Er meint, zwei Parallelberichte 
innerhalb J unterscheiden zu können, die er Je und Jj nennt. Zu 
der Zurückhaltung, mit der der H. Verf. die Vermutung über die 
Grenzen dieser Quellen aufstellt (S. 22) steht die Kühnheit, die er 
in der Charakterisierung der in etwa 5 Versen enthaltenen Quelle Jj 
entwickelt, in seltsamem Gegensatz: dort hat Eva noch im Paradies 
empfangen, der Mensch trug im Paradies ein prächtiges Kleid 
(Ez. 28,13!), bei der Vertreibung zog Gott ihm dies Paradieskleid 
aus, S. 23. Aber der kritische Scharfsinn ist damit noch nicht zu- 
frieden : »auch die Erzählung von Je ist trotz ihrer gegenwärtigen 
Einheitlichkeit nicht einheitlichen Ursprungs<. Sie besteht nämlich 
aus zwei Traditionen »1) einer Geschichte vom Ursprung der Welt, 
d.h. des Ackers, der Pflanzen, des Menschen, der Tiere, des Weibes, 
und 2) einer Erzählung vom Paradies und der Austreibung«e. Daß 
-der H. Verf. die Erzählung 2, 4 ff. nicht recht verstanden hat, be- 
weist er durch die Inhaltsangabe dieser »Schöpfungsmythe«, vgl. 
oben. Aber der Scharfsinn des H. Verf. findet noch mehr »Unzu- 
traglichkeiten<. »Nach 2, 5, heißt es auf S. 24, wird die Entstehung 
der Pflanzen und Kräuter angekündigt, aber nach 2,9 werden nur 
die Bäume des Paradieses geschaffen ; so erfahren wir also gar nicht, 
wie die Pflanzen dieser Erde entstanden sind<. Nun, das erfahren 


Gunkel, Genesis tibersetet und erklärt. 681 


wir doch aus v. 5 deutlich genug: durch den Regen; von einer An- 
kündigung der Entstehung der Pflanzen ist in diesem v. keine 
Rede, wenn man ihn recht versteht wird eine besondre »Schöpfung« 
der Pflanzen durch ihn gerade ausgeschlossen; und in 2,9 werden 
die Bäume des Paradieses nicht »geschaffen« , sondern das Paradies 
wird von Gott gepflanzt, wie wir Menschen uns einen Garten pflanzen. 
»Ebenso fällt auf, daß nach 2,5 der Regen es ist, von dem die 
Fruchtbarkeit der Erde abgeleitet wird, während sie nach v. 6 — 
wie es scheint — vom “x herrührt«. Vielmehr dient der se nur 
ad hoc, um den Erdboden zu befeuchten, so daß Gott ihn zur Bil- 
dung des Menschen kneten kann. »Eine ähnliche Schwierigkeit ist 
es, wenn der Mensch nach 2,5 geschaffen ist, um den Acker zu be- 
stellen; wenn er aber anderseits ursprünglich ins Paradies versetzt 
worden und erst durch den Fluch hieraus auf den Acker vertrieben 
worden ist 3, 23<. Vgl. darüber oben; die Angabe in v. 5b besagt 
nur, daß der Mensch, der heute das Land bebaut, damals noch nicht 
da war. Die Frage endlich, was aus den Tieren geworden sei, von 
deren Vertreibung aus dem Paradies zugleich mit dem Menschen 
doch nichts erzählt wird, ist sehr pedantisch; das ganze Interesse 
des Erzählers dieser Geschichte ruht auf dem Menschen und seinem 
Lose, das Entstehen der Tiere ist nur eine untergeordnete Episode 
in der Schöpfung des Menschen. Wenn der H. Verf. den Mythus in 
seiner naiven Begrenztheit, in der er mit der Schöpfung der Welt 
gar nichts zu thun hat, erfaßt hätte, würde er jene Fragen gar 
nicht gestellt haben. »Alle diese Schwierigkeiten, schließt er, werden 
gelöst, wenn wir 3,23 entfernen. Dann ist die ursprüngliche Mei- 
nung .... gewesen, daß das Paradies (nicht ein bestimmter Ort 
auf Erden, sondern) eben diese Erde »auf der ganzen Fläche der 
mowe« gewesen ist 2,9;..... als aber die Menschen sich ver- 
gingen, »verwünschte« Gott das Paradies . . .c. Jene Annahme löst 
keine Schwierigkeit, sondern schafft ein Heer von neuen. Denn 
durch eine solche > Verwünschung« (!) würde ein 1739 mn entstan- 
den sein, aber nicht diese Erde mit ihren Pflanzen, Kräutern etc.; 
wo steht denn nun die Schaffung dieser Erde? Aber abgesehen 
von dieser nicht zu lösenden Schwierigkeit —, welch ein Gott ist 
nötig, um so Ungeheures zu vollbringen! Wenn der H. Verf. den 
Gott, den eine solche Annahme erfordert, verglichen hätte mit dem 
Gott, der in derselben Erzählung 2, 18 ff. 3, 7 ff. zu Tage tritt, würde 
er wohl den ungeheuren Abstand zwischen beiden gespürt haben. 
Ein Gott, der einen feuchten Erdklos knetet und in die Nase des 
Gebildes einhaucht, einen Garten pflanzt ganz wie unser einer, Tiere 
bildet zu verunglückten Versuchen, sie den Menschen als Hilfe bei- 


682 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


zugeben, der in ängstlicher Eifersucht den Menschen von der wunder- 
baren Frucht fernhält und in der Art von 3,8ff. mit ihm verkehrt 
— der kann das gar nicht zu Wege bringen, was ihm der H. Verf. 
zutraut. Wer die naive Beschränktheit der Gottesvorstellung, die 
2,4ff. zu Grunde liegt, begriffen hat, dem kann jene Vorstellung nur 
barock erscheinen. — Nicht glücklicher ist der H. Verf. in der An- 
führung »Israelitischer Varianten zur Paradieseserzählung«, S. 29f. 
»Bist Du als Erster der Menschen geboren und vor den Hügeln ge- 
kreist? Hörtest Du zu in Gottes Rat und stahlest Dir Weisheit ?« 
In diesen Worten Job. 15,7f. sei eine Anspielung an eine Rezen- 
sion der Paradiesgeschichte gegeben. »Elihaz will 7* dem Zusam- 
menhang nach zu Hiob sagen: bist Du wirklich so superklug, wie 
Du zu sein glaubst? Er sagt dafür höhnisch : bist Du wirklich der 
Urmensch ? Dies Wort setzt voraus, daß der Urmensch als Muster 
aller Weisheit galt«. Es ist wirklich schwer, diese Worte im Hiob 
mißzuverstehen. Bei dem Alter ist die Weisheit und die Erfahrung, 
je älter einer ist, desto weiser ist er, das ist der überall vertretene 
Grundsatz der Freunde Hiobs. Wer Gottes Schickung und Lenkung 
in der Welt meistern will, muß dabei gewesen sein, als er die Welt 
in seiner Weisheit schuf, muß zugehört haben, als er sich beriet, 
zugesehen haben, wie ers dann machte. Ganz in demselben Sinne 
stehen die Fragen in Gottes Munde Job 38,4 ff. Der Schluß des 
H. Verf. aus jener Frage: also galt der Urmensch als Muster der 
Weisheit — ist ein trefflicher Trugschluß. Mag die Exegese der 
Zukunft, die der H. Verf. erhofft, noch so »lebendig« sein, die Logik 
und die geistige Einheit des lit. Zusammenhanges wird sie doch ach- 
ten müssen. — Auch die Anführung von Ez. 28,1—19 für diese 
Hypothese ist ganz ungerechtfertigt. In der mop v. 12 ff., die, wie 
oft die Form des Sw hat (vgl. m. Komment. zu Prov. 1,1) ist der 
König von Tyrus (resp. dieses selbst) mit nichts andrem verglichen 
als einem köstlichen Siegelringe, kunstfertig gearbeitet (ma zn adn, 'n 
spez. von Kunstfertigkeit) und mit kostbaren Edelsteinen besetzt; 
lies v. 13 mp n>ebn und v. 14 nx und nn». In v.15 geht der 
Profet etwas unvermittelt zwar, aber für den, der seine Art kennt, 
nicht unbegreiflich, auf (den König resp.) Tyrus selbst über. In 
v. 14 ist nsbden®m zu v. 15 zu ziehen und "ns dort zu streichen. 
Von einem »wundervollen und weisen Geschöpfe Gottes, dessen Kleid (?) 
von den 12 Edelsteinen bedeckt war, das in Eden, dem Gottesgarten, 
auf dem heiligen Berge, in Mitten feuriger Steine gewandelt hat« 
ist in 12 ff. keine Rede, sondern von einem kostbaren, edelstein- 
besetzten, schön geschnittenen und gut gebohrten Siegelringe, der 
zu dem Schatze Gottes gehört und mit anderem Edelgestein von 


Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 688 


einem Schatzhüter (Kerub) bewacht wird. In v. 15ff. ist deutlich 
von Tyrus und seinem Handel die Rede, durch den es sich "Us zu- 
zog. Ebenso unglücklich sind die »Varianten zur Vorstellung vom 
Paradies«, die der H. Verf. auf S. 31f. aufführt. Zum Beweis für 
die Behauptung, »daß das Paradies, das nach dem Mythus der Ur- 
sitz der Menschheit gewesen ist, nach einigen Stellen in der Endzeit 
wiederkommen soll«, weist der H. Verf. auf Ez. 36, 35 und Jes. 51, 3. 
Hier heißt es, daß Gott Zions Einöde wie Eden und ihre Wüste wie 
einen Gottesgarten machen will. Bekanntlich ist Garten Gottes 
oder Garten Eden eine ganz gewöhnliche Bezeichnung für eine reich 
gesegnete fruchtbare Landschaft. Kein Mensch, der die religions- 
geschichtlichen Voraussetzungen des H. Verf. nicht teilt, wird in 
jenen Stellen einen Beweis für seine Behauptung sehen; wenn man 
scharf zusieht, beweist gerade die Vergleichung: >es wird sein wie 
Eden, wie ein Garten Gottes« — die Unrichtigkeit jener Behaup- 
tung. Daß jene Stellen nicht zwingend sind, fühlt der H. Verf. 
selbst, deshalb fährt er fort: »Daß diese Anspielung aber nicht etwa 
ein zufällig gewähltes Bild ist, sondern vielmehr auf einem Glauben 
beruht, lehren die Schilderungen des Dtjes., wo noch in der letzten 
Zeit, wenn Jahve sich selber offenbart, in der Wüste wunderbare 
Wasser hervorbrechen und herrliche Bäume aufsprießen sollen, 
Jes. 41,8f. 43, 19. 49, 10 f. — vgl. besonders Jes. 35<. Aber auch 
in diesen Stellen vermag ich nicht die geringste Berechtigung zu 
jener Behauptung des H. Verf. zu finden. Gott verheißt dort bei 
der Rückkehr seines Volkes durch die Wüste aus dem Exil seine 
Herrlichkeit zu zeigen, indem er frische Quellen sprudeln läßt, daß 
seine >Erlésten< nicht dürsten, und prächtige Bäume sprießen läßt, 
damit sie in ihrem Schatten wandeln. Es ist von dem Wege durch 
die Wüste die Rede, aber nicht von einem bleibenden Paradies der 
Endzeit, in dem Israel wohnen sollte. Diese That Gottes wird 
Jes. 43,19 eine mwsn genannt, d.h. etwas unerhörtes und beispiel- 
loses! Vgl. auch w. Zed. 11,5f. Baruch 5,7f. — Aehnlich steht es 
mit den Vorstellungen des Ezechiel und der späteren Profeten, nach 
denen sich in der letzten Zeit vom heiligen Berge aus Wasser er- 
gießen werden. Das soll eine Erinnerung an das Paradies sein, das 
nach Ez. 28 — der H. Verf. ist kühn genug zu behaupten, dies 
Kap. des Ez. sei dem Inhalt nach älter als Gen. 2! — auf dem 
Gottesberge gelegen habe. Es ist aber für jeden, der nicht von der 
Richtigkeit der Behauptung des H. Verf. überzeugt ist, klar, daß 
die Profeten nur sagen wollen, das hl. Land solle in der Endzeit 
fruchtbar sein wie ein Garten Gottes; da kann natürlich das Wasser 
nicht fehlen. Zudem sind die Stellen, die der H. Verf. anführt, zum 


684 Gött, gel, Anz. 1901. Nr. 9, 


Teil ganz miGverstanden. »Es sind lebendige Wasser Sach. 14, 8« 
— d.h. aber frisches Quellwasser, weiter besagt der Ausdruck nichts. 
Davon, daß »diese Wasser alles leben machen, wohin sie kommen, 
Ez. 47,9« ist an dieser Stelle nichts gesagt. Der Strom, der vom 
Tempel ausgeht, wird die vergifteten (bittern) Wasser des toten 
Meeres »heilen« (d. h. süß machen), so daß alles Wassergetier darin 
leben könne, vgl. die Uebersetzungen, nach denen der MT zu ver- 
bessern ist; aber auch aus dem hebräischen Text ist deutlich, daß 
nur von dem Wassergetier die Rede ist, das dann auch im toten 
Meere leben können wird. Daß die Bäume an diesem herrlichen 
Wasser nicht welken sollen, ist weiter nichts wunderbares, sie sind 
ja >gepflanzt an Wasserbächen«. Es sind bei aller Herrlichkeit doch 
wirkliche natürliche Wasser und natürliche Bäume, von denen Ezechiel 
redet, während Apokal. 22,1 — das nach dem H. Verf. die ur- 
sprüngliche Bedeutung enthält, — nur eine phantastische Vergeist- 
lichung ist. Es ist durch nichts auch nur wahrscheinlich zu machen, 
daß nach der ältesten Vorstellung das Paradies auf einem Berge 
liege; in den älteren Texten werden gerade fruchtbare Ebenen mit 
einem Garten Gottes verglichen. Daß schließlich die älteste Vor- 
stellung das Land Eden im — Himmel gesucht habe, ist eine Vor- 
stellung, die sich nur aus dem ganz eigentümlichen Bannkreis, in 
dem der H. Verf. steht, erklären läßt, und daß der himmlische 
Strom, der sich in vier Armen vom Himmel ergießt, die — Milch- 
straße sei, ist eine Anschauung, zu der nur der kommen kann, der, 
die literarischen Kriterien verachtend, den nüchternen Boden der 
Wirklichkeit, die uns das A.T. giebt, verliert. Wie der H. Verf. 
sich diesen Sprung vom Himmel zur Erde denkt, lehren seine Worte 
S. 33: »das Paradies lag ursprünglich im Himmel und seine vier 
Ströme waren ursprünglich die Ströme am Himmel; eine spätere 
Zeit aber nahm Anstoß an dieser allzugrellen Mythologie: sie glaubte, 
daß das Paradies ein wunderbarer, weitentfernter Ort auf Erden sei 
und behauptet, daß die 4 Ströme auf Erden fließen«. Es ist zu be- 
klagen, daß der H. Verf. uns den Gedanken, der hinter den Worten: 
eine spätere Zeit nahm Anstoß an dieser allzugrellen Mythologie — 
liegt, nicht genauer wiedergegeben hat. Wo soll denn dieser An- 
stoß einer späteren Zeit herkommen ? Wird etwa die Mythologie 
weniger grell, wenn die Gottheit auf die Erde versetzt wird? Es 
ist eine wunderliche Vorstellung, daß dadurch, daß die Gottheit aus 
dem fernen Himmel in unsre Nähe, auf unsere Erde versetzt wird, 
die mythologischen Züge weniger anstößig, weniger graß würden. 
Von der gewaltigen Veränderung des Gottesbegriffes, die in dieser 
örtlichen Verlegung des Gottessitzes liegen würde, scheint der H. Verf. 


Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 685 


keine Ahnung zu haben. Eine ungeheure Degradierung der Gottheit 
wäre die Folge gewesen. Der H. Verf. scheint durchgängig der 
Meinung zu sein, das »mythologisch Grelle<, das wir in der Religion 
der ältesten Kulturvölker, lange vor Israel, finden, sei das Urspriing- 
liche; das ist ein verhängnisvoller Irrtum: in den meisten: Fällen ist 
die »Mythologie« der poetische Niederschlag eines langen und rei- 
chen Gedankenlebens über Gott und Welt. — Alles das gehört ja 
nun eigentlich wenig oder gar nicht zur Auslegung des Textes. Da 
aber der H. Verf. diesen Gedanken einen sehr weiten Raum gönnt 
in seinem Kommentar, so wäre es Unrecht gewesen, nicht darauf 
einzugehen. Vieles davon hätte im Kommentar m.E. ohne Schaden, 
ja zum Nutzen der Sache fehlen können. 

Ueber die andern zur Urgeschichte von J gehörenden Stücke 
können wir uns kurz fassen. An sprachlichen Mängeln sind mir auf- 
gefallen die Uebersetzung von 9,20: »Noah, der Ackermann, begann 
auch Weinberge zu pflanzen<; für den, der Hebräisch versteht, ist 
es selbstverständlich, daß die Worte na von m) bm bedeuten: 
Noah fing an das Land zu bebauen. Die Verben des modifizierten 
Seins, wie Sri, dim, a1w werden so im Hebräischen wie im Arabi- 
schen konstruiert. Die alten Uebersetzer, die noch besser Hebräisch 
verstanden, haben die Stelle meist richtig übersetzt, vgl. auch den 
Verf. von ıowe> sp» (Berlin 1899) a. d. Stelle. Ebenso falsch 
dürfte die allgemeine Erklärung von 11,1 sein: »Die ganze Mensch- 
heit hatte dieselbe Sprache und dieselben Worte<: das ist ein ganz 
nichtssagendes idem per idem, abgesehen davon, daß D&’ınx nicht 
»dieselben< heißt. Der Erzähler will vielmehr sagen, daß die Mensch- 
heit eine Einheit auch in ihren Unternehmungen bildete, daß sie in 
corpore dafür einstanden, ohne zersplitternde Sonderinteressen. Im 
Deutschen ließe sich der Sinn etwa wiedergeben durch: sie wa- 
ren eins in ihrer Sprache und in ihrem Handeln. Der Ausdruck — 
der durchaus hebräisch ist — entspricht einem ähnlichen im Arabi- 
schen. Auch da sagt man, wenn zwei oder mehrere Familien — 
etwa durch Verschwägerung — Gemeinsamkeit der Interessen und 
Ziele erhalten haben Srl, Ls » lo, vgl. z.B. 1001 N. ed. Mac. III, 
234. 551 (659). Grammatisch ist übrigens ‘1 nicht etwa Kopula 
zwischen Subjekt und Prädikat, sondern man hat sich hinter diesem 
Wort gleichsam einen Doppelpunkt zu denken: ‘31 ‘am >> ist ein 
vollständiger Satz. 

In der Erklärung der Schöpfungsgeschichte von P, S. 93 ff. macht 
der H. Verf. Front gegen die wohl ziemlich allgemein vertretene An- 
schauung, daß die Vorstellungen von Gott und Welt, die jenem Be- 
richte zu Grunde liegen, erst in oder nach dem Exil möglich sind, 


6s Gött. gel. Anz. 1901. Sr. 9. 


Zunächst sucht er Wort und Berrifi x: als >alt< zu erweisen. »Da 
er — dieser Ausdruck x~s — hier als Term. einer Erzählung ge 
braucht wird, so ist er nach sagengeschichtlichen Instanzen fur urak 
zu halten<. Aber die »sagengeschichtlichen Instanzen<. auf die e 
sich beruft, überzeugen nur überzeugte Anhänger seiner Anschar 
ungen. »Dagegen spricht nicht, fährt er fort. daß das Wort ms 
sonst nur aus späteren Schriften bezeugt ist: die uns bekannte AT.- 
liche Literatur ist viel zu dürftig, als daG auf das mehr oder minder 
zufällige Vorkommen oder Nichtvorkommen eines solchen Ausdrucks 
allzu viel zu bauen wäre (gegen Wellh. Proleg.* S. 395)<. Wenn 
ein Wort wie dieses mit einem so charakteristischen Inhalte in der 
ganzen alten Literatur zweifellos gar nicht vorkommt, dann aber im 
Exil und nach dem Exil überaus häufig, ca. 40 mal begegnet, ohne 
daß sein Gebrauch abreißt, so kann nur die Voreingenommenheit die 
Beweiskraft dieser Thatsache leugnen. »Ebensowenig aber darf man 
behaupten, der durch x73 ausgedrückte Gedanke sei der alten Zeit 
Israels unerschwinglich gewesen (gegen Wellh. Proleg.‘ S. 310); 
warum sollte das alte Israel nicht habe denken können, daß es Got- 
tes Sache sei, Unerhörtes, Wunderbares hervorzubringen, und daß er 
dieses speziell bei der ersten >Schöpfung< gethan?« Daß das alte 
Israel nicht nur hat denken können, sondern gedacht hat, es sei 
Gottes Sache, Unerhörtes und Wunderbares hervorzubringen, be- 
streitet dem H. Verf. kein Mensch, wenn es auch der alte Erzähler 
Gen. 18, 14 nicht ausdrücklich sagte; aber daß er beides, Wunder 
thun und die Welt schaffen in eine Reihe stellt, beweist, daß er 
sich des ungeheuren Abstandes, der zwischen beiden besteht, gar 
nicht bewußt geworden ist. Etwas anderes ist es, Gott innerhalb 
der Welt Wunder zutraun; etwas anderes, ihm die Schöpfung der 
Welt zuschreiben. Die Welt schaffen ist nicht nur ein größeres Wun- 
der als andere, sondern ist etwas ganz Eigenartiges und setzt einen 
ganz anderen Gottesbegriff voraus; hier ist das naive Band zwischen 
Gott und Welt durch die Abstraktion zerschnitten. — Was der H. 
Verf. mit dem limitierenden »speziell< in seiner Frage sagen will, 
ist mir nicht klar. Soll etwa Gott bei der Schöpfung größere Kraft 
aufgewandt und gezeigt haben, als ihm nachher zu Gebote stand? 
Dann wäre Gott ja nicht der Herr geblieben der Welt, die er ge 
schaffen. Inderthat, wenn der Gott von J die Welt erschaffen hätte, 
wäre er nachher depossediert. Nur wo Gott als der Allmächtige 
vorgestellt wird, kann der Glaube an die Weltschöpfung aufkommen. 
Es ist doch so, daß da, wo die Ueberzeugung von der Allmacht 
Gottes vorhanden ist, der Glaube an die Weltschöpfung' geboren 
wird, nicht umgekehrt, als ob die Vorstellung von der Weltschöpfung 


Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 687 


dem Gotte ad hoc spezielle Kraft gabe. Nun kann der Gott des 
alten Israel gar keine >» Welt« schaffen, also ist auch dem alten Israel 
der Glaube an die Weltschöpfung unerschwinglich — wie gerade 
Gen. 2,4 ff. deutlich beweist. »Daß die Anschauung von der Wun- 
derwirkung des göttlichen Wortes nicht in junge Zeit gehört, beweist 
der uralte babylonische Schöpfungsmythus, wonach Marduks Wort 
Wunder wirkte. Es ist mir unbegreiflich, wie der H. Verf. das Vor- 
handensein einer solchen Vorstellung in dem uralten babylonischen 
Schöpfungsmythus im Ernste zum Beweis dafür anführen kann, daß 
die Wunderwirkung des göttlichen Wortes — wohlgemerkt, wie sie 
Gen. I zu Tage tritt — in Israel auch alt sei. Wenn man von 
»jungen« und »alten« Vorstellungen spricht, so sind das doch ganz 
relative Begriffe, die in jedem Erscheinungsgebiet ein besondres 
Maß bezeichnen. Was in Babylon (!) uralt ist, zeitigt Israel erst 
sehr spät. Ebenso steht es mit den Bemerkungen des H. Verf. über 
731 15m. Auch hier behauptet er: »Der Ausdruck ist offenbar Ter- 
minus der Schöpfungsgeschichte und daher nach Analogie ähnlicher 
Termini für uralt zu halten«, vgl. oben über x72. Zum Beweis da- 
für, daß ‘a1 ‘mn offenbar Terminus der Schöpfungsgeschichte sei, 
führt der H. Verf. Jes. 45, 18. 34, 11. Jerem. 4,23 an. Woher der 
H. Verf. weiß, daß in diesen Stellen »an die Schöpfungsgeschichte 
angespielt< wird, erfahren wir nicht. In der ersten Stelle sagt der 
Profet, daß Gott die Erde nicht ıın geschaffen habe, sondern zum 
Bewohntwerden bestimmt habe. Hier bedeutet also 1m die wüste 
und unbewohnte Einöde auf der Erde: von einem Anklang oder 
gar einer Anspielung an Gen. I keine Spur; ebenso steht’s mit den 
beiden anderen Stellen. Noch seltsamer ist die Erklärung von ‘31 ’n, 
die uns im Folgenden geboten wird. >Der Ausdruck Leere und 
Oede bedeutet dasselbe wie das griechische Xaog, die Kluft, oder 
Bvdos, der Abgrund, der Gnostiker; wir würden sagen der leere 
Raum, der Weltenraum. Der leere Raum — so wird also (!) hier 
vorausgesetzt — ist älter als die Geschöpfe; in den Raum hat Gott 
die Dinge hineingestellt«. Das mögen wohl »altorientalische Speku- 
lationen< sein, wie der H. Verf. schreibt, aber sicher keine nüchterne 
Exegese. Die sagt einem jeden, Jdaß in dem Satze: die Erde war 
‘a1 'n diese Worte nicht den leeren Weltraum bedeuten können. — 
Der Plural mw erklärt sich sicher nicht aus der babylonischen 
Lehre (!), wonach es 7 Himmel mit den 7 Planeten giebt, sondern ’w 
bedeutet ursprünglich weiter nichts wie die Decke des Hauses, wie 
noch im Syrischen. Die Welt oder richtiger das Land ist ein Haus, 
dessen Fußboden ist die yıx, der Himmel ist die Decke darüber, 
die Berge sind die Eckpfeiler, die ihn tragen. Wie in jeder Decke 


688 Gat. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


‘sind auch im S&’nv misse d.h. nicht Fenster, wie man immer über- 
setzt, sondern Dachluken, durch die der Rauch abzieht und die bei 
Regenwetter geschlossen werden; vgl. G.G.A. 1900 Nr. 11 S. 836. 
Mit Unrecht liest der H. Verf. in 1,29 den Mythus vom Frieden der 
goldenen Zeit hinein; an den ist dort so wenig ein Anklang, wie in 
Jes. 11 eine Projektion des Friedens der Urzeit in die Endzeit vor- 
liegt; von der »Endzeit« ist dort gar nicht die Rede. Poetische 
Schilderungen verdichten sich dem H. Verf. zu Mythologien, in eigen- 
tümlichen Bildern und Redewendungen, die sich ganz nüchtern aus 
der Natur einer naiven, kräftigen Sprache erklären, spürt er reli- 
gionsgeschichtliche Probleme auf. Vgl. z.B. S. 119: »Auch sonst 
klingt in Anspielungen an Schöpfungstraditionen (im A.T.) Mytholo- 
gisches nach: so erinnert » 90,2 an die Zeit, da die Berge >ge- 
boren<, Welt und Erde »gekreist«e wurden< — was würden solche 
Mythologen aus den altarabischen Gedichten herauslesen ! Welche 
Verkennung der Thatsachen liegt z.B. in dem Satze S. 111 vor: 
»Derselbe mythische Stoff — vom Kampfe Jahves mit dem Urmeer 
— tritt auch in eschatologischer Wendung und allegorisiert auf; 
was einst in der Vorzeit — geschehen ist, das soll in der letzten 
Zeit wieder geschehen: brausend und übermütig werden die Wasser 
heranfluten; aber ehe der Morgen kommt, wird Jahves Stimme sie 
anfahren und verjagen. Diese Wasser aber werden von den Pro- 
feten und Dichtern auf die Feinde Israels gedeutet. Daß Heere 
mit Wasserfluten verglichen werden ist doch eine aus dem Hebräi- 
schen und Arabischen ganz bekannte Vergleichung, zu deren Er- 
klärung man wahrhaftig keine Mythologie braucht. — 

In einem Exkurs über das >Alter der Tradition Israels< S. 112 ff. 
sucht der H. Verf. den Beweis dafür, daß Gen. I erst in den Zeiten 
des Exils und später in Israel denkbar ist, zu entkräften. »Man 
hat behauptet, Israel habe unmöglich in alter Zeit den Gedanken der 
Schöpfung fassen und auf seinen Gott übertragen können. Eine wun- 
derliche Vorstellung! Die Kulturvölker rings umher haben .... 
Schöpfungsmythen, und Israel sollte so barbarisch gewesen sein, daß 
der Gedanke der Schöpfung ihm zu hoch gewesen wäre ? sein Gott 
sollte ihm so klein gewesen sein, daß es ihn nicht hätte als Schöpfer 
der Welt denken können ?« Wir haben diese Fragen schon oben ge- 
würdigt. Es ist durchaus keine wunderliche Vorstellung, daß der 
Gott, den das alte Israel verehrte, keine Welt schaffen konnte. Mag 
uns auch vieles in der Geschichte Israels dunkel sein — der H. Verf. 
nimmt diese unsre Unwissenheit oft zu stark bei seinem Gegenbeweis 
in Anspruch —, darüber kann kein Urteilsfahiger im Zweifel sein, 
daß wir über die Gottesvorstellnng der alten Zeit durch Profeten und 


Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 689 


Historien gut unterrichtet sind und daß diese Gottesvorstellung ge- 
gen Gen. I den schärfsten Protest einlegt. Wenn der H. Verf. 
Recht hätte damit, daß das alte Israel seinen Gott als Weltschöpfer 
erkannt habe, wäre das auch religionsgeschichtlich das Wunder- 
lichste und Abnormste, was man sich denken kann, ja die ganze 
Entwicklung bliebe uns unverständlich. »Alle Bedenken aber wer- 
den niedergeschlagen durch den Schöpfungsmythus von Gen. 2, der 
sicherlich in uralte Zeit gehörte. Gen. II enthält gar keinen 
»Schöpfungsmythus«e in dem Sinne und hat mit Gen. I nichts ge- 
mein; das Vorhandensein von Gen. II ist nicht ein Beweis für, son- 
dern gegen den H. Verf. »Und schon im Tempelweihlied des Salomo 
heißt es, Jahve habe die Sonne an den Himmel gestellt«. Dieser 
Gedanke mag gewiß alt sein, aber er wird nicht spekulativ ausge- 
nutzt. Uns liegt der Gedanke, daß der, der die Sonne scheinen 
läßt, der Schöpfer der Welt ist, sehr nahe, aber das alte Israel hat 
nie diese Konsequenz gezogen. Von Jahve kommt Regen und Licht 
und Wärme, — aber an der Konsequenz, die darin liegt, daß diese 
auf der ganzen Erde verbreiteten Güter von Jahve kommen, 
ist die alte Zeit vorübergegangen. Nicht, weil die Schöpfungsidee 
»bei den älteren Profeten selten oder gar nicht vorkommt<, hat die 
einseitige »moderne Literarkritik< ihr hohes Alter abgesprochen, 
sondern weil die Gottesvorstellung der Profeten und überhaupt die 
religiösen Ideen und Bedürfnisse des alten Israel Gen. I neben sich 
unmöglich machen. Dem stimmen nicht nur »Literarkritiker« bei, 
sondern alle, denen um ein Verständnis der Religion Israels, meinet- 
wegen um eine »Geschichtskonstruktion<, aber eine vernünftige, zu 
thun ist. Wenn der H. Verf. fortfährt: »der Schöpfungsglaube hat 
von jeher bestanden, aber erst in bestimmter Zeit hat die große 
politische Profetie sich seiner bemächtigt und damals hat dies Dogma, 
das früher für die praktische Religion ohne besondren Wert war, 
gewaltige Bedeutung bekommen< —, so erinnert das lebhaft an die 
vortrefiliche Begründung, mit der man s.Z. das Deuteronomium ‘als 
eine zwar »latente«, aber wirklich vorhandene Größe für die Zeit 
vor dem Exil retten wollte. Mit dem Schluß: »dabei ist indes für 
sehr wahrscheinlich zu halten, daß derselbe oder ähnlicher Stoff auch 
in späterer Zeit in Israel aufs neue wieder eingeströmt ist< — trägt 
der H. Verf. der Wucht der Thatsachen Rechnung und giebt im 
Grunde seine eigne Stellung auf. 

Zu der Exegese der Abrahamgeschichte in J und E ist nicht 
viel zu bemerken. Wenn der H. Verf. in Gen. 12, 7, der Zusage 
Gottes, eine Erhöhung der Verheißung in v. 1 erblickt, insofern hier 
von einem Besitz des Lands die Rede sei, in v. 1 nicht — so ist 

Gott. gel. Ans, 1901. Nr. 9. 46 


690 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


das m.E. kaum richtig. Vielmehr ist in der Verheißung v. 1 das 
Land für den Erzähler selbstverständlich mit eingeschlossen, denn 
ein Volk ohne Land giebt’s nicht. Auch die Berechtigung, in 15, 11 (12) 
13—16 die Spur eines selbständigen Berichts und zwar aus E, zu 
sehen, ist mehr als zweifelhaft. Diese Verse sehen viel eher wie 
eine Wucherung auf dem Stamm von J aus, als wie der Rest einer 
selbständigen Erzählung neben v. 9. 10. 17. Denn daß E ebenfalls 
von einem, bei ihm ganz grund- und folgelosen Opfer erzählt haben 
sollte, bei dem Abraham eingeschlafen sei, ist wenig glaublich, v. 12 
ist aus Bruchstücken von v.17 gebaut. In cap. 15 malt der H. Verf. 
die Charaktere viel zu grell. Abraham ist vom hebräischen Stand- 
punkt aus beurteilt durchaus nicht der Pantoffelheld, als den er ihn 
darstellt. Die Vermutung, daß es in dem Texte v. 7 ursprünglich 
gelautet habe, sie traf den Engel, ist nicht nur unbegründet, sondern 
nachweisbar falsch; aus v. 11 geht doch deutlich genug hervor, daß der 
‘ms? ‘abn ihr entgegen gesandt ist, um ihr diese frohe Botschaft zu 
verkiindigen; xx» ist gerade der treffende Ausdruck von dem »Fin- 
den« (Erreichen) Gottes. Ebenso unbegründet verwandelt der H. Verf. 
noch an zwei oder drei anderen Stellen den Text »vor dem ich (meine 
Väter) gewandelt habe« in »der vor mir (m. V.) gewandelt ist<; im 
Text stehtimmer 75n7! Die Vermutung Wincklers, der der H. Verf. 
beistimmt, Hagar sei keine Aegypterin, sondern aus dem nordarabi- 
schen Stamme Mucr gebürtig, wird durch 21,21 widerlegt, wo die 
Mutter ihrem Sohne ein Weib aus ihrem Volke nimmt. Die Er- 
zählung 18,1ff. stellt der H. Verf. unter den Gedanken , daß die 
Gottheit Abraham, d.h. seine Gastlichkeit habe auf die Probe stellen 
wollen; doch ist davon nirgends auch nur andeutungsweise die Rede. 
In 18, 22 haben die Rabbiner ein ‘p10 51pm gesehen, weil sie an- 
gesichts der Notiz 19,1 eine Antwort auf die Frage suchten: wo 
bleibt Jahve? Ihre Angabe beruht nicht etwa auf alter Tradition, 
sondern ist aus dem gegenwärtigen Texte herausgesogen. Daß der 
Erzähler nicht geschrieben hat mnax ’5 ns 's minh, glaubt wohl 
jeder, der den Sinn dieser Phrase kennt. Durch den Zug, daß die 
Männer in 19,2 zuerst abschlagen, also daß Lot in sie dringen muß, 
soll gewiß nicht dargestellt werden, »daß die Männer als arme, ge- 
ringe Leute auftreten, denen Bescheidenheit ziemt<. Die Männer, 
die zur Untersuchung und eventuell zur Bestrafung Sodoms ausge- 
sandt sind, schlagen ab, weil sie sich durch die Einkehr bei einem 
Sodomiten nicht die Hände binden wollen für ihr Strafgericht; denn 
nur, weil die Männer das Gastrecht ehren müssen, wird Lot gerettet, 
nicht etwa, weil er mit Abraham verwandt ist. Unbegreiflich ist, 
wie der H. Verf. in der Bemerkung Ez. 16,49 f. eine Anspielung an 


Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 691 


die Erzählung in Kap. 19 sehen kann. »Das war die Schuld So- 
doms: es lebte herrlich und in Freuden, hatte Brotes die Fülle und 
behagliches Wohlleben sammt ihren Töchtern, aber dem Elenden und 
Armen reichten sie nicht die Hand (die 3 Wandrer Gen. 19 nahmen 
sie nicht auf)<. Wenn man es wirklich für möglich hielte, daß 
Ezechiel auf diese ganz bestimmte Geschichte angespielt haben sollte, 
wäre man doch wenigstens berechtigt, zu erwarten, daß er statt des 
generellen »der Arme< von den (3) »Armen« redete. 3° purnn heißt 
kaum jemandem die Hand reichen und wenn es das wirklich hieße, 
wäre es noch lange nicht so viel wie jemanden aufnehmen ; was hat 
das »Hand reichen« mit dem Beherbergen zu thun? Falsch ver- 
standen hat der H. Verf. auch die Stelle Deut. 32, 32. »Diese 
(schmähsüchtige) Auffassung der Erzählung (von dem Ursprung Moabs 
und Ammons) findet sich schon Deut. 32,32: denn vom Weinstock 
Sodoms stammt ihr Weinstock, von den Gefilden (? vgl. die Ueber- 
setzungen) von Gomorrhac. Richtig der Verf. von ‘> xnpn S. 377: 
FINA yoam “DO JEAN WIND... . TIN BND SA IW 1983 
JIT 720 yam wp 103 785 WNW 789 . wD VAN Nam amd 
sp 91 ..... Inow mbsanm 0135 Sn Nw 713 937d MApAN 
[03h ta nw 'nyı 10 Ind ODD sINDm DIVD ANA ‘AIT 
Unberechtigt ist die Behauptung zu 20, 4>: »Dieser Satz, wonach 
Gott jedem nach seinen Werken vergilt , ein Satz, den die meisten 
modernen Theologen, weil er bei den älteren Propheten keine Rolle 
spielt, für jung halten, gehört in Wirklichkeit bereits der ältesten 
Religion Israels an, vgl. I Sam. 26,23. II. 3,33 f.c.. Diese Stellen 
sprechen durchaus nicht für die Meinung des H. Verf.; gerade aus 
unsrer Geschichte vgl. v. 7. 17, geht ja aber klar hervor, daß das 
Haus, d.h. die (unmündigen) Weiber, Kinder und Sklaven, mit dem 
Hausherrn leiden. Selbstverständlich behauptet der Hebräer, daß 
Gott die Guten belohnt und die Bösen bestraft, aber er sieht darin, 
daß jener Unmündigen Schicksal mit dem des Hausherrn geht, kei- 
nen Widerspruch. Daß Gott jedem Einzelnen als Individuum nach 
seinen ‚Werken vergilt, ist im alten Israel nicht denkbar. — An die 
Geschichte cap. 20, Abraham in Gerar, schließt der H. Verf. eine 
Vergleichung der verwandten Erzählungen 12,9 ff. 26,6 ff. an. Er 
macht folgende Beobachtung: »Nach 12 ist der Ehebruch begangen 
worden, nach 20 ist er im letzten Augenblick von Gott verhindert 
worden, nach 26 hätte er vielleicht einmal geschehen können<«, und 
kommt zu diesem Resultat: >12 erzählt mit antiker Unbefangenheit 
Dinge, die dem späteren Empfinden höchst anstößig erscheinen muß- 
ten; 20 behält die Thatsachen im Allgemeinen bei und giebt sich 
die größte Mühe, das Anstößige aus ihnen fortzubringen und Abraham 
46 * 


692 Gott. gel. Anz, 1901. Nr. 9. 


moglichst rein zu waschen; daher die eigentiimlich verzwickte Hal- 
tung v. 9ff.; 26 greift energisch ein und schneidet das AnstoLige 
ganz weg«. Zunächst ist die Behauptung, 26 schneide das Anstößige 
weg und verhülle die Schande Sarahs in den anderen Erzählungen, 
durchaus unbegründet. Der Befehl des Königs 26,11, in dem der 
H. Verf. seltsam genug das böse Gewissen des Erzählers über das 
in 12 (und 20) berichtete spüren will, ist durch v. 7 sehr gut moti- 
viert. Nun beachte man aber Folgendes. Nach 12,11 nimmt sich 
Abraham, noch ehe er nach Aegypten kommt, gleich vor, die Sarah 
für seine Schwester auszugeben; er sieht alles voraus, was geschehen 
wird, ja er nimmt es als selbstverständlich an. Die Worte und Be- 
denken Abrahams sind gänzlich unmotiviert. Ganz anders in 26. 
Da kommt ihm der Gedanke, die Schönheit Sarahs könnte ihn in 
Lebensgefahr bringen, anfangs gar nicht , sondern erst bei einer be- 
stimmten Gelegenheit; sein Weib hat Aufsehen erregt, man fragt 
nach ihr und darauf giebt er sie für seine Schwester aus. Das ist 
ein lebendiger durchaus sachlicher Zug, der 26 die Ursprünglichkeit 
vor 12 sichert; in cap. 20 wird gar erzählt, Abraham habe es auf 
seiner Reise überall so gemacht. Damit hängt zusammen die starke 
Betonung der Schönheit der Sarah in 12, von der aus 26 nur bei 
diesem Anlaß berichtet; diese Schönheit gewinnt dort das Herz des 
Großkönigs Pharao, während sie hier namenlose Leute in Gerar in 
Versuchung führt: eine außerordentlich charakteristische Verschieden- 
heit des Schauplatzes. Die Erzählung 12 ist durchaus widerspruchs- 
voll und unklar: unmotiviert ist die Rede Abrahams v. I11f.; ganz 
unbegreiflich, woher der Pharao es weiß, daß Sarah Abrahams Weib 
ist und ihn um ihretwillen jene Plagen treffen. Der Mangel an jeg- 
lichen konkreten Zügen entwertet Gen. 12 ebenso, wie das Vorhan- 
densein derselben Gen. 26, (v. 7. 8) empfiehlt. Das Kriterium des 
H. Verf., daß die spätere Zeit in solchen sittlichen Dingen fein- 
fühliger gewesen sei, ist nicht zu gebrauchen, denn es beruht auf 
einer unerwiesenen Behauptung und läßt der Individualität der Er- 
zähler zu viel Spielraum. Die bei aller Farblosigkeit phantastische 
Geschichte 12 gehört gewiß nicht einer besonderen Quelle in J an. 
Es bewährt sich auch hier Wellhausens Behauptung, -daG die Er- 
zählungen von Isaak älter und ursprünglicher sind als die von Abra- 
ham. — In seinem Streben, die Persönlichkeiten lebendig zu machen, 
zeichnet der H. Verf. oft zu kühn und malt zu grell. So in der 
Exegese zu 21,8fl. »Die alte Sage hat nun erzählt, daß Abraham, 
verträglich wie er war, seinem Weibe gehorcht hat, schweren Her- 
zens vielleicht; aber — so dürfen wir weiter ausführen, — sie trieb 
ihn mit ihren Worten in die Enge und quälte ihn so, daß sein 


Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 693 


Atem (sic!) kurz ward bis zum Sterben Jud. 16, 16. 14,17 ..... 
die spätere Zeit, die in Abraham ein sittliches Ideal sehen möchte, 
nahm Anstoß daran, daß er sein eigen Kind verstoßen hat. Darum 
schiebt unser Erzähler v. 11—13 ein .... Gott sei dem Abraham 
erschienen, habe ihm befohlen, Ismael zu verstoßen und ihn zugleich 
über das Geschick seines Sohnes beruhigt<. Für solche Vermutungen 
giebt es keinen einzigen plausiblen Grund; die >inkonkrete Art« der 
Gottesoffenbarung ist in E nicht seltsam. In der darauf folgenden 
Geschichte, die in Beerseba spielt, 21,22ff., ist v. 25f. falsch ver- 
standen. Die Verhandlung v. 28f. bezieht sich selbstverständlich 
auf diesen Brunnen, d. h. Beerseba; daß LXX in v. 25 den (vom 
H. Verf. acceptierten) Plural mgeara haben, beweist nur, daß sie dies 
Kapitel nach Kap. 26 konformiert haben, wie sie ja auch den b>» 
dorther eingetragen haben. In cap. 22 vermutet der H. Verf. als 
Ort der Opferung Isaaks bax, die in der Erzählung gegebenen 
Anspielungen geistreich benutzend. — In der Erzählung über Re- 
bekkas Brautwerbung cap. 24 hat der H. Verf., wie schon früher, 
versucht, zwei Quellen innerhalb J nachzuweisen. Rebekka bekommt 
mehrere Dienerinnen mit v. 61; sie nimmt nur die Amme mit v. 59. 
Die Verwandten Rebekkas wissen auf den Heiratsantrag nichts 
(weder nein noch ja) zu sagen v. 50°; sie gehen sofort auf den An- 
trag ein, denn Jahve hat schon dafür entschieden v. 50*. 51. Sie 
fragen in einer so zweifelhaften Sache das Mädchen selbst v. 57 f. 
(Diese Frage bezieht sich nach dem gegenwärtigen Zusammenhang 
darauf, ob das Mädchen sogleich mitziehen will; nach dem Wort- 
laut aber, ob es überhaupt mitzugehen willens ist); nach v. 50°, 51 
dagegen verfügen sie über das Mädchen, ohne es nur zu befragen. 
Zweimal bricht dann Rebekka auf: v. 61*|| 61>... Zweimal bricht 
auch der Sklave von Abraham auf v. 10. Zweimal läuft Laban zu 
dem Mann an der Quelle v. 30 || 29. Zweimal macht der Knecht 
Rebekka das Brautgeschenk v. 22 || 53 etc.<. Man wird die Uneben- 
heiten in der Erzählung am Schluß v. 59 ff. anerkennen müssen, 
aber sie allein weisen noch nicht auf einen doppelten Faden der Er- 
zählung. Solche Unebenheiten finden sich in Folge späterer Text- 
bearbeitung öfter und es ist gefährlich, dann gleich auf parallele Be- 
richte zu rathen. Doch müßte man im gegenwärtigen Falle einen 
Doppelbericht annehmen, wenn die übrigen Bemerkungen, die der 
H. Verf. macht, richtig wären. Das ist aber nicht der Fall, so weit 
ich sehe. Zunächst kann ich den Widerspruch, den der H. Verf. 
innerhalb v. 50f. konstituiert, nicht empfinden. Die Verwandten 
sagen: Jahve hat es bestimmt, wir können nichts dazu sagen, d.h. 
wir ergeben uns ganz in seine Bestimmung. Es ist ganz unmöglich, 


694 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


die Worte in v. 50 "5515 xb von dem vorhergehenden ’= xx ‘7 zu 
trennen. Jahve hat entschieden, darum ist jede weitere Verhandlung 
mit dir überflüssig, die Sache ist abgemacht, da ist Rebekka etc. 
Der H. Verf. läßt die Worte in v. 50° ungefähr das gerade Gegen- 
teil von dem besagen, was sie bedeuten. Die Bemerkung ferner über 
v. 57 f. entbehrt jeglicher Begründung. Die Befragung des Mäd- 
chens ist durch die Situation sehr wohl motiviert. Wer die Sitten 
der alten Hebräer und Araber kennt, weiß, daß der Aufbruch des 
Knechtes schon am folgenden Morgen etwas ganz unerhörtes ist. 
Drei Tage ruht man sich wenigstens aus, das kann man verlangen; 
der Widerspruch gegen v. 51 ist ganz hinfällig. In v. 10 bricht 
der Sklave nicht zweimal auf, denn daß LXX das Richtige haben ist 
doch wohl nicht gut zu bestreiten; leg. sıo 55m, die Erwähnung 
der Kameele allein genügt doch nicht! Unrichtig ist endlich auch 
die Behauptung, daß der Knecht zweimal das Brautgeschenk gebe, 
einmal vor der Verlobung (!) v. 22, und das andre mal nach der 
Verlobung v. 53. Als Brautgeschenk oder, wie wir richtiger sagen 
wollen, als Brautgeld, durch das ein rechtlicher Anspruch begründet 
und der Handel perfekt wird, ist die Gabe v. 22 viel zu klein; 
wozu nimmt denn dann der Knecht in v. 10 die 10 Kameele und 
die allerlei Güter mit? Ueberhaupt wäre, wenn v. 22 das Brautgeld 
gegeben wäre, die ganze folgende Geschichte unverständlich. In v. 30 
gerät Laban über die Höhe dieser sogen. Brautgeschenke ganz außer 
sich vor Freuden und ist, wie man sagt, ganz in einander, als aber 
der Knecht (unbegreiflich genug!) die Werbung vorgetragen hat, 
hat er nur die kühle Antwort: wir können Dir weder ja noch nein 
sagen (nach des H. Verf. Uebersetzung). Vielmehr das Geschenk 
v. 22 hat der kluge Knecht gegeben zur empfehlenden Einleitung 
seines Geschäftes, damit die Verwandten der Rebekka von dem 
Reichtum des Bewerbers einen Begriff bekommen. Die ganze Hypo- 
these des H. Verf. scheitert zudem an der ganz selbstverständlichen 
Thatsache, daß das Kaufgeld nicht die Braut, sondern ihre Ver- 
wandten erhalten, an dieser Sitte läßt sich nicht riitteln. Die Ge- 
schichte, die der H. Verf. konstruiert, ist ganz widerspruchsvoll. 
Wie können die Verwandten (in der Rezension II) antworten: »Wir 
können Dir weder ja noch nein sagen« — der Knecht hat sie ja — 
nach jener Rezension — gar nicht gefragt. Wie kann überhaupt 
noch ein Zweifel an der Willigkeit des Mädchens sein, da sie ja das 
»Brautgeld«e — freilich ohne daß ihr mitgeteilt wird, wofür es ist! 
— angenommen hat! Schließlich ist eine Brautwerbung, bei der das 
Mädchen so selbständig handelt, wie der H. Verf. hier voraussetzt 
(vgl. S. 226 f.!) im ältesten wie im jüngsten Israel gleich unmöglich. 


Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 695 


Daß ein Mädchen so frei über sich verfügt, wie der H. Verf. an- 
nimmt, giebt es einfach nicht. Daß »alles auf die Freiwilligkeit des 
Mädchens< ankomme, geht auch aus v. 4ff. — vgl. auch v. 41 — 
nicht hervor. Dort ist nur vorausgesetzt — was wir auch sonst als 
arabische (und hebräische) Sitte kennen, — daß das Mädchen in solchen 
Fällen, wo es sich um eine weite Ferne handelt, das Recht der Wei- 
gerung hat; gewöhnlich gilt es auch für die Verwandten als Schande, 
wenn sie ein Mädchen weit nach auswärts geben. Um diesen beiden 
neu gefundenen Quellen mehr Kolorit und Eigentümlichkeit zu geben, 
konstruiert der H. Verf. noch andere künstliche Unterschiede. Die 
erste Rezension spreche bis v. 61 von Abraham als einem Lebenden; 
in ihr müsse also sein Tod nach v. 61 erzählt sein. Dagegen werde 
in Rezension II nach v. 8 Abraham an keiner Stelle mehr als lebend 
vorausgesetzt; es sei also zu schließen, daß in dieser Rezension der 
Tod Abrahams vor dem Aufbruch des Knechts erzählt sei. Aber in 
v. 35f. erscheint doch Abraham — nach dem Wissen des Knechts 
— so deutlich wie möglich als lebend! Sein Herr liegt auf dem 
Sterbebette, deshalb eilt er so schnell heim. 

Wir kommen zu den Abrahamsgeschichten bei P. Zu cap. 17 
bietet der H. Verf. einen Exkurs über die 4 durch die Namen Adam, 
Noah, Abraham, Moses, bezeichneten Zeitepochen im Vierbundesbuche. 
Dieser Exkurs zeigt so recht die Eigentümlichkeit des Denkens des 
H. Verf. »Sehr beachtenswert ist die Vierzahl der Weltperioden. 
Eine merkwürdige Parallele dieses Systems sind die 4 Weltreiche des 
Daniel, die durch 4 gewaltige Tiere symbolisiert werden. Diese 
Tiere sind ihrer Art nach offenbar mythische. Daß diese Tradition 
älter als die Schrift Daniel ist, lehren Dan. 2 und 8,22... ferner 
Sach. 2,1ff.... . und besonders der Umstand, daß die Vierzahl nur 
schwer unter den Weltreichen, die die Verf. kannten, unterzubringen 
ist. ... Das Mythologische der Tiere Daniels legt die Vermutung 
sehr nahe, daß die Tradition von den 4 Weltepochen ethnischen Ur- 
sprungs ist. Dieser Schluß wird durch Hesiods W. und T. 109 ff. 
bewiesen ...« Hier ist jeder Satz und jeder Schluß unverständlich. 
Wodurch die vier gewaltigen Tiere bei Daniel zu den vier Perioden des 
P eine merkwürdige Parallele bilden, fragt man vergebens; wohl, 
weil es hier vier sind und dort auch vier. Warum die Tiere ihrer 
Art nach offenbar (!) mythisch sind, ist unerfindlich, zumal der 
H. Verf. selbst richtig angiebt, daß es Symbole sind. Inwiefern aus 
Dan. 2 und 8,22, sowie aus Sach. 2,1ff. (vom H. Verf. mißver- 
standen, vgl. Wellhausen z. St.) hervorgeht, daß diese »Tradition« 
älter ist als Daniel, ist nicht einzusehen. Wieso durch Hesiod be- 
wiesen (!) wird, daß die 4 Perioden von P = 4 »myth.< Tiere von 


696 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9, 


Daniel ethnischen Ursprungs sind, fragt man vergebens. Hier wird 
zusammengeworfen, was innerlich gar nichts mit einander zu thun 
hat. Auf S. 250 kommt der H. Verf. zu reden auf den Sinn der 
Erzählung 23 in der Vorlage des P. »Die Notiz der Vorlage ist 
ebenso zu deuten wie die ganz parallele 33, 19 f. .. . charakteristisch 
ist, daß in beiden Notizen der Kaufpreis ausdrücklich genannt wird, 
das soll besagen: das Grundstück ist in ehrlichem Kauf erworben 
und gehört daher uns. — Der Besitz der Höhle Machpela wird 
den Israeliten bestritten, sie aber betonen, daß es ihr rechtlich 
erworbenes Eigentum sei. — ... Die Sage zeigt selber ganz deut- 
lich, weshalb man so hohen Wert auf den Besitz dieser Höhle legt: 
daselbst suchte man das Grab des Ahnherrn. Nun wird, so ist zu 
ergänzen, die ältere kanaanäische Bevölkerung der Gegend das Pa- 
triarchengrab Israel streitig gemacht haben. In solchen Streitig- 
keiten . . . berief man sich in Israel darauf, daß der Erzvater die 
Höhle von den Hethitern .. . in ehrlichem Kaufe erworben habe«. 
Aber warum wird Gen. 33,19 f. der Kaufpreis so genau angegeben? 
etwa auch, weil die Kanaanäer den Israeliten das Grabmal Josephs 
(Jos. 24, 32) streitig machten? Oder fügt etwa der Erzähler in 
I Reg. 16, 24 deshalb so genau den Kaufpreis für den Berg Sama- 
rien bei, weil um den Besitz des dort liegenden Grabes des Omri 
(v. 28) ein Streit entstanden war? Oder beweist etwa die starke Be- 
tonung, daß David die Tenne Araunas in aller Form Rechtens er- 
warb, daß den Juden später das Recht auf den Tempelplatz strittig 
gemacht wurde? Man fühlt, daß solche Erwägungen lächerlich sind, 
zugleich aber steht fest, daß jene Eigentümlichkeit nicht anders zu 
erklären ist als in Gen. 23. Den Sinn der Erzählung hat der Verf. 
der ‘05 xp» richtig erfaßt, S. 63: 

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Wert darauf, daß das Land, in dem man begraben werden wollte, un- 
bestreitbares und zweifelloses Eigentum sei: Das Grab soll ja ein 
radix ma sein. Alle die religionsgeschichtlichen Folgerungen, die der 
H. Verf. und andre an Gen. 23 knüpfen — Grab des Heros, ur- 
sprünglich ein Heiligtum — sind hinfällig. — In der Erklärung der 
Erzählung 14, »Abrahams Sieg über die vier Könige« bemüht sich der 
Hr. Verf. — wie auch sonst — zwischen der alten Auffassung und der 


Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 697 


neueren Kritik (Nöldeke und Wellhausen) zu vermitteln. »Die Er- 
zählung enthält uralte, sicher historische Angaben. Das sind vor 
allem die Namen der vier Könige und der geschichtliche Rahmen 
des Ganzen, die Herrschaft elam.-babylonischer Könige bis nach Pa- 
lästina hin. Auch die Gestalt Melchis. kann sehr wohl historisch sein. 
Andrerseits enthält die Erzählung innerlich unmögliches. . . . Die Er- 
zählung enthält also im schreienden Kontraste gut Beglaubigtes und ganz 
Unmögliches. Ebenso bunt ist die Herkunft der Angaben des Stücks. 
Die Ueberlieferung von den 4 babylonischen Königen kann der Verf. 
nur aus Babylonien selbst haben ... Von dem Siege Abrahams 
kann man sich nur in Israel erzählt haben ... Der Name Melchis. 
dagegen und die Urnamen der Orte und Völker sind kanaanäische 
Ueberlieferung. ... Schließlich mag die Zahl 318 auf Mythisches 
zuriickgehen<. Was will man mehr? Durch Beurteilung könnte 
man diese Kritik nur abschwächen. 

Der H. Verf. kommentiert darauf die Jakobgeschichte in JE. 
Das interessante m525 25, 21 hat er — mit den andern Exegeten — 
nicht verstanden. Er übersetzt den Vers: Isaak betete zu Jahve für 
sein Weib — aber »für« heißt 'ns)b niemals. Richtig der Verf. von 
‘oeapa 8.71: "3b 13 827191 wawn> inwe bw Ov TOR IN 795) 
Bsu1. by nax> num ‘x. Ans ‘stm wis (Gen. 30, 38) x 

— ampin DR awe Ton nbdbww ‘pos TOyIV 03 REND 357 
darauf folgt eine treffliche Bemerkung zu Jes. 37,14 ff. So deutet 
man im Arabischen bei dem Heiligtum vor dem Götzen wohl auf 
den hin, für den oder gegen den das Gebet geschieht. An Stelle 
des trotz aller Erklärung unmöglichen tanw sw 25,27 vermute ich 
einfach swınn, und für sı® 7 „nd, wofür der H. Verf. vorschlägt 
"> moe ‘tS, empfiehlt sich nz '7 5, vgl. 27,46. Schon früher 
haben wir in dieser Besprechung darauf aufmerksam gemacht, daß 
der H. Verf. in dem Bestreben, den Geschichten Leben und Farbe 
zu geben, zu dick aufträgt. Die Jakobsgeschichten fallen besonders 
hierin auf. Ob für den alten Erzähler ein gewisser Humor darin 
liegt, daß die Zwillinge im Mutterleibe keinen »Frieden halten< kön- 
nen, sei dahingestellt; ich glaube es nicht. Aber ganz sicher falsch 
ist es, wenn der H. Verf. schreibt S. 269: »Ueber die Namen Edom 
und Seir macht die Sage ihre humoristischen Glossen; man amü- 
siert sich über die rotbraune Hautfarbe der Edomiter ... und man 
findet, daß ein richtiger Seirit sich wie ein Pelzmantel anfühle; er 
ist haarig wie ein Ziegenböckchen«. Vielmehr sind jene Eigentüm- 
lichkeiten Esaus ganz ernsthaft aus den Namen Edom und Seir ent- 
sponnen und besagen über die körperliche Beschaffenheit des Volkes 
Edom gar nichts. Wenn die rotbraune Hautfarbe der Edomiter 
wirklich eine so hervorstechende Eigentümlichkeit des Volkes gewesen 


698 Gött. gel. Ans. 1901. Nr. 9. 


wäre, wäre die Entstehung der Variante v. 30 kaum erklärlich; 
der Wert beider Etymologien steht ganz auf gleicher Stufe. Schwer 
zu begreifen ist, wie der H. Verf. fortfahren kann: »Und aus diesen 
körperlichen Vorzügen des geliebten Bruders erklärt man voller Be- 
hagen seinen Namen: das sind also nachbarliche Liebenswürdig- 
keiten<. In Wirklichkeit ist es doch gerade umgekehrt, daß man 
ihm aus dem Namen jene körperlichen Vorzüge andichtet! Der 
H. Verf. vermutet zu der Geschichte 25, 29—34 eine Fortsetzung 
der Art: »als nun Isaak gestorben war, machte Jakob seinen Anspruch 
auf die Erstgeburt geltend und erinnerte Esau an den Eid, den er 
vor Zeiten geleistet hatte. Da erkannte Esau zu spät, was er ver- 
scherzt hatte. So verlor Esau die Erstgeburt«e. In 27,5 ist statt 
des deutlich anstößigen aber von keinem Exegeten beanstandeten 
wand zu lesen ard. Daß dich segne meine Seele v. 4 ist nicht 
»poetisch großartiger Ausdruck< für »aus ganzem tiefem Herzen seg- 
nen<, sondern besagt nichts mehr als: daß ich dich segne, wenn ich 
satt bin. wo: ist das Hungergefühl, hier im Zusammenhang das ge- 
stillte. Die falsche Auffassung von Jakob und Esau als Volkstypen 
setzt der H. Verf. in der Erklärung zu 27,11 fort. Eigentümlich 
berührt es, wenn aus v. 44f. ein neuer »Charakterzug« Esaus heraus- 
gelesen wird, daß er ein Kind des Augenblicks (sic) sei: »nach eini- 
ger Zeit ist sein Zorn verraucht, da hat er die ganze Geschichte 
vergessene. Später vergißt der H. Verf. diesen neuen Charakterzug 
Esaus selbst wieder, indem er ihn — Notabene nach 20 Jahren — in 
ursprünglich feindlicher Absicht dem Jakob entgegenziehen läßt. — 
Wenn es auch zweifellos ist, daß in dem Segen 27, 27 ff. Jakob und 
Esau als Vertreter der Völker Israel und Edom erscheinen , so muß 
man sich doch wohl vor der Ansicht hüten, als ob diese Personifika- 
tion durchgeführt sei. Man darf nicht vergessen, daß der ganze 
Stoff novellistisch erzählt wird und daß Jakob und Esau durchgängig 
als Einzelpersonen gefaßt sind. Deshalb ist die Hypothese, die der 
H. Verf. auf S. 287 aufstellt, auch sehr wenig wahrscheinlich. In 
der Bethelsage bemerkt der H. Verf. zu den “Sx 2 >xbn 28, 12 S. 289: 
‚Dem Engel Jahves oder Gottes entspricht in der ursprünglichen 
Rezension der Erzählungen ein bestimmter Gott; hiernach sind die 
Engel Gottes (im Plural) hier und 32, 2 an die Stelle ursprünglicher 
Götter getreten<. Es mag sein, daß unter manchem Engel ein Lo- 
kalnumen versteckt liegt — in 16,7 ff. übrigens sicher nicht, wenig- 
stens zeigt diese Erzählung keine erkennbare Spur mehr davon. 
Aber an unsrer Stelle liegt zu der Annahme, die »Engel Gottes«, 
die hier ein- und ausgehen, seien ursprünglich Götter gewesen, gar 
kein Grund vor. Denn daß »Gott< seine Boten auf Erden sendet 


Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 699 


ist ein jedenfalls sehr alter und bei E ganz bekannter Glaube. In 
die Bethelgeschichte paßt jene Annahme auch gar nicht, denn in 
einem Hause können wohl mehrere wohnen, aber nur einem kann 
das Haus gehören, wie an den alten Heiligtiimern nur ein Numen 
verehrt wird. Sx na ist nicht etwa — wenigstens nicht nach der 
ursprünglichen Meinung der Geschichte — etwas auf Erden, die 
Gottheit dagegen im Himmel, wie der H. Verf. sagt, sondern der 
ganze heilige Bezirk wird aufgefaßt als Se“nıa, als ein Haus Gottes, 
dessen Boden die heilige Landschaft und dessen Decke der Himmel 
ist. Wie jedes Haus eine Leiter hat, auf der man durch die mans 
auf die Decke steigen kann, so steht hier die Leiter, auf der Gott 
seine Boten hinab sendet und auf der sie herauf steigen, um ihm zu 
melden, was sie erspäht haben. So heißt auch wohl bei dem Pro- 
feten das heilige Land das Haus Jahves. Wenn Jakob übrigens 


sagt: dieser Stein soll ein Gotteshaus werden —, so gelobt er damit 
natürlich nicht, wie der H. Verf. sagt, >ihn als einen Sitz Gottes, 
d.h. als heiligen Stein fortan zu verehren<. — In den Jakob-Laban- 


geschichten, die der H. Verf. auf S. 296 ff. behandelt, tritt uns die- 
selbe Grellmalerei entgegen, wie schon vorher. »Der Erzähler, der 
sich über diesen Kontrast — im Wesen des pfiffig-biedern Laban 
nämlich — köstlich amüsiert, hat andrerseits doch nicht die Mittel, 
diesen Kontrast direkt anzugeben; er ist nicht im Stande, mit Wor- 
ten über seinen Helden zu reflektieren; er kann den Hörer nur 
durch einen schalkhaften Seitenblick, durch ein Lächeln verständigen«. 
Da ist denn natürlich allen individuellen Empfindungen Thür und 
Thor geöffnet. So schreibt der H. Verf. z.B. zu 29,13f. »Da — 
als ihm Jakob alles erzählte — erkennt der edle Laban die unver- 
kennbare Familienähnlichkeit Jakobs mit ihm; hier lacht die Sage 
zum Schluß hell auf. Oheim und Neffe einander ebenbürtig!« In 
Wirklichkeit versichert Laban mit jenen Worten den Lieblingssohn 
seiner Schwester seines „>. Es ist mit dem Humor in diesen al- 
ten Geschichten eine eigne Sache. Das individuelle Befinden führt 
hier fast immer irre, nur eine genaue Kenntnis der Gemütsart der 
alten Hebräer (und Araber) kann einigermaßen das Richtige treffen. 
Thatsächlich entbehren die Bemerkungen des H. Verf. in dieser Be- 
ziehung oft jeder greifbaren Unterlage. Warum sollen die Worte 
Labans v. 15 nicht ehrlich gemeint sein? S. 296: »er wählt die 
Maske schöner Uneigennützigkeit: er kann es nicht mit ansehn, daß 
sein junger Vetter umsonst bei ihm dient!«. Ebenso bodenlos ist 
die Glosse zu v.19: Laban der nicht gern baares Geld zahlt 30, 31(?), 
geht auf diesen Vorschlag, bei dem er 7 Jahre lang den Lohn spa- 
ren kann, gern ein; aber natürlich hat er einen vortrefilichen Grund: 


700 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


man verheiratet die Tochter wirklich gern in die Familie, besonders 
an den Vetter«. Jakob hat angeboten, ihm sieben Jahre um Rahel zu 
dienen — wie soll denn Laban anders darauf antworten, um den 
Verdächtigungen des H. Verf. zu entgehen? Zu v.26: »Laban hüllt 
sich in seine unverwüstliche Ehrbarkeit und hat einen prächtigen 
Grund für sein Thun. ... Der Grund ist übrigens gut gewählt, 
denn so ist es wirklich vielfach Sitte. Wenn der Grund so gut 
paßt, haben wir kein Recht, so ohne weiteres einen Scheingrund 
daraus zu machen. Den ärgsten Streich hat die Vorliebe für »leben- 
dige Exegese« dem H. Verf. aber in seiner Bemerkung zu v. 22 
gespielt: »Der geizige Laban giebt ein Fest! weil er sich Zeugen 
verschaffen will, vor denen ihn Jakob nicht blamieren kann«. Als 
ob eine Hochzeit ohne Gelage (x J.) auch beim Aermsten überhaupt 
denkbar wäre! Die eigentlichen Betrügereien Labans gehen einge- 
standenermaßen erst nach vierzehn Jahren an, 31, 7.41. Für mißlungen 
halte ich den Versuch des H. Verf., aus einzelnen Erweiterungen des 
Textes in 30, 35 ft., die Wellhausen mit Recht zum größten Teil für 
Glossen erklärt hat, eine parallele Geschichte für E zusammenzu- 
setzen, die ähnlich wie J gelautet habe; durch 31,8ff. wird m.E. 
ein solcher Bericht für E ausgeschlossen. Die Erklärung von 31, 10 ff., 
als ob der Engel den Jakob im Traume die Farbe der Böcke schauen 
ließe, die in der demnächst eintretenden Begattungszeit springen 
werden, damit er dementsprechend den Kontrakt mit Laban ab- 
schließen könne — ist kaum möglich und wird durch 12° ausge- 
schlossen: alle bespringenden Böcke sind gestreift etc., denn ich habe 
die Ungerechtigkeit Labans gegen dich angesehen und deshalb 
sollen jene Böcke springen und solche Junge geworfen werden nach 
dem Kontrakt, den du mit Laban gemacht hast. Die Auffassung des 
H. Verf. von der Beurteilung der Teraphim im A.T. im Allgemeinen 
und in 31,19.31 ff. im Besonderen ist durchaus verkehrt. »Aus- 
länder wie Laban haben — das weiß man — solche Bilder; auch 
den Weiblein (Rahel und Michal) muß man dergl. wohl nachsehen; 
aber einem israelitischen Mann — so meinen diese Sagen — steht 
es nicht recht an<. Wozu steht denn Jud. 17f. im A.T., als um 
uns eines Besseren zu belehren! »Von Polemik gegen die Ter. ist 
also diese Erzählung ganz frei, aber sie ist voll von Spott über 
einen solchen armseligen Gott: Die israelitische Religion hat sich 
schon in alter Zeit über solchen Gott ... hoch erhaben gefühlt«. 
Lauter Behauptungen, die mit den Thatsachen im Widerspruch 
stehen. »Teraphimwitzgeschichten sind auch I Sam. 19, 13 ff. und 
besonders Jud. 17f., wo der Teraphim gleichfalls gestohlen wird und 
eine Szene ganz ähnlich der Gen. 31, 22ff. stattfindet<. In der Er- 


Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 701 


zählung Jud. 17 eine »Witzgeschichte< zu sehen, ist dem H. Verf. 
vorbehalten geblieben. Er ist von der Antike weit entfernt, wenn 
er meint, die Episode 31, 32 ff. enthalte »kräftigen Spaß über den 
armen Hausgétzen<. Woher kommt ihm das Wissen: »schon der 
Gedanke, daß man einen Gott stehlen kann, stimmt den Hebräer 
lustig< ? Ebenso unbegründet ist die Auffassung der Worte Labans 
31,43 als »jammernde Klage<. »Alles muß er ziehen lassen, die 
Weiber, die Kinder, das Vieh obwohl doch alles ihm gehört«. Nein, 
so ist das Wort nicht verstanden, Laban hat ja v. 26 ff. selbst das 
Recht Jakobs anerkannt. In v. 43° ist natürlich die gewöhnliche 
Erklärung beizubehalten. Die Gestalten Jakob und Laban tragen 
durchaus persönliche Züge, an völkergeschichtliche Begebenheiten 
erinnert nur die Bundschließung 31, 44 ff. 

Im zweiten Teil der Jakob-Esaugeschichten, zu dem wir nun 
geführt werden, tritt noch deutlicher als im ersten die Unmöglich- 
keit hervor, in den Begegnungen der beiden Personen Verhältnisse 
der betreffenden Völker zu sehen. Die Färbung der Erzählung ist 
durchaus novellistisch. Daß einer, der sich den Haß des Stamms 
oder der Familie zugezogen hat, als „„Uuas abziehen muß, um nach 
einiger Zeit, wenn Gras über die Geschichte gewachsen ist, wieder 
zurückzukehren, sind uralte Motive des Stammeslebens. Wie man 
hervorgehoben hat, liegt die Stätte der Begegnung Jakobs mit Esau 
gar nicht im edomitischen Gebiete. Ja, man begreift überhaupt 
nicht, wenn Esau = das Volk Edom ist, warum Jakob nicht einfach 
in »sein Land« zieht; denn um von Mesopotamien nach dem Land 
Israel zu kommen braucht er ja Edoms Erlaubnis gar nicht! Die 
ganze Geschichte erklärt sich nur daraus, daß nach dem Tode Isaaks 
der erstgeborene Esau als das anerkannte Haupt der Familie gilt, 
ohne dessen Erlaubnis Jakob nicht nach Hause zurückkehren darf. 
Daß Esau daneben in Seir oder Edom wohnend erscheint, hat nichts 
dagegen zu sagen. Man sieht, der Erzähler denkt gar nicht daran, 
in der Begegnung der beiden Brüder und in ihrer Stellung zu 
einander die Schicksale der beiden Völker zum Ausdruck zu bringen. 
Der Segen freilich nimmt, wie oft derartige Stücke, eine Sonder- 
stellung ein und geht, seiner Natur nach, auf die Zukunft. Die 
ganze Situation, die, obwohl nicht besonders betont, doch deutlich 
der Begegnung des Jakob mit Esau zu Grunde liegt, hat der H. Verf. 
nicht erfaßt. Das rächt sich denn auch wieder in der Auffassung 
und der Beurteilung des Benehmens des Jakob. So heißt es zu 
32, 4—7: Jakob bemüht sich, so demütig wie möglich vor Esau auf- 
zutreten in der Hoffnung, sein Bruder werde sich durch die vielen 
Complimente und die von Ehrerbietung triefenden Reden gewinnen 


702 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


lassen. Die Zuhörer lachen«. Die alten Zuhörer hatten ein bessres 
Verständnis der Sache, denn sie wußten, daß so, wie Jakob zu Esau 
redet, die Art ist, in der der Niedere zu dem Höheren reden soll. 
Jakob gilt de jure als der Knecht des erstgeborenen Esau, der nach 
dem Tode seines Vaters sein Herr ist. Ganz schief ist das Urteil 
»diese Art, in der Not zur Demut seine Zuflucht zu nehmen, ent- 
spricht sicherlich der Volksart der Erzähler und Hörer; sie ist frei- 
lich nicht eben ritterlich<. Im Gegenteil werden die alten Zuhörer 
in der Rede des Jakob nicht nur ein kluges, sondern auch ein feines 
und höfliches Benehmen gesehen haben und seinen „os! bewundert 
haben. An den Streich, den er seinem Bruder vor 20 Jahren ge 
spielt hat, denkt er kaum noch, er nimmt als sicher an, daß er bei 
Esau vergessen ist; deswegen hätte er auch schon früher nach 
Hause ziehen können, 30, 25 ff.; vgl. besonders 27,44 f., eine Notiz, 
die für die Auffassung der Geschichte schlechthin entscheidend ist. 
Als er aber die Nachricht 32,7 von seinen Boten -vernimmt, über- 
kommt ihn Angst und Schrecken. Daß ihm Esau entgegen zog, be- 
unruhigt ihn nicht; denn das gehört zur Sitte, daß man dem Heim- 
kehrenden entgegen geht. Aber daß er ihm mit einer so großen 
Anzahl entgegen zieht, das macht ihn stutzig und bedenklich. Daß 
er daraufhin seine Höflichkeit gegen seinen Bruder — übrigens nach- 
dem er der guten Gesinnung Esaus gewiß war — vielleicht noch 
steigerte, kann ihm niemand verargen. Die Ausdrücke Jakobs in 
dem Zwiegespräche mit Esau 32,5 ff. gehen nirgends über das Maß 
hinaus, das durch die Stellung Jakobs zu Esau bedingt ist. Wer in 
ihnen eine pfiffige captatio benevolentiae sieht ist ebenso auf dem 
Holzwege wie der, der sich über sie als »widrig« entriistet. Ganz 
falsch ist die Bemerkung zu 33,3: »Die 7 Komplimente Jakobs sind 
eine ganz überschwenglich respektvolle Ehrenbezeugung: wir sollen 
lachen«. Die alte Sage habe Esau als einen gutmütigen Tölpel dar- 
gestellt, der sich durch Jakobs schöne Reden und Geschenke ge- 
winnen lasse. »Kine spätere Ueberlieferung aber, die das Schwank- 
hafte der Sage nicht verstand, hat das Wiedersehen der Brüder 
rührend gefunden (33,4) und hat Esaus dumme Gutmütigkeit als 
Edelsinn verstanden<. Wenn der H. Verf. die Gemütsart der Alten 
besser kännte, würde er das nicht geschrieben haben; die Helden 
in den alten epischen Erzählungen der Araber sind wahrlich nicht 
rührselig, aber das >»Weinen« fehlt nie, wenn »Brüder« nach langer 
Zeit sich wiedersehen. — Die Aufrichtigkeit der Worte Jakobs v. 12ff. 
in Zweifel zu ziehen, ist kein Grund vorhanden. >»Jetzt ist Esau 
begütigt, nun kommt es darauf an, ihn mit guter Miene los zu wer- 
den. Auch dies wird mit kräftigem Humor erzählt«. Der Grund, 


Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 703 


den Jakob angiebt, ist nicht nur »plausibel«, sondern zutreffend, vgl. 
auch das arabische (3) In der Pnielgeschichte 32, 23—33 hat der 
H. Verf., m. E. nicht mit Gliick, versucht, eine zu J parallele Er- 
zählung in E herauszuschälen. Die Gründe für seine Annahme be- 
ruhen z.T. auf Mißverständnissen, so ist z. B. die Trennung in v. 26 
unmöglich, "spn1 in v. 26° ist ja die notwendige Folge zu ‘31 92; 
ebenso ist es wenig glaublich, daß die Namensnennung ein Segen 
sei und sich mit v. 30 stoße. Segnen heißt durchaus nicht, wie er 
behauptet, >ein wirkendes Wort sprechen, wie es nur die Gottheit 
sprechen kann< (S. 327); man >segnet« einen, wenn man von ihm 
Abschied nimmt, das ist hier der Sinn des Wortes. Daß Gott den 
Jakob und Jakob den Gott nach seinem Namen fragt, sind nicht etwa 
Varianten (!), sondern gehört zusammen. Die Bemerkung auf S. 328: 
»Es ist ein großartiger und sicherlich uralter Gedanke Israels, es 
sei im Stande, nicht nur die ganze Welt mit Gottes Hilfe, sondern, 
wo nötig, Gott selber zu bekämpfen und zu überwinden« ist ganz 
utopisch. 

Am Schluß der Josephsgeschichten, die der H. Verf., von den 
Vermutungen über die. Entstehung dieser Geschichten S. 359 f. ab- 
gesehen, im Großen und Ganzen in der herkömmlichen Weise kom- 
mentiert, folgt ein Exkurs über den Segen Jakobs S. 429. Zu dem- 
selben literarischen Genre rechnet der H. Verf. den Segen Mosis, 
Segen und Fluch Bileams, Noahs und Isaaks. Alle diese Stücke 
seien Beschreibungen der Gegenwart des Verfassers aus dem Munde 
eines Urvaters, vaticinia ex eventu von Dichtern. Bekanntlich stammt 
die Auffassung dieser Stücke — Gen. 49 und Deut. 33 — als »Se- 
gen« von dem Erzähler, der diese Stücke in die Erzählung eingefügt 
hat. Keine einzige Spur weist darauf hin, daß der, der diese Sprüche 
über oder von einzelnen Stämmen gesammelt hat, sie als Segen aus 
dem Munde des sterbenden Jakob gefaßt hat. Die Stücke ferner 
im A.T., die ein klares Bild von dem Wesen des Segens geben — 
Gen. 9. 27. 48 — zeigen deutlich, daß der Segen immer die ganz 
spezifische Form des Wunsches trägt; mit der Weissagung hat der 
Segen nichts gemein, unterscheidet sich vielmehr durch die Form von 
ihr aufs deutlichste. Was nun Gen. 49 anbetrifft, so ist für jeden 
Leser klar, daß hier nur der Spruch über Joseph und allenfalls über 
Juda die eigentümliche Form des Segens zeigt; alle anderen Sprüche 
sind — v. 10° und 18 ausgenommen — weder >Segen« noch Weis- 
sagung, sondern einfache — an Lob oder Tadel anklingende — 
Sprüche über gegenwärtige Verhältnisse und Zustände der Stämme. 
Es ist schwer, diesen Thatbestand zu verkennen. Daß Gen. 49 der 
Form nach gar keine Weissagung sein wolle, dies >überaus ober- 


704 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


flächliche Urteil Holzingers< teile ich jedenfalls noch mit anderen. 
Die Behauptung, es sei »aus diesem Segen allmählich ein selb- 
ständiges literarisches Genre entstanden< ist für die alte Zeit 
ganz unbeweisbar. Wenn der H. Verf. sich auf die Bileamsprüche 
beruft, die von der Bileamsage schon fast ganz unabhängig seien, s0 
gilt dies wohlgemerkt nur von Num. 24, das freilich die Form der 
Weissagung hat, eben darum aber kein »Segen« ist. Dafür, daß 
»dieser Stil in späterer Zeit von Dichtern aufgenommen und für 
größere selbständige Gedichte verwandt worden ist«, giebt es im 
A.T. kein Beispiel. Wenn der H. Verf. Jud. 5, 14 ff. für eine »Nach- 
ahmung des Segenstiles< hält, so kann man sich vorstellen, daß ihm 
das Deboralied >auch sonst in literaturgeschichtlicher Beziehung sehr 
kompliziert< erscheint. »Was die Form der Weissagungen betrifft, 
so ahmen diese Segen den Stil nach, in dem die Gottesmänner ihrer 
Zeit zu sprechen pflegten; als Nachahmungen profetischer 
Kunstform sind diese Segen für die Geschichte des profetischen 
Stiles uns um so wertvoller, als sie das Aelteste sind, was wir aus 
profetischer Literatur besitzene. Was der Segen mit den Profeten 
und die Profeten mit den Weissagungen zu thun haben, ist mir un- 
erfindlich. >Segnen« thut jeder Vater, ja jeder Mensch bei der Be- 
grüßung und beim Abschied. Die Behauptung, der Segen sei eine 
Nachahmung profetischer Kunstform ist lediglich aus den falschen 
Begriffen vom Wesen des Segens und vom Wesen der Profeten 
herausgesogen und ohne jeden thatsächlichen Anhalt. 

Wir kommen zur Einzelexegese. In v.3 will der H. Verf. m. E. 
ohne besonderen Grund maw lesen. In v. 4 schlägt er nbbr vor: 
ich entweihte = verfluchte; kaum richtig ; vielleicht hat man einfach 
5» zu streichen (und sıx°) vgl. Hieron. marınn>n v. 5 wird ohne 
Gewähr für eine Art Waffe erklärt. Der H. Verf. schlägt vor den 
Vers zu lesen ‘52 dam 55 d.h. Arglist (!) und Gewaltthat sind 
ihre Gruben. Abgesehen von »51>, woran im Ernst nicht zu denken 
ist, ist auch der Sinn unbefriedigend ; denn Arglist paßt wohl, aber 
nicht onrı als Subjekt zu '>n, Gruben. LXX & alo&seng aurav la- 
sen ‘noms, was aus ursprünglichem '=’na=n entstellt ist. In dem 
Segen über Joseph ist v. 24 nach LXX zu ändern, also etwa ‘p prawn 
und '* "sr721; v. 26 mean, das Vorhergehende ist Subjekt zu mm 
vgl. Deut. 33,13—16; auch v. 25 haben LXX im Ganzen die rich- 
tige Auffassung. Daß ‘nx 2 v. 26 bedeutet der Gekrönte (r:) 
unter seinen Brüdern sollte der H. Verf. nicht leugnen ; seine Ueber- 
setzung: der Geweihte unter seinen Brüdern, und Erklärung: der 
als Naziräer auf eigne Hand Gottes Kriege führt, wird wohl nie- 


Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 705 


manden befriedigen. Ganz ungeheuerlich ist die Begründung, die er 
seiner Auffassung auf S. 439 giebt. »Der Naziräer trägt geweihtes 
Haar; daher hier die Verbindung von Nazir und >Scheitele: ein 
deutliches Zeichen, daß hier die alte Bedeutung von >Nazir« ... an- 
zunehmen ist«! Wenn aber Joseph der »Gekrönte sein Bruder« ist, 
dann sind die Pfeilschützen, die ihn bedrängen, selbstverständlich 
die Aramäer von Damaskus, und zweitens ist das >Lied< nicht eine 
Konzeption, sondern eine Zusammenstellung, wegen v.8f. Zum 
Schluß noch ein Wort über das Kreuz v. 10, ’31 "> 5». Daß diese 
Worte Eintrag sind, ist für jeden philologisch Geschulten klar, vgl. 
Wellhausen Kompos. 320f.; wenn der H. Verf. also behauptet: 
»diese vorprophetische Eschatologie< ist hier bezeugt« (von ihm ge- 
sperrt gedruckt), so bezeugt er nur, daß er seiner Ueberzeugung zu 
Liebe vor nichts zurückschreckt. Bekanntlich ist der Sinn der Worte 
dunkel, weil der Text verderbt ist. An dem Worte np" hat man 
bis jetzt keinen Anstoß genommen, obwohl der Stamm im Hebräi- 
schen auffällig und unbelegbar ist. Die Berufung auf das Ara- 
bische ist in diesem Falle ganz unstatthaft. Vgl. meine Bemerkung 
zu Prov. 30,17: »p" kommt als Wurzel weder im Hebräischen noch 
im Syrischen vor, so daß die Zusammenstellung mit dem arabischen 
sp. unberechtigt ist. ‘mp: ist Gen. 49,10 sicher verschrieben. ... 
LXX werden mit nıpr für ‘p> im Rechte sein, vgl. bes. 23, 22%«. 
LXX lesen an unsrer Stelle, was die Ausleger bis jetzt übersehen 
haben, nıpn, was zweifellos wiederherzustellen ist; sd-w == bw, 15% 
ist zu streichen. Also: bis der kommt, auf den die »Völker«e har- 
ren, vgl. v. 18. — 

Ich will gewiß nicht leugnen, daß die Arbeit des H. Verf. Neues 
und auch Stichhaltiges bringt. Insbesondre stimme ich dem von 
Herzen bei, was er im Vorwort sagt: »Aber alles dies, auch die 
Literarkritik, darf für den Exegeten des A. T.s nur eine Vorarbeit 
sein. Sein eigentliches und letztes Ziel bleibt die Erklärung des 
Sinnes des A.T.s. Wir dürfen nicht nur gelehrte Notizen häufen, 
sondern müssen durch alles dies hindurchdringen zu einem ... wah- 
ren Verständnis ... des A. T.se.. Auch mir ist die kleinliche ein- 
seitige Literarkritik, die alles andere um sich vergißt, von Herzen 
leid, zumal sie meist mit stumpfen Messern schneidet. Aber als Kri- 
terium ist sie doch unentbehrlich gegen die individuelle Willkür. 
Ein festes wohltätiges Kriterium vermißt man nur zu oft bei den 
Aufstellungen des H. Verf. Eigentümlich berührt das — besonders 
in der Exegese der Vätersage öfter ausgesprochene — Bedauern der 
Theologen (in genere), die nicht im Stande seien, die alten Ge- 

Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 47 


‚706 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


schichten recht zu würdigen. »Schade, daß die Theologen solche 
Schönheiten so wenig beachten< (S. 194). Aber der H. Verf. gehört 
ja doch selbst zu den Theologen. 


Louisendorf. Frankenberg. 





Beiser, J., Einleitung in das Neue Testament. Freiburg i. Br. (Herder) 
1901. VIII u. 852 S. gr. 8°. Preis 12 Mk. 

In 80 Paragraphen, denen S. 841—852 noch ein Verzeichnis 
der erklärten (?) Stellen des N. Ts. und ein Namen- und Sachregister 
beigegeben wird, erledigt der Verf. die herkömmlich in der »>Ein- 
leitung in das N. T.< zu bewältigenden Aufgaben. Nach einigen all- 
gemeinen Erörterungen bespricht er im I. Teil (S. 24—721) die 
Entstehung der einzelnen neutestamentlichen Schriften; für Teil I 
»Der neutestamentliche Kanon< braucht er nur 37 Seiten, von S. 760 
bis 840 reicht ein Anhang, angeblich zum zweiten Teil — aber warum 
blos zu diesem? — »die Apokryphen<, wo nach einem einleitenden 
Paragraphen »Begriff und Entstehung« der Apokryphen, das litterar- 
geschichtliche Material über die wichtigeren apokryphen Evangelien und 
Apostelgeschichten sowie über die Petrusapokalypse dargeboten wird. 
Eine Geschichte des Textes fehlt, und es ist wohl gut, daß sie der 
Verf. uns erspart hat; was wir in Anm. 4 zu § 5 S. 22f. über die 
Uebersetzungen des N. T. aus dem Griechischen erfahren, ist von 
kaum glaublicher Dürftigkeit. Der Theologe, der durch eine Mono- 
graphie über die Lesarten des codex D in der Apostelgeschichte die 
Blaß’schen Forschungen interessant und vollständig ergänzt haben 
soll (so Deutsche Lit.-Ztg. 1897 Nr. 39), vermerkt in einem Nachtrag 
auf S. IV, daß in Joh. 18, 15 jetzt (!) als ursprüngliche Lesart &dos 
padytys, nicht 6 &AAog padyric festgestellt sei und ändert auf Grund 
dieser recht alten Neuigkeit seine Meinung von der Person jenes 
uednmeis, S. 1 aber behauptet er, Jesus bezeichne Matth. 26, 28 
beim Abendmahl seine Stiftung als den »neuen Bund«, während die 
Unechtheit des xaıvjg Matth. 26 wohl eben so fest steht als die des 
6 in Joh. 18. 

Am wenigsten fordern den Widerspruch heraus die den Apo- 
kryphen gewidmeten Partieen, da giebt der Verf. auch am Wenigsten 
von dem Seinen; daß er S. 816 verfügt: »Sicher historisch ist, was 
die (Petrus-) Akten über die Flucht Petri aus Rom, die Begegnung 
mit dem Herrn und die Rückkehr nach Rom berichten«, auch für 
die Mitteilung, Petrus sei mit dem Kopf nach unten ans Kreuz ge- 


Belser, Einleitung in das Neue Testament. 707 


schlagen worden, Glauben fordert, S. 837 die Ueberlieferung über 
Parthien als Provinz des Thomas als wohl beglaubigt schätzt, ist 
geringfügig gegen die in den voraufgehenden Abschnitten bethätigte 
Traditionsgläubigkeit. S. 762 wagt sich ein leidlich unbefangenes 
Urteil über die bona fides der Verfasser von Pseudepigraphen her- 
vor, aber gleich mit einer mehr als charakteristischen Einschränkung: 
»derartige Anschauungen, völlig abweichend von unserer heutigen 
Auffassung, herrschten vielfach auch — nämlich wie bei Juden — 
in den judenchristlichen Kreisen«. Haben sie etwa 
in den katholischen nicht geherrscht? Ueber die sog. Geschichte 
des Kanons muß man aus Höflichkeit schweigen: Gregor von Nazianz 
soll die Apokalypse nicht in sein Verzeichnis kanonischer Schriften 
aufgenommen, aber doch als heilige Schrift: verwendet haben S. 753, 
Paulus bereits hat I. Tim. 5, 18 ein Herrnwort nach dem Evangelium 
seines Schülers Lucas citirt und durch die Art der Einführung das 
Evangelium als inspirirte kanonische Schrift bezeichnet S. 725 ff. 
Von den Thesen des ersten Teils mögen einige wenige als Bei- 
spiele dieser neuesten Art von Wissenschaft genannt werden. Der 
Apostel Matthaeus hat im Jahre 41 (S. 31: »circa 40<), vor dem großen 
Wendepunkt von 42, wo die Urapostel die äussere Mission in großem 
Stil aufnahmen, sein Evangelium (nicht blos eine Sammlung von 
Herrnworten) in hebräischer, nicht etwa aramäischer, Sprache nieder- 
geschrieben zum Ersatz für seine demnächst beginnende Abwesenheit, 
ums Jahr 60 ist die griechische Uebersetzung, die wir im Kanon 
haben, entstanden: Johannes und Papias benutzten sie bereits, denn 
in dem berühmten Wort nounvevoe 0° aör« — die Logien des Matth. — 
as iv Övvardg Exaorog liegt implicite: das Dolmetschen hat aufgehört 
(Aorist: Neunjvsvoe) »da jetzt die ganze Schrift in griechischer Ueber- 
setzung jedem zugänglich ist«. Unter Benutzung des hebräischen 
Matth. stellt aus den Predigten des Petrus in Rom 42/3, die er ver- 
dolmetscht hatte, Marcus in Rom, der Einiges übrigens von Jesu 
Thaten selber mit erlebt hat, sein Evangelium zusammen, legt 
aber zunächst ohne das Werk zu vollenden — er brach i. J. 44 bei 
Mc. 16,8 ab — die Feder aus der Hand. Als er sein Werk für 
weitere Kreise publiciren wollte 63/4, fügte er den Anhang 16, 9—16 
hinzu, teils an der Hand des inzwischen in Rom zum Gebrauch ge- 
langten Lucasevangeliums, teils auf Grund eigener Nachforschungen 
bei unmittelbaren Jüngern des Herrn, zu denen er zwischen 44 und 
61 hinlänglich Möglichkeit und Gelegenheit gehabt hatte. Die 
Exemplare unserer besten Handschriften, die jenen Anhang ent- 
behren, ruhen auf Abschriften von dem noch nicht zu Ende geführten 
Autographon; vielleicht hatte man solche ohne Wissen des Autors 
47° 


708 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


genommen! Unter den Gründen für die Zeitbestimmung figurirt 
S.88 der: »Hätte Marcus in der Zeit 66—68 geschrieben, so wäre das 
Griechische in seinem Buche ein eleganteres, gefeilteres, weniger semi- 
tisch gefarbtes<. Denn schon a. 49 mußte Jakobus Alphäi Sohn, der 
sogenannte Herrnbruder, Bischof von Jerusalem seinen in erster 
Linie für palästinische Judenchristen bestimmten Brief in gutem 
Griechisch abfassen, und vollends Paulus, als er a. 63 die durch den 
Tod ihres Bischofs Jakobus in Gefahr des Abfalls gerathenen Juden- 
christen Jerusalems und Palästinas aufmuntern wollte, that gut sich 
zum Concipienten dieses Briefs (Hebr.) den vorzüglich in der Rhetorik 
geschulten Apollos zu wählen. War doch seit 42 die Hellenisirung 
der gleichwohl immer noch tempelfromm gebliebenen Christenheit des 
h. Landes rapide fortgeschritten. Lucas benutzt für sein c. 61 verfaßtes 
Evangelium den Mc., aber nicht minder den hebräischen Mt. und zugleich 
dessen griechische Uebersetzung. Die Perikope von der Ehebrecherin 
Joh. 7,53—8, 11 gehört zu dem echten Evangelium des Apostels, 
der dieses a. 96, 1 Jahr nach der Apokalypse, mit einem eigen- 
händigen Nachtrag 21, 1—23 und einer formellen Beglaubigung durch 
einige Mitjünger 21, 24f. versehen, von Ephesus aus an die Kirchen- 
gemeinden in Kleinasien versandte, nachdem er die drei älteren Evan- 
gelien ausdrücklich als kanonisch anerkannt hatte. — Daß der in 
Apoc. 2,8 angeredete &yyedog-Bischof von Smyrna der uns be- 
kannte Polykarp war, sollte man nicht in Zweifel ziehen (S. 420). 
S. 113 kommt B., dem an dem Maler-Arzt Lucas viel gelegen ist, 
wenigstens über die Notiz des Theodor Lector >nicht so leicht weg, wo- 
nach die Kaiserin Eudokia um 440 ein von Lucas gemaltes Marienbild 
von Jerusalem nach Konstantinopel geschickt habe.< — Ein durch Jesus 
von der Zollstätte weg zum Jünger berufener Zöllner heißt bei Mc. Levi 
der Sohn des Alphäus, bei Lc. blos Levi, Mt. 9,9 dagegen Matthaeus 
(sidev Üvdgmnov xadypevoy Enl td TeAmvıov, Mad Patov Aeyduevor). 
Die Differenz hebt B. S. 24 spielend durch die flotte Uebersetzung 
»Mensch, der am Zolltische saß und Matthäus heißt (sc. in der 
christlichen Gemeinde)<. Ob Mt. 26,3 tod apyıegewms tod Asyouevov 
Kaidéga auch zu übersetzen wäre: des Hohenpriesters, der Kaiphas 
heiGt, sc. in der christlichen Gemeinde? Immerhin bleibt die Logik 
kühn, die in Anm. 2 uns belehrt: Mt. 10,3 — nämlich im Apostel- 
katalog Ma@@atog 6 reAmvng — weist zurück auf 9,9f., so daß hier 
unzweifelhaft ausgesprochen ist: der Zöllner Levi ist gleich dem 
Apostel Matthäus. — Für das Geschichtsbild Belsers führe ich als 
typisch einen Satz von S. 611 an: »Der afrikanischen Kirche kam 
allerdings der (Hebräer-) Brief gewiß von Rom aus zu, und die 
römische Kirche wird ihn ohne Verfassernamen dahin geschickt haben, 


\ 


Belser, Einleitung in das Neue Testament. 109 


letzteren nicht absichtlich unterdrückend, sondern weil der Verf. 
im Brief nicht angegeben war und darum die Gemeinde zu 
Rom auch auswärtigen Kirchen Freiheit betreffs 
der Auffassung des Ursprungs einräumte«! 

Daß B. bei seinen Untersuchungen »nichts anderes als rein 
wissenschaftliche Mittel zur Anwendung bringen< will (S. 2), ist un- 
zweifelhaft, gelegentlich zeigt er ja auch kritische Regungen, wie 
wenn er S. 44 die Unklarheit einer Vulgata-Stelle tadelt, S. 728, 
allerdings in fast komischem Widerspruch zu dem kurz davor Aus- 
geführten, bereit ist in I. Cor. 2,9 nach Resch ein Citat aus dem 
hebräischen Matth. zu sehen, das die griechische Uebersetzung, unser 
kanonischer Matthäus — ob inspirirt? — unterschlagen habe. Auch 
die Freiheit, das Comma Johanneum für eine Interpolation zu halten, 
will er mindestens für Andere gewahrt wissen, und beinahe bedenk- 
lich erscheint mir sein Zugeständnis, daß Marcus aus Klugheit über 
die Fragen der Leitung der Kirche, d. h. den Papat geschwiegen 
habe, um jeden Anstoß bei römischen Lesern zu vermeiden, oder daß 
bei Lucas »Berechnunge — mit dem Blick auf die römischen Be- 
hörden — in Aufnahme des Stoffes und Darstellung walte S. 16 f. 
Aber ein Historiker, der glaubt >ein endgültiges Urteile über die 
NTlichen Schriften abgeben zu können (S. 3), dem die Anordnung von 
27 einzeln zu besprechenden Büchern nach der Entstehungszeit (S. 7) 
»die Anwendung der historischen Methode< bedeutet, der eine Aus- 
sage des Euseb, dadurch daß jener sie mit einem Adyog xareysı stützt, 
als eine von Anfang an in der Kirche herrschende (S. 15 vgl. S. 39f.) 
garantirt findet, der in seinem Enthusiasmus für die Gleichberechti- 
gung der — ja wenn nur Jemand sagen könnte, welcher! — mündlichen 
Tradition mit den biblischen Büchern sich dahin versteigt, Gründe 
zu suchen, warum Jesus für sich und bis auf einzelne, durch gött- 
liche Inspiration festgestellte Ausnahmen auch für seine Jünger die 
mündliche Belehrung dem schriftlichen Verkehr vorzog, der die in- 
haltliche Insufficienz der Evangelienschriften nicht schroff genug be- 
tonen kann, aber nur um Platz für eine ergänzende kirchliche Instanz 
über der biblischen zu schaffen, nicht etwa um daraus die Pflicht zu 
entnehmen, sich dem Inhalt biblischer Bücher skeptisch gegenüber zu 
stellen, — ein solcher Historiker darf nicht erwarten, daß Andere, 
die seine Voraussetzungen nicht teilen, seine Urteile besonders hoch 
taxiren. Indeß auch innerhalb der katholischen Wissenschaft wird 
diese Einleitung schwerlich Epoche machen. Die »Bedürfnisfrage« ver- 
mag ich nicht zu beurteilen ; das »Etwas«, das, wie B. im Vorwort my- 
steriös andeutet, er bei seinen letzten Vorgängern in Deutschland, Trenkle 
1897 und Aloys Schäfer 1898 vermißt, und weil »in unsern Ver- 


10 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


hältnissen« unentbehrlich nachholen möchte, habe ich nicht entdeckt, 
Hat B. etwa den Ehrgeiz, ein katholisches Seitenstück zu unserem 
Zahn zu liefern ? Mit ihm setzt er sich ungemein gern auseinander, 
mit ihm teilt er auch die eigensinnige Art, in sehr verschiedenem 
Maß Raum und Rede zu verteilen je nach dem eigenen Interesse 
und nach der Gelegenheit zum Polemisiren; die Litteratur wird nach- 
lässig genug und nichts weniger als vollständig verzeichnet, erst 
recht nicht beurteilt; nirgends ein Versuch, durch geschichtlichen 
Rückblick — wie jämmerlich ist das Stückchen Geschichte der Ein- 
leitungswissenschaft S. 3—5! — den gegenwärtigen Stand der For- 
schung zu erklären. Auch formell hat B. mit Zahn einige Fehler 
gemein. Breit und steif bis zur Incorrectheit schreibt er, bei ihm 
kommt hinzu die Vorliebe für eine Mischung von altfränkischem Ton 
und pathetischer Plerophorie. Was bei ihm nicht alles denkwürdig 
oder hochwichtig ist, ungereimt und völlig verfehlt, während über 
Anderes vollendete Klarheit herrscht, oder doch B. es in aller Form 
beweisen kann! An dieser Stelle hört die Aehnlichkeit mit Zahn 
allerdings auf; dieses zum Lächeln reizende Reden von seinem langen, 
mühevollen Ringen, von seinem Anerkennen auf Grund eigener sorg- 
fältiger Prüfung, einem Untersuchen mit ausgezeichnetem Fleiß wird 
man bei dem Erlanger Theologen so wenig vorfinden wie Belege für 
ziemlich mangelhafte Erudition. Daß Luther auch den Hebräerbrief 
»bemängelt« hat, scheint B. nicht zu wissen, daß wir jetzt in den 
»tractatus Origenis« einen zweiten Zeugen für Barnabas als Verf. 
des Hebräerbriefs besitzen, ist ihm entgangen, die Ausführungen 
über die Sprachentwicklung im Hellenistischen S. 20 oder die über 
die Unfähigkeit der aramäischen Sprache — im Unterschied von der 
alten Sprache Kanaans! —, die neuen Ideen des Christentums voll- 
ständig auszudrücken, sind mehr als veraltet, und ein gelehrter Excurs 
wie der über öy& oaßßdrov S. 43 ff. ist überflüssig. 

B., der auch durch eingestreute Hinweise auf seine Lebens- 
erfahrungen, durch die zahlreichen pietätsvollen Aufblicke zu seinem 
Lehrer Aberle, und die häufigen Selbstcitate seine Darstellung nicht 
wirklich lebendig zu machen versteht, leidet an dem Misgeschick, 
seine Verdienste und Gaben gerade an der falschen Stelle zu suchen; 
was bedeutet es, wenn ein Stilist wie er, H. Holtzmann S. 717 also 
abführt: Was das immer wiederholte &v in (II Ptr.) 1, 5—7 anlangt, 
so klagt derjenige sich selbst an, welcher die Wiederholung tadelt 
oder unschön findet; gerade dadurch (!) wird Kraft und Lebendigkeit 
bewirkt. 

Ich wüßte in dem dicken Buch kaum eine Ausführung zu nennen, 
die neue Gesichtspunkte eröffnete oder die ernste Beachtung der 


D. Martin Luthers Werke. 19. Bd. N11 


Mitforscher zu verdienen schiene, höchstens auf S. 2 die bei einem 
Andern als B. ironisch gemeinte Wendung, daß in der Einleitungs- 
wissenschaft auch protestantische Forscher, welche in dieser Richtung 
inkeiner Weise gebunden sind, häufig im Ganzen zu den- 
selben Ergebnissen wie das Tridentinum kommen. Die Gebundenheit 
ist bei Zahn wesentlich die gleiche wie bei Belser, wenn man trotz 
solch eines fundamentalen Mangels sich um die Wisgenschaft ver- 
dient machen will, muß man in höherem Maß als Ungebundene über 
Gelehrsamkeit, Geist, Scharfsinn und Combinationsgabe verfügen: 
diese Eigenschaften vermisse ich in der neuesten >Einleitung« in 
einem bei dem Collegen eines F. X. Funk befremdlichen Maße. 


Marburg, im Juli 1901. Ad. Jülicher. 


D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesammtausgabe. 19. Bd. Mit Nach- 
bildungen von 66 Holzschnitten und zweier Seiten einer Lutherhandschrift 
Weimar, Hermann Böhlaus Nachfolger 1897. VIII u. 666 S. Preis 21 M. 


Der vorliegende 19. Bd. der Lutherausgabe, der zugleich mit 
Bd. 7 ausgegeben wurde und dessen Besprechung sich leider unge- 
bührlich verzögert hat, ist von D. Walther in Rostock bearbeitet 
und umfaßt 17 Schriften aus dem Jahre 1526. Er beginnt mit der 
von Luther mit Vorwort und Nachwort versehenen Schrift: »Das 
Papstum mit seinen Gliedern gemalet und geschrieben<. Ueber die 
Herkunft wissen wir nur, daß nach Luthers Angabe 43, 24. ihm die 
Schrift von auswärts »durch fromme Leute geschickt worden war«. 
Wie der Herausgeber vermutet, wäre dies von Nürnberg aus, etwa 
durch Osiander geschehen, »wohl mit der Anfrage, ob er unter den 
jetzigen besonderen Verhältnissen die Veröffentlichung für zeitgemäß 
halte< S. 2. Das schließt er aus den beiden das Jahr darauf er- 
schienenen, der fraglichen Schrift »verwandten« Publikationen Osian- 
ders >Eine wunderliche Weissagung von dem Babstumb« etc. und 
»Sant Hildegardten Weissagung«, von denen die erstere erläuternde 
Verse von Hans Sachs enthält, und dem weiteren Umstande, daß 
Luthers Buch noch in demselben Jahre in »gebesserter und gemehr- 
ter< Ausgabe (>jedenfalls auch, vielleicht nur«) in Nürnberg erschien, 
und die hier neu hinzugefügten Bilder und Reime den früheren so 
durchaus gleichartig sind, daß ein und dieselbe Quelle angenommen 


712 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 9. 


werden muß«. Auch, meint der Herausgeber, >liegt die Frage nahe, 
ob vielleicht auch die Verse unserer Schrift von demselben Dichter 
(Hans Sachs) herrühren«. 

In dieser Form dürfte die Vermutung schwerlich richtig sein. 
Ein Widerspruch scheint erstens darin zu liegen, daß der Heraus- 
geber das eine Mal sagt, die in der gebesserten und gemehrten Aus- 
gabe hinzugefügten Bilder und Reime sind der früheren durchaus 
gleichartig, und weiter unten auf S. 2 wohl mit Recht annimmt, daß 
die Bilder der Lutherschen Ausgabe von Kranach oder von einem 
Meister der Kranachschen Schule herrühren, die Bilder der gebesser- 
ten Ausgabe aber von Sebald (so doch wohl statt Sebastian zu 
schreiben) Beham herrühren. Sind aber die Bilder der ersten Aus- 
gabe Kranachscher Herkunft, dann kann man sich die Sache wohl 
nicht anders denken, als daß lediglich die Verse Luther zukamen, 
und dieser erst die Bilder veranlaßte: dies wird auch durch das Ver- 
hältnis von Bildern und Text zu einander bestätigt. Der Heraus- 
geber hat mit Recht die auffallende Thatsache bemerkt, daß die 
Bilder nicht immer den dazu gehörenden Versen entsprechen (S. 41 
Anm.) und verweist dafür auf Nr. 8. 16. 19. 22. Entgangen ist ihm, 
oder er hat es wenigstens nicht erwähnt, daß ein Bild dreimal vor- 
kommt Nr. 19. 55. 63 für den Johanniterorden, Ambrosianerherren, 
Jacobsbrüder mit dem Schwert, ein anderes zweimal Nr. 6 u. Nr. 65, 
»der Pfaffenstand<, »Spitalherrn<. Das dürfte nicht auf Nachlässig- 
keit des Druckers oder Zeichners beruhen, sondern darauf, daß es 
für diese Orden in Wittenberg oder Umgegend an jedem Vorbild 
für die betreffenden Trachten fehlte, weshalb denn auch in der ver- 
besserten Ausgabe, mit Ausnahme des Bildes des Benedictiners, der 
die Bibel (?) oder das Meßbuch behielt, diese Mängel beseitigt wur- 
den. Was nun ferner die Verwandtschaft mit den beiden Osiandri- 
schen Publikationen anbelangt, zu welchen neuerdings zu vergl. Al- 
fred Bauch, Barbara Harscherin, Hans Sachsens zweite Frau, Niirn- 
berg 1896 S. 67 ff., so beruht sie doch nur eben darauf, daß sich 
Osiander durch Luthers Schlußwort anregen ließ, auch seinerseits 
die heftige Opposition wieder aufzunehmen (vgl. W. Kawerau, Hans 
Sachs Schriften d. Verf. f. Ref. Gesch. Nr. 26 S. 71 ff.); und die 
ziemlich glatten oder wenigstens klaren Verse des Hans Sachs in der 
»Weissagung« scheinen mir sehr wenig Aehnlichkeit mit denen im 
»Papsttum« zu haben, und wenn die Bemerkung Rosenbergs (Sebald 
und Barthel Beham Leipzig 1875 S. 138), die ich nicht controllieren 
kann, richtig ist, daß die Nürnberger Ausgabe des Papstums in den 
Versen dialectische Veränderungen aufweisen, dann dürfte an die 
Nürnberger Herkunft dessen, was Luther zukam, wohl nicht zu den- 


D. Martin Luthers Werke. 19, Bd, 718 


ken sein. Was die Erläuterungen zu den einzelnen Bildern betrifft, 
so verkenne ich nicht die Schwierigkeit, da das rechte Maß zu fin- 
den, aber ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken, daß auf glei- 
chem Raum zur wirklichen Erklärung etwas mehr hätte geboten 
werden können. — Eine ausgezeichnete Arbeit ist die Einleitung zur 
‚Deutschen Messe«, in der mit Recht immer wieder hervorge- 
hoben wird, was die Neuzeit nur allzu sehr vergessen hat, daß 
Luther, wo er nur konnte, sich gegen alle Uniformität in Cultus- 
dingen erklärte. Richtig ist ohne Zweifel die Annahme, daß das 
Notenblatt mit Luthers Grundgedanken über das Musikalische einer 
deutschen Messe, das in gutem Facsimile am Ende des Bandes wie- 
dergegeben wird, nicht dem Briefe an Walther vom 21. Dez. 1527 
(Enders 6, 152 ff.) beigegeben war, sondern auf die Verhandlungen 
mit dem Sangmeister vor der Abfassung der deutschen Messe führt 
(S. 49). Ebenso wird die Vermutung richtig sein, daß zwischen dem 
Februar- und dem Junierlaß des Kurfürsten im Jahre 1526, die 
beide die Einführung der Messe betreffen, eine gegen den Zwang 
protestierende Auslassung Luthers vorliegen muß. Sehr dankens- 
wert sind auch die dem Text vorangestellten allgemeinen Erläute- 
rungen. 

Mit dem Antwortschreiben >an die Christen zu Reutlingen< wer- 
den wir in den Abendmahlsstreit geführt, wohin noch vier andere 
Schriften dieses Bandes einschlagen. Seine Spezialstudien darüber 
hat der Herausgeber, worauf er verweisen kann, in einem Aufsatz 
»Reformirte Taktik im Sakramentsstreit der Reformationszeit<. 
(Neue kirchl. Zeitschr. 1896 S. 794 ff. S. 917 ff.) niedergelegt, wo 
die störende anachronistische Bezeichnung »Reformierte« für Schwei- 
zer und ÖOberländer wohl nur der Bequemlichkeit halber gebraucht 
ist. Daß die in manchen Kreisen sich findende Meinung von der 
Milde der Schweizer und Oberländer gegenüber der übergroßen 
Schroffheit Luthers eine völlig irrige ist, wenn man den Briefwechsel 
zu Rate zieht, und die hier und da z.B. bei Gelegenheit des Mar- 
burger Gesprächs ostentativ hervorgekehrte Versöhnlichkeit fast aus- 
schließlich dem politischen Interesse entsprang, glaube ich schon 
früher deutlich hervorgehoben zu haben. Jedenfalls hat aber W. Wal- 
ther das Verdienst, in seiner Spezialuntersuchung, der ich freilich 
nicht in allem beistimmen kann, in einer Reihe von Punkten das 
richtige Urteil über die Taktik Zwinglis und der Oberländer schärfer 
begründet zu haben, als dies in den Lutherbiographien bisher ge- 
schehen war und geschehen konnte. So wird man, was für die Be- 
urteilung sehr wesentlich, ihm zugeben müssen, daß Zwinglis Brief 
an Alberus fingiert war, und daß er dem Alberus selbst nicht von 


714 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


Zwingli geschickt worden war, was jetzt auch Stähelin, Zwingli II, 241 
zugiebt. Gleichwohl kann mich die Einleitung zu dem Schreiben an 
die Christen zu Reutlingen nicht ganz befriedigen. Es ist nur eine 
Kleinigkeit, die ich aber erwähne, weil dergleichen leicht unbesehen 
in andere Bücher übergeht, daß Walther S. 114 mitteilt, daß Zwingli 
seine Abhandlung in »mehr als fiinfhundert< Abschriften im Ge- 
heimen verbreiten ließ, während Zwingli, und dessen eigene Aussage 
ist die einzige Quelle dafür, nur schreibt epistolam ... ad Rudlin- 
gensem quendam esse mandatam ut Carolostadi libri prodüssent ac 
deinde descriptam brevi plusquam quingentis fratribus, priusquam er- 
euderelur, communicatam esse (Zwingli opp. III, 605), was Walther 
N. kirchl. Ztsch. a. a. O. 8. 808 richtiger wiedergiebt, wenn er schreibt: 
»Mehr als fünfhundert Brüder« wurden auf solche Weise mit seiner 
Abendmahlslehre bekannt. Bedenklicher scheint mir, daß der Heraus- 
geber die subjektiven Motive fiir Zwinglis Verfahren allzusehr in den 
Vordergrund stellt. Wann der Brief (16. Nov. 1524) eigentlich ge- 
schrieben ist, erfährt der Leser nicht, und auch für die endliche 
Drucklegung im März 1525 giebt W. nur das subjektive Motiv an, 
daß Zwingli gefunden, daß sein Vorgehen keinen Widerspruch fand, 
er es also wagen konnte. Aber auch wenn Zwingli wirklich, wie 
Walther wohl zu scharf pointierend darzulegen sucht, seit Jahren dar- 
auf ausgegangen wäre, den Kampf gegen Luther vorzubereiten und 
nur auf den günstigen Moment lauerte, so kann doch wohl kaum ein 
Zweifel sein, daß, worauf ich schon Martin Luther II, 273 hinge- 
wiesen, Luthers Verhandlungen mit den Straßburgern, das Erscheinen 
von Luthers Schrift »Wider die himmlischen Propheten« und die da- 
durch in den Gemeinden entstandene Erregung es waren, die ihn 
veranlaßten, mit seiner Lehre jetzt offen hervorzutreten. Davon wird 
in der Einleitung nichts mitgeteilt, vielleicht auch deshalb nicht, 
weil der Herausgeber nicht wissen konnte, was der Herausgeber des 
vorhergehenden, noch ausstehenden Bandes über diese Verhältnisse 
sagen wird. Uebrigens könnte man auch daran zweifeln, ob Zwingli 
wirklich den Brief selbst in Druck gegeben hat. Daß die sein eigen- 
tümliches Verfahren aufdeckende Nachschrift (Zw. opp. III, 603) 
stehen geblieben ist, spricht sicher mehr dagegen als dafür. Der 
Brief an die Reutlinger wird gegenüberstehend nach dem in Stutt- 
gart befindlichen Original und dem einzigen Druck, der außer ein 
paar Lesefehlern nur sprachliche Varianten aufweist, wiedergegeben. — 
Es folgt »sdie Epistel des Propheten Jesaia, so man in der 
Christmesse lieset« (S. 126 ff.), eine Bearbeitung zweier Predigten, die 
Luther am ersten und zweiten Weihnachtstage 1525 gehalten hat, von 
denen uns noch lateinische Nachschriften in Jena und Hamburg er- 


D. Martin Luthers Werke, 19. Bd. 718 


halten sind. Ansprechend ist die Vermutung, daß Luther zur Heraus- 
gabe dieser Schrift durch das Bestreben bewogen wurde, gegenüber 
der Kunde von der in Ungarn und in Nürnberg auftauchenden Skepsis 
die Gottheit Christi zu betonen. Auffallend ist die Anführung einer 
so späten Uebersetzung wie der englischen vom Jahre 1578. Uebri- 
gens dürfte chronologisch diese Schrift wohl hinter der folgenden 
»der Prophet Jona ausgelegt<« zu stehen kommen, die, wie 
der Herausgeber mit Recht S. 170 annimmt, spätestens im März er- 
schienen ist, während Luthers Correspondenz mit Spalatin 19. Sept. 
1526 Enders V, 393 über die Jesaiaspredigt, die schwerlich lange 
nach dem Erscheinen zu setzen ist, es wahrscheinlich macht, daß 
diese Predigt erst im Spätsommer herausgekommen ist. Vortreff- 
liches bietet die Einleitung zu Jonas, namentlich sind die Mitteilun- 
gen über die lateinischen Uebersetzungen sehr dankenswert. Freilich 
wäre eine kleine Aufklärung, wer eigentlich Joh. Chelyus war, man- 
chem Benutzer gewiß nicht unerwünscht, auch wird Johannes Tholtz 
S. 169 wie eine allgemein bekannte Persönlichkeit eingeführt, was 
er doch thatsächlich nicht ist, indem erst neuerdings die Arbeiten 
von Cohrs (Mitth. d. Gesellschaft f. deutsche Erziehungs- u. Schul- 
geschichte VII, 4) und F. Kropatscheck (Johannes Dölsch aus Feld- 
kirch, Greifswald 1898) die Persönlichkeiten des Tholtz und Dölsch etc. 
richtig von einander geschieden haben. Eine Monographie über Vin- 
centius Obsopoeus besitzen wir ja leider noch nicht, doch wissen wir 
über ihn doch etwas mehr als die dürftigen Notizen bei Enders V, 
345 vermuten lassen, auf die hier verwiesen wird, aus dem gelehr- 
ten und auf gründlichen archivalischen Studien beruhenden Ansbacher 
Gymnasialprogramm von Ludwig Schiller, die Ansbacher gelehrten 
Schulen unter Markgraf Georg von Brandenburg, 1875, welches eine 
Fülle für die Gelehrtengeschichte wichtige Notizen enthält, worauf 
ich die Fachgenossen bei dieser Gelegenheit aufmerksam mache. 
Auf S. 175 Anm. ist infolge eines Druckfehlers von einem Reichs- 
tage zu Speier 1521 die Rede, gemeint ist, wie das Citat aus Janssen, 
der freilich in meinem Exemplar von dem Bischof Wilh. v. Honstein 
nichts erwähnt, wohl der Reichstag von 1526. Interessant war mir 
der Hinweis auf S. 221, daß die Stelle mit Luthers Auslassungen 
über den Todtenschlaf in mehreren Exemplaren ausgerissen ist, was 
man wohl dahin wird deuten müssen, daß man sie anstößig gefunden 
hat, ob etwa, weil man darin ein Zusammenklingen mit der Lehre 
einer Wiedertäufergruppe vom Seelenschlaf fand? Der Schrift sind 
von philologischer Seite nicht wenige Bemerkungen vorangeschickt, 
eine Erklärung aber darüber, was unter »Wilderüben«, was Luther 
sehr merkwürdig als die deutsche Uebersetzung von vitis alba wieder- 


716 Gott. gel. Anz. 1001. Nr. 9. 


giebt, und was in Pommern unter Heylige wurtsel zu verstehen ist 
(S. 243), wird vermißt. Was ich darüber in Erfahrung gebracht habe, 
ist dies: Im Mittelalter wurde sowohl die zu den Cucurbitaceen ge 
hörige Bryonia alba oder Bryonia dioica Jacq. als auch Clematis 
vitalba, die bekannte Waldrebe, als vitis alba bezeichnet. Aber die 
Bezeichnung >Wilde rüben< paßt nur auf Bryonia (Zaunriibe) mit 
ihrer stark entwickelten, rübenförmigen Wurzel, und außerdem findet 
sich dafür im Mecklenburgischen »Hillig Row<, wohl gleich »Heilige 
Riibe«. Diese Pflanze wird es also gewesen sein, auf die Bugenhagen 
Luther aufmerksam gemacht hat und die er an jener Stelle im Auge 
hat. — Ein schweres Stück Arbeit scheint die Wiedergabe des Frag- 
mentes von Luthers Schrift »Wider den Mainzischen Ratschlag« ge- 
wesen zu sein, zu der der Herausgeber, welcher bereits in Ztsch. f. 
Kirchengesch. 1897 Bd. XVIII, S. 242 wichtige Vorarbeiten dazu ge- 
liefert hatte, eine sehr instructive Einleitung geschrieben hat S. 253 ff. 
Ein angeblich noch 1823 vorhandener Druck scheint jetzt nicht mehr 
vorhanden zu sein, man sah sich also auf die beiden in Dresden be- 
findlichen, sehr flüchtig angefertigten Abschriften angewiesen. Da die 
B genannte offenbar aus A abzuleiten ist, mußte A natürlich zu 
Grunde gelegt werden, wie das schon Seidemann im ersten Abdruck 
(Zeitschrift für hist. Theol. 1847, S. 663) freilich in der falschen 
Meinung, daß sie von Luther herrühre, gethan hatte. Die Varianten 
von B als einer Abschrift von einer Abschrift, müssen natürlich 
für Feststellung dessen, was Luther wirklich geschrieben, da sie im 
besten Falle vom Abschreiber nach eigenem Gutdünken vorgenom- 
mene Verbesserungen wirklicher oder vermeintlicher Lesefehler bie- 
ten, als ziemlich gleichgültig erscheinen, gleichwohl hat Herr Pietsch 
ihnen eine solche Wichtigkeit beigelegt, daß um eine größere An- 
zahl mitteilen zu können, als der Herausgeber für nötig hielt, wie 
die Nachträge uns belehren, Bogen 17 und 18 teilweise wieder um- 
brochen werden mußten. Ob die germanische Philologie dadurch 
etwas gewinnt, mögen die Kenner entscheiden. Irgend welchen Wert 
für die Feststellung des Textes kann ich auch dem Spalatinschen 
Auszug (a), an dessen Echtheit zu zweifeln kein Grund vorliegen 
wird, nicht beimessen. Daß trotz der dort sich findenden Ratten- 
bischöfe S. 277,7 Rottenbischöfe zu lesen ist, wie 276, 23 vom Ab- 
schreiber rath für rott gelesen worden ist, wird, meine ich, jedem, 
der Luthers Sprache kennt, und nicht nach besonderen Wort- 
formen sucht, sofort einleuchten. — Die darauf folgende kleine 
Schrift »Antwort auf etliche Fragen, Klostergelübde be- 
langend<, wird vom Herausgeber zum ersten Male richtig histo- 
risch gewürdigt; auch darin wird man ihm beistimmen müssen, 


D. Martin Luthers Werke. 19. Bd. 117 


daß nach der Ueberschrift zu urteilen, Luther nicht der Herausgeber 
ist. Die beiden folgenden Schriften »Der 112. Psalm Davids 
gepredigt« und »>der Prophet Habakuk<«, wären chronologisch 
richtiger in umgekehrter Reihenfolge zu geben gewesen, da Habakuk 
schon beinah fertig gedruckt war, als die Predigt oder die Predigten 
über Ps. 112, die der Druckschrift zu Grunde liegen, noch nicht ge- 
halten waren. Wir kennen jetzt die sehr zusammengedrängte Nach- 
schrift Rörers, die der Herausgeber über dem Text der Druckschrift 
mitteilt, die zu sehr interessanten Vergleichen Veranlassung giebt 
und mit den Notizen aus der Poachschen Sammlung eine genaue Da- 
tierung ermöglicht. Mit Recht bezweifelt der Herausgeber, daß Luther 
selbst die Predigten für den Druck zubereitete, ich würde dabei aber 
weniger Wert darauf legen, daß Luther »wohl strenger unterschieden 
haben würde zwischen dem, was dem mündlichen Kanzelvortrag und 
dem, was gedruckter Rede erlaubt ist«, so zartfühlend war Luther 
nicht, wohl aber lassen vielfach Sprache und Satzgefüge, wie die 
ganze, etwas saloppe Art der Gedankenverbindung schwerlich an 
Luther als Veranstalter des Druckes denken. Deshalb scheint mir 
auch die nur auf den Druck sich gründende Vermutung Dr. Wal- 
thers, daß Luther während der Predigt selbst, als er die ihm vorher 
unbekannte Anwesenheit der fürstlichen Zuhörer wahrnahm, seinen 
Gedanken eine andere Wendung gegeben habe, etwas gewagt. 
Sprachlich verdient m. E. hervorgehoben zu werden für Luthers Auf- 
fassung des Ausdruckes »Federlesen< die Stelle auf S. 326. Der 
Nachschreiber notierte sich: da schnytz ich die wort dun et plumas 
lego et veritatem infra scammum. Der Druck giebt dafür: 
da schnitse ich die wort dunne, machs glimpffig, kan wol feder lesen, 
und mit der warheit unter die bank. Hiernach nimmt Luther hier 
das Bild von der Vorbereitung zum Schreiben (vgl. auch die Worte 
»dünn schnitzen<) her und dürfte, wie mir scheinen will, was freilich 
durch das plumas legere nicht genau wiedergegeben ist, hier an 
die sorgfältige Auswahl der Schreibfeder zu denken sein. Darum ist 
der Ausdruck hier wohl nicht wie Pietsch nach Wander und Grimm 
angiebt = schmeicheln, sondern sich möglichst vorsichtig ausdrücken, 
wie Luther selbst erklärt, es glimpflich machen, und ich würde es 
nicht für unmöglich halten, daß, worüber freilich die Germanisten 
urteilen müssen, die hier vorliegende Ableitung, von der ich nicht 
weiß, ob sie auch sonst vorkommt — Grimm hat sie nicht —, die ur- 
sprüngliche ist. Auch zu der von Pietsch im Anschluß an Dietz, 
Wörterbuch vorgebrachten Erläuterung des Ausdrucks bunt in dem 
Satze das man auch yhr dasu spottet und lachet mit spitsen und 
bundien, hémschen worten S. 400 Anm. 2, wonach bunten etwa das- 


718 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 9. 


selbe wie geblümt, verblümt« als Gegensatz zu spitzen zu nehmen sei: 
mit offenkundig und versteckt höhnischen Worten< möchte ich mir 
in aller Bescheidenheit erlauben, ein Fragezeichen zu machen. Was 
hindert daran, zur Erklärung von der vulgären Redensart »das ist 
mir doch zu bunt«, das ist zu weitgehend, zu stark, auszugehen? 
Dann komme ich aber gerade zu dem entgegengesetzten Sinne, das 
bunte ist das deutliche, in die Augen fallende, gerade das Gegenteil 
vom Verblümten. — 

Sehr wenig wußten wir bisher über den kaum beachteten »Rat- 
schlag wie in der christlichen Gemeynex etc. S. 436 ff, 
hatten doch die früheren Herausgeber, auch Seidemann VI, 72 ff. 
gar nicht beachtet, obwohl es Panzer schon notiert, daß er in 
zwei Drucken aus dem Jahre 1526 vorhanden war, woraus erst En- 
ders (EA.?, 26, 1 ff.), übrigens ohne ihn historisch zu würdigen, einen 
Abdruck veranstaltete. Walther hat das Verdienst, zum ersten Mal 
die historische Sachlage ins Auge gefaßt zu haben. Er laßt zwei 
Möglichkeiten offen, daß der Ratschlag wirklich erst 1526 verfaßt 
worden sei, dann aber vor dem Speierer Reichstage, oder aber, was 
er für wahrscheinlicher ansieht, schon 1525, und bringt ihn dann in 
Verbindung mit den Anfang Oct. 1525 angesichts des auf Martini 
nach Augsburg ausgeschriebenen Reichstags zwischen Hessen und 
Sachsen gepflogenen Verhandlungen. Das letztere halte ich für das 
einzig richtige, denn daß der Ratschlag nicht erst 1526 verfaßt sein 
kann, sondern vor Luthers Schrift »Von der Messe« ergiebt schon 
441,3ff. Aber man kann die Veranlassung wohl noch genauer be- 
stimmen. Walther verweist auf die Verhandlungen, welche »von 
Donnerstag nach Michaelis 1525 an« (das ist Datum der Instruction 
bei Rommel III, 10, die Verhandlungen selbst waren also später) 
zwischen Kursachsen und Hessen stattfanden, und meint, daß Luther 
damals für Spalatin seinen Ratschlag aufsetzte. Indessen scheint 
mir ein Vergleich mit dem kaiserlichen Ausschreiben des Augsburger 
Reichstages, das Mitte August an die Stände ausging (vgl. Frie- 
densburg, Zur Vorgeschichte des Gotha- Torgauischen Bündnisses 
der Evangelischen, Marburg 1884 S. 27f.), mit großer Wahrschein- 
lichkeit zu ergeben, daß eben dieses den Anlaß gab, Luther zu 
einem Gutachten aufzufordern. Dafür spricht namentlich der Ab- 
schnitt über das Wormser Edict, auf welches Luther besonders ein- 
geht, während er andere Fragen (vgl. S. 443, 22) beiseite läßt und sich 
nur über die Notwendigkeit der Abschaffung der Messe ausführlich aus- 
läßt (vgl. auch die Auslassungen über das Wormser Edict und die Cere- 
monien in der Recapitulation der Verhandlungen in Dessau. Friedens- 
burg 5. 113). Nun begreift sich leicht, daß dieses Gutachten mit seiner 


D. Martin Luthers Werke. 19. Bd. 719 


echt lutherschen Betonung gerade des Punktes, an dem Kaiser und 
Reich den meisten Anstoß nehmen mußten, um so weniger zu amt- 
licher Verwendung sich eignete, als eben um diese Zeit, im Schreiben 
an Herzog Georg vom 15. Sept. 1525 Kurfürst Johann und der Land- 
graf mit Emphase erklärten, »so haben wir der Lutherischen secten, 
schriften odder worten nicht angehangen, auch Luterische Handlung 
uns nicht angehet, anderst, denn so weit und ferne es sich mit dem 
heiligen evangelio und worte gottis vergleicht etc.<, Friedensburg 
S.115. Spalatin mag dann den Versuch gemacht haben, es diplo- 
matischer zu gestalten. Man verzichtete darauf, beschloß vielmehr, 
bei den Bündnisbestrebungen den Ansbacher Ratschlag über die 
strittigen Meinungen in der Glaubenssache zu Grunde zu legen (Frie- 
densburg S. 49 u. 60), der schon ein Jahr früher verfaßt, aber ge- 
rade damals abgesehen von dem die Bilder betreffenden Punkte von 
den Wittenberger Theologen gebilligt worden war (6. Sept. 1525. 
De Wette 6, 57. Enders 5, 236, wobei bemerkt sein mag, daß der 
Kurfürst nicht das Original, sondern eine Abschrift nach Ansbach 
schickte, jetzt Ansb. Religionsacten T. I, S. 350 Kreisarch. in Nürn- 
berg). Sind diese Vermutungen über die Entstehung richtig, dann 
wird es auch sehr zweifelhaft, ob der Ratschlag 1526 (zu amtlichen 
Zwecken) >bei der Vorbereitung auf den Speierer Reichstag nochmals 
hervorgeholt und nunmehr auch gedruckt worden ist«e. Von Luther 
freilich dürfte die Drucklegung schwerlich vorgenommen sein, und 
unzweifelhaft ist mir, daß der Titel der Druckschrift sicher nicht 
von Luther herrührt. — 

Mit den nächsten Schriften kommen wir wieder in den Abend- 
mahlsstreit, über den der kundige Herausgeber, wie schon bemerkt, 
sehr gründliche Studien gemacht hat. So ist denn auch sogleich 
seine Einleitung zur ersten Vorrede zum Schwäbischen 
Syngramma« eine ganz vorzügliche Leistung, bei der namentlich 
dankbar anerkannt werden muß, daß er durch reiche Heranziehung 
der Gegenschriften die ganze Entstehung des litterarischen Streites 
klargestellt hat. Ich freue mich, daß er meinen Aufstellungen über 
die Chronologie hinsichtlich der Ausgabe von Luthers Vorrede 
(Zeitschr. für Kirchengesch. XI, 472 f.) zustimmt, halte auch seine 
Vermutung, daß wegen der Anklänge im Briefe vom 27. März (De 
Wette 3, 98. Enders 5, 330) das Schriftstück in der gleichen Zeit ab- 
gefaßt sein wird, für sehr ansprechend; dagegen könnte man mit 
dem Herausgeber streiten, ob die mir persönlich sehr interessante, 
ausführliche Darlegung über die Frage, ob die Schwaben von Luthers 
Abendmahlslehre abwichen oder nicht, nicht über den Rahmen einer 
historisch-kritischen Einleitung hinausgeht. In den trefflichen Er- 


720 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


läuterungen kommt der Herausgeber auch auf den Pseudonym Con- 
rad Ryss zu Ofen zu sprechen (S. 459 Anm.), wobei er es als nicht 
genügend begründet erklärt, an Martin Cellarius zu denken. Da- 
bei liegt aber eine Verwechselung vor, die Enders 3, 329 und 5, 330 
verschuldet hat, denn nicht um diesen handelt es sieh, sondern um 
den zwinglianischen Heißsporn Michael Keller oder Cellarius von 
Augsburg (Näheres über ibn neuerdings Fr. Roth, Zur Lebensge- 
schichte des Meisters Michael Keller in meinen Beiträgen zur bayr. 
Kirchengesch. V, 149 ff.). Walther möchte lieber an den (späteren) 
Wiedertäufer Johannes Landsperger denken, der im Jahre 1527 die- 
selbe Lehre wie Ryss vortrug. Das führt aber noch mehr zu der 
Annahme, daß der pseudonyme Autor in derselben Stadt gelebt hat, 
nämlich Augsburg. Dahin führen auch in erster Linie die Drucke 
(vgl. Weller Nr. 3447—3450, vgl. auch Zwingli opp. VII, 450 f.). 
Inzwischen hat nun auch, was Walther noch nicht wissen konnte. 
Georg Finsli in Zwingliana, Mitteilungen zur Gesch. Zwinglis und der 
Reformation Nr. 2, S. 21 gezeigt, daß bereits Ludwig Lavater in seiner 
Historia de origine et progressu controversiae sacramentariae etc. 
Tiguri 1563 fol. 6°, den Verf. jener gegen Bugenbergen gerichteten 
Schrift in Michael Keller sieht, wodurch die Tradition doch eine 
große Stärkung erfährt. — Es folgen Schreiben an Johann Her- 
wagen, Sermon vom Sakrament, Zweite Vorrede zum schwäbischen 
Syngramma, deren Bevorwortungen das gleiche Lob verdienen wie 
die früheren, wenn auch die sehr temperamentvolle Beurteilung des 
Vorgehens der Schweizer und Oberlander schwerlich allseitige Zu- 
stimmung finden wird. Recht hat Walther, um dieses herauszuheben, dal 
objectiv in der Schrift des Leo Judae (Leopoldi) S. 464 eine Heraus- 
forderung Luthers lag, aber die subjective Absicht war schwerlich 
eine andere als zu zeigen, daß er wie Erasmus, wenn sie nicht mit 
früheren Auslassungen in Widerspruch geraten wollten, gar nicht 
anders vom Abendmahl denken könnten als Zwingli etc., und etwa 
anders lautende Aussagen eben in diesem Sinne, weil sie allein 
schriftgemäß wären, gedeutet werden müßten. Und Luther faßte es 
keineswegs so auf, >als wären sie wirklich noch nicht völlig sich klar 
über seine Meinung<, sondern als einen schnöden Versuch, ohne 
Rücksichtnahme auf seine klaren Auslassungen seine Rechtgläubig- 
keit zu verdächtigen. Quid fiet nobis mortuis, cum talia contingant 
viventibus. Quis tam non suspectos habeat omnium Patrum libros< 
(S. 471, 29£.). 

Ganz besonderes Interesse verdient bei allen Lutherforschern 
die Einleitung zum »Sermon von dem Sakrament des Leibes 
und Blutes Christi wider die Schwarmgeister< 8. 474f.. Seit ich in 


D. Martin Luthers Werke. 19. Bd. 791 


Ztschr. f. Kirchengesch. XI, 472 ff. darüber gehandelt habe und be- 
dauerte, daß die von Poach verzeichneten Predigtnachschriften, die 
offenbar jenem Sermon zu Grunde liegen mußten, verloren gegangen 
seien, hat man inzwischen die Rorersche Niederschrift in Jena und 
eine andere in Hamburg aufgefunden, die nunmehr das Redactions- 
verfahren genau verfolgen lassen. Meiner Annahme, daß der Sermon 
vom 17. Oct. 1526 in einem Briefe Capitos zuerst erwähnt wird, 
stimmt der Herausgeber zu; bestätigt auch die Beobachtung, daß 
Luther den Sermon nie erwähnt, und hält gleichfalls die Annahme, 
daß die Schrift, wie sie vorliegt, nicht von Luther verfaßt sein 
könne, für richtig, hält es aber doch für möglich, daß Luther von 
dem Druck gewußt habe, glaubt sogar von einer andern Stelle, daß 
die oben genannte Schrift Leo Judaes, »die auch treue Anhänger 
zu einer MiGdeutung des Schweigens Luthers verleiten konnte< die 
Drucklegung veranlaßt habe. »Ihnen sollten diese Predigten be- 
zeugen, daß er auch seine Gemeinde vor den Schwarmgeistern ernst 
zu warnen für Pflicht halte<, und erklärt dann den Umstand, daß 
Luther, der schwerlich den Titel >wider die Schwarmgeister« ge- 
wählt haben dürfte, sie nicht mit aufzählt, daraus, daß er sie eben 
nicht als eine gegen die Schwarmgeister gerichtete ansah. Das 
Alles scheint mir sehr künstlich. Ich würde in dem Falle vorziehen 
zu sagen, daß wir über Veranlassung und Herausgeber leider bisher 
nichts wissen. — Sehr dankenswert und ein neues Zeugnis davon, wie 
Walther den ganzen Stoff beherrscht, sind die darauf folgenden No- 
tizen über den Eindruck, den die Schrift machte, und die Gegen- 
schriften. Zu den Mitteilungen über Johann Landsperger, über des- 
sen Persönlichkeit wir auch an dieser Stelle nichts erfahren — über 
ihn bisher am besten Veesenmeyer in Stäudlins kirchenhistorischem 
Archiv 1823 Hft. 14, S.45 — möchte ich noch hinzufügen, daß die 
Vorrede zur Supplication Landspergers vom 22. April 1527 datiert 
ist. Ferner daß, wie ich immer vermutete, Landsperger wirklich 
aus Augspurg stammt und zwar aus dem dortigen Carmeliterkloster 
(Jahresb. d. hist. Ver. f. Schwaben I, 231). Einer meiner Schüler, Herr 
Katechet Martin in München, wird demnächst eine Monographie 
über ihn veröffentlichen und wird den Beweis dafür erbringen, daß 
der Wiedertäufer Landsperger und der gleichnamige Landshuter Hof- 
kaplan, die man bisher immer zusammenwarf, zwei verschiedene 
Personen sind. — Wie den Lutherforschern bekannt ist, hat dieser . 
Sermon später noch eine Geschichte gehabt, indem er zu denjenigen 
Schriften aus dem Abendmahlsstreit gehört, die in der Wittenberger 
Ausgabe Bd. II mit teilweise erheblichen Abänderungen abgedruckt 
wurden, was zu einer litterarischen Fehde mit den Gnesiolutheranern 
Gots. gel, Ans. 1901. Nr. 9. 48 


722 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


führte, die den Herausgebern Fälschung vorwarfen. Walther hat 
sich darauf beschränkt S. 481 zu bemerken: »Hier sind manche 
Aenderungen im calvinistischen Sinne an dem ursprünglichen Texte 
vorgenommen, vgl. Zeitschr. f. Protestantismus u. Kirche Bd. 19. 
S. 46<, wo sich aber lediglich die Notiz findet, daß viele Stellen ge- 
ändert seien. Inzwischen hat sich, was W. noch nicht vorlag, Joh. 
Haussleiter zu dieser Frage geäußert in der Neuen kirchl. Zeitschr. IX 
(1898) S. 831 ff. u. X (1899) S. 455 ff. Indem ich mir vorbehalte, 
bei Gelegenheit der Besprechung der Schrift »daß diese Worte, das 
ist mein Leib etc.<, die hauptsächlich dabei in Betracht kommt, auf 
diese Frage zurückzukommen, kann ich doch nicht umhin zu be- 
merken, daß ich bei dem kirchenhistorischen Interesse an der Text- 
gestaltung der Wittenberger Ausgabe einen Hinweis auf die einzel- 
nen Textveränderungen erwartet habe und es bedaure, daß man, um 
sich darüber zu orientieren, wieder zur Erl. A. Bd. 29, S. 328 ff. 
greifen muß. — Es folgen die »Zweite Vorrede zum Schwäbischen 
Syngrammac, »Das Taufbüchlein aufs Neue zugerichtet«, und »Vier 
tröstliche Psalmen an die Königin zu Ungarn< S. 542ff. Bei der 
Entstehungsgeschichte der Letzteren wird die Frage der Stellung der 
Königin Maria zum Evangelium nur gestreift. Ich habe darüber, 
was dem Herausgeber entgangen ist, gehandelt in meiner Abhand- 
lung: Markgraf Georg und das Glaubenslied der Königin Maria von 
Ungarn in meinen Beiträgen zur bayrischen Kirchengeschichte 
U. Bd. (1896) S. 39 ff., vgl. S. 142. Ergänzend möchte ich noch 
hinzufügen, daß Planitz bereits am 15. Oktober dem Kurfürsten von 
Sachsen berichtet: es seint zeitung anher komen, das die konnigin zu 
Ungernn sehr gut evangelisch worden sey, und mit dem konig der- 
halben szovill gehandelt, das man de Lutherischen weiter nicht vor- 
folget und nunmalls das ewangelium frei in Ungernn gepredigt werde. 
Welchs mir nicht ungeleublich, dan ich weiss , das ir der hoemeister 
von Preussen von hinnen vil Lutherisch Bucher auf ir begere suge- 
schigkt. Hans v. d. Planitz Berichte etc. ed. H. Virck Leipz. 1899 
S. 556). Hiernach könnte die Anregung zu Luthers Schrift von 
Preußen ausgegangen sein. Ferner möchte ich in Erinnerung bringen, 
daß Paul III. noch 1539 beim Kaiser über diese Schwester klagte, 
quae clandestine faclioni Lutheranae faueat eamque efferat (Rainaldus 
ad annum 1539 no. 14). Zu der trefllichen Einleitung zu der Schrift: 
‚Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein kénnen< S. 616 ff.) be- 
merke ich nur, daß der Ritter Assa von Kram, auf dessen Bitte 
Luther diese Schrift schrieb und der ihn auch über manche Sitten 
und Bräuche der Kriegsleute belehrt haben wird, von Luther noch 
einmal im Jahre 1534 in der Auslegung des 101. Psalms (E. A. 39, 322, 


Mayr, Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum italienischen Landesth. 728 


vgl. auch über ihn Uhlhorn, Urban Rhegius S. 166) als Quelle für 
eine Aeußerung angeführt wird, übrigens schon 1528 (De Wette II, 
402) in Chur in der Schweiz starb. 

Mit dieser Schrift schließt der 19. Bd., den ich nicht aus der 
Hand legen kann, ohne dem Bedauern Ausdruck zu geben, daß der 
so überaus umsichtige und kundige Herausgeber, der wie wenige zur 
Fortführung des großen Werkes geeignet wäre, leider, wie man hört, 
aus den schon mehr erörterten Gründen aus der Zahl der Mit- 
arbeiter ausgeschieden ist. 


Erlangen, 16. Febr. 1901. D. Theodor Kolde. 





Mayr, M., Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum italie- 
nischen Landestheile. Eine geschichtlich - staatsrechtliche Studie. Inns- 
bruck 1901. 82 SS. 


Die vorliegende Schrift vereinigt zu einem kleinen Hefte eine 
Reihe von Artikeln, die der Verfasser in den »Neuen Tiroler Stimmen« 
veröffentlicht hatte. Da sie auf dem Titel als eine geschichtlich- 
staatsrechtliche Studie bezeichnet wird, muß man annehmen, 
daß der Verf. gerade darauf ein besonderes Gewicht legt, und man 
muß dies um so mehr, als ihr Inhalt mehr vermuthen ließe, daß sie 
als politische Schrift gedacht sei. Wenigstens spitzt sie sich in ihrem 
Schlußkapitel zu einer Apologie derjenigen politischen Richtung zu, 
welche in dem bekannten offenen Brief des Ministerpräsidenten von Kör- 
ber an den Abgeordneten Baron Malfatti vom 2. Oct. 1900 ihren 
schärfsten Ausdruck gefunden hat’). 

Diese Beziehung zu den modernen politischen Fragen tritt aber 
auch schon in den einleitenden Betrachtungen zu Tage, und wer 
näher zusieht, findet sie durch das ganze Büchlein zerstreut bald 
versteckter, bald deutlicher hervortreten. 

Würde die Schrift auch äußerlich als eine politische Schrift sich 
geben, dann könnte man darüber im Zweifel sein, ob der Verf. 
seine, vielleicht mehr journalistisch gedachte Publication streng wis- 
senschaftlicher Kritik unterstellt sehen wolle. Aber Titel und 
Schluß”) der Schrift zwingen wohl zu der Annahme‘, daß dem Verf. 
die Absicht vorschwebte, eine geschichtliche Grundlage für die Lö- 
sung der politischen Fragen der Gegenwart zu geben. Wer aber 


1) Vgl. 8. 77, 79. 
2) Vgl. 8. 81. 


48 * 


724 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


derlei will, wer die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Forschungen 
nicht nur einfach hinstellt, sondern die Autorität der Wissenschaft 
in den actuellen politischen Fragen der Gegenwart für oder wider 
in die Wagschale legt, der muß auch allen Anforderungen, welche die 
Wissenschaft an ihre Jünger stellt, gerecht werden und muß wissen- 
schaftliche Kritik sich gefallen lassen, mag die Publication wo immer 
und in was immer für einer Form erscheinen. 

Es ist selbstverständlich, daß ich im folgenden keine Kritik 
üben will an der Politik dieser oder jener Richtung sondern ledig- 
lich an der Arbeit Michael Mayr’s, wie andererseits nicht der Werth 
oder Unwerth der vorliegenden Publication, sondern allgemeinere 
methodische Probleme mich veranlassen, Stellung zu nehmen. Wenn 
in jüngster Zeit in juristischen und historischen Kreisen die Tendenz 
zu Tage tritt, den Ereignissen der letzten Vergangenheit mehr Auf- 
merksamkeit zuzuwenden, um den Zusammenhang zwischen einst und 
jetzt zu ergründen und aus der Geschichte die Lehren zu entnehmen, 
die sie vielleicht in so manchem Falle auch für die Politik der 
Gegenwart abwerfen kann, so muß wohl mit allem Nachdruck her- 
vorgehoben werden, daß die größte Sorgfalt und Genauigkeit, das 
tiefste Eindringen in den Gang und Zusammenhang der Ereignisse und 
möglichst aller Momente die für die Gestaltung der Einzelheiten 
maßgebend sind, sowie eine sorgsame Beurtheilung jedes einschlägigen 
Details aus dem Geiste und in dem Lichte seiner Zeit hiefür die 
unerläßliche Voraussetzung sind. Und wo diese Basis gewonnen ist, 
wird erst recht noch die weitestgehende Vorsicht am Platze sein. 
In nicht allzu vielen Fällen giebt der Rückblick auf die Geschichte 
die bestimmte und concrete Antwort auf die Fragen, welche die Zu- 
kunft stellt; in weitaus den meisten Fällen sind es nur allgemeine 
Lehren, die wir aus der Geschichte ziehen können, und die dem 
Politiker, der die Constellation der Gegenwart erfaßt, Winke geben, 
wie er die Zukunft gestalten soll, und was er für die Zukunft mit 
Aussicht auf Erfolg anstreben kann. 

Die nothwendige Gründlichkeit in den Fundamenten und die er- 
forderliche Sorgfalt in den Schlußfolgerungen fehlt m. E. in der 
Studie Mayr’s; gehen wir im Folgenden auf ihre Besprechung ein, 
so wird sie uns oft in vielen Einzelheiten wie im Ganzen ein Beispiel 
sein, wie man es nicht machen darf. 

Zur Characteristik der Studie sei noch bemerkt, daß sie neben 
vereinzelten neuen Angaben, die sie bietet, im allgemeinen nicht auf 
selbstständiger Forschung beruht, sondern — mehr als man aus der 
Schrift unmittelbar zu ersehen vermag — auf der Literatur, ins- 
besondere der Geschichte Tirols von Egger und der viel eingehen- 


Mayr, Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum italienischen Landesth. 728 


deren und gründlicheren Arbeit von H. J. Bidermann, die Italiäner 
im tirolischen Provinzialverbande, Innsbruck 1874. Bidermann ist 
in ganz besonders weitem Umfange verwertet und auch seine legis- 
lativ-politischen Vorschläge, eine Kreisverfassung zu schaffen, scheinen 
Mayr sehr sympathisch zu sein. Die Arbeit von Durig (Innsbruck 
1864) scheint der Verfasser befremdlicher Weise nicht benützt zu haben. 

Auf die zahlreichen Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten, die 
dem Autor bei seiner eklektischen Arbeit unterlaufen sind, weiter 
einzugehen, fehlt mir nach den oben angegebenen Gesichtspunkten 
der Anlaß. 

Der 1. Abschnitt »Ueberblick« wendet sich gegen den Namen 
Trentino und zeigt in allgemeiner Uebersicht ganz richtig was 
ja längst bekannt ist, daß ein Herrschaftsgebiet Trient, ein politisch 
mehr oder weniger selbstständiges Gebiet, welches sich genau mit 
dem decken würde, was der heutige Sprachgebrauch mit dem Namen 
Trentino bezeichnet, nie existiert hat. Nur ist von Mayr vielleicht 
doch zu wenig auf das Gebiet der alten Grafschaft Trient Rück- 
sicht genommen, deren Grenzen dem heutigen Wälschtirol mehr 
entsprechen. Auch Napoleon >war es nicht in den Sinn gekommen, 
in Südtirol nach nationalen Gesichtspunkten zu organisieren, wo es 
seit vielen Jahrhunderten und auch damals galt in erster Linie die 
geographisch-ethnographische Lage und strategische Verhältnisse zu 
berücksichtigen«. 

Wie es mit dieser geographischen und insbesondere der strate- 
gischen Motivierung der Tiroler Grenzen steht, vermag ich nicht zu 
beurtheilen. Dem Laien in militärischen Angelegenheiten drängt sich 
freilich an so manchen Punkten der Tirolischen Grenzen die Ver- 
muthung auf, daß strategisch eine andere Grenzführung hüben und 
drüben bequemer sein müßte, und oft bekommt man sogar einen ge- 
waltigen Eindruck von der Macht der Geschichte, die Grenzen auf- 
stellt, dauernd respectiert und mit großer Gewalt aufrecht erhält 
auch dort, wo sie nicht durch die Gunst der Terrainverhältnisse ge- 
halten werden. Da dieses militärisch-strategische Moment, auf 
welches Mayr S. 66 wieder zurückkommt, in seiner ganzen Argu- 
mentation doch eine gewisse Rolle spielt, wäre es nicht unerwünscht 
gewesen neben der Behauptung auch etwas von einer Begründung 
zu finden. Der oben genannte Hinweis auf Napoleon’s Politik wäre 
wohl dahin zu ergänzen, daß er allerdings die Grenzen seines De- 
partemento dell’ alto Adige ins deutsche Sprachgebiet hineinrückte, 
aber dort eben zu italienisieren beabsichtigte. 

Im übrigen seien Mayr die Bedenken, die er gegen den Aus- 
druck Trentino hegt, zugegeben ; aber folgt daraus, was M. an die 


728 Gut. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


Spitze stellt (8. 4), daß jeder, der die geographischen und ge- 
schichtlichen Verhältnisse kennt, den Ausdruck Trentino im seiner 
modernen Bedeutung als >ganzlich verfehlt< ansehen muß? Muß 
jeder geographische Name in der Vergangenheit begründet sein? 
Sind nie solche Namen als Ausdruck politischer Hoffnungen und 
Aspirationen in die Sprache eingeführt worden? Ist er nicht be- 
zeichnend für jenes Gebiet, dessen Bewohner wenigstens im ihrer 
Mehrheit nicht nach der Landeshauptstadt Innsbruck, sondern eben 
nach dem wälschen Trento gravitieren? Schon daß der Name einmal 
eingeführt, trotz aller historischer, geographischer und staatsrecht- 
licher Anfechtung sich fest und dauernd bewahrt, hätte den Verf. zu 
größerer Vorsicht mahnen sollen. 

Von Einzelheiten dieses Abschnittes berührt eigenthümlich der 
aus älteren Werken kritiklos übernommene Satz (S. 8), welcher 
die Stellung der Bischöfe von Trient und Brixen zu Ende des 
14. Jahrhunderts mit der eines »>Statthalters des Grafen von 
Tirol< vergleicht. Derlei sollte doch in einer staatsrechtlichen Studie 
heute zu tage nicht mehr geboten werden! 

Der II. Abschnitt behandelt »die geschichtlichen Verhältnisse 
bis zur Begründung des Fürstenthums Trient im Jahre 1027«, die 
wechselnden Geschicke seit der Römerzeit herauf, wonach Süden und 
Norden des heutigen Gebietes von Tirol bald der gleichen Herrschaft 
unterstand, bald wieder unter verschiedenen Herren sich befand. 
Die bekannte Verleihung der Grafschaftsrechte an die »Landes- 
bischöfe« 1) von Trient und Brixen, die Konrad U. 1027 verfügte, 
bildet den Uebergang zu dem III. Abschnitte: Die Entstehung der 
Grafschaft Tirol und die Unterordung Trients unter dieselbe bis zum 
Jahre 1363 — im wesentlichen ein Resumé der allgemein bekannten 
Entstehung der Landeshoheit in Tirol bis zur Erwerbung der Hoheits- 
rechte durch Rudolf IV. für das Haus Habsburg, wobei die Trienter 
Verhältnisse naturgemäß in den Vordergrund gestellt sind. Der 
folgende IV. Abschnitt über >»die staatsrechtlichen Beziehungen 
zwischen Tirol und Trient von 1363—1803« schildert dann auf Grund 
der Darlegungen von Egger und Bidermann und unter Verwertung 
der jüngsten, von M. im Gegensatz zu den beiden andern hier auch 
citierten Schrift von Hirn über den Kanzler Bienner, die weitere 


1) Der Ausdruck »Landesbischöfe« den M. hier (S. 14) gebraucht, mag viel- 
leicht in späterer Zeit seine Berechtigung haben, wenn auch gerade in Tirol die 
Zugehörigkeit zum Reiche immer wieder betont wurde; für das elfte Jahrhundert 
ist er aber gänzlich verfehlt. Auch zeugt es von einer befremdlichen Unkennt- 
nis der italienischen Verhältnisse, wenn auf der Seite vorher kühn behauptet wird, 
das Königreich Italien beschränkte sein Gebiet stets nur auf Oberitalien. 


Mayr, Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum italienischen Landesth. 727 


Entwickelung bis zum Jahre 1803. Die vorliegende Uebersicht zeigt 
uns neuerlich, wie durch das Zusammenwirken mannigfacher Faktoren 
die Österreichische Herrschaft in Trient begründet und gefestigt 
worden ist, bis schließlich die völlige Vereinigung Trients mit Tirol 
erfolgte. Auch daß dies nicht ohne mehr oder weniger heftigen 
Widerstand der betheiligten Kreise vor sich gieng, daß vielfach 
separatistische Gelüste der Bischöfe wie der Trienter Bevölkerungs- 
kreise auftauchen, ist dabei hinlänglich markiert. Demgegenüber 
klingt der Schlußsatz des IV. Abschnitts bei M. Mayr ganz ver- 
söhnend und friedlich aus: Ein mehrhundertjähriger Entwickelungs- 
proceß habe 1803 sein naturgemäßes Ende gefunden. Die Bewohner 
jener Bezirke waren zufrieden mit der Lösung der Dinge und die 
Stadt Trient erklärte in einer officiellen Dankadresse: »es habe ihr 
nach so vielen Kriegserlebnissen kein besseres Schicksal zu Theil 
werden können, als mit der österreichischen Monarchie vereinigt zu 
werden«. Eine aufrichtige Geschichtsschreibung dürfte freilich dem- 
gegenüber nicht verschweigen, daß damit mit nichten die Stimmung 
aller Kreise gekennzeichnet ist. Die Volkspartei, der Adel und das 
Domcapitel waren anderer Meinung. M. erwähnt nur jene Momente, 
die in dem Sinne sprechen, der ihm eben willkommen ist; und wenn 
er wirklich den wahren Sachverhalt nicht kannte, so ließ er jeden- 
falls die Vorsicht bei Seite, die wohl jeder Laie gebrauchen würde, 
der aus einer officiellen Kundgebung für so kritische Zeiten einen 
Rückschluß auf die Stimmung weiterer Kreise ziehen wollte. 

Der V. Abschnitt handelt von den übrigen Theilen Welschtirols 
und den mittelbaren Gebieten Trients. Es ist im wesentlichen ein 
Auszug aus Bidermann, dessen Mayr hier zu Eingang des Capitels 
durch einen allgemeinen Verweis namentlich gedenkt; hätte er es 
bei jeder einzelnen Stelle thun wollen, so wäre der Druck mit An- 
merkungen überlastet worden. Die ganzen Detailzusammenstellungen 
z.B. auf S.47 u. 48 sind ein wörtlicher, zum Theil gekürzter Auszug 
aus Bidermann; auch das übrige ist großentheils ihm entnommen. Für 
Fleims ist auf einiges aus den Arbeiten von Sartori verwiesen. 

Der VI. Abschnitt bespricht unter der Ueberschrift: > Verfassung 
und ständische Vertretung< diese Verhältnisse bis zum Beginn des 
19. Jahrhunderts. Er spricht zunächst von den Tiroler Landes- 
ordnungen und Statuten und zeigt, wie die früheren zahlreichen 
localen Rechte im Laufe der Zeit einem einheitlichen Rechte ge- 
wichen sind. Sodann wird von dem Landtage gehandelt. Wie 
Bidermann längst schon viel deutlicher gezeigt hat, wird festgestellt, 
daß auch aus den wälschen Gebieten der Landtag jederzeit beschickt 
worden ist, und daß es eine eigene ständische Vertretung für Süd- 


728 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


tirol niemals gegeben hat, daß sie auch erst in jüngster Zeit, etws 
seit einem halben Jahrhunderte verlangt werde. Sieht man genauer 
zu, so findet man freilich, daß die Trennungsgelüste schon ins Jahr 1790 
zurückreichen, wo die Confinanten eine gerechtere Vertretung auf 
dem Landtage oder die Abtrennung von Tirol verlangten, und die 
Tiroler Stände mehr für das letztere als für das erstere sich erwärm- 
ten (Bidermann S. 180f.). Damit käme dann freilich die von Mayr 
(S. 72) m. E. nicht ganz tendenzlos vorgebrachte Behauptung, die 
Losreißungsbestrebung, die >zur wälschen Frage sich entwickelte«, 
sei sein Kind der Revolution von 1848< in ein anderes Licht. — 
Dann wird auf die Einheitlichkeit der militärischen Einrichtungen und 
der auf der Zuzugsordnung fußenden Besteuerungsordnung hingewiesen 
und andererseits hervorgehoben, daß es Zeiten gab, in welchen »der Adel 
und die Abgeordneten der sogenannten Weinviertel des wohlhaben- 
den deutschen Südtirols mehr und mehr die Oberherrschaft erlangt«, 
aber »nicht selten den Riicksichten der deutschen Etschländer 
das Wohl und die Ehre des ganzen Landes nachgesetzt< wurde 
(S. 64). In manchen wälschen Gebieten nahm man diese Zurück- 
setzung im Landtage ruhig hin und erachtete sich dafür auch aller 
Steuerverpflichtung. überhoben, weil vorwiegend diesen Gebieten die 
ständige Grenzhut zufalle. »Die deutsch-tirolischen Weinviertel 
scheinen diesen Zustand stillschweigend gebilligt zu haben, weil er 
ihr Uebergewicht im Landtage sicher stellte< (S. 65 und 66). Ganz 
kurz wird am Schlusse dieses Abschnittes noch hervorgehoben, daß 
seit dem Bestande der Grafschaft Tirol eine Zweitheilung der ad- 
ministrativen und richterlichen Verwaltung nach mancher Richtung 
geboten erschien. »Diese Zweitheilung in der administrativen und 
richterlichen Verwaltung des einheitlichen Landes hatten die Inter- 
essengegensätze zwischen Süd und Nord empfohlen< (S. 67). Und 
ebenso begegnen wir einer Theilung der landständischen Ausschüsse in 
die »beiden ständischen Activitäten zu Innsbruck und zu Bozen< (S. 59). 

Das Schlußcapitel handelt von Wälschtirol und der Landesver- 
tretung im 19. Jahrhundert. Da berührt es zunächst eigenthümlich, 
wenn eine Studie, die sich als geschichtlich-staatsrechtlich bezeichnet, 
für die Zeit von 1815—1866 immer wieder von einem »Deutschen 
Reiche« spricht, das zufälliger Weise gerade damals weder ge- 
schichtlich noch staatsrechtlich existiert hat. Dann folgen die äußern 
Etappen der südtiroler Frage in kurzen Umrissen: 1848 das Ver- 
langen der Vereinigung des Trentino mit dem damals österreichischen 
lombardisch-venezianischen Königreiche, die Ereignisse der Jahre 
1859—1866, die mehrfach auftauchenden Bestrebungen der Vereini- 
gung Trients mit dem Königreiche Italien u, s. w. die politischen 


Mayr, Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum italienischen Landesth. 729 


Ereignisse bis auf den heutigen Tag. Dabei ist die politische An- 
sicht des Verfassers, die wälsche Frage sei auch heute noch... , 
»weniger eine interne tirolische Angelegenheit als vielmehr eine 
Frage der äußern Politik, mag sie dem Tagespolitiker als solche 
heute auch noch so verschleiert erscheinen< (S. 72). Das »Travailler 
pour le roi d’Italie< bleibt auch fernerhin unausgesprochener Wunsch 
und Losung gewisser politischer Kreise« (S. 73). 

Mehr als dieses politische Bekenntnis, das sich natürlich meiner 
Kritik völlig entzieht, interessieren uns die historischen Thesen, die 
M. Mayr am Schlusse seiner Abhandlung ausspricht. 

So (1.) S. 66. Anm. 1. »Der Verfolg der Geschichte lehrt, daß 
die südlichen Bezirke zu allen Zeiten der Steuerkraft ermangelten . . 
Nach dem Gange der geschichtlichen Entwickelung zu urtheilen, er- 
scheint eine ökonomische Selbstständigkeit und Unabhängigkeit des 
italienischen Südtirols für noch lange Zeit unmöglich, wenn die 
Bedürfnisse der materiellen und geistigen Cultur in einem annähernd 
gleichen Maße wie im 19. Jahrhundert befriedigt werden sollen«. 

Oder (2.) die Erklärung S. 79 mit dem Briefe des Minister- 
präsidenten vom 2. 10. 1900 >und insbesondere mit der im Jahr 1896 
erfolgten Auflösung der Statthaltereiabtheilung in Trient hat die Re- 
gierung eineim Widerspruche mit dergeschichtlichen 
Entwickelung stehende, gegen die bisher festgehaltenen 
Grundlagen des Staates verstoßende Schwäche in politisch - admini- 
strativer Beziehung gut gemacht«. 

Und endlich die Schlußausführungen S. 80ff. mit den Thesen: 
(3) >In der langen geschichtlichen Entwickelung der politischen Be- 
ziehungen zwischen Deutsch- und Wälschtirol stellt sich der letzte, 
nunmehr halbhundertjährige Kampf, welcher bloß durch einen 
traurigen Misbrauch des edlen nationalen Bewußtseins herauf- 
beschworen wurde, als eine kurze Episode dar, die an Bedeutung in 
keiner Weise< früheren Kämpfen »an die Seite gestellt werden kann«. 

(4.) »Die geschichtliche Entwickelung der staatsrechtlichen Ver- 
hältnisse Tirols kann geradezu als ein höchst einfaches Musterbeispiel 
dafür geltene, daß die Geschichte die große Lehrmeisterin in politi- 
schen Dingen sei. 

In welchem Zusammenhang die Einzelausführungen mit diesen 
Thesen über die geschichtliche Entwickelung im ganzen steht, ist 
bei der Knappheit der Darstellung begreiflicher Weise nicht im 
einzelnen angegeben. Man muß aber annehmen, daß die histori- 
schen Darlegungen, welche die vorliegende geschichtlich-staatsrecht- 
liche Studie bietet, auch die geschichtliche Begründung dieser allge- 
meinen historischen Urtheile enthalten sollen, und so ist die Frage 


780 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


gewiß gerechtfertigt und nahegelegt, in wieweit die geschichtliche 
Darstellung jene Begriindung auch wirklich bietet. 

(1) Um das einfachste zunächst zu erledigen, beginne ich mit 
der ersten der obigen Thesen. Daß Südtirol seine Trennung von den 
übrigen Landestheilen heutzutage ökonomisch nicht vertragen könnte, 
wird vielfach von berufenster und wohlmeinendster Seite aufs be- 
stimmteste und vielleicht mit gutem Grunde behauptet. Man kann 
auch glauben, daß M. Mayr irgendwoher weiß, daß es auch früher 
so war, und daß es »nach dem Gange der geschichtlichen Entwicklung 
zu urtheilen< für die nächste Zukunft oder für lange Zeit so bleiben 
werde. Aber in dem Büchlein finden wir nichts als die These, sie 
steht und fällt mit dem Vertrauen, das man der Autorität ihres Ver- 
fassers entgegenbringt, wir finden nicht eine Zeile der Begründung 
in der ganzen Schrift; denn das einzige, was etwa als Versuch einer 
Begründung gedeutet werden könnte, die S. 65 erwähnte Thatsache, 
»daß die Confinanten nicht zahlten und das Hochstift Trient im 
Zahlen äußerst lässig war< besagt nichts. Kann doch das Nichtzahlen 
nicht bloß im Nichtkönnen, sondern ebenso gut auch im Nichtwollen 
seinen Grund haben. Der Hinweis darauf vermag also höchstens 
den Schein einer historischen Begründung zu geben. 

(2.) Auch die zweite Behauptung findet in den historischen Aus- 
führungen ihre Begründung nicht. Im Widerspruche mit der ge 
schichtlichen Entwickelung und den bisher festgehaltenen Grund- 
lagen des Staates, soll die Errichtung der Statthaltereiabtheilung in 
Trient und der Kreis von politischen Aspirationen gestanden haben, 
welche im letzten Jahr seitens der Regierung abgelehnt worden sind. 
Freilich einen Schein einer geschichtlichen Begründung enthält die 
Mayr’sche Studie auch hier. Er gelangt dazu auf dem Wege, dab 
er jede autonomistische Regung der Gegenwart mit der Losreißung 
des Trentino vom Reiche schlechthin identificiert, jede Unterstützung 
der Autonomie als eine bewußte oder unbewußte Förderung einer 
hoch- und landesverrätherischen Bewegung betrachtet. Von diesem 
Standpunkte aus, den ja manche theilen, muß man die Bewegung 
zunächst politisch verwerfen, man kann — rein äußerlich genommen 
— vielleicht behaupten, sie stehe im Widerspruche zu der geschicht- 
lichen Entwickelüng, richtiger gesagt zu dem geschichtlich Gewor- 
denen und heute Bestehenden. Sieht man näher zu, dam 
muß man sich sagen, daß für die Beurtheilung des Problems von 
diesem Standpunkte aus der Gang der vorhergehenden geschicht- 
lichen Entwickelung ganz gleichgiltig ist. Wenn man in den Auto 
nomiebestrebungen Landesverrath sieht oder wittert, so ist ihre 
energische Ablehnung naturnothwendige Folge der Grundauffassungen 


Mayr, Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum italienischen Landesth. 781 


über die Selbsterhaltung des modernen Staates. Ganz gleichgiltig, 
wie die territoriale Ausgestaltung sich gebildet hat, wenn sie nur 
einmal besteht, muß sie mit allen Kräften geschützt und erhalten 
werden — sie müßte mit dem Aufgebot aller Macht erhalten werden 
selbst dann, wenn z. B. unter andern Umständen, etwa nach einem 
unmotivirt begonnenen und kühn gelungenen Eroberungszuge die 
innere geschichtliche Entwickelung für eine andere Gestaltung spräche. 
Geschichtliche Begründung braucht’s da sehr wenig oder gar keine, 
darum hat auch Mayr sich so bald zufrieden geben können. 

Aber selbst wenn er Recht hat mit seinem politischen Argwohn, 
den viele theilen, während andere ihn als unbegründet ablehnen, ist 
zu beklagen, daß er seine politische Ansicht für so unbedingt sicher 
begründet und über jeden Zweifel erhaben betrachtete. Hätte er 
es nur als möglich angenommen, daß die modernen Bestrebungen 
nicht mehr wollen, als im Rahmen des bestehenden Staats- 
rechts eine neue, den Betheiligten mehr zusagende, wie viele be- 
haupten, auch zweckmäßigere Organisation ins Leben zu rufen, so hätte 
er jedenfalls tiefere Forschungen zur Begründung seiner Thesen an- 
stellen müssen. Den geschichtlichen Beweis dafür, daß die s. Z. ge- 
währte Errichtung einer Statthaltereiabtheilung in Trient und so manche 
der vom Landtagscomité in Aussicht genommenen Zugeständnisse im 
Widerspruch mit der geschichtlichen Entwickelung stehen, hätte M. 
doch erst dann erbracht, wenn er das Problem der internen Organisa- 
tion im Rahmen der bestehenden staatlichen Rechtsordnung einer sorg- 
fältigen Untersuchung unterzogen hätte und dann zu einem negativen 
- Ergebnisse gelangt wäre. Statt all dem führt uns Mayr’s Zu- 
sammenstellung nichts anderes vor als die Thatsache, daß das ganze 
heutige Tirol staatsrechtlich zu einer Einheit sich zusammenschloß, 
und daß eine innere Gliederung, gerade so wie sie jetzt verlangt 
wird, in früheren Zeiten nicht bestand. »Zielbewufte Bemühungen 
von Jahrhunderten<, so schreibt M. als Ergebnis seiner geschicht- 
lichen Ausführungen S. 66, »hatten die durch die Natur selbst vor- 
gezeichnete Abrundung Tirols und eine den natürlichen Verhältnissen 
entsprechende militärisch haltbare Grenze geschaffen. In logischer 
Folgerichtigkeit war daraus auch eine staatlich durchaus einheitliche 
Provinz entstanden<. Hier erreicht seine geschichtliche Darstellung 
der Unificierung Tirols wohl den Höhepunkt und an dieser Stelle 
muß Mayr zugeben, daß strotzdem«, wie er sich in eigenthüm- 
licher Weise ausdrückt, »die natürliche Bodengestaltung und die da- 
von bedingten culturellen Verhältnisse eine Zweitheilung der ad- 
ministrativen und richterlichen Verwaltung nach mancher Richtung« 
gebot. Als Grenze giebt er zunächst den Brenner an, als die natür- 


182 Gött. gel. Anz 1901. Nr. 9.. 


liche Wasserscheide und deshalb meint er wohl auch, könne em 
selbständiges Trentino »wie die Geschichte klar beweist«, nicht vor 
Bozen sondern erst am Brenner Halt machen (S. 81); für den Wir- 
kungskreis des Landeshauptmannes macht Mayr fürs 15. Jh. eine süd- 
licher gelegene Grenzlinie wahrscheinlich, für das adelige Hofrecht von 
Bozen sei sie gewiß (S. 67). Die Grenzlinien für die beiden ständischen 
Activitäten, deren Existenz er wohl angibt, hat er nicht gezeichnet. 
In dem großen Complex von Fragen, die hier und in dem ständischen 
Probleme sich beisammen finden, wäre m. E. der Punkt gelegen, in der 
die historische Forschung hätte einsetzen müssen, um die geschicht- 
liche Grundlage des heutigen Autonomieprojectes zu bieten. Ein- 
gehend hätten die Motive und Gründe für die jeweilige Stellung- 
nahme der Stände, die culturellen Verhältnisse und Bedürfnisse unter- 
‚sucht werden müssen, welche eine Gliederung der Verwaltung in 
diesem oder jenem Sinne oder wieder Aenderungen des Bestehenden 
verursachten. Und vielleicht hätte sich dann zeigen lassen, welche 
Veränderungen in den culturellen und wirthschaftlichen Bedürfnissen 
das 19. Jahrhundert ins Land gebracht, das mit der starken Be- 
tonung der Nationalitäten und dem Verlangen nach nationaler Ab- 
grenzung hier Segen und Fortschritt spendend, dort Kampf und Un- 
heil bringend ganz Europa auf andere Grundlagen gestellt hat. 
Aber dafür wären freilich mühevolle, auf den Quellen fußende Stu- 
dien erforderlich gewesen, die dann der Geschichtsforschung zweifel- 
los Gewinn gebracht hätten. Vielleicht wäre es auch gelungen, zu 
politisch beachtenswerthen Ergebnissen vorzuschreiten, wenn diese 
historische Untersuchung es vermocht hätte die Fäden aufzuweisen, 
welche die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpfen, und das 
Gebiet abzugrenzen, auf welchem eine historische Continuität sich 
wahren läßt. 

Zu welchem Ergebnisse sie im Einzelnen gelangt wären, läßt 
sich natürlich nicht a priori bestimmen; aber daß sie bis zu Ende 
durchgeführt sein müßten, ehe der Geschichtsforscher sagen darf, 
diese oder jene neuere Detailmaßregel stehe im Einklang oder im 
Widerspruch mit der geschichtlichen Entwickelung, ist für den ge 
wissenhaften Historiker außer Zweifel. Bei Mayr findet sich nicht 
der leiseste Versuch einer derartigen Forschung, nur die These 
Man darf wohl sagen, daß M. die ganze geschichtliche Begründung 
schuldig geblieben ist‘). 


1) Auch der S. 79 hingestellte Satz, wonach mit der Errichtung einer Stat: 
haltereiabtheilung in Trient »die Regierung selbst wenigstens indirect den Be 
stand des gegen die Staats- und Landesinteressen verstoßenden nationalen Trer 
tino anerkannte ... hätte, findet in der Schrift Mayrs keine Begründung. 


Mayr, Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum itatienischen Landesth. 738 


(3.) Das gleiche gilt auch von der dritten der oben herausgegriffe- 
nen 'Ihesen; daß der gegenwärtige halbhundertjährige Kampf um die 
Autonomie in der langen geschichtlichen Entwickelung eine kurze 
Episode sei, die an Bedeutung älteren Kämpfen nicht an die Seite 
gestellt werden kann. Hier wissen wir vor allem nicht, und das 
kann diesmal auch Mayr nicht wissen, wie lange der Kampf noch 
währt, welche Formen und welchen Umfang er noch annimmt und 
zu welchen Ergebnissen er hinführt. Was bei M. diese These be- 
gründet, ist einerseits die ja unbestreitbare Thatsache, daß es in 
Tirol Kämpfe gegeben, die länger als ein halbes Jahrhundert währ- 
ten, und andererseits daß er, Mayr, glaubt, der Kampf um die Auto- 
nomie werde nicht mehr lange dauern. Auch dann, wenn er mit 
dieser Ansicht recht behielte — es wäre zu wünschen —, liegt darin 
eine historische Begründung seiner These nicht. — 

So führt die Kritik der Mayrschen Studie zu dem Ergebnisse, 
daß darin eine Reihe von geschichtlichen Thatsachen mit größerer 
oder geringerer Sorgfalt zusammengestellt ist, und sich daran ge- 
schichtliche Urtheile über die Gegenwart und ihre politischen Be- 
wegungen anreihen. Aber der Connex zwischen beiden, den jeder- 
mann erwarten muß, besteht nicht. Die Thatsachen, die aufgeführt 
werden, enthalten nicht die geschichtliche Begründung der Thesen, 
von denen man vermeinen möchte und der Fernerstehende wohl an- 
nehmen muß, sie seien aus jenen abgeleitet; das historische 
Thatsachenmaterialist nur Staffage für Thesen, die 
anderwärts ihre Begründung haben. Selbst wenn sie im 
Innern des Autors eine geschichtliche Begründung finden, — was 
bei einzelnen möglich ist, wie bei 1, bei andern wenig wahrscheinlich 
oder unmöglich, wie bei 2 oder 3 — kann gegen einderartiges 
Vorgehen nicht entschieden genug Einspruch erhoben 
werden. 

(4) Es erübrigt noch mit wenigen Worten der 4. der obigen Aeuße- 
rungen Mayrs zu gedenken. Wenn er meint, die staatsrechtliche 
Entwickelung Tirols gebe ein Musterbeispiel dafür, daß die Geschichte 
die Lehrmeisterin in politischen Dingen sei, so war es wohl kein 
allzu glücklicher Griff, daß er dies gerade für die nationale Frage 
der Gegenwart zeigen wollte. Das nationale Problem, wie es das 
letzte Jahrhundert und die Gegenwart beherrscht, hat in der Ge- 
schichte kein Analogon. Will man fiir politische Fragen, die von 
ihm beherrscht sind, in der Geschichte einen Anhaltspunkt finden, 
dann wird doppelt und dreifach Vorsicht und Sorgfalt am Platze 
sein. In manchen, vielleicht in gar vielen Dingen wird bei aller 
Mühe die Geschichte uns keine Antwort geben. Für andere wird 


734 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


ja Adolf Exners Wort zutreffen, daß die Geschichte uns lehrt, »>aus 
welchen Kräften eine heutige politische Thatsache entsprungen, 
welche Natur und Macht ihr daher eigen ist, und welcher Verlauf 
von ihr zu gewärtigen ist«. Dann mag die Geschichte als große 
Lehrmeisterin in politischen Dingen sich auch hier bewähren. Aber 
dafür benöthigten wir unter allen Umständen und gerade hier wohl 
noch mehr als anderwärts — um Mayrs Worte zu gebrauchen — 
‚jenes tiefere Maß politischer Bildung, welches nur die gründliche 
Kenntnis der eigenen Staatsgeschichte zu vermitteln vermag<, jenes 
genaue Beherrschen der großen Zusammenhänge wie der Einzel- 
heiten und das Eingehen auf alle Seiten der entscheidenden ge- 
schichtlichen Probleme, — lauter Dinge, die wir gerade in Mayrs Studie 
so vielfach schmerzlich vermissen. 


Wien, September 1901. Schwind. 


Meyer, Leo, Handbuch der Griechischen Etymologie. Zweiter Band. 
Wörter mit dem Anlaut ı, a, &, 0:1; v, av, ev, ov; x (auch £), = (auch ¥), r. 
Leipzig, Verlag von S. Hirzel. 1901. 859 Seiten in GroBoctav. 

Wie Herr 8. Hirzel bestimmt in Aussicht gestellt hatte, ist im 
dankenswerthester Weise der Druck unseres Handbuchs sehr rasch 
fortgeschritten. Während der erste Band im Anfang des März aus 
gegeben worden, ist ihm nun — im September — schon der zweite 
Band nachgefolgt. Der erste umfaßt die Wörter mit dem Anlaut a, 
&, 0, 7, @, im zweiten werden die vocalisch anlautenden Wörter zum 
Abschluß gebracht, es werden nämlich noch die mit dem Anlaut , 
a, &, of und die mit dem Anlaut v, av, ev, ov zusammengestellt 
und ihnen schließen sich noch von consonantisch anlautenden die ver- 
hältnismäßig vielen mit dem Anlaut x (auch § = xo), x (auch y = 26) 
und z an. Der dritte Band wird die Wörter mit anlautenden 7, f 
und 6, welchen letzteren die mit anlautendem & sich unmittelbar an- 
schließen, und die mit y, $ und 9 anlautenden bringen, während 
der vierte und letzte Band die Wörter mit anlautendem Zischlaut, 
darnach die mit den Nasalen v und u anlautenden und zuletzt die 
mit e und A anlautendem enthalten wird. 

Die gewählte Buchstabenfolge, die vielleicht für manchen Be 
nutzer des Handbuchs einige Unbequemlichkeiten haben wird, doch 
der Ordnung des buntzusammengeworfenen gewöhnlichen griechische 


Meyer , Handbuch der Griechischen Etymologie. Zweiter Band. 735 


Alphabets weit vorzuziehen sein dürfte, ist auch für das Innere der 
Wörter maßgebend gewesen. Dabei ist aber noch zu bemerken, daß 
bei den Wörtern mit anlautender einfacher Consonanz zunächst nicht 
der nachbarliche Vocal, sondern der je folgende Consonant berück- 
sichtigt worden ist, wonach also zum Beispiel wéreofar »fliegen« 
(Seite 500) und auch zardéeoda: »fliegen« (Seite 506) früher ihre 
Stelle gefunden haben, als wéyy »Falle, Schlinge« (Seite 525) und 
teyog- »Dach«, »Zimmerc, >»Haus<« (Seite 750) früher als rayv-g 
»schnell< (Seite 753), oder zum Beispiel xdopo-¢ »Ordnung«, »Schmuck«, 
»Weltordnung, Welt« (Seite 293) früher als xavayıi »Geräusch, 
Klang« (Seite 306). 

Von den inlautenden Consonantenverbindungen sind jedesmal 
zuerst die consonantischen Verdoppelungen aufgeführt und darnach 
erst die übrigen, also zum Beispiel x«vv« »Rohr« (Seite 307) früher 
als x&yxavo-s »trocken« (Seite 308), oder zum Beispiel xdAA:-, »schön« 
(Seite 422) früher als xaAzıd- »Krug« (423) oder rdggoo-¢ » Helfer, 
Beistand< (Seite 788) früher als r&pßos-, »Schrecknißl, Schrecken< 
(Seite 789) oder xéxxagu-¢ »Kapper«, »Kappernstrauch« (Seite 245) 
früher als xanv6d-s »Rauch« (Seite 245). 

Anlautende Consonantenverbindungen sind den Wörtern ange- 
schlossen, in denen die hier verbundenen Consonanten noch durch 
zwischenstehenden Vocal getrennt sind. So reiht sich xr- (xrdeosdeı 
‚erwerben«) an xvrrago-¢ »Wölbung, Höhlung« (Seite 261), xo- = E- 
(£av- »Wolle kratzen, Wolle bearbeiten<) an xaücrı-s »weibliches 
Glied« (Seite 298), xv- (xvap- »Wolle aufkratzen, zerren< (Seite 327) 
an xadvo-¢ »Loos« (Seite 326), xu- (xuEAedgo-v »Balken<) an xuußn 
»Kahn«, »Becher« (Seite 349), xg- (xp&- »mischen<) an xovevio-s, 
ein in Sümpfen lebendes Thier (Seite 387), xd- (xAdecy »zerbrechen«) 
an xovAvßdreıa, Name einer Pflanze (Seite 447); — ferner ar- 
(xrox- »ängstlich niederducken, sich ängstigen«) an zürivn »Korb- 
flasche« (Seite 509), z6- = Y- (yaxdd-, »Tropfen, Getröpfel«) an 
ove »Fuß« (Seite 552), wv- (mvesıv »wehen, hauchen, athmen<) an 
avvddveohe: »erfahren, erforschen< (Seite 585), xp- (xed > verkaufen« 
Seite 629) an zxatdgo-¢ >»gering, wenig< (Seite 628), mA- (xAdx- 
»Fläche« Seite 689) an avdn »Thor« (Seite 688), endlich ru- (rur- 
»schneiden«) an revpdeoiae »bereiten« (Seite 786), re- (cea »durch- 
bohren«) an taveo-¢ >Stier« (Seite 803), rA- (TAn- >aushalten, er- 
tragen<) an rvAAo-g »Behältniß, Kiste« (Seite 858). 

Es mag hier sonst noch angeführt sein, was zum Theil auch 
schon in der Besprechung des ersten Bandes unseres Handbuchs (in 
diesen Anzeigen von Seite 325 bis 329) ausgesprochen worden ist, 
daß jedem griechischen Wort, das seine besondere Stelle gefunden, 


736 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


Belegstellen — wo das Bedürfnis sich geltend gemacht, auch in 
größerer Anzahl — angefügt worden sind, da sie meist viel besser, 
als alle etwaigen Umschreibungen die besonderen Nüancirungen eines 
Wortes ins Licht stellen. Auf die möglichst genaue Wiedergabe 
der Bedeutung aller aufgeführten Wörter, darf betont werden, ist 
immer ein besonderes Gewicht gelegt, da nur so ein wirklich ge- 
sichertes Eindringen in die Geschichte der Wörter, die bei aller 
etymologischen Wortforschung doch allezeit die Hauptsache bleibt, 
möglich ist. Keineswegs aber soll damit gesagt sein, daß die Form 
der Wörter irgendwie vernachlässigt werden dürfe. Viel weniger 
allerdings legen wir dabei Gewicht auf die neuerdings so beliebten 
sogenannten lautphysiologischen Betrachtungen. Bei aller Form- 
abwägung ist immer das Hauptgewicht auf Analogien, auf Anführung 
ähnlicher Bildungen gelegt, da in solchen auch alle lebendige Sprache 
immer ihren Haupthalt findet. 

In Bezug auf das besondere Gewicht, das überall auf die Be- 
deutung der Wörter gelegt wird, mag noch einmal dem Gedanken 
Ausdruck gegeben werden, daß im Grunde eigentlich als nothwendig 
sich herausstellt, den einzelnen Wörtern, sei es den Namen von Thie- 
ren oder von Pflanzen oder von sonstigen in die Augen fallenden 
Gegenständen, bildliche Darstellungen hinzuzufügen. Wie will man die 
Etymologie der Wörter der angegebenen Art zu vermitteln versuchen 
wollen, wo man keine vollständig klare Anschaung von ihnen hat? 

Die Anführung von Belegstellen aus der lebendigen Litteratur 
ist übrigens außer für die Haupt- oder sogenannten Stichwörter auch 
als Regel genommen für die Wörter, die als deutlich nächstver- 
wandte sogleich zu seinen Haupt- und Stichwörtern gestellt und 
nicht als selbstständige Artikel aufgeführt sind. In Bezug auf sie 
ist übrigens kein festeres Gesetz aufgestellt, sondern es ist mehr 
der Bequemlichkeit Raum gegeben. 

Wie übrigens für alle griechischen Wörter, so ist die Anführung 
von mehr oder weniger Belegstellen auch für die lateinischen Wör- 
ter zur Regel gemacht, so wie ferner für die gothischen und auch 
die altindischen. Die letzteren sind so gut wie ausschließlich dem 
Rigvédas entnommen. Die einzelnen Wörter sind dabei in ihrer ety- 
mologischen Form gegeben ohne Rücksichtnahme auf die sogenannte 
Sandhis, bei der jeder Wortschluß durch den Anlaut des je folgen- 
den Wortes beeinflußt wird, von der man schwerlich glauben kann, 
daß sie in alter wirklich lebendiger Sprache die allgemeine Regel 
gebildet habe. Was an einzelnen altindischen Belegstellen sonst 
noch hie und da angeführt wird, ist einfach dem vortrefllichen Böhtlingk- 
Rothschen Wörterbuch entnommen. 


Meyer, Handbuch der Griechischen Etymologie. Zweiter Band. 737 


Die lateinischen Belegstellen sind mit Vorliebe den alten Drama- 
tikern, dem Ennius, Lucrez, mehrfach auch den Bruchstiicken des 
Zwolftafelgesetzes entnommen, das, von ganz geringen inschriftlichen 
Resten vielleicht abgesehen, im Allgemeinen doch als ältestes latei- 
nisches Sprachdenkmal zu gelten hat. Bedenklich ist dabei aller- 
dings die ungenaue Ueberlieferung der meisten Wortformen, höchst 
wichtig aber doch immer der Wortschatz an und für sich, wie wenn 
zum Beispiel das Wort hostis im Zwölftafelgesetz noch in der Be- 
deutung »der Fremde« gebraucht wird. Was die Anführung der 
Nominalgrundformen anbetrifft, so mag noch bemerkt sein, daß die- 
jenigen auf o einfach mit Zufügung des nominativischen s (domino-s) 
oder des ungeschlechtigen Kennzeichens (övo-m), also in vorclassi- 
scher Form aufgestellt werden, um die Unbequemlichkeit von Aus- 
drucksweisen wie dominus, Grundform domino-, und ähnlichen zu ver- 
meiden. 

Was die zur Vergleichung hier angezogenen Wörter des Kelti- 
schen, des Littauischen und Slavischen, des Albanesischen, des Alt- 
persischen und Armenischen anbetrifft, so sind sie fast ausschließlich 
bekannten Hand- und Wörterbüchern entnommen. Eine noch an- 
führenswerthe Ausnahme davon macht aber das Armenische, in des- 
sen Gebiet mir längere Zeit vergönnt war mit einem jüngeren ar- 
menischen Freunde, Herrn Parsadan Ter-Mowssessjanz, zu arbeiten, 
der mehrere Jahre in Dorpat studiert und als tüchtiger Philologe 
sich hervorgethan, dort auch den akademischen Preis für eine werth- 
volle philologische Arbeit gewonnen hat. In diesem Verkehr war 
mir von besonderem Werth, in neuerer Zeit aus besonderen Winkeln 
ans Licht geholte kleinere epische Gedichte kennen zu lernen, da 
sonst die Behauptung aufgestellt zu werden pflegt, daß die armeni- 
sche Litteratur vollständig der Poesie entbehre. Sie sei vielmehr in 
sehr reichem Maafe vorhanden gewesen, versichert Parsadan, durch 
die Geistlichkeit aber so gut wie vollständig vernichtet. 

Was die Wiedergabe der armenischen Schrift durch lateinische 
Schriftzeichen anbetrifit, so schließt sich unsere Art im Wesentlichen 
an Ewald, bei dem ich vor Jahren eine sehr werthvolle Vorlesung 
über Armenisch gehört. Sie bleibt immer ansprechender, als eine 
mit griechischen Schriftzeichen und sonstigen Unbequemlichkeiten 
durchsetzte Schrift, die fast eben so schwierig zu erlernen ist, als 
die Armenische Schrift selbst. Auch für das Littauische und Alba- 
nesische sind ein paar kleine Neuerungen eingeführt, die einem Je- 
den, der die betreffenden Sprachen kennt, sehr leicht verständlich sein 
werden, für diejenigen aber, die sie nicht beherrschen, der richtigen 

Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 9. 49 


738 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


Aussprache, die mit Schriftzeichen vollständig genau wieder zu 
geben doch nie gelingen kann, doch immerhin recht nahe kommen. 


Leo Meyer. 





König, E., Hebräisch und Semitisch. Prolegomena und Grundlinien einer 
Geschichte der semitischen Sprachen nebst einem Exkurs über die vorjosuani- 
sche Sprache Israels und die Pentateuchquelle PC. Berlin, Reuther u. Reichard 
1901. VII 128 S. Preis 4 Mk. 


Ewald sagt am Schluß seiner Abhandlung über die geschicht- 
liche Folge der semitischen Sprachen (1871), man solle doch einmal 
mit der Vorstellung, das Arabische sei die älteste semitische Sprache, 
Ernst zu machen und sie durch Alles zu erweisen versuchen: vom 
Aramäischen ganz abgesehen, würde man nicht einmal bis zum 
Aethiopischen, noch weniger bis zum Hebräischen herabsteigen, ja 
nicht einmal die zwei im Arabischen selbst über einander liegenden 
Sprachschichten verstehen können. Diesen von Ewald geforderten 
Versuch will König unternehmen. Er hofft, »gezeigt zu haben, daß 
nicht nur das Verhältnis des Altarabischen zum Neuarabischen, son- 
dern auch das Verhältnis des Altarabischen zum Aethiopischen und 
zu den anderen alten Ausprägungen des Semitischen als Erscheinun- 
gen erwiesen worden sind, die in der historisch beglaubigten Sprach- 
entwicklung ihre Parallelen haben und wohl zu verstehen sind«. 
Mit Verhältnis wirder Prioritätsverhältnis meinen, wenn 
er überhaupt etwas sagen will. 

Er beginnt im ersten Kapitel mit vorbereitenden Erörterungen 
über den Ursprung der Sprache, wobei er sich mit Plato Philo 
Haeckel Wundt und Anderen auseinandersetzt. Die Sprache sei 
dem Menschen weder offenbart oder anerschaffen, noch von ihm aus- 
gedacht; sie sei vielmehr eine unbewußte Gesamtwirkung seiner 
spezifisch körperlich-geistigen Beanlagung. »Dieses Urtheil habe ich 
auch schon in meinen früheren Veröffentlichungen abgegeben<. Die 
schwierigste Frage betreffe aber die Verbindung zwischen den zu 
bezeichnenden Erscheinungen und den Bezeichnungen, die Brücke, 
die von den wahrgenommenen Phänomenen zu den entsprechenden 
sprachlichen Aeußerungen führte. Der eine Pfeiler dieser Brücke 
sei die Aehnlichkeit von Lauten, die einerseits von einer wahrge- 
nommenen Größe ausgingen und andererseits dem Sprachorgan des 
Menschen entschlüpften: Kuckuk und Uhu. Ein zweiter Pfeiler sei 


König, Hebräisch und Semitisch. 789 


eine gewisse Korrespondenz zwischen der Beschaffenheit einer Klasse 
körperlich-geistiger Zustände und zwischen der Tiefe und Höhe der 
Eigentöne von Vokalen: die Empfindung des Druckes entspreche dem 
Vokal vu, daher die Wahl desselben zum Ausdruck des Passivum. 
Ein dritter Pfeiler sei der Parallelismus zwischen der Stärke einer 
Thätigkeit oder Empfindung und dem Grade der Anspannung der 
Sprechmuskeln : gagg abhauen, gass abscheeren. Noch weitere solche 
Pfeiler zählt König auf; er meint, daß seine Sätze, die vor der 
Lektüre von Wundts Völkerpsychologie niedergeschrieben seien, den 
Werdegang der Sprache besser beleuchten könnten, als was jener 
gesagt habe. 

Die geistleibliche Errungenschaft, als welche die Sprache des 
Menschen sich demnach darstelle, habe aber ohne dessen explicites 
Bewußtsein und jedenfalls ohne seine reflectierte Absicht das Licht 
der Welt erblickt und viele Stadien ihrer Existenz durchschritten. 
Die unbewußte (organische oder sprunglose) Sprachbildung bestehe 
ja jetzt noch in dem Weiterschreiten der Volksdialekte, bei den 
Menschen, die der grammatischen Theorie entbehren. Aber wenn 
dies auch feststehe, so gebe es doch noch manche unerledigte Fra- 
gen. Am interessantesten erscheine die folgende: schreitet eine 
Sprache von Vollklang und Reinheit der Laute zu Dürftigkeit und 
Trübung, von Reichthum an organischen Formen zu idealer Gleich- 
giltigkeit dagegen weiter, oder bewegt sie sich in umgekehrter Rich- 
tung? Ein Vorurtheil zu gunsten der ersten Annahme sucht König 
zu erwecken durch eine kurze Vergleichung der historisch feststehen- 
den Entwicklungsstufen einiger indogermanischer Sprachen. Es er- 
gebe sich dabei, daß die Veränderungen der Sprache keiner positi- 
ven, sondern nur einer negativen Thätigkeit des Denkens entsprungen 
seien, nämlich der Neigung des Sprachapparats, einen weniger mühe- 
vollen Gebrauch der sprachlichen Ausdrucksmittel herbeizuführen !). 

Diese Grundtendenz der Entwicklung soll nun im zweiten Ka- 
pitel für das Semitische nachgewiesen werden, zunächst bei verschie- 
denen Phasen eines und desselben Dialekts, deren historische Auf- 
einanderfolge fest steht. Zu dem Zweck werden Alt- und Neuara- 
bisch, Geez und Tigre, Alt- und Neusyrisch, Phönicisch und Punisch, 
Alt- und Neuhebräisch mit einander verglichen, immer mit demselben 
Ergebnis. Damit sind wir vorbereitet für das Hauptproblem: was 
lehrt der gefundene Gesichtspunkt (»der negativen Thätigkeit des 


1) Ich brauche wohl kaum ausdrücklich zu sagen, daß ich hier überall in der 
Sprache Königs, nicht in meiner eigenen, referiere. 
49* 


740 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


sprachlichen Denkens«) für das gegenseitige Verhältnis der älteren 
semitischen Sprachen, welches sich nicht durch literarische Zeng- 
nisse, sondern nur durch innere Gründe ermitteln läßt? König 
kommt nach einer kurzgefaßten Charakteristik der fünf semitischen 
Hauptsprachen zu dem Schluß, daß nach Laut- und Formenbestand 
das Arabische als die relativ unversehrteste Ausprägung des älteren 
Semitisch zu gelten habe. >Ich meine, auf einem neuen Unter- 
suchungsgange zu einer haltbaren Basis für das Urtheil vorgedrungen 
zu sein, daß die altarabische Sprache noch verhältnismäßig die mei- 
sten von den Charakterzügen reflektiert, die dem semitischen Idiom 
seine Eigenart gegenüber anderen Haupttypen der Menschensprache 
verliehen. Infolge dessen bekenne ich mich jetzt noch ruhiger als 
schon früher zu der Ansicht, daß das Altarabische den ursprüng- 
lichen Typus des Semitischen noch relativ vollständiger bewahrt hat, 
als speziell das Althebräische«. Diese Ansicht, fährt er fort, sei 
zwar im Wesentlichen richtig von einer ziemlichen Reihe von Sprach- 
forschern ausgesprochen worden. Aber immer ohne methodisch durch- 
geführte Begründung, und mit nicht wenigen Uebertreibungen und 
Inkonsequenzen. Dies Urtheil sucht er in einem geschichtlichen Ueber- 
blick zu begründen, worin Schultens und Schröder, Hupfeld, Dietrich 
und Olshausen, Bötticher, Stade und Nöldeke vorgeführt werden, 
Nöldeke natürlich als Altmeister. 

Durch die Bemerkung, der geschichtliche Streifblick auf den 
Stand der Frage habe zugleich gezeigt, daß die Einzelbestimmung 
der historischen Stellung, die das Arabische innerhalb der semiti- 
schen Sprachen einnimmt, noch keineswegs abgeschlossen sei, wird 
der Uebergang zum dritten Kapitel gemacht, welches die Aufschrift 
führt: Negative Untersuchungen über die Geschichte des semitischen 
Sprachstammes und die sprachgeschichtliche Stellung des Hebräi- 
schen. Darin wird das bisher gewonnene allgemeine Resultat zwar 
etwas limitiert, aber doch zugleich gegenüber anderen Anschauungen 
behauptet. Die Frage, ob das Altarabische gradezu den ursemiti- 
schen Typus darstelle, wird aufgeworfen. Als Beitrag zu ihrer 
Beantwortung folgt zunächst eine Discussion darüber, ob das 4 
in der Endung dm und in der Form gaftäl durchaus lang sei wie 
im Arabischen, oder auch kurz sein könne, wie angeblich bisweilen 
im Hebräischen. König entscheidet sich dafür, daß Länge und Kürze 
in diesem Falle gleich berechtigt neben einander stehen. Er erkennt 
an, daß es gleich ursprüngliche Parallelbildungen im Arabischen und 
im Hebräischen gebe, und nicht allein das, sondern auch, daß das 
Arabische in einigen Punkten gegenüber dieser oder jener Schwester- 


König, Hebräisch und Semitisch. 741 


sprache secundär sei. Im Ganzen hält er aber seine Hauptthese 
aufrecht. Er tritt der Meinung Hommels entgegen, daß das Assyrisch- 
Babylonische dem Ursemitischen am nächsten stehe, indem er zu- 
gleich beanstandet, daß jener dem Assyrisch-Babylonischen das Syro- 
phoeniko-arabische als eine Einheit gegenüberstellt und behauptet, 
die Israeliten hätten bis auf Josua einen rein arabischen Dialekt ge- 
sprochen. Zum Schluß widerlegt er diejenigen, die den Ausgangs- 
punkt der Entwicklung des Semitischen im Hebräischen oder im Ara- 
mäischen suchen, namentlich J. D. Michaelis und Ewald, aber auch 
Vollers, Lagarde und Georg Hoffmann. 

Dies der Inhalt des Buches. Man kann dem Verfasser allerlei 
anstreichen, z. B. daß er die Aussprache dant für älter als bent erklärt, 
daß er kutub von einem Singular Akafab ableitet, daß er das 7 in 
win für den Artikel hält, trotz aram. haw und aram. arab. had'na, 
hadha. Man kann dagegen, daß die Grundtendenz der Sprachent- 
wicklung »negativ« sei, nicht bloß principielle Einwendungen erheben, 
sondern auch faktisch constatieren, daß der scharfen Krystallisation 
ein mehr rudimentärer Zustand vorausgegangen ist, aus dem noch Reste 
(z.B. in der Bildung der Zahlwörter) in die spätere Zeit hineinragen. 
Indessen in der Sonderbarkeit seiner Behauptungen liegt die Schwäche 
Königs nicht; er rennt nicht mit dem Kopf durch die Wand, sondern 
lieber durch offene Thüren. Was er uns auftischt, ist eine breite 
Bettelsuppe. Seine Philosophie und seine Methode läuft auf ein 
weitschweifiges Gerede hinaus, er bewegt sich in unerträglichen Tau- 
tologien, dabei steht er in seiner Art sich auszudrücken mit der Logik 
und der deutschen Muttersprache auf gleich gespanntem Fuße. Seine 
Originalität besteht darin, daß er mit Nachdruck und innerer 
Befriedigung, im Tone überlegenen Sachverständnisses, Trivialitäten 
als seine Entdeckungen vorträgt. Auf die Sachen, um die es sich 
eigentlich handelt, geht er nur eklektisch und desultorisch ein; hie 
und da, bei passender und unpassender Gelegenheit, bringt er diese 
oder jene Kleinigkeit zur Sprache. In der Widerlegung von An- 
sichten, die keine Widerlegung verdienen, ist er groß, während er 
an den wichtigsten Dingen vorbeigeht. Bei der Conjugation der 
schwachen Verba ist im Arabischen das triliterale Schema des star- 
ken Verbs viel consequenter durchgeführt als im Hebräischen , ist 
das ein Zeichen größerer Ursprünglichkeit oder nicht? Wenn eine 
Frage für die vergleichende Grammatik der semitischen Sprache 
wichtig ist, so ist es diese: König berührt sie gar nicht. Aehnlich 
wichtige Fragen beim Nomen sind das Verhältnis des arabischen 
Genitivs zum allgemeinsemitischen Status constructus und das des 


742 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


arabischen Akkusativs zum hebräischen He locale: König übergeht 
sie mit Stillschweigen, die Ursprünglichkeit der arabischen Casus- 
bildung ist ihm ein feststehendes Dogma. Was ist aber daran ge- 
legen, daß er seine dogmatischen Vota abgibt und uns methodolo- 
gische Lichter aufsteckt ? 


Göttingen, 3. Oktober 1900. Wellhausen. 


Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich. Jahrgang III’. Stadimayr, Joh, 
Hymnen. 1. Theil, herausgegeben von Joh. Evang. Habert. VII u. 39. fi 2 
= M. 3,50. 

Jahrgang V!, Isaac, MHeinr., Choralis Constantinus, liber 1, heraus- 
gegeben von E. Bezency und W. Rabl, XVIIu. 268; fl 12 = M. 20. 

Jahrgang VI!, Hand! (Gallus) Jacob, Opus musicum, 1. Theil, heraus- 
gegeben von E. Bezency und J. Mantuani; XXXII u. 183; fl. 10,80 
= M. 18. 

Jahrgang VII, Sechs Trienter Codices, Geistliche und weltliche 
Compositionen des XV. Jahrhunderts, 1. Auswahl, bearbeitet von G. Adler 
und O. Koller, XXXV und 298, K. 30 = M. 285. 

Jahrgang VIII, Hammerschmidt, Andreas, Dialogi oder Gespräche 
einer gläubigen Seele mit Gott; 1. Theil, bearbeitet von A. W. Schmidt, 
XVII u 166; K. 18 = M. 15. 


Bei der Besprechung der in der Ueberschrift genannten Publi- 
cationen will ich mich nicht an die Folge der Jahrgänge, sondern 
an die zeitliche Folge der in ihnen enthaltenen Werke anschließen 
und somit den siebenten Band an die Spitze stellen. 

Es handelt sich in diesem um die zumeist erstmalige Ver- 
öffentlichung von etwa 80 mehrstimmigen Vocalcompositionen aus der 
ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, also aus einer Periode, von deren 
Producten bisher nur ganz vereinzelte Proben bekannt waren. Diese 
Werke sind sechs Sammelbänden entnommen, die ursprünglich dem 
Trienter Domcapitel gehörten und 1891 auf Betreiben des um die 
Geschichte der Musik so hochverdienten F. A. Haberl von der öster- 
reichischen Regierung zum Zweck der Bearbeitung angekauft worden 
sind. Nach den Untersuchungen der Herausgeber, der Herren Guido 
Adler und Oswald Koller, zerfällt die in den Codices zusammenge- 
faßte große Sammlung von nahezu 1600 Nummern in drei Gruppen. 
Die Werke der ersten Gruppe sind zwischen 1420 und 1440 ent- 
standen und von einem sonst nicht bekannten Puntschucher um 1440 


Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich. 748 


in Oberitalien niedergeschrieben ; die Werke der zweiten Gruppe 
sind zwischen 1444 und 1465 von einem Johann Wiser (vermuthlich 
Mitglied der bischöflichen Capelle in Trient) gesammelt und nieder- 
geschrieben, diejenigen der dritten Gruppe zwischen 1460 und 1480 
von einem unbekannten Schreiber. 

Was die Art der in den sechs Codices enthaltenen Compositionen 
anbetrifit, so ist sie äußerst mannigfaltig. Eine große Rolle spielen 
begreiflicher Weise lateinische liturgische Stücke, darunter voll- 
ständige Messen. Daneben findet sich aber eine bedeutende Zahl 
freier kirchlicher und auch weltlicher Compositionen über Texte in 
lateinischer, italienischer, französischer, deutscher Sprache. Drei- 
stimmigkeit und Vierstimmigkeit überwiegt. Die Mitwirkung von 
Instrumenten ist im allgemeinen ausgeschlossen. 

Die Componisten der fraglichen Stücke gehören Italien, Frank- 
reich, Deutschland, England und den Niederlanden an. Neben be- 
rühmten Namen, Häuptern einer weitverbreiteten Schule, wie ins- 
besondere Dufay von Cambrai, finden sich sonst nicht bekannte, die 
vielleicht Localgrößen angehörten. In jedem Falle ist es erstaun- 
lich, daß es zu einer Zeit, wo der Verkehr von Land zu Land wahr- 
lich nicht leicht war, überhaupt möglich gewesen ist, ein Sammel- 
werk von solchem Umfang und solcher Mannigfaltigkeit herzustellen. 

Der vorliegende Band beginnt mit einer ausführlichen histori- 
schen Einleitung der Bearbeiter, die von neun Facsimile-Repro- 
ductionen verschiedener characteristischer Blätter beschlossen wird. 
Dieser folgt ein thematischer Catalog der sämmtlichen 1585 Com- 
positionen der sechs Trienter Codices und der Abdruck von circa 
80 vollständigen Werken. Den Schluß bildet ein Revisionsbericht, 
in dem namentlich auch über andere Vorlagen für die gedruckten 
Compositonen berichtet wird. 

Die Musikstücke selbst, auf die sich natürlich das Interesse in 
erster Linie richtet, sind sorgsam in Partitur gesetzt, mit Text- 
eintheilung und genauer Textunterlegung (die im Original ganz un- 
vollständig ist) versehen. Für den Forscher ist somit trefflich vor- 
gearbeitet; weniger dagegen für den practischen Musiker. Ins- 
besondere wird die Beibehaltung ungewöhnlicher Schlüssel Manche, 
die den Band voll Interesse zur Hand genommen haben, unange- 
nehm berührt haben. Auch wer sich mit Partituren im alten Sopran-, 
Alt-, Tenorschlüssel recht gut abzufinden weiß, ‚wird sich durch die 
nicht selten vorkommenden C-Schlüssel auf der zweiten und fünften, 
F-Schlüssel auf der zweiten, dritten, fünften Linie zumeist empfind- 
lich belästigt fühlen, um so mehr, als ein verständiger Grund für 


744 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


deren Beibehaltung nicht ersichtlich ist. Nachdem durch die Dar- 
stellung in Partitur, mit Textstrichen, mit neuer Textunterlage das 
ursprüngliche Bild, das die Facsimile erkennen lassen, radical ge 
ändert ist, trägt die Beibehaltung der ungewöhnlichen Schlüssel 
zur Erhaltung des Urbildes verschwindend wenig bei. Aber es 
wirkt ermüdend und verstimmend, für kleine Sätzchen von einigen 
Zeilen sich immer wieder an neue Schlüsselcombinationen gewöhnen 
zu müssen, und wenn man so eine Dufay’sche Hymne — Discant 
C-Schlüssel auf der zweiten, Contra und Tenor C-Schlüssel auf der 
fünften Zeile — durchgespielt hat, so empfindet man das Verfahren 
als eine unfreundliche und unnöthige Erschwerung des Studiums. 

Und ein wirkliches Studium verlangen diese Stücke, wenn man 
ihnen gerecht werden will. Selbst wenn man den sehr sachgemäßen 
Rath der Herausgeber befolgt, »die Werke nicht so sehr in verticaler, 
als in horizontaler Richtung zu lesen und zu hören«, die Harmonie 
also mehr als ein zufälliges Ergebnis der Stimmführung, deren 
Gang aber als das Maßgebende aufzufassen , selbst wenn man 
sich zunächst an die von den Herausgebern als relativ eingänglich 
empfohlenen Stücke hält und die spröderen (wie z.B. die Fuga du- 
orum temporum von Dufay, die mit einem steifen Kanon über zwei 
oder drei immer wiederholten Basistönen an der Grenze des Er- 
träglichen liegt) bei Seite läßt, wird man nicht selten anfangs nur 
einen abstoßenden Eindruck empfangen ; namentlich sind die oft 
hölzernen und monotonen Schritte der Basisstimmen schwer zu ver- 
winden. Aber bei näherer Beschäftigung erwacht in den starren 
Gebilden doch ein eigentümliches Leben, und man wünscht wohl das 
eine oder das andere einmal in stimmungsvoller Umgebung, in einer 
dämmerigen Kirche Brunellesco’s, gesungen zu hören. 

Die vorliegenden Werke übrigens mit der bildenden Kunst 
des Quatrocento direct in Parallele zu stellen, wie die Herausgeber 
thun, ist wohl nicht ganz zulässig. Die Tonkunst jener Zeit rang 
doch noch schwer um die Elemente der Technik, die von den bilden- 
den Künsten schon vorher nahezu voll in Besitz genommen war. 
Der Unterschied zwischen dem Quatrocento und dem Cinquecento 
ist in den bildenden Künsten, wie mir scheint, ganz wesentlich ein 
solcher des Schönheitsideales, das in der Tonkunst mit kleinen 
Wandelungen sich auf lange Zeit hin merklich unverändert er- 
halten hat. — 

Es ist ein erheblicher Schritt vorwärts, den gegenüber den 
Compositionen der Trienter Codices der Choralis Constantinus von 
Heinrich Isaac bezeichnet, obgleich seine Abfassung nur etwa 


Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich. 745 


40 Jahre nach derjenigen der letzten Werke der Codices fallt. In 
dieser Zeit hatte die Technik der Stimmfiihrung, dank insbesondere 
den Leistungen der Niederländer, bedeutende Fortschritte gemacht, 
die Harmonie war nicht mehr nur ein zufälliges Ergebnis der Fort- 
schreitung der Stimmen, es beginnt ihre bewußte Empfindung. 

Ueber H. Isaac’s Leben ist wenig bekannt. Neuerdings aufge- 
fundene Documente machen wahrscheinlich, daß er um 1450 in 
Flandern geboren wurde, daß sein ursprünglicher Name Ugon = 
Huyghens gewesen ist, und daß er diesen während seines ersten 
Aufenthaltes in Italien aus unbekannten Gründen mit Isaac ver- 
tauscht hat. Jedenfalls steht seine Anwesenheit in Florenz am Hofe 
des Lorenzo Magnifico um 1480 fest, wohin er als Lehrer der Kinder 
des Fürsten aus Flandern berufen worden war. Später erhielt er 
die Kapellmeisterstelle an der Kirche S. Giovanni, dann am Dom, und 
blieb, mit einer durch einen Aufenthalt in Rom verursachten Unter- 
brechung, in Florenz bis gegen 1494, wo der Sturz der Medici ihn 
forttrieb. Etwa um 1495 trat er als Hofcomponist in den Dienst 
des Kaisers Maximilian des Ersten, war aber durch sein Amt so 
wenig an den Hof des Kaisers gebunden, daß er nachmals mehr in 
Italien, als in Deutschland gelebt zu haben scheint. Seine letzten 
Lebensjahre bis zu seinem 1516 oder 1517 erfolgten Tode dürfte er 
gänzlich in Florenz verbracht haben. 

Nach alledem ist die Beziehung Isaac’s zu Oesterreich keine 
so nahe, wie man nach der Aufnahme eines seiner Werke in die 
Denkmäler vermuthen möchte; auch stammen die Vorlagen für die 
Herausgabe desselben mit Ausnahme einzelner Partien des 3. Thei- 
les durchweg aus dem Auslande. 

Das größte und wahrscheinlich letzte Chorwerk Isaac’s, der 
»Choralis Constantinus<«, den die Denkmäler zum ersten Mal in 
Partitur gesetzt den Freunden der Musikgeschichte darbringen, ent- 
hält liturgische Compositionen für die kirchlichen Festtage. Sein 
Name ist mit Sicherheit noch nicht erklärt. Die Deutungsversuche 
gehen entweder dahin, daß das Werk auf Bestellung des Domcapitels 
in Constanz gearbeitet wäre, oder aber daß es die in Constanz ge- 
bräuchlichen Choralmelodien benutzt hätte; vielleicht kam beides 
zusammen. 

Der erste Theil, den der fünfte Jahrgang der Denkmäler ent- 
hält, umfaßt Werke für diejenigen Sonntage des Kirchenjahres, 
welche nicht mit hohen Festtagen zusammenfallen. Die meisten be- 
stehen aus Introitus, Graduale, Communio, deren jedes durch eine 
im Discant notierte Intonation eröffnet wird; in den für die Sonn- 


746 Gött. gel. Anz. 1%1. Nr. 9. 


tage von Septuagesimae bis Pfingsten bestimmten ist vor der Com- 
munio ein aus kürzeren Sätzen bestehender Tractus eingeschoben. 
Die Choralmelodie, oder ein kurzes ihr entnommenes Motiv, wird 
meist in freien Imitationen von allen Stimmen durchgeführt, mit- 
unter verharrt der Cantus firmus aber dauernd im Sopran, während 
die anderen Stimmen begleiten; hier treten bisweilen ganz homo- 
phone Partien auf. 

Bezüglich der Ausgabe gilt Alles, was oben zu den Publicationen 
aus den Trienter Codices gesagt ist. Auch hier hat der Bearbeiter 
die Unterlegung des Textes, sowie die Tacteintheilung selbstständig 
ausgeführt, auch hier sind trotz dieser tiefgreifenden Aenderungen 
alte unbequeme Schlüssel — überdies nicht selten innerhalb desselben 
Stückes wechselnd — beibehalten. Da die bei weitem größte Zahl der 
Stücke für Discant, Alt, Tenor, Baß geschrieben ist, entsteht da- 
durch eine recht grundlose Belästigung des Lesers. 

Was endlich die Compositionen selber angeht, so ist natürlich 
die Unbekanntschaft mit den schwer zugänglichen alten Kirchen- 
chorälen ein beträchtliches Hindernis für den Genuß. Der Cantus 
firmus tritt nur selten so abgerundet und nachdrücklich hervor, 
daß er sich beim Hören ohne Weiteres als das alles Belebende und 
Leitende darstellt. Gegenüber den Compositionen der Trienter Codices 
fällt die viel flüssigere Führung der Stimmen, insbesondere der 
Bässe auf. Freilich ist die Anzahl der benutzten Schritte und 
Rhythmen, wie auch der harmonischen Wendungen noch immer gering; 
die große Zahl der nebeneinander gestellten Compositionen enthält 
im Grunde ziemlich wenig Abwechselung. Unwillkürlich drängt sich 
immer wieder die Frage auf, ob die Componisten und die Hörer 
jener Zeit es überhaupt verlangten, speciellen Stimmungen in 
den Tönen Ausdruck zu verleihen. Zugegeben, daß in verschiedenen 
Perioden Gleiches mit ganz verschiedenen Mitteln ausgedrückt 
wurde, daß die Unterscheidung des Charakters der Moll- und Dur- 
geschlechter rein conventionell ist, so bleibt doch immer auffallend, 
daß z. B. bei Isaac die Satzweise der contrastirendsten Texte sich 
kaum merklich unterscheidet. Es scheint vor allen Dingen auf den 
Eindruck einer allgemeinen Feierlichkeit hingearbeitet worden zu 
sein, die sich durch die Zusammenwirkung des starren Ernstes der 
kirchlichen Motive mit dem Klangreiz einer schönen Stimmführung 
am besten erreichen ließ. Daß man dabei nicht allzu lüstern nach 
wechselnden Effecten war, zeigt der unendlich oft wiederholte 
Quartenvorhalt bei Cadenzen, der ja seinen süßen Reiz noch Jahr- 
hunderte lang bewährte und selbst noch bei Händel stereotyp ist. 


Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich. 747 


War der Schritt von den Trienter Codices zu dem Choralis 
Constantinus ein ganz bedeutender, so bleibt er doch hinter dem 
Fortschritt, der von letzterem zum Opus musicum von Gallus führt, 
ganz erheblich zurück. War bei Isaac noch Vieles recht steif und 
kalt, so finden wir hier geschmeidige Melodik und Modulation mit 
warmem Wohlklang in einer Weise verbunden, daßes kaum noch des 
geschulten historischen Sinnes bedarf, um an den Schöpfungen Freude 
zu finden. Dazu kommt eine Sicherheit des polyphonen Tonsatzes 
und eine Freude am dichtesten Stimmengewebe, von der bei Isaac 
noch keine Spur zu finden ist. Freilich liegen zwischen dem Choralis 
Constantinus und dem Opus musicum mindestens 70 Jahre, und zwar 
Jahre starker Bewegung, sowohl rein musikalischer als insbesondere 
religiöser ; der Erfolg der Reformation regte auf katholischer Seite 
die reichen dort vorbandenen Kräfte zu energischer Thätigkeit an, 
und Einer derer, die ihre Kunst begeistert in den Dienst der be- 
drohten Kirche stellten und dafür von ihr äußere und innere An- 
regung und Förderung erfuhren, war Gallus. 

Ueber das Leben des hochbedeutenden Meisters theilt der eine 
der Herausgeber des Opus musicum, Dr. Josef Mantuani, in einer 
überaus anziehenden Vorrede die Resultate seiner Forschungen mit. 
Nach diesen ist Gallus im Jahre 1550 in Krain geboren; es wird 
wahrscheinlich gemacht, daß sein Geburtsort der Markt Reifniz und 
sein ursprünglicher Name Petelin (Hahn) gewesen ist, der zunächst 
in Gallus, und dann (für den jugendlichen Musiker in scherzhaftem 
Diminutiv) in Handl oder Händl umgewandelt wurde. Gallus er- 
hielt seinen Elementarunterricht, auch in der Musik, in einer katho- 
lischen Anstalt seiner Heimat, wahrscheinlich im Stifte Sittich, 
machte vermuthlich weitere Studien in einer der venetianisch be- 
einflußten Städte Fiume oder Triest und kam dann mit Empfehlungen 
des Sitticher Abtes nach Niederösterreich, und zwar über einige 
Zwischenstationen als Mitglied des Knabensingechores an die Kaiser- 
liche Hofkapelle nach Wien, wo er 1574 nachweisbar ist. Von 1575 
bis 1579 scheint er in Niederösterreich, Mähren, Böhmen und 
Schlesien herumgezogen zu sein, um Studien bei verschiedenen 
Musikern und Capellen zu machen; zwei längere Aufenthalte in 
Breslau und Prag sind sichergestellt. Um 1580 war er Musiklehrer 
in dem Kloster Zabrdovice in Mähren und gewann das lebhafte In- 
teresse der dortigen Aebte Caspar und Pawlowsky für seine Bestre- 
bungen. Als letzterer zum Bischof von Olmiitz ernannt wurde, 
nahm er Gallus als Capellmeister mit sich. Durch diese seine Stel- 
lung erhielt Gallus die Anregung zur Schaffung eines allen liturgi- 


748 Gace. gol. Age IM. ¥r. 3. 


schen Anforderungen geniigenden Motettenwerkes. in dem er ältere 
eigene Compositionen mit neugeschaffenen verband: 36 entstand sem 
(pas musicam. 

Nach Fertigstellung des ersten Theiles hielt es den Meister 
nicht länger m Olmütz: er strebte sach emer Stadt m der er de 
Druck seines Werkes vornehmen und überwachen kosunte, und er 
erbat und erhielt demgemäß Eade 1525 die Entlassung ams seiner 
Stellung am Olmützer Bischofssitze. Von da ab lebte er m Prag 
kaum beschäftigt durch eine Stelle an einer kleinen dortigen Kirche, 
mit allen Kräften der Fortführung und Vollendung seines großen 
Werkes zugewandt. Der erste Theil des Opus musicum erschien im 
November 1536 und enthält Gesänge fur die Zeit vom 1. Advents- 
sonntag bis zur Charwoche : der zweite erschien im Marz 1557 und 
umfaßt Chöre für die Charwoche und die Zeit bis Pfingsten: der 
dritte im Herbst 1547 ausgegebene Theil deckt den Rest des Kirches- 
jahres. Nach einer Pause, in der er eine Sammlung vierstimmiger 
Madrigale veröffentlichte, fügte er noch einen vierten Theil für die 
Heiligenfeste hinzu, welcher im Januar 1591 erschien. Die Kosten 
des Druckes wurden, wie es scheint, zum größten Theile von hohen 
Klerikern getragen. 

Von diesem großartig angelegten Werke, das angeregt zu haben 
zu den Ehrentiteln der katholischen Kirche auf künstlerischem Ge- 
biete gehört, bringt der vorliegende VI. Band der »Denkmäler« die 
Hälfte des ersten Theiles, 64 Compositionen für die Advents- und 
die Weihnachtszeit umfassend. Von den Adventsgesängen sind sechs 
achtstimmig, sieben sechsstimmig, sieben fünfstimmig, sechs vier- 
stimmig. Von den Weihnachtsgesängen ist je einer sechzehnstimmig 
und neunstimmig ; je zwei sind zwölfstimmig und zehnstimmig, je 
acht sind achtstimmig, sechsstimmig und vierstimmig, sieben fünf 
stimmig; die für sieben und acht Stimmen bestimmten sind im 
Wesentlichen durchaus doppelchörig erfunden. Die Stimmenverthei- 
lung ist meist die gewöhnliche; außerordentliche Combinationen sind 
selten (No. 65 »Dicunt infantes Domino laudes« scheint z. B. für 
vier Kinderstimmen gedacht zu sein); demgemäß sind die unbe 
quemen Schlüssel auch seltener — sie hätten, ohne das Bild merk- 
lich zu ändern, ganz beseitigt werden können. 

Die Durchsicht der Compositionen ist außerordentlich lohnend; 
es handelt sich in der That hier bereits um eine hohe Blüthe der 
Kunst. Immer noch sind zwar die Motive knapp und einfach, meist 
auf den elementarsten diatonischen Intervallen beruhend ; die polv- 
phone Arbeit beschränkt sich auf engste Führungen, die selbst die 


Denkmäler der Toukunst in Oesterreich, 749 


kurzen Themen kaum voll heraustreten läßt, aber Alles quillt natür- 
lich und leicht heraus; nach der harmonischen, wie der rhythmischen 
Seite ist reiche Abwechselung vorhanden. Auf ganz modern an- 
muthende harmonische Wendungen, insbesondere auch auf gewisse, 
sehr merkwürdige enharmonische Wagnisse macht der Herausgeber 
des Notentextes Emil Bezecny mit Recht aufmerksam. Einzelne 
Stücke beruhen auf kirchlichen Melodien, die Mehrzahl der Themen 
ist aber frei erfunden. 

Die Persönlichkeit des Meisters, der eine angesehene Stellung 
aufgab, um alle Kraft auf das Schaffen verwenden zu können, hat 
etwas außerordentlich Anziehendes; man hat den Eindruck einer 
Begabung, die unwiderstehlich nach Bethätigung drängt. 

Gallus starb am 18. Juli 1591, nur einundvierzigjährig. Er 
zählt unzweifelhaft zu den bedeutendsten deutschen und speciell 
österreichischen Componisten; seine Werke bilden einen Hauptschmuck 
der »Denkmäler.ce — 

Handelte es sich bei den Werken von Gallus um Großthaten 
im Reiche der Kunst, so stellen die vierstimmigen Hymnen des nur 
wenig jüngeren Stadlmayr respectable Leistungen eines kenntnil- 
reichen und geschickten Musikers dar, die nur selten tiefer ergreifen, 
die aber wegen ihrer knappen Form und ihrer würdigen Haltung sich 
dem Gebrauch im Gottesdienst noch in der Gegenwart sehr empfehlen. 
Die 34 kleinen Sätzchen, welche das erste Heft des dritten Jahrganges 
der »Denkmäler« füllen, sind durchaus über katholische Choräle ge- 
arbeitet, meist so, daß die Melodie im Discant vollständig erscheint, 
und die tiefen Stimmen imitirend oder präludirend Motive derselben 
aufnehmen; einige Stücke bringen den Choral einfach harmonisiert, 
eines benutzt ihn als Baß. Gerade die letzteren zeichnen sich durch 
eine ausgeprägte Stimmung aus; unter den ersteren wirkt manches 
bei aller Beherrschung der Form etwas kühl: solide, gute, gelegent- 
lich etwas trockne Capellmeistermusik. Sehr frappieren einige krasse 
Härten in der sechsten Hymne Tact 10 u. f.; sollten hier nicht Feh- 
ler vorliegen ? 

Johann Stadlmayr ist um 1560 in Freising geboren. Ueber sein 
Leben liegen wenig sichere Nachrichten vor. 1603 ist er am Hofe 
des Fürst-Erzbischofs, 1607 am Hofe des Erzherzogs Maximilian 
nachweisbar. Er starb 1648 in hohem Alter in Innsbruck. Daß 
ihm hiernach in den Denkmälern der Tonkunst für Oesterreich ein 
Plätzchen gebührt, wird man gewiß zugeben. 

Bezüglich des braven und liebenswürdigen Andreas Hammer- 
schmidt, der mit dem 1. Theile seiner Dialoge die eine Hälfte des 


760 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


VIII. Jahrganges füllt, kann man sich nicht ganz in dem Sinne 
äußern; er hat mit Oesterreich außerordentlich wenig zu thun ge 
habt. Zwar ist er (um 1612) in Brüx in Böhmen geboren, verließ 
aber 1626 mit seinem protestantischen, übrigens aus Sachsen einge- 
wanderten Vater, der der gewaltsamen Katholisierung der Gegen- 
reformation Widerstand leistete, Vaterstadt und Vaterland auf Nim- 
merwiedersehen. Daß Hammerschmidt unter diesen Umständen 
einen Platz in den Denkmälern erhalten hat, ist ebenso wunderbar, 
wie daß in dieser »mit der Unterstützung des K. K. Ministeriums 
für Cultus und Unterricht< herausgegebenen Sammlung eine kurze 
nüchterne actenmäßige Geschichte der Gegenreformation in Brix 
Aufnahme finden konnte, die u.a. erzählt, wie die protestantischen 
Bürger um 1625 durch Einquartierungen derart >bedrängt wurden, 
daß zu Weihnachten beiläufig 1000 Personen zur katholischen Kirche 
übertratene. Von wie viel Schändlichkeit berichten diese wenigen 
Worte. 

Um 1629 finden wir Hammerschmidt in Freiberg in Sachsen, 
1632 bereits als Organist in Schloß Weesenstein im Dienste des 
sächsischen Oberst von Bünau; 1634 wiederum in Freiberg als Or- 
ganist zu St. Petri. In diesen Stellungen hat er seine ersten Com- 
positionen publiciert. 1639 siedelte er als Organist an der Johannis- 
kirche nach Zittau in Sachsen über, welche Stadt er bis zu seinem 
1675 erfolgten Tode für längere Zeit nicht mehr verlassen hat. 

Hammerschmidt gehört zu den fruchtbarsten und beliebtesten 
Componisten der protestantischen Kirche; er war kein Bahnbrecher, 
aber ein reiches und anmuthiges Talent, das mit seiner Tonsprache 
den Anforderungen seiner Zeit gerade entgegenkam. Die in dem 
vorliegenden Band veröffentlichten »Dialoge oder Gespräche zwischen 
Gott und einer gläubigen Seele« machen wohl begreiflich, daß seine 
Musik in vielen Häusern heimisch wurde. Es handelt sich durchaus 
um Sologesänge für zwei bis vier Stimmen, stets nur von Continuo 
(Cembalo oder Orgel) und einem Baßinstrument begleitet, das mit- 
unter als Trombone bezeichnet, aber nicht immer obligat ist; m 
Sinfonien, die gelegentlich als Zwischenspiele wiederholt werden, 
vervollständigen zwei Violinen den Tonkörper. Die aufgewendeten 
Mittel sind also so klein, daß die Compositionen als Hausmusik gel- 
ten können. Vielleicht um einer solchen Benutzung wiederum ent- 
gegen zu kommen, ist der bezifferte Baß von dem Herausgeber Dr. 
A. W. Schmidt recht sorgfältig (mit einigen Freiheiten) vierstimmig 
ausgesetzt. Beginnt man mit der Durchsicht, so berührt die me 
lodische Declamation sehr angenehm, eine Reihe sinniger Züge er- 


Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich. 751 


regen das Interesse. So wirkt es z.B. schön und ausdrucksvoll, 
wenn in dem siebenten Dialog für zwei Soprane und Baß »Ach wie 
gar nichts sind alle Menschen< der Baß im Weitergang immer wie- 
der melancholisch das den Eingangsworten zugetheilte Thema auf- 
nimmt, während die Oberstimmen ihm andere Motive verbinden. Im 
XI. und XII. Dialog sind die, chromatischen Figuren von sehr innigem 
Ausdruck, in mehreren ist der Wechsel von vier- und dreitheiligem 
Tacte von schöner Wirkung. 

Aber im Ganzen betrachtet geben doch die Dialoge den Ein- 
druck einer beträchtlichen Monotonie und fallen gegen die ver- 
wandten gleichzeitigen Werke H. Schützens erheblich ab, obgleich 
z.B. auch in diesen stereotype Vorhalte recht ermüden. Hammer- 
schmidt ist kein formkräftiges Talent; gewisse Wendungen wieder- 
holen sich immerwährend, so die Terzengänge der beiden Soprane 
(oder beiden Violinen), die kurzen canonischen Imitationen derselben 
beiden Stimmen im Einklang, ferner das oftmalige litaneiartige Wie- 
derholen derselben Phrase, das in zahlreichen Dialogen vorkommt. 
Daneben ist auch seine Erfindungskraft nur eine mäßige, sowohl 
nach Seite der Melodik als Harmonik, und die vielen vollen Caden- 
zen zerhacken manche Stücke in kurze Sätzchen. Aber aus der 
Umgebung zahlreicher ähnlicher herausgenommen wirken einzelne 
dieser Compositionen warm und eindringlich. 

Es ist ein reicher Strauß verschiedenartigster Blumen, den die 
»Denkmäler« in ihren letzten Jahrgängen dargeboten haben. Wir 
sehen mit regem Interesse der Fortsetzung entgegen. 


Göttingen, im September 1901. W. Voigt. 


Briefe und Aktenstlicke zur Geschichte Preussens unter Friedrich Wilhelm III, 
vorzugsweise aus dem Nachlaß von F. A. Stägemann. Herausgegeben von 
Franz Kühl. Zweiter Band. Leipzig, Duncker und Humblot. 19001), LVI 
u. 426 Seiten. 


Die ausführliche Einleitung des zweiten Bandes bringt allerlei 
Mitteilungen über die unmittelbar nach dem Befreiungskrieg in 
Preußen beabsichtigte Einführung einer reichsständischen Verfassung, 
ferner hübsche biographische Notizen über einen Teil der Brief- 
schreiber, z. B. über Gruner und Benzenberg. 


1) Ueber den ersten Band s. Heft 1. 


752 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 


Unter den zweihundert Briefen und Aufsätzen aus der Zeit von 
1815 bis 1820 finden sich neben unwichtigen und gleichgültigen 
auch manche interessante, von denen ich die des späteren Erzbischofs 
Grafen Spiegel und des Oberpräsidenten Vincke über die ultramon- 
tanen Bestrebungen, sowie ein Promemoria Alexander Dohnas über 
die Regulierung der bäuerlichen Verhältnisse hervorheben möchte. 
Auch einige Briefe Schöns z. B. über den Handelsverkehr mit Polen 
sind wertvoll; einige aber zeigen nur seine schlechte Laune, sie sind 
voll von scharfen, oft geradezu bissigen Bemerkungen, die nicht im- 
mer zutreffen. So schreibt er z.B. über Maaßens berühmten Ent- 
wurf zum Zollgesetz von 1818: »Maaßen thut mir leid. Er soll 
ehrlich sein und Hausverstand haben, aber die Verrücktheit , ohne 
eminenten Kopf, ohne alle Sach- und Land- und Menschenkenntnis 
und ohne alle Bildung, mir nichts, dir nichts ein Steuersystemchen 
zu machen, wird ihm das Gute nehmen, das er hat<. Weshalb der 
Herausgeber eine solche Entgleisung durch den Druck noch beson- 
ders hervorgehoben hat, ist nicht recht einzusehen. 

In einer Anmerkung zu einem Briefe Gruners führt der Heraus- 
geber eine von mir vor einigen Jahren im Korrespondenzblatt der 
Geschichts- und Altertumsvereine (Band 42, Seite 65) gegebene Mit- 
teilung an, die sich mit der sogenannten Dotation Steins, d.h. der 
Kapitalsabfindung für seine Pension beschäftigt. Er sagt: »ob diese 
Kapitalsabfindung jemals bezahlt wurde, ist zweifelhafte. Zur Aus- 
zahlung war sie eigentlich auch nicht bestimmt, sondern zur Ver- 
rechnung beim Erwerb einer Domäne oder eines geistlichen Gutes. 
Als Stein nach dem Befreiungskriege seine Besitzung Birnbaum ge- 
gen das wertvollere Kappenberg vertauschte, ist, wie Pertz (Steins 
Leben, Band 5, S. 276) berichtet, diese Summe mit eingerechnet 
worden. 


Berlin. Paul Goldschmidt. 


Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen. 


Oktober 1901. Nr. 10. 


Weinel, H., Die Wirkungen des Geistes und der Geister im nach 
apostolischen Zeitalter. Freiburg, Mohr 1899. XII 2348. M. 5.— 


Dem Verfasser, der uns in diesem Buch sein Erstlingswerk vor- 
“ legt, ist auf den ersten Wurf eine Leistung gelungen, die eine blei- 
bende Anregung und dauernde Befruchtung der neutestamentlichen 
Wissenschaft bedeutet. Denn wie auch das Urteil über die großen 
Grundfragen, die Weinel anregt, sich entscheiden mag, jedenfalls ent- 
hält das Buch so viel Anschauungsmaterial, so viele neue und gute 
Beobachtungen im einzelnen, das alles so wohl geordnet, daß nie- 
mand es lesen wird, ohne eine wesentliche Bereicherung seiner An- 
schauung vom neutestamentlichen und nachapostolischen Zeitalter da- 
von zu tragen. 

W. fußt in seiner Arbeit, wie er selbst ausdrücklich hervorhebt, 
auf dem vor nun gut zwölf Jahren in erster Auflage erschienenen 
Werke Gunkels über die Wirkungen des heiligen Geistes. Gunkel 
hat seinerseits in der vor Jahresfrist erschienenen zweiten Auflage dieses 
Buches das Werk Weinels als legitime Fortsetzung seiner Forschun- 
gen anerkannt. 

Gunkels Werk bedeutete seiner Zeit für den, der etwa gewohnt 
war, die Arbeiten von Holsten über Geist und Fleisch bei Paulus 
als grundlegend anzusehen, eine völlige Ueberraschung. Es öffnete 
sich eine neue Welt. 

Hatte man sich mit Holsten in seinen philosophisch theologi- 
schen Distinktionen abgemüht den »Begriff« des Geistes bei Paulus 
zu erfassen und das Verhältnis der paulinischen zur jüdischen und 
hellenischen Spekulation zu verstehen, so zeigte Gunkel, daß es sich 
auf diesem ganzen Gebiet nicht um Vorstellungen und Begriffe, son- 
dern in erster Linie um lebendige religiöse Erfahrung handle. Hatte 
man sich mit Holsten um die gegensätzlichen Begriffe xvsüu« und 
oée— bemüht, so stellte Gunkel die Wirkungen des »Geistes« mit 
den Wirkungen, die man im neutestamentlichen Zeitalter den Dä- 


monen zuschrieb, zusammen und wies nach, daß es sich in beiden 
Gott, gel. Anz. 1901. Nr. 10, 50 


754 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


Fallen um eine besondre Klasse psychischer Vorgänge und Ereig- 
nisse handle, deren Erkennungsmerkmal nicht etwa die sittliche 
Güte und Brauchbarkeit, sondern in erster Linie das Wunder- 
bare, Außergewöhnliche und Uebermächtige sei. 

Thatsächlich, vielleicht ohne daß diese Zusammenhänge dem 
Forscher selbst bei der ersten Ausgabe des Werkes ganz klar wa- 
ren, vollzog sich hier an diesem Punkt der Geschichtschreibung der 
christlichen Frömmigkeit derselbe Umschwung, der sich seit Jahr- 
zehnten auf dem Gesammtgebiet der Religionswissenschaft vollzogen 
hat. Man ist überall zu der Auffassung gekommen, daß es — will 
man eine lebendige Auffassung der Religionen erreichen — nicht 
genug gethan ist, die Vorstellungen und Begriffe, die Mythen, Dog- 
men und Theologumena zu registrieren und zusammenzufügen, da 
hier die Religion meistens bereits in ihrer Erstarrung vorliegt, dab 
es vielmehr darauf ankomme, in Kult und Sitte, und in den Spuren in- 
dividuellen persönlichen Lebens und primitiver Erfahrung eine reinere 
und adäquate Anschauung des ursprünglichen Lebens zu finden. 

Weinel stellt sich von vornherein auf den Boden der Anschau- 
ungen Gunkels. 

>Was im Vorwort im Anschluß an Gunkel als das Rechte be- 
hauptet werden mußte, hat sich jetzt bestätigt. Es handelt sich, 
wenn die Urkirche vom Geist und von den Geistern redet, stets um 
Anschauung auf Grund wirklicher und häufig gemachter Erfahrungen. 
Eine Untersuchung über den heiligen Geist darf also nicht von der 
Lehre oder den Lehren über den Geist "ausgehen, sondern muß die 
Erlebnisse zum Ausgangspunkt nehmen«. 

Und die zweite Gunkelsche Hauptthese, die Parallelisierung der 
Wirkungen des Geistes und der Dämonen bringt W. schon im Titel 
und dadurch, daß er seine Darstellung mit dem Abschnitt »der 
Kampf der bösen Geister gegen die Christen< beginnt, zum Ausdruck. 

Doch schreitet Weinel nun auf dem von Gunkel betretenen 
Wege um ein gutes Stück vorwärts. Er dehnt die Untersuchung 
auf diesem Gebiet über das nachapostolische Zeitalter bis zur Zeit 
des Irenaeus aus. Während Gunkel mehr bei der allgemeinen 
Frage: Was sind Geisteswirkungen, stehen blieb, dringt W. im ein- 
zelnen vor, ordnet das Chaos durcheinander wirbelnder Erscheinun- 
gen, analysiert und zergliedert sie mit großer psychologischer Fein- 
heit und mit den Mitteln der modernen wissenschaftlichen Erkennt- 
nis des menschlichen Seelenlebens und seiner außerordentlichen und 
krankhaften Erscheinungen. Während Gunkel die Parallelen, welche 
die gesamte Religionsgeschichte zu den in Frage stehenden Er- 
scheinungen bietet, kaum beachtete, den Geisteserfahrungen des 


Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 755 


Spätjudentums einer nicht stichhaltenden Theorie folgend unter- 
schätzte, die das Christentum in seinen Anfängen umgebende reli- 
giöse Welt außer Acht ließ, hat W. viel weiter gegriffen. Er hat 
eingesehen, daß es sich hier nicht um eine besondre Erscheinung 
des ersten Christentums handle, sondern um Erscheinungen, die an 
vielen Punkten der Geschichte der menschlichen Frömmigkeit in 
überraschend gleichförmiger Weise wiederkehren. Und er verwendet 
alle möglichen, auch recht entlegenen Berichte von »Inspirierten« 
und Geistesträgern — namentlich auch uns zeitlich näherliegende 
Zeugnisse: die Mémoires d’Antoine Courts, Kerners Seherin von 
Prevorst, die Beobachtungen eines Du Prel und vieles andere, um 
oft durch überraschende Parallelen Licht in die Ueberlieferung jener 
seltsamen Vorgänge zu bringen und einen sicheren Maßstab für die 
Scheidung des Echten und des Unechten zu gewinnen. 

So erhalten wir bei Weinel ein farbenreiches und allerdings 
sehr fremdartig berührendes Gemälde des Christentums in seinen 
ersten beiden Jahrhunderten. Unmittelbar drängt sich die An- 
schauung auf, als sei die christliche Kirche in ihren weit über das 
apostolische Zeitalter hinüberreichenden Anfängen doch wesentlich 
eine Schaar von mehr oder minder »Inspirierten< gewesen, als bil- 
deten die wilden und wirren Erscheinungen ekstatischer Erregtheit 
und eines exaltierten halbgestörten Seelenlebens das hervorragende 
Charakteristikum dieser Zeit, als hätten die Christen der ersten Ge- 
neration hier die Quelle ihrer Kraft und ihrer Ueberzeugungsstirke 
gefunden. Diesen Gesamteindruck, den W.s Buch hervorruft und 
auch hervorrufen soll, hebt auch die ermäßigende und gleichsam be- 
schwichtigende Ausführung, die W. selbst in dem Abschnitt »der 
Kern des Beweises< bringt, nicht auf. In diesem Abschnitt, dem W. 
das Herrenwort: »Freuet euch nicht, daß euch die Geister unterthan 
sind, freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel geschrieben 
sind<, als Motto voranstellt, hebt W. freilich selbst hervor, daß die 
Gewißheit und Zuversicht der ältesten Christenheit nicht auf den 
einzelnen wunderbaren und außerordentlichen Beweisen der Kraft des 
Geistes beruht hätten, sondern in letztem Grunde doch auf dem 
stillen und mehr gleichmäßigen Bewußtsein der Wiedergeburt und 
des Besitzes des Geistes im allgemeinen, auf der Offenbarung 
des Geistes in dem ganzen Christenleben, der Größe der Sittlichkeit, 
der Bruderliebe, dem Mut der Blutzeugen. — Aber man kann sich 
kaum dem Eindruck verschließen, daß diese Ausführung im Rahmen 
der Gesamtdarstellung eigentümlich deplaciert dasteht. So hat es 
auch ein Recensent des Weinelschen Buches mit Recht empfunden, 
der im übrigen ganz auf Seiten der Auffassung Weinels steht. Es 

50* 


156 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


scheint fast, als wenn stark divergierende Einflüsse auf W. in der 
Beurteilung des Christentums eingewirkt haben und er nicht imstande 
war, diese ganz auszugleichen. Auch bei der Darstellung der Einzel- 
wirkungen des Geistes zeigt sich ein gewisses Schwanken in der 
Beurteilung. W. geht jedesmal in den einzelnen Abschnitten 
von den anomalen, außerordentlichen und singulären Erschei- 
nungen des Geistes und der Geister aus und leitet von da aus 
allmählich zu den ruhigeren, gleichmäßigeren, das gesammte Christen- 
leben beherrschenden Wirkungen des Geistes über. Unwillkürlich 
entsteht so in dem Leser das Urteil, daß jene letzteren Wirkungen 
die weniger intensiven und realen, die weniger wertvollen Wirkungen 
des Geistes auf den Durchschnittsmenschen repräsentieren. Wenn 
man dann W. wiederholt versichern hört, daß hier erst das Höchste 
und Beste vorliege, so fehlt diesen Versicherungen der Glaube. Man 
ist geneigt, hier eher ein sich vordrängendes Werturteil des Verfassers, 
als eine wirkliche Erhebung des geschichtlichen Thatbestandes zu sehen. 

So außerordentlich anregend und belebend die Untersuchungen 
Gunkels und Weinels für eine lebendigere Erfassung des Gesamnt- 
charakters des Urchristentums gewesen sind, so wesentliche Förde- 
rungen wir ihnen verdanken, so vieles gute und richtige neue in 
ihnen enthalten ist, so scheint mir doch auch namentlich in der 
Arbeit Weinels eine starke Ueberspannung bis zu einem gewissen 
Grade richtiger und wertvoller Gedanken vorzuliegen. Und es 
dient vielleicht zur Klärung und Förderung, wenn ich meine prin- 
cipiellen Bedenken, die sich mir, einem ursprünglich unbedingten An- 
hänger derselben Anschauung, in immer steigender Weise aufgedrängt 
haben, darlege. 

Ich meine, daß schon der Fundamentalsatz Gunkels und Weinels, 
daß man in der Beurteilung der urchristlichen Verhältnisse und 
Stimmungen nicht von der Lehre oder den Lehren über den Geist 
ausgehen dürfe, sondern die Erlebnisse zum Ausgangspunkt nehmen 
müsse, nicht so unbedingt richtig ist, wie dies auf den ersten An- 
blick erscheinen möchte. Es wäre richtig, wenn es wirklich so 
stände, daß im jungen Christentum die »Geistwirkungen< als etwas 
absolut, oder doch verhältnißmäßig neues zum ersten Male aufgetaucht 
wären. Dann wäre die These »erst die Erfahrung und dann die 
Theorie« unmittelbar richtig. Nun ist das aber nicht der Fall. Wir 
haben es vielmehr mit einem sehr komplicierten Gebiet des religiösen 
Erfahrungs- und Vorstellungslebens zu thun, auf welchem sich die 
verschiedensten Einflüsse kreuzen, und das eine bereits ebenfalls 
komplicierte Vorgeschichte hat. 

Zunächst hat beides, die Erfahrung des Geistes und die Vor- 


Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 757 


stellungen und Theorien darüber seine Vorgeschichte im zeit- 
genössischen Judenthum. Es war, wie Gunkel selbst in der 
Vorrede zur zweiten Auflage seines Buches bemerkt, ein Irrtum, 
den er bei der Abfassung der ersten Auflage noch teilte, 
daß im Spätjudentum die Erfahrungen der Geister ganz, oder 
so gut wie ganz zurückgetreten seien. Im Gegenteil, es müssen 
auch im Spätjudentum jene ekstatischen Erscheinungen ziemlich 
häufig gewesen sein. Man hat bei der Beurteilung der Sachlage 
sich zu sehr auf einzelne Urteile, z.B. die des sadducäisch gestimm- 
ten ersten Makkabäerbuches verlassen. Je mehr man aber in die 
Quellen hineinschaut, desto mehr Spuren pneumatischer Erfahrungen 
entdeckt man auch hier. Die essenischen Kreise scheinen hier von 
besonderem Einfluß gewesen zu sein. In erster Linie lebte die Gabe 
der Prophetie weiter, aber auch alle möglichen andern pneumatischen 
Erfahrungen: die Vision, die Entrückung von einem Ort zum an- 
dern, die visionäre Erhebung in die himmlischen Welten, das Doppel- 
gängerthum, das Gedankenlesen, vielleicht auch das Zungenreden, 
alle diese Dinge lassen sich auch im Spätjudentum nachweisen. Was 
die Massenhaftigkeit der Erscheinungen anbetrifit, so scheinen nament-. 
lich die letzten Zeiten des jüdischen Staates voll ekstatischer Er- 
regung gewesen zu sein, wie dies kaum anders zu erwarten ist. Die 
Aufgabe einer Fortsetzung der Arbeit Gunkels hätte vor allem auch 
darin bestehen müssen, den Boden, auf dem das Christentum ent- 
stand, genau nach den Spuren der Geistwirkungen und der Lehre 
vom Geist abzusuchen. Vor allem mußte auch hinsichtlich der Per- 
son des Paulus einmal die nicht uninteressante Frage gestellt wer- 
den, wie weit das visionär-ekstatische Element in seiner Persönlich- 
keit aus seiner jüdischen Vergangenheit stammt, und wie weit es ın 
ihm durch specifisch christliche Erfahrungen gefördert sei. 

Die Frage erscheint nicht aussichtslos. Es läßt sich z.B. unter 
anderem außerordentlich wahrscheinlich machen, daß jenes Entrückt- 
werden in den dritten Himmel und das Paradies, von dem Paulus so 
geheimnisvoll II Kor. 12, erzählt, eine Form der Vision war, wie sie 
gerade in rabbinischen Kreisen häufig geübt wurde, daß Paulus also 
mindestens die Form seines Erlebnisses seiner rabbinischen Ver- 
gangenheit verdankte!). — Ueberhaupt wäre es nicht uninteressant 
zu untersuchen, inwieweit das Judentum mit seinen Formen der 
Geisteserfahrungen auf das Christentum eingewirkt habe. Der noch 
wesentlichere Endzweck einer derartigen Untersuchung bliebe freilich 
immer der m. E. mögliche Nachweis, daß jene ekstatischen Erschei- 

1) Vgl. meinen Aufsatz über »die Himmelsreise der Seele.« Archiv f. Reli- 
gionswissensch. IV 143 ff. 


758 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


nungen zum Teil bereits im Judentum ihre Heimat hatten, daß 
vielleicht im jungen Christentum jene Erfahrungen specifischer Geistes- 
wirkung gar nicht so viel massenhafter aufgetreten sind als dort. 
Diese Ergänzung der Gunkelschen Arbeit bleibt auch nach ihrer 
Weiterführung durch Weinel ein dringendes Bedürfnis. 

Aber an diesem Punkt ist nun Weinel doch das zuzugeben, daß 
ein unbedingt neues schon in der ersten Gemeinde der Jünger Jesu 
thatsächlich eingetreten ist. Es entsteht, wie es scheint, mit den 
ersten Anfängen der Gemeinde der Jünger Jesu die bemerkenswerte 
Ueberzeugung, daß der Geist Gottes in der Gemeinde Jesu wohne, 
daß jeder Jünger Jesu den Geist besitze. Wenn wir nun aber 
genauer zusehen, so ist schon dieser Satz: die Jünger Jesu besitzen 
den Geist, bereits kein einfacher Erfahrungssatz mehr Er 
konnte das in einer sich ständig ausbreitenden Missionsgemeinde, die 
fortwährend neue Anhänger gewann, gar nicht sein. Es ist ein re 
ligiöses Postulat, ein Glaubenssatz, der zum Teil auf den Erfahrun- 
gen eines starken Enthusiasmus der ersten Zeiten beruht, in denen 
die Jünger Jesu, die einfachen Fischer von Galilaea, vor den vor- 
nehmen Herren in Jerusalem Zeugnis für die Messianität Jesu ab- 
zulegen begannen, — zum Teil aber auch auf einer eschatologischen 
Theorie: man lebte der Meinung, daß die letzten Zeiten hereinge- 
brochen seien, daß schon die Zeichen der Endzeit sich erfüllten. 
Gott sendet seinen Geist, der Geist ist der Verheißungsgeist, ein 
Teil jenes glänzenden messianischen Erbes, das nun den Gläubigen 
geschenkt werden sollte, das Angeld (e@xagzy%) und Unterpfand (ap- 
eaBov) der messianischen Herrlichkeit. Und noch weiter greift die 
religiöse Theorie. Wenn jeder Jünger Jesu den Geist hatte, so 
mußte er ihn natürlich in einem Moment bekommen haben. Dieser 
Moment kann kein anderer als die Taufe sein. Und so entsteht ein 
zweiter Glaubenssatz — wie es scheint ebenfalls in allerersten Zei- 
ten: die Taufe bringt den Geist, die Taufe der Jünger Jesu 
ist ein Taufen mit heiligem Geist, während die Johannestaufe nur 
»Wassertaufe« ist. In einem Abschnitt seines Werkes schildert uns 
W. sehr wirkungskräftig die ungeheure Bedeutung, welche die Taufe 
im ersten Christenleben hatte, und sucht durch diese Schilderung 
deutlich zu machen, wie der Glaube, daß man bei der Taufe den 
Geist empfange, auf dem Wege der Erfahrung entstanden sei. 
Es ist nicht zu leugnen, daß thatsächlich mancher werdende Christ 
der damaligen Zeit von der Taufhandlung derart innerlich er- 
griffen wurde, daß diese Ergriffenheit sich in Zeichen des Geistes 
auslöste. Aber man kann kaum glauben, daß dies immer geschehen 
sei, oder daß es auch nur die Regel war. Dennoch steht der Satz: 


Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 750 


»Die Taufe bringt den Geist« für die erste Christenheit fest. Denn 
er ist nicht aus der religiösen Erfahrung allein abstrahiert und ge- 
wonnen. Er ist ein Satz des Glaubens, welcher der augenschein- 
lichen Erfahrung in jedem einzelnen Fall nicht bedarf, ja schließlich 
dieser überhaupt entrathen kann. Er hat gleichsam seine Existenz 
in sich und gewinnt eine weit stärkere Stütze an der Theorie 
von der sakramentalen Bedeutung der Taufe, die bereits Paulus vor- 
aussetzt, als an einer immerhin nicht ganz zweifelsfreien Erfahrung 
Und daß hier die Theorie bald mächtiger wird als die Erfahrung, 
zeigt am deutlichsten das Beispiel des Paulus an diesem Punkt. 
Seiner Erfahrung nach beruht das neue Leben in ihm 
auf seinem persönlichen, wunderbaren Erlebnis vor Damaskus, 
während die Taufe für ihn nur eine hinzukommende Bedeutung hat. 
Dennoch gründet er das neue Leben der Christen, wenn er dogma- 
tisch redet, vor allem auf die Taufe und das durch das Sakrament 
der Taufe an dem Gläubigen gewirkte Wunder. Auch neue »That- 
sachen< und »Erfahrungen« erzeugt von den ersten Generationen 
der Christenheit an die Theorie. Ist z. B. in einem Fall in der 
Apostelgeschichte geschildert, wie der heilige Geist selbst dem Paulus 
die Reiseroute für seine Mission vorzeichnet, so hat der Redactor der 
Apostelgeschichte, der ihren »abendländischen Text« schuf, 
bereits ein System daraus gemacht, und läßt an einer ganzen Reihe 
von Stellen den Geist dem Apostel seine Reisepläne eingeben. 

So erhalten wir den durch diese verschiedenen Ueberlegungen 
verstärkten Eindruck : es handelt sich im jungen Christentum nicht 
um absolut neue und eigenartige Erfahrungen vom Geist, jedenfalls 
nicht um diese allein. Als das eigentlich neue und ausschlaggebende 
ist von Anfang an ein mit der urchristlichen Eschatologie zu- 
sammenhängendes ,religidses Postulat hinzugekommen, jene Ueber- 
zeugung, daß jeder Gläubige den Geist besitze. — Und weiter hat 
nun dieser Glaubenssatz in bemerkenswerter Weise rückwärts ge- 
wirkt auf die Auffassung vom Geiste selbst und dessen Wirkungen. 
Denn dieser Glaube mußte ja von vornherein in eine starke Span- 
nung geraten mit der alten Vorstellung, daß die Kraft des Geistes 
nur in den außerordentlichen und ekstatischen Erscheinungen des 
menschlichen Gemüts- und Willenlebens zum Ausdruck komme. 
Was jedermann haben und erleben soll, kann nicht mehr das wunder- 
bare und außergewöhnliche schlechthin sein. Je mehr sich der Kreis 
der Gläubigen erweitert, desto unmöglicher wird das. Es ist m. E. 
durchaus sicher, daß schon die erste Generation der Jünger Jesu in 
Palästina nicht eine Schaar von Ekstatikern, Visionären und Wunder- 
thätern war. Im Gegenteil, die Propheten und Wunderthater aus 


760 Gott. gel. Ans. 1001. Nr. 10. 


der ältesten Zeit sind uns mit Namen überliefert, sie bilden auchin 
der ersten christlichen Zeit die Ausnahme und nicht die Reged. 
Mächtig wird hier auch das Lebensbild Jesu nachgewirkt haben 
Denn zwar ist jenes pneumatische, visionär-ekstatische Element auch 
in Jesu Person vorhanden, aber doch viel weniger stark und 
hervortretend als z. B. in den Gestalten der alten Propheten und 
wieder in der Gestalt des Paulus. Jesus hat seine Jünger selbst 
darauf hingewiesen, daß es etwas viel höheres gäbe, als Geisteraus- 
treiben. — Wenn nun doch in der ersten Christenheit bereits die 
feste Ueberzeugung herrschte, daß jeder Gläubige den Geist habe, 
und daß wer den Geist nicht habe, auch nicht zu Christus gehöre, 
so muß eben von den ersten Anfängen an hier eine Umwandelung 
der Vorstellungen vom Geist und der Erfahrung seiner Wirkungen 
begonnen haben. Soll der Geist im Leben jedes einzelnen Gläubigen 
wirksam werden, so muß man seine Wirkungsphäre erweitern und 
seine Wirkungen da schauen, wo man sie bisher nicht sah. Ausge- 
sprochen ist diese neue Anschauung allerdings erst für uns erkennbar 
und deutlich von Paulus. Für Paulus sind nicht nur Zungenreden, 
Prophetie, geheimnisvolle Offenbarung, Wunderthaten und Kranken- 
heilungen, sondern Freude, Friede, Liebe, Gerechtigkeit und Geduld, 
genug das gesammte neue Leben der Christen, Wirkungen des 
Geistes. Gunkel sah hier die That, den absolut neuen und origi- 
nalen Gedanken des Paulus; Weinel macht bereits ein Fragezeichen 
bei dieser These und bemüht sich, die Verbindungslinien nach rück- 
wärts zu ziehen. Ich glaube, er hätte sie noch stärker ziehen dürfen. 
Man sieht wenigstens den Aeußerungen des Paulus über den Geist 
es kaum an, daß er absolut neue Anschauungen vorzutragen sich be- 
wut gewesen ist. 

Jedenfalls, ob Paulus den Schritt gethan hat, oder ob er 
vor ihm vollzogen ist — was sich hier vollzieht, ist eine neue 
Wendung in der Auffassung vom Geist, eine ueraßaaıs Eis HALO yévos. 
Man kann ja zwischen der alten und der neuen Anschauung vom Geist 
Brücken schlagen und darauf hinweisen, daß eben die Christen ihr 
gesammtes Leben als etwas absolut neues und wunderbares, als ein 
Wunderwerk Gottes empfanden und betrachteten, als ein Wunder, 
wie Zungenreden, Dämonenaustreibungen, Krankenheilungen ihnen 
Wunder waren. Und doch bleibt die Kluft. Man sucht nun die 
Wirkungen des Geistes nicht mehr im außerordentlichen, momen- 
tanen, übermenschlichen, sondern im gewöhnlichen, alltäglichen und 
gleichmäßigen, im rein-menschlichen. Es thut eine andere Welt 
sich auf, ein neues Leben sprengt die Hülle. Und was bisher als 
Kern erschien, wird Hülle und Schale, die man bald wertlos weg- 


Weinel, Die Wirkungen des Geister u. d. Geistes im nachapostol. Zeitalter. 761 


werfen wird. Ein ganz ähnlicher Proceß wie hier liegt übrigens in 
der Geschichte der griechischen Frömmigkeit vor. Die Art, wie 
Plato in seiner Philosophie die ekstatische Religion der Orphiker 
und ihre Eschatologie vergeistigte und adelte, wie bei ihm aus der 
Sela povia, der ekstatischen Raserei jener Winkelkulte, der alles 
irdische übersteigende Enthusiasmus des die himmlische Heimat 
suchenden Philosophen ward, — ist der hier skizzierten Entwicke- 
lung durchaus analog. So interessant es nun ist, auch in Plato und 
der von ihm ausgehenden Frömmigkeit die Spuren jener ekstatischen 
Frömmigkeit wieder zu entdecken, ebenso sehr und noch mehr wird 
der Historiker vor allem doch das neue, die ungeheure Vergeisti- 
gung der überkommenen Stimmung darstellen müssen. 

Und wenn wir es noch einmal überlegen: Was waren die pri- 
mären Faktoren bei dieser Entwickelung ? — so sehen wir religiöse 
Ueberzeugung und Theorie und lebendige Erfahrung in einander 
greifen. Eine in den Anfängen gesteigerte Erfahrung wunderbarer 
Wirkungen des Geistes ruft das Postulat hervor: die Jünger Jesu 
haben den Geist. Dies Postulat zwingt zur Korrektur der Anschau- 
ung vom Geist und seinen Wirkungen. Man beginnt diese da zu 
sehen, wo man sie bisher nicht sah. Die Erfahrung der Gläubigen 
kommt der neuen Anschauung entgegen: das gesammte Christen- 
leben wird zum Wunderwerk Gottes. Aber zugleich verleiht auch 
jener neue große Gedanke, daß man die einfachsten und alltäglich- 
sten Vorgänge des Christenlebens, alle Freude, die es täglich brachte, 
allen Mut und alle Siegeszuversicht, alle Liebe als direkte Wir- 
kungen des Gottes-Geistes an der Seele des einzelnen anzusehen 
habe, dem Leben selbst neue Begeisterung, der Erfahrung neue 
Flügel. — 

Eine neue Frage, die weder von Gunkel noch von Weinel in 
Angriff genommen ist, eröffnet sich von hier aus. Sollte nicht auch 
diese neue Anschauung vom Geist als einer gleichmäßig wirkenden, 
das Leben stetig erfüllenden Kraft im Judentum vorgebildet sein? 
Zwar im palästinensischen Judentum finden sich, soweit ich sehe, 
hier nicht in dem Maaße Berührungspunkte, wie im hellenistischen 
Judentum. Hier drängt sich m. E. die Parallele zwischen der 
Gestalt der sopl« (yoy nveüun ooplas Sap. Sal 1,8), wie diese 
ausgebildet in der Sapientia vorliegt, und der des &yıov nveüu« bei 
Paulus auf. Auch hier haben wir, wenn wir nach den Wirkungen 
der oogéa fragen, dasselbe Ineinander des außergewöhnlich- 
ekstatischen und des gleichmäßig-alltäglichen. Die Weisheit giebt 
Gewalt über die Geister (Dämonenaustreiben) 7, 20, sie lehrt die Ge- 
danken der Menschen (Gedankenlesen), die magischen Kräfte der 


162 Gott. gel, Ans. 1901. Nr. 10, 


Wurzeln (Heilungen), sie begabt Freunde Gottes und Propheten 7, 27, 
auf der anderen Seite sind ihre Früchte Erkenntnis 7,17ff und 
sittliche Güte 7,30. Und wie bei Paulus das &yıov zveüue beinahe 
Person, eine Hypostase neben Vater und Sohn geworden ist, 80 
tritt in der Sapientia und ‘den verwandten Schriften des Judentums 
— vor allem Philo wäre hier heranzuziehen — die Weisheit als 
eine göttliche Hypostase neben Gott! Auch kann es als gesichert 
gelten, daß Paulus die Sapientia kannte und diese für ihn von 
großem Einfluß war. Ebenso interessant wäre es, auf die Unter- 
schiede in den Gestalten der oopie und des &yıov nveüux zu achten, 
auf den intellektuellen Grundcharakter dort, auf die ethische Haltung 
hier, die mehr immanente Auffassung in der Sapientia, die transcen- 
dente bei Paulus. Und auch von{hier würde sichtbar werden, wie 
kompliciert schon die Vorgeschichte der Anschauung und der Lehre 
vom Geist und seinen Wirkungen war, und wie wenig man das Recht 
dazu hat, bei der Darstellung dieses Gebiets innerhalb des Christen- 
tums gleichsam ab ovo zu beginnen. Es ist kein Vorteil der von 
Gunkel und Weinel befolgten Forschungsmethode, daß sie die Zu- 
sammenhänge nach dieser Richtung ganz vernachlässigt. 

Weiter hat man sich dann, und damit gelangen wir erst auf das 
eigentliche Gebiet Weinels, zu vergegenwärtigen, daß das Evange- 
lium auf heidnischen Boden übertritt und sich nun innerhalb einer 
Welt entwickelt, die ebenfalls gerade zu jener Zeit erfüllt war von 
religiösen Vorstellungen und Erfahrungen ähnlicher ekstatischer Art. 
Es wurde oben rühmend hervorgehoben, wie Weinel seine Unter- 
suchung von vornherein in einen großen religionsgeschichtlichen Zu- 
sammenhang hergestellt hat. Es hätte aber nach dieser Richtung 
noch mehr geschehen können. W. belehrt uns über den Geist und 
die Geister in den verschiedensten Zeiten, aber gerade die Religion 
des römischen Weltreiches in der Kaiserzeit hat er gar nicht oder 
doch fast gar nicht nach dieser Richtung hin einer Untersuchung 
unterzogen. 

Nur nach zwei Richtungen hin hat Weinel hier gearbeitet. 
In dem ersten sehr schönen Abschnitt seines Werkes legt er 
dar, wie das Christentum das es umgebende Heidentum, mit dem 
es im Kampfe lag, als Werk der Dämonen ansah, wie für die 
Christen der ersten Zeit das ganze Heidentum von Wirkungen der 
bösen Geister durchzogen war. Ferner zieht er in seiner Darstellung 
der Geisteswirkungen den hier sich oft noch enger mit der heidni- 
schen Religiösität berührenden Gnosticismus heran. — Aber auf die 
heidnische Religiosität der damaligen Jahrhunderte selbst hat er 
seine Untersuchung nicht oder doch nur gelegentlich ausge 


Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol, Zeitalter. 768 


dehnt. Stoff und Material böte sich genug. Das gesammte Wunder- 
und Orakelwesen der Zeit, der Kult des Asklepius, des Serapis und 
der übrigen Heilsgötter mit seinen Goeten und Thaumaturgen, 
seinen xdroyoı (Besessenen), den Inkubationen, Wallfahrten und 
tausend Mittelchen, — die ausgedehnte Zauberlitteratur der Zeit, 
das Mysterienwesen, von dem wir ja leider nur wenig wissen, die 
wilden orphisch-bakchischen Kulte, vor allem auch die Mithrasreligion 
mit ihrer Pflege der Ekstase und der Verzückung und anderes, — 
Schriftsteller wie Plutarch und jene krausen und bunten Mystiker 
des zweiten Jahrhunderts Apulejus, Aristides, Maximus, — Wunder- 
thäter wie Apollonius von Tyana und noch andere mehr — hätten 
herangezogen werden müssen. 

Es scheint fast, als wenn ich hier unbillige Anforderungen stelle. 
Aber ich meine, daß gerade, wenn die Arbeit W’s. sich nach dieser 
Richtung hin gewandt hätte, sein Urteil und seine Darstellung wesent- 
lich anders ausgefallen wäre. 

Zunächst was die einzelnen Erscheinungen betrifft, so hätte ja 
W. zu den von ihnen registrierten Erscheinungen hier oft die aller- 
nächsten Parallelen finden können. Er hätte dann z. B. darüber 
genaueren Bericht und Rechenschaft geben können, was die xatadeo- 
wol (Justin Dialog 85) seien. Vor allem hätte er besser erkannt, 
wie tief die gnostischen Sekten mit ihren géArea und yaeırıoıa 
ihren dyoyına, deren Beschaffenheit sich ebenfalls aus den Zauber- 
texten ergiebt, und éxaoda/, mit ihren daduovss ndpedpoı und 
Övsıponoumot in der religiösen Welt des umgebenden Heidentums 
und in der Zauberpraxis der damaligen Zeit stecken. 

Was aber das wesentlichste ist, von hier aus hätte W. erst die 
richtigen Größenmaßstäbe für die von ihm behandelten Erscheinungen 
gewonnen. 

Denn wie sich die Meinung als eine Täuschung ergab, daß im 
Spätjudentum die Geistwirkungen und Erfahrungen vom Geist auf- 
gehört, und das Christentum hier mit etwas neuem eingesetzt hätte, 
— so sind auch, wenn man das Christentum mit der umgebenden 
Welt vergleicht, ebenfalls jene ekstatischen Wirkungen des »Geistes« 
keineswegs etwas dem Christentum eigentümliches, oder auch in ihm 
besonders stark hervortretendes. Vielmehr bewegt sich die ganze 
absterbende Frömmigkeit des Hellenentums bis zu ihrer letzten 
Konzentration im Neuplatonismus in eben dieser Richtung. Wunder 
und Orakel, Heilungen, ein atavistischer Geister- und Gespenster- 
glaube, Visionen, Ekstase, wilde Verzückungen, — das sind die 
Charakteristika der dekadenten Religion des Hellenentums. Hier, 
und fügen wir hinzu in der Schätzung des Sakramentalen in der 


764 Gott. gel. Ans, 1901. Nr. 10. 


Beligion liegt gerade das verbindende Band zwischen der Frömmig- 
keit des Christentums und der es umgebenden Welt des römischen 
Kaisertums. 

So ist es denn kein Wunder, wenn von dem ersten Uebertritt 
des Evangeliums auf hellenischen Boden gerade jenes »pneumatischec 
Element mächtig verstärkt wurde, wenn das farbenreichste und 
fesselndste Bild eines enthusiastischen vom Geist getragenen Gemeinde- 
lebens uns in der Gemeinde von Korinth geboten wird. So etwas, 
wie jene I. Kor. 12—14 geschilderten Geistesgaben, wollte und suchte 
man gerade im Westen bei jeder neuen von dem Osten kommenden 
Religion, auch beim Evangelium. Hier läge nun für den Forscher 
die Aufgabe vor, die Frage zu stellen, wie weit hier an diesem 
Punkt die dekadente griechisch-römische Religiosität auf die Ent- 
wickelung des Christentums zurückgewirkt hat, in wie fern sie jenes 
pneumatisch-enthusiastische Element gesteigert hat, welche Formen 
jener pneumatischen Lebensäußerungen der Religion etwa auf heid- 
nischem Boden gewachsen zu sein scheinen. Auf alle diese Fragen 
ist Weine] nicht eingegangen. Ueberzeugend ließe sich namentlich 
der Nachweis führen, daß gerade in den an der Peripherie des 
Christenthums liegenden Gebilden der montanistischen und gnosti- 
schen Sekten die pneumatischen Erscheinungen massenhafter, breiter, 
bunter und verwirrender auftreten. Und das wird man auf keinea 
andern Grund zurückführen dürfen, als auf die nähere und intimere 
Berührung dieser außenstehenden Kreise des Christentums mit der 
umgebenden Welt der hellenisch-römischen Religion. Von dorther 
erfolgte das Einströmen dieser Elemente, wie sich dies in einer 
ganzen Reihe von Einzelheiten, auf die bereits oben hingewiesen 
wurde, auch noch bestimmt erweisen läßt. 

Noch lohnender und instruktiver aber wäre weiter für den Re 
ligionshistoriker der Nachweis, wie jene >pneumatischen« Erschei- 
nungen innerhalb des genuinen Christentums von Anfang an nicht 
im entferntesten den Reichtum, die Mannigfaltigkeit, die Wildhet 
und Kräftigkeit aufweisen wie in der umgebenden heidnischen Welt. 
Greifen wir nur einige wenige Punkte heraus: z. B.: Kranken 
heilungen und Exorcismen. Was für einer Fülle von phantastischen 
Erscheinungen begegnen wir, wie schon oben angedeutet wurde, auf 
diesem Gebiet im hellenisch-römischen Heidentum, wie vielem heißen 
Glauben und Aberglauben, wie vielen Wunderkuren und Wunder- 
thaten. Man kann geradezu sagen, daß der Glaube der damaligen 
heidnischen Welt im Heilungs- und Wunderglauben aufging. Wie 
einfach und reduciert sind auf diesem Gebiet die pneumatischen 
Formen im Christentum : Heilen im Namen Jesu, Damonenanstreibea | 


Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 765 


im Namen Jesu — das ist so ziemlich alles, was wir hier finden. 
Und das Heilen im Namen Jesu kann so leicht vergeistigt 
und in einfaches Gebet verwandelt werden, und aus dem Dämonen- 
austreiben wird die kirchliche Sitte des Exorcismus. Die Apologeten 
berufen sich viel mehr und öfter auf die in der Vergangenheit ge- 
schehenen Wunder und Weissagungen zum Beweis der Wahrheit 
ihrer Religion, als auf die noch in ihren Tagen und vor ihren Augen 
sich ereignenden Wunder. Weiter: nehmen wir das Zungenreden 
der ersten Christen, das übrigens doch recht bald verschwunden zn 
sein scheint. Es ist äußerlich betrachtet doch nur ein schwaches 
Gegenstück der ekstatischen Erregungen, wie sie uns in den diony- 
sianischen Kulten und im Kult der kleinasiatischen Magna Mater 
und des Zeus Sabazios begegnen. Die ganze »magische« Kunst, das 
Geisterrufen, die Hypnose, die Erscheinungen der Suggestion und 
Autosuggestion und manches andere, — W. hat interessante Beispiele 
dafür auch innerhalb des Christentums nachgewiesen, aber immer 
nur innerhalb der speciell vom Heidentum berührten gnostischen 
Sekten. Die visionären Erfahrungen der Entrückung durch Himmel 
und Hölle finden wir in den Mysterienvereinen der Mithrasreligion, 
bei den Rabbinen des ersten und zweiten Jahrhunderts, deshalb 
auch bei Paulus, und in der halb christlich, halb jüdischen apokryphen 
Litteratur zum System ausgebildet, innerhalb des späteren genuinen 
Christentums sind kaum Spuren und Andeutungen vorhanden. — 
Weinel hat es namentlich unter Heranziehung der gnostischen Sekten 
zustande gebracht, ein farbenreiches Bild jener pneumatischen Er- 
‚scheinungen des Christentums der ersten Jahrhunderte zu zeichnen ; 
und es kann gar nicht geleugnet werden, daß viele Durchschnitts- 
christen der Zeit den Halt ihres Glaubens in jenen Außendingen 
wirklich gefunden haben. Aber mit nicht allzu großer Mühe ließe 
sich ein viel reicheres nnd bewegteres Bild aus dem religiösen Leben 
des Heidentums gegenüberstellen, und das wird W. am wenigsten 
leugnen, auch hier neben mancherlei Betrug und phantastischer 
Spiegelfechterei auch ehrlicher, wenn auch mißleiteter Glaube nach- 
weisen. Ein solcher durchgeführter Vergleich würde endlich auch 
für die Gesammtbeurteilung der vorliegenden Erscheinungen von 
großem Werte sein. Man würde deutlicher sehen: die in Betracht 
kommenden religiösen Aeußerungen sind doch hüben wie drüben 
Krankheitserscheinungen und Verzerrungen, im besten Falle Außen- 
dinge und Hüllen echten religiösen Lebens. — Es sind hier wie dort 
gleichsam Fiebererscheinungen der Religion. Sie sind dort das 
Hauptcharakteristikum eines dekadenten absterbenden Lebens, dessen 
erlöschende Flamme noch einmal auflodert. Sie sind hier in der 


766 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


jungen aufstrebenden christlichen Religion krankhafte Ueberreizt- 
heiten der bis zum äußersten angespannten Kraft, — teilweise 
auch Rückeinflüsse der dekadenten Religion auf die neu aufstrebende. 

Und der Unterschied ist zwischen dem neuen Leben des auf- 
strebenden Evangeliums und der in das Grab sinkenden Religion des 
Hellenismus, daß in diesem jene Hüllen, Außendinge und Krankheits- 
erscheinungen die Religion selbst geworden sind, während für das 
Christentum dieselben Erscheinungen nur die Hüllen sind, unter 
denen sich ein neues Leben von eigenartiger Kraft entwickelt. 

Unter diesem Aspekt wäre die Geschichte des Geistes in dem 
Christentum der römisch - griechischen Kulturwelt zu schreiben. 
Es müßte geschildert werden, wie gerade dem pneumatischen 
Element in der jungen christlichen Religion reichliche Nahrung in 
der umgebenden Welt des Hellenismus geboten wurde, wie infolge 
dessen dieses zunächst in den heidenchristlichen Gemeinden eine 
mächtige Stärkung erhielt, wie an diesem Punkte gerade der neue 
Glaube in der alten Welt voll dekadenter Stimmung gern aufge- 
nommen wurde, wie wiederum an diesem Punkte das heidnische re- 
ligiöse Leben mit seinen Formen das Christentum bestimmt hat — 
wie dann auf der andern Seite schon mit Paulus und seinem be 
sonnenen praktischen Verhalten gleichsam ein Gesundungsproceß be- 
ginnt, wie sich allmälich der Gedanke durchsetzte, daß der Geist Gottes 
nicht in den außergewöhnlichen und wunderbaren, sondern in den 
gleichbleibenden Erscheinungen des Christentums walte, wie infolge 
dessen die Ueberzeugung, daß man den Geist habe, blieb, auch ak 
jene äußeren ekstatischen Offenbarungsformen aufhörten, bis endlich 
allerdings die werdende Kirche mit ihren Institutionen, ihren Bischöfen, 
Verfassung, Bekenntnis jene Unmittelbarkeit der frommen Stimmung 
vertrieben und getödtet hat. 

Das heißt, die Geschichte des >Geistes< im ersten Christentum 
hätte etwa unter den Gesichtspunkten geschrieben werden müssen, 
die W. selbst in dem bereits mehrfach angezogenen Abschnitt 
über den >Kern des Beweises< andeutet. Aber freilich ist W. 
dieser Auffassung nicht treu geblieben. Sein Hauptinteresse ging 
darauf, zu zeigen, wie mächtig doch die ekstatische enthusiastische 
Stimmung auch im nachapostolischen Zeitalter bis zum Ende des 
zweiten Jahrhunderts gewesen sei. Er entwickelt den größten Scharf- 
sinn, um überall die Spuren jener pneumatischen Lebensäußerungen 
nachzuweisen und bringt hier sehr viel neues und bemerkenswerte 
bei. Er sucht durch jene erwähnten Parallelen, die er reichlich bei- 
bringt, nachzuweisen, wie real und konkret jene Aeußerungen des 
pneumatischen Lebens zu fassen seien. Aber dabei kommt die 


Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 767 


Hauptsache nicht zu ihrem Recht : jene fundamental neue Auffassung 
vom Wirken des göttlichen Geistes in den ruhenden und gleich- 
mäßigen Erscheinungen des Christenlebens. 

Und in jenem Bestreben, den Reichtum der pneumatischen 
Lebensäußerungen in der ersten Christenheit nachzuweisen, ist W. 
nun unseres Erachtens vielfach zu weit gegangen. Ein besonderes 
Beispiel unter vielen scheint mir .die Behandlung des Hermas zu 
sein. Ich vermag wenigstens durchaus nicht die Ueberzeugung zu 
gewinnen, daß dieser trockene, philiströse und beschränkte Verfasser 
des »Hirten« ein Pneumatiker gewesen sein soll. Die neueren 
Untersuchungen scheinen mir überdies die litterarische Abhängigkeit 
des Hermas im weitesten Maaße festgestellt zu haben. Ganz unbe- 
sehen scheint H. eine Unmenge fremden und zwar jüdischen Materials 
einfach übernommen und christlich umgestempelt zu haben. Mit 
diesem Nachweis fällt aber die Annahme pneumatischer Erlebnisse 
des Hermas so ziemlich dahin. Es ist bei ihm m. E. alles Nach- 
ahmung, alles litterarische Manier. Es hilft nichts, daß W. an einer 
Reihe von Stellen die psychologische Wahrheit und damit die Realität 
der Visionen des Hermas durch Parallelen zu erweisen sucht, der- 
artiges kann auch nachgeahmt und übernommen sein. 

Und so wäre noch an manchen anderen Punkten eine schärfere 
Kritik der Ueberlieferung geboten gewesen. — Was Weinel S. 42ff 
im allgemeinen zum Beweise seiner These von der Massenhaftigkeit und 
Kräftigkeit der Geistwirkungen im nachapostolischen Christentum 
beibringt, schlägt meistens nicht durch, weil die angezogenen Aeuße- 
rungen vielfach gerade in der Richtung der neuen (paulinischen) 
Auffassung vom Geiste liegen. Wenn W. seine Darstellung nicht 
nach sachlichen Gesichtspunkten gruppiert hätte, sondern einer zeit- 
lichen Ordnung gefolgt wäre, wenn er die Geistäußerungen der aller- 
ersten apostolischen Zeit ausgeschieden hätte, wenn er die Frömmig- 
keit des genuinen Christentums für sich behandelt und nicht überall 
gleich die gnostischen Sekten mit herangezogen hätte, wenn er end- 
lich manchen Zeugnissen kritischer gegenüber verfahren wäre, — so 
wäre das Bild, das er gezeichnet, ganz bedeutend ärmlicher ausge- 
fallen ; und es hätte sich, glaube ich, der entgegengesetzte Eindruck 
aufgedrängt, nämlich dieser, daß Gemeindezustände, wie sie der 
erste Korintherbrief zeigt, überraschend schnell in der Entwickelung 
der Christenheit zurückgetreten und zurückgedämmt sind. Das von 
W. bekämpfte Urteil Weizsäckers scheint mir im großen und ganzen 
doch eher das richtige zu treffen, als Weinels Darstellung. 

Das ist allerdings Weinel zuzugestehen, daß sich unter gewissen 
Umständen und bei gewissen Klassen von Gläubigen auch noch in 


968 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


späterer Zeit specifisch pneumatische Erscheinungen nachweisen 
lassen. Vor allem in den Verfolgungszeiten begegnen wir ihnen; die 
Pneumatiker der späteren Zeit sind in erster Linie die Märtyrer. 
Bestimmte Partieen der Apokalypse, der Kriegserklärung des jungen 
Christentums an das römische Cäsarentum, sind thatsächlich in hoch- 
gespannter ekstatischer Erregung geschrieben. Ignatius ist, wenn 
man seinem Rhetoren-Pathos auch etwas mißtrauischer sich gegen- 
überstellt als W., dennoch sicherlich Ekstatiker, vielleicht auch 
Polykarp, sicher die gallischen Konfessoren, Perpetua u. s. f£ Wir 
sagten oben, daß die speciellen Geisteswirkungen als religiöse Fieber- 
erscheinungen anzusehen seien. Das bestätigt sich auch hier. Wie 
über den Soldaten vor und in der Schlacht eine fieberhafte Erregung 
kommt, die ihn fortreißt und über sich hinaushebt, so stellten sich 
auch in jenem großen wilden Kampf, im Kerker, auf der Folter, in 
der Arena, wenn ein Unterliegen in Schande hier drohte, wenn die 
Krone des ewigen Lebens dort winkte, jene gewaltsamen ekstatischen 
Erregungen ganz von selbst ein. Und nicht nur die Märtyrer, 
sondern auch ihre ganze Umgebung wurden in den Zeiten der Not 
und Verfolgung von dem >Geist< der alten Zeit ergriffen. 

Ich fasse zusammen. Es ist schade, daß W., trotzdem er 
die Grenzen seiner Untersuchung so weit gesteckt hat, doch 
in ihr die nächstliegenden Gebiete nicht abgesucht hat, und 
weder das Judentum noch den Hellenismus der römischen Kaiser- 
zeit näher berücksichtigt hat. Er hätte dann notwendig zu 
einer andern Wertung und Gruppierung des vorzüglichen von ihm 
gesammelten Materials kommen müssen. Es wäre dann vielleicht 
noch besser in der Darstellung zum Ausdruck gebracht, wie das 
wesentliche und charakteristische im jungen Christentum nicht etwa 
die specifischen pneumatischen Erfahrungen, sondern eine neue An- 
schauung — zwar keine >Lehre«, aber doch eine religiöse Ueber- 
zeugung — vom Wirken des Gottesgeistes im Menschenleben war. 
Er hätte sich nicht so sehr bemüht, nachzuweisen, wie häufig jene pneu- 
matischen Erfahrungen noch weithin im nachapostolischen Zeitalter ge- 
wesen seien, — sondern vielmehr den Schwerpunkt seiner Ausführung 
auf den Nachweis gelegt, wie es kam, daß die Grundüberzeugung, daß 
man den Geist besitze, im Christentum lebendig blieb, während das 
ekstatisch-enthusiastische Element in der jungen Religion sehr bald 
zurückgedrängt wurde. Er hätte auch vielleicht das die Unter- 
suchung hemmende und störende Schema: erst die Erfahrung und 
dann die Lehre, doch wenigstens teilweise durchbrochen. 

Ich gehe zu der Besprechung einer Reihe von Einzeilheiten 
über, Im ersten Teil seiner Abhandlung schildert W. um den Hinter- 


Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 769 


grund für seine Darstellungen der Geisteswirkungen zu gewinnen, 
die Art, wie das Christentum das Heidentum und den Kampf, den 
das Heidentum gegen jenes führte, direkt als Wirkung der Dämonen 
betrachtete. — In dem Gottesdienst der Heidenwelt, in der feind- 
seligen Stellung, welche diese zum Christentum einnimmt, in der 
Irrlehre, namentlich der Gnosis, in allen Versuchungen, die von dort 
ausströmen, wittert der Gläubige dämonische Kräfte. Mit starker 
Phantasie zeichnet W. (vgl. S. 24) die Stimmung der Christen, die 
sich auf Schritt und Tritt von Dämonen umlagert fühlen. Trotz aller 
Bewunderung des hier bewiesenen Geschickes einer fesselnden Ge- 
samtdarstellung, muß doch auch hier eine gewisse Einseitigkeit der 
Darstellung hervorgehoben werden. Ich glaube, daß W. den Auf- 
klärungscharakter, den das junge Christentum vielfach doch 
auch zeigt, bei dieser Schilderung sehr stark übersehen hat. Das 
Christentum fühlte sich im Vergleich mit dem Heidentum doch 
nicht nur im Besitz der größeren Kraft, sondern auch der helleren 
und klareren Erkenntnis. In der Gemeinde zu Korinth zeigte sich, 
trotzdem sie den niederen Schichten der Bevölkerung angehörte, 
sofort der volle Radicalismus der Aufklärung xdvres yrücıv fyopev. 
Auf der andern Seite ist der heidnische nationale und lokale Götter- 
glaube stark unterhöhlt. Das augusteische Zeitalter und die folgen- 
den Decennien waren ein Zeitalter der Aufklärung unter den Ge- 
bildeten gewesen. In zwei bis drei Menschenaltern pflegt der Ra- 
dicalismus in die Massen hinabzusteigen. Die Erneuerung des reli- 
giösen Sinnes in der hellenischen und römischen Gesellschaft im 
zweiten nachchristlichen Jahrhundert scheint wesentlich nur die 
oberen Schichten der Bevölkerung ergriffen zu haben. Man muß 
mit der Möglichkeit rechnen, daß im Zeitalter der Apologeten für 
weite Kreise der Bevölkerung der Dienst der Götter stark an Re- 
alität verloren hatte. Auch für die Apologeten ist das Christentum 
doch in erster Linie Erkenntnis und Aufklärung, sie sehen auf den 
Aberglauben des Heidentums mit Stolz herunter, sie fühlen sich da- 
bei im Bunde mit den besten Vertretern der griechischen Weisheit. 
Allerdings sind gewichtige Ausnahmen vorhanden. Es wäre inter- 
essant dem genauer nachzugehen. Leider ist eine wirklich eindrin- 
gende Untersuchung der Apologeten hinsichtlich ihrer religiösen 
Stellung zum Heidentum noch nicht geschrieben. Ich kann hier nur 
einzelne Vermutungen aussprechen. z. B. scheint gerade das, was 
wir im Glauben der damaligen Zeit als das niedrigste ansehen 
möchten, der weit verbreitete Geister- und Gespensterglaube, die 
Magie, die Totenbeschwörungen und alle mit diesen Dingen zusam- 
menhängenden Erscheinungen, auch für die Christen, gebildete: 
Gott. gel. Ans, 1901. Nr, 10, ' 5] 


770 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


und ungebildete, eine Realität gewesen zu sein; sie empfandea 
hier mit Grauen die Werke des Teufels und seiner Dämonen. Be 
stimmte, damals beliebte Mysterienkulte werden denselben Eindruck 
auf sie gemacht haben. Auch sonst — so namentlich in den He- 
lungswundern des Asklepioskultes, im Orakelwesen etc. — mußte man 
Thatsachen zugeben, denen gegenüber man sich gerne mit der Er- 
klärung half, daß hier Dämonen ihr Spiel trieben. Aber der alltäg- 
liche heidnische Kult, der die Christen auf Schritt und Tritt umgab, 
war für viele Christen kaum eine Realität. Sie konnten darüber 
lachen und spotten, Euhemeros hatte in den christlichen Apologeten 
seine getreuesten Anhänger. — Weinel selbst macht eine Reihe von 
Stellen namhaft, in denen die heidnischen Götter als nichtige Wesen 
behandelt werden. Er macht demgegenüber geltend, daß hier nur 
überkommene alttestamentliche Urteile weiterwirken. Aber ist denn 
nicht auch die Theorie, daß in dem heidnischen Gottesdienst Dä- 
monen ihr Spiel treiben, und die Götter der Heiden selbst Dämo- 
nen seien, eine seit langem ausgebildete und fertige Theorie, welche 
die Christen nur zu übernehmen brauchten ? Schon von Xenokrates 
dem Schüler Platos vorgetragen, in der mittleren Stoa weiter ausge- 
bildet, in unserer Zeit von einem Schriftsteller wie Plutarch ver- 
treten, hat diese Theorie weithin das gebildete Hellenentum be- 
herrscht. Von dorther hat das Judentum die Lehre übernommen und 
sie mit der Sage vom Engelfall (Genesis 6) kombiniert. Die Theorie, 
daß der Götzendienst ein Werk der Dämonen sei, ist bereits im 
Henochbuch (c. 19) angedeutet, in den Jubiläen bestimmt ausge 
sprochen. Wenn nun das Christentum unter dem Vorgang des 
Paulus diese Theorie übernahm und überall das Heidentum für Dä- 
monenwerk erklärt, so liegt auch hier schwerlich hinter der Theorie 
überall die Erfahrung. Ich kann mich schwer davon überzeugen, 
daß jeder Christ, wie Weinel meint, hinter jedem Eingang eine 
Hauses mit seinen Laren und Penaten, hinter jeder Tempelsäule, 
in jeder Tempelhalle und in jeder Marmorstatue Dämonen gesehea 
hätte, die auf ihn lauerten, ihn anstarrten und ihm nachstellten. 
Das sind starke Uebertreibungen. Vieles von dem, was Weinel ia 
dem Abschnitt ausführt, ist richtig und beherzigenswert. Aber & 
fehlt die Nüance. 

Der Macht der Dämonen, »der Geister<, stellt nun nach Weind 
der Gläubige die Macht des Geistes gegenüber. Das ist richtig, nur 
daß wir eben noch dieses hinzufügen möchten, daß der Gläubige dem 
Aberglauben des Heidentums auch die bessere Erkenntnis, die sichere 
Wahrheit, den Glauben an den einen lebendigen Gott gegenüber 
stellte, | 


Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 771 


Immer von neuem betont W. dabei, daß formell zwischen den 
Wirkungen des Geistes und der Geister kein Unterschied sei, daß 
ihre Wirkungssphäre und Wirkungsart zunächst dieselben seien, und 
daß erst nachträglich nach bestimmten, von außen herangebrachten 
Indicien jene Wirkungen den bösen Geistern und diese dem guten 
Geist zugesprochen werden. Das ist bis zu einem gewissen Grade 
richtig, und doch wieder nicht ganz richtig. Wir stellen die Gegen- 
frage: Hat nicht auch hier des öftern von vornherein die »Vor- 
stellung« vom Geist und seinem Wesen die Erfahrung beherrscht ? 
Wenn die Christen (und schon die Juden) den Glauben hatten an 
das eine &yıov znvsüun des großen allmächtigen Gottes, konnte man 
da alle jene Wirkungen, die man den Geistern zuschrieb, auch 
eventuell dem Geiste zusprechen? »Gott ist nicht ein Gott der Un- 
ordnung, sondern des Friedens<, mit diesem Satz kritisiert be- 
reits Paulus die Geistwirkungen. Die Vorstellung vom Geist diri- 
giert die Erfahrung und ihre Beurtheilung. Wenn das Christen- 
tum auch innerhalb der hellenischen Welt, wie wir oben gesehen 
haben, eine Menge von Erscheinungen ekstatischen Schwarmwesens, 
die ringsum in der umgebenden Welt sich nachweisen lassen, ab- 
lehnt und nicht als Wirkung des Geistes anerkannte, wenn hier 
eine gewaltige Reduktion in dieser Richtung stattfand, so geschah 
das, weil von vornherein der Geist Gottes für den Christen etwas 
auch der Art nach himmelweit verschiedenes von den Geistern des 
Heidentums war. Auch hier hat die Vorstellung und der Glaube die 
Erfahrung beherrscht. 

In der Darstellung der Wirkungen des Geistes ordnet W. den 
gesammten Stoff nach psycho-physiologischem Schema; in zwei Haupt- 
teilen behandelt er zuerst die Erscheinungen auf dem motorischen, 
dann die auf dem sensorischen Gebiet des leiblich-geistigen Lebens, 
und bespricht so nach einander geistgewirktes Sprechen, Schreiben, 
Heilen, Wunderthun etc., dann geistgewirktes Hören, Sehen, Ver- 
nehmen, Erkennen, Geisteswirkungen auf dem Gebiet des Geschmackes, 
des Geruches, des Tastsinnes. — Auch in dieser Einteilung zeigt W., 
daß bei ihm sich das Interesse des Psychologen und Psychiaters 
eigentlich mit dem des Historikers kreuzt. Für die Zwecke der 
wissenschaftlichen Erforschung eigentümlicher Seelenvorgänge ist 
dies Schema natürlich außerordentlich geeignet. Aber es ließe sich doch 
fragen, ob nicht für die geschichtliche Würdigung dieser Vorgänge 
innerhalb der Entwickelung des Christentums andere Schemata ge- 
eigneter wären. Empfehlenswerter wäre z. B. meines Erachtens ein 
an I. Cor. 14 sich anlehnendes Schema nach dem Gesichtspunkt des 
Zweckes der Geistesgaben. Voranzustellen wären etwa die Geistes- 

51* 


172 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


gaben, die sich auf den Nutzen der Gemeinschaft beziehen, sei es 
unter dem Gesichtspunkt der Hülfeleistung (Heilungen, Exorcismen, 
sonstige Wunder, dıaxoviaı etc.), sei es unter dem der Offenbarung 
(Zukunftsweissagung, &Asyyuös, Enthüllung himmlischer Geheimnisse). 
Dann könnten die Gaben fulgen, die namentlich individuellen Wert 
haben und nur nebenbei den Zweck der oixodoun haben, dann die 
Gaben, die ausschließlich den Werth individueller Erfahrungen haben. 
Die Art, wie sich das Christentum zu diesen einzelnen Arten von 
Geistesgaben stellte, wäre dann wieder außerordentlich charakte- 
ristisch. Doch mag zugegeben werden, daß das Schema Weinels 
für Vollständigkeit und Uebersichtlichkeit Garantie bietet. 

Bei der Darstellung des geistgewirkten Sprechens beginnt W. 
mit der auf diesem Gebiet außerordentlichsten Erscheinung des Zun- 
genredens. Bestimmt wird Weizsäckers Versuch, das Zungenreden 
als eine absichtliche Einführung eines fremden religiösen Gebrauchs 
in die christlichen Gemeinden aufzufassen, abgewiesen. An eine 
absichtliche Mache ist freilich nicht zu denken, aber immerhin bliebe 
doch zu überlegen, ob hier nicht eine halb unbewußte Anlehnung 
an Vorgänge hellenischen Mysterienwesens stattgefunden habe, ob 
nicht wenigstens die Beliebtheit dieser Gabe in der korinthischen 
Gemeinde sich aus dem nicht ganz zum Bewußtsein kommenden 
Streben erklärt, ähnliches in der neuen Gemeinde zu haben, wie 
in den heidnischen Mysterien. — Auch Weinel kann sich dem Ein- 
druck nicht entziehen, daß diese Gabe des Zungenredens sehr 
rasch in der Kirche verschwunden ist. Ich möchte das noch stär- 
ker betont haben. Daß der Verfasser der Acta noch eine deut- 
liche Vorstellung davon gehabt habe, ist doch zum mindesten nicht 
sicher. Dasselbe gilt von den Aeußerungen des Irenaeus. Jene 
Zungenredner, die Celsus (Orig. c. Cels. VII, 9) beobachtet hat, 
hingen mit dem Christentum wohl nur ganz lose, oder gar nicht zu- 
sammen. Sicher aber sind die Zauberformeln in den koptisch-gno- 
stischen Schriften, wie in der Pistis Sophia nicht Zungenreden. Eine 
schöne Schilderung der Zungenrede aber findet sich in einer von 
Weinel übersehenen Stelle des Testamentum Job 48—507) (James 
Apocrypha Anecdota Text. a. Studies V 135). Hier beginnen die 
drei Töchter Hiobs, nachdem sie den Zaubergürtel vom Vater em- 
pfangen haben, mit Zungen zu reden. Die Schilderung ist überaus 
anschaulich : xal dveAußsv KAAnY xagdiav pyxete td tis pis peovely, 
anspdeykaro dt ti dyyskınjj duadéxtm Upvov dvazludacı vo eG 


1) So weit ich mich erinnere, machte mich H. Gunkel vor längerer Zeit auf 
diese wichtige Stelle im Gespräch aufmerksam. 


Weinel, Die Wirkungen des Geistes u, d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 778 


xara thy Ayyelınıv buvoloylav. Die zweite Tochter redet in der 
Sprache der deyat, die dritte in der der Cherubin. Von hier fällt 
auch rückwärts ein Licht auf 1. Cor. 13,2. »Und wenn ich mit 
Zungen von Menschen und von Engeln redete,< — Zungensprache 
ist Engelsprache. Hier an dieser einzigen Stelle haben wir auch 
Angaben über den Inhalt der Zungensprache. Die zweite Tochter 
preist in der Zungensprache rod tyndod téxov rd xofnua. »Daher 
wenn einer das Werk der Himmel erkennen will, kann er es finden 
in den Hymnen der Kasia«. Die dritte preist toy deondrnv tay desta 
(dostal sind Engelmächte, resp. die Hypostasen Gottes). »Wer die 
väterliche Herrlichkeit erfassen will, findet es aufgezeichnet in den 
Gebeten der Amalthea«. —. Von hier aus wird es klar, daß Paulus 
auch I. Cor. 2,13 vom Zungenreden spricht. »Dieses (d. h. die Ge- 
heimnisse der himmlischen Welt, den Inhalt der oogie) reden wir 
nicht in Worten von Menschenweisheit gelehrt, sondern in solchen, 
die der Geist gelehrt hat, indem wir pneumatisches mit pneumati- 
schem zusammenbringen. — Zungenrede ist Engelsprache, in der 
man die Geheimnisse der himmlischen Welt offenbart !). 

Nun verfolgt Weinel das geistgewirkte Sprechen durch alle 
Stadien hindurch bis zur begeisterten Rede. Sehr viel feine einzelne 
Beobachtungen sind hier gemacht. Doch scheint mir W. des öftern 
Geistwirkungen da zu sehen, wo keine vorliegen. Daß gerade die 
Hymnen des neuen Testaments, namentlich die in der Apocalypse 
(1. Tim. 3, 16), direct geistgewirkt sein sollen, scheint mir durch 
nichts angedeutet. Direct bestreiten möchte ich dies bei Apok. 18 
und ähnlichen Stücken. Dagegen stimme ich zu, wenn W. Act. 13, 2, 
Apk. 2,7 etc. namentlich 14, 13, 22,17 u.s. w. solche pneumatischen 
Worte findet, und verweise namentlich auf die schönen Ausführungen 
über Ignatius ad Rom. 7s. 

Geistgewirkte Schriftstellerei. — Daß hinter der Erzählung Her- 
mas Visio II, I, 1, wirkliche pneumatische Erfahrung ruht, glaube 
ich kaum. Von einem wirklich in der Verzückung gesehenen 
Schreiben bringt W. kein Beispiel. Ich erinnere daran, daß einem 
solchen Vorgang die Schlußvision des IV. Esra am nächsten kommt; 
hier haben wir ein geistgewirktes Dictat der 94 heiligen Bücher. 
Eine ganz merkwürdige Stelle bietet wieder Testamentum Hiob 48 
xal tovg Buvove ovo dnspdeykaro slacsy Tb nveüun Ev oroAfj ti 
éaurijs éyxeyooayuévovs. Sonst findet sich nur nachträgliches Auf- 


1) Auch die ekstatischen Seufzer und Gebete. die nach Rö. 8,26 der Geist 
den Gläubigen eingiebt, haben nach dem Zusammenhang die Geheimnisse der jen- 
seitigen Welt zum Inhalt. 


174 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


schreiben geistgewirkter Visionen (Apok. Johannes, Hermas, Petrus- 
apok. etc.). 

In dem Abschnitt über Heilungen und Wunder hätte schärfer 
wie bereits gesagt, die Reduction hervorgehoben werden können, die 
hier gerade das Christentum gegenüber der ungeheuren Fülle von 
Praktiken aller Art vorgenommen hat. Das officielle Christentum 
kennt eigentlich nur eine Art der Praxis, die Bedrohung der (die 
Krankheit erzeugenden) Dämonen durch den Namen Jesus. — Um 
gerecht zu sein, muß man allerdings wohl auch anerkennen, daß das 
genuine Judentum sich bereits im großen und ganzen auf das Aus- 
treiben der Dämonen im Namen des Gottes »Abraams, Isaaks und 
Jacobs« beschränkt hatte (Justin Dialog 85). Wo in den Zauber- 
papyri specifisch jüdische Stücke vorkommen, ist ihr Inhalt fast 
immer einfacher Exorcismus. — Auf die Vorstellungen, die hinsicht- 
lich des Gebrauches des »övou«« sich finden, hat Weinel sich nicht 
genauer eingelassen. Hier ließe sich noch vieles nachtragen. Die 
eigentümliche Bedeutung der elkesaitischen Beschwörungsformel (121) 
ist kaum gestreift. 

Geistgewirktes Hören. An die Spitze stellt W. eine Reihe sehr 
interessanter Erscheinungen, nämlich die des geistgewirkten Hörens 
unaussprechlicher geheimnisvoller Worte. Die uns am meisten inter- 
essierende Stelle ist II. Cor. 12, 3f, verwandt ist Tertullians Bericht 
de exhort. cast. 10 (cf. Hermas Vis. I,3,3). Mit diesen Erschei- 
nungen sind dann die schönen Beobachtungen zusammenzufassen, 
die Weinel pag. 201 ff über die Erscheinung der ekstatischen Ent- 
rückung zusammengestellt hat. Beide Erscheinungen fallen gewöhn- 
lich zusammen. In der ekstatischen Entrückung schaut man unsag- 
bare Geheimnisse, oder hört unaussprechliche Worte. Ganz deutlich 
schildert uns auch Tertullian an der genannten Stelle einen ähn- 
lichen, obenein durch ein mechanisches Mittel erzwungenen Vorgang: 
et visiones vident et ponentes faciem deorsum etiam voces 
audiunt manifestas. Wir stehen hier vor ungemein weitverbreiteten 
Erscheinungen und wichtigen religionsgeschichtlichen Zusammen- 
hängen, die ich hier nur kurz andeuten kann. Ekstatische Ent- 
rückung in die himmlische (oder auch die unterirdische) Welt zum 
Zweck der Erwerbung geheimer Kenntnis der unzugänglichen Welten 
ist Kern dieser Erscheinungen. Es scheint, als wenn diese Ekstase 
hauptsächlich und zuerst auf dem Boden der persischen Religion ge- 
pflegt ist’), wie sie sich denn noch heutzutage bei den muhameda- 
nischen Persern (den Suffiten) findet. Jedenfalls spielt diese Art der 


1) Vergl. zum folgenden ebenfalls meinen Artikel über die Himmelsreise der 
Seele. 


Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 775 


Ekstase eine Hauptrolle in den Mithrasmysterien. In dem großen 
Pariser Zaubercodex findet sich ein mithräisches Stück, das mit den 
von jWeinel beigebrachten Beispielen in engster Beziehung steht. 
Hier fährt ein Mithraspriester mit Hülfe mannigfacher Zauber- 
praktiken und endloser Zauberformel durch die Himmel, tritt vor 
den hohen Gott Mithras, empfängt in geheimnisvoller Sprache von 
ihm Offenbarungen und bekommt die Zusicherung, daß er sämmt- 
liche geoffenbarten Worte genau behalten solle. Die Parallele ist 
offenkundig. Es läßt sich weiter nachweisen, daß unter den Rabbinen 
etwa zu Paulus Zeit diese Kunst der Ekstase bekannt war. Unter 
Namensnennung wird es in der späteren Ueberlieferung berichtet, 
daß vier Rabbinen (Ende des ersten, Anfang des zweiten Jahr- 
hunderts) bei Lebzeiten >ins Paradies<« gegangen seien. Die Auffahrt 
ins Paradies ist freilich bald im Rabbinismus eine gefährliche und 
verbotene Kunst geworden. Es giebt aber trotzdem in der spät 
rabbinischen Litteratur Anweisungen in dieser Kunst der Ekstase, 
die an das erinnern, was Tertullian in dem oben citierten Satz an- 
deutet. Auch sonst ließe sich im einzelnen nachweisen, daß die Art 
der Ekstase, von der Paulus II. Cor. 12 berichtet, in ihrer Form 
bis ins einzelne durch traditionelle Vorstellungen bedingt ist. In 
diesen 'Zusammenhang gehören übrigens alle .die Erzählungen von 
Entrückungen in die Himmel, wie sie im Slavischen Henochbuch, im 
Testamentum Levi, in der Ascensio Jesaiae, in der griechisch-slavi- 
schen Apoc. Baruch, der Apoc. Abrahams, der (spätjüdischen) Him- 
melfahrt des Moses, im persischen Ardai-Viraf-Näme, in Lucians 
Nekyomantie u.s.f. vorliegen. 

Ein Ueberblick über diese sehr weit verbreiteten Erscheinun- 
gen ist ungemein wichtig und lehrreich. Er zeigt uns ganz deut- 
lich, daß in diesen und ähnlichen Erlebnissen gar keine Specifica 
des Christentums vorliegen, sondern vielmehr Erscheinungen, die 
ihre Wurzeln in einem sich zersetzenden Religionsboden haben, in 
dem Boden des großen vorchristlichen religiösen Synkretismus. — 

Es wird im Rahmen einer Recension leider unmöglich sein, 
auch nur annähernd auf die Fülle des von Weinel gebotenen Stoffes 
einzugehen. Zu dem vorzüglichen Abschnitt über das Gedanken- 
lesen bemerke ich, daß auch, wie schon angedeutet, die Sap. Salomos 
das Gedankenlesen als Frucht der Zogéa kennt (7,27). Zu dem 
interessanten Wort des Johannesevangeliums 16, 8f. liegt im Testa- 
ment Juda c. 20 eine merkwürdige Parallele vor. 

In der Erörterung über die pneumatischen Erfahrungen auf dem 
Gebiet des Geruchssinnes macht W. auf die weit verbreiteten Wen- 
dungen: Geruch des Lebens, Geruch der Unsterblichkeit aufmerksam. 


776 Gest. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


Durch Gunkel (198 Anm.) ist W. bereits auf die Parallelen Aethiop. 
Henoch 24f, Slavischer Hen. 8, 3 aufmerksam geworden. Ich wes 
darauf hin, daß in der persischen Religion außerordentlich häufig, 
— z. B. auch in den Schilderungen vom Aufstieg der Seele zum 
Himmel — vom Wohlgeruch der überirdischen Welt und vom 
Gestank der finstern Welt Angra-Mainius die Rede ist. — Mit dea 
von Weinel zusammengestellten Vorstellungen, die sich noch ver- 
mehren ließen, hängt dann auch, wie es scheint, der Ritus des Oel 
sakramentes zusammen !). 

Ein letzter Abschnitt in W’s. Buch behandelt die Veranlassungea 
und Mittel pneumatischer Zustände. Hier spricht W. naturgemäß 
von den Sakramenten. Natürlich konnte W. hier nicht das ganze 
Material beibringen. Eine Geschichte der sakramentalen Vorstellun- 
gen im Christentum des ersten Jahrhunderts, die gnostischen, man- 
daeischen, manichäischen Sekten eingerechnet — und der es um- 
gebenden Religionen wäre ein großes und wertvolles Unternehmen 
der vergleichenden Religionsgeschichte. In den pneumatischen Er- 
scheinungen und im Glauben an Sakramente und ihre Wirkungen 
hängt die junge christliche Religion am allerengsten mit der um- 
gebenden religiösen Welt zusammen. Hier hat es den stärksten 
Tribut an die Außenwelt bezahlt. Hier wie dort hat die vergle- 
chende Religionsgeschichte ihr eigentliches Feld. Und ein schöner 
Beginn der Arbeit ist mit Weinels Werk gethan. 

Was zum Schluß die Quellen anbetrifft, die W. bei seiner Arbeit 
benutzt, so sind diese fast vollständig benutzt und ausgeschöpft. 
Nur möchte ich fragen, weshalb W. einen Schriftenkreis gar nicht 
benutzt hat, dessen Quellen doch sicher in das zweite Jahrhundert 
hineinfallen, nämlich die Pseudoklementinen. So manches Ihter- 
essante wäre hier über Visionen, Dämonenaustreiben, Fasten, Wir- 
kung der Sakramente zu lernen gewesen. M. E. werden diese 
Schriften, die ich zu den wichtigsten Quellen des religiösen Lebens 
des zweiten Jahrhunderts zählen möchte, seit langer Zeit über Ge- 
bühr vernachlässigt. 

Hoffentlich schenkt uns W. bald die geplante Fortsetzung seines 
Werkes. Es wäre immerhin möglich, daß er dort manches, was von 
uns in diesem ersten Teil vermißt wurde, nachholte. Wie viel wir 
auch immer an principiellen Bedenken gegen Weinels Ausführung 
einzuwenden hatten, so scheiden wir doch von dem Buch mit dem 
lebhaften Bewußtsein, daß die Kenntnis des christlichen Lebens der 
ersten Zeit hier eine ganz wesentliche Bereicherung erfahren hat. 

1) s. Himmelsreise der Seele 1389. Anm. 


Göttingen, Juli 1901. Bousset. 





Origenes Werke. 8. Bd, Herausgegeben von Klostermann. 777 


Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte heraus- 
gegeben von der Kirchenväter-Commission der Kgl. Pr. Akademie der Wissen- 
schaften. Origenes Werke. 3. Bd. (Jeremiahomilien, Klageliederkommentar, 
Erklärung der Samuel- und Königsbücher) herausgegeben von E.Klostermann. 
L und 351 S. Leipzig, Hinrichs 1901. Preis 12,50, geb. 15 Mk. 


Origenes’ Schrift gegen Celsus ist uns in dem einen Vaticanus, 
die Schrift über das Gebet in dem einen Cantabrigiensis, sein Jo- 
hanneskommentar in dem einen Monacensis erhalten, die Jeremia- 
homilien verdanken wir dem einen Scorialensis & — III — 19 (11. 
12. Jabrh.)*). Daß eine ängstlich konservative Haltung, wie sie 
einem aus einer Reihe von Zeugen rekonstruierten Archetypon gegen- 
über oft geboten ist, einer einzelnen jüngeren Handschrift gegenüber 
sehr übel angebracht sein kann, ist eine bekannte, wenn auch öfter 
vergessene Thatsache. Wie in der Schrift gegen Celsus die Philokalia, 
so giebt auch in unserem Falle die indirekte Ueberlieferung schon 
einen äußeren Maßstab für die richtige Schätzung der direkten. 
22 Homilien zu Jeremias sind uns erhalten, davon 12 im griechi- 
schen Text und in der Uebersetzung des Hieronymus (H), 8 nur in 
S, 2 nur in H. Die griechische Vorlage des H., die sich bei der 
Freiheit des Uebersetzers nur zum Teil wiedergewinnen läßt, ist 
von vielen größeren und kleineren Lücken und Korruptelen in S 
frei. Zu H., der mit großer Umsicht und Vorsicht, auch unter 
Heranziehung neuen hslichen Materiales ausgenutzt ist, kommt dann 
noch die fragmentarische Tradition in den Prophetencatenen ?) (= C), 
denen wir auch die S. 199—232 edierten (zum Teil neuen) Frag- 
mente aus den verlorenen Homilien und die aus dem Kommentare 
zu dem @oijvou (S. 235—278) verdanken. Die Catenen gehen über- 
wiegend mit H zusammen. — Für die Homilie über I Kön. 28, 3—25 
ist auf Grund des Monac. 331 und der Streitschrift des Eustathios 
eine Textgestalt gewonnen, die im ganzen abschließend sein wird. 


1) = 8. Da sich eine im Auftrag der Akademie gefertigte Kollation als 
wenig zuverlässig erwies, wurde der ganze Text photographiert, so daß wir nun 
eine bis auf den Buchstaben getreue Wiedergabe erhalten (8. XXXV). Als eine 
Abschrift ist Vaticanus 623 für die Homilie des Clemens bereits von Stählin und 
Barnard, jetzt auch für Origenes von Klostermann erwiesen worden. Wegen 
ihrer Konjekturen tritt sie öfter im Apparate auf. 

2) Die Grundsätze, die Kl. für die Benutzung der Hss. zuerst im Archiv I 8 
aufgestellt hat, sind durch die neueren Forschungen Faulhabers und Lietzmanns 
bestätigt worden. Für die Hss. kann ich auf Lietzmann GGA. 1900 S. 926. 927 
verweisen, 


778 Gott. gel. Anz. 1901. Mr. 10. 


Den Schluß des Bandes bilden 22 Origenesfragmente aus der Catene 
zu den vier Königsbüchern, für die drei Hss. benutzt sind. 

Die Vorrede giebt über die hsliche Tradition und über die 
Ausgaben alle nötige Auskunft. der Apparat ist knapp und sehr über- 
sichtlich, trotz der großen Summe von Sammel- und Denkarbeit, die 
geleistet ist. Der Stellennachweis geht, wo es nötig ist, auf die 
direkte Tradition der Bibelstellen und das Material der Hexapla ein 
und giebt durch Parallelen aus Philo'), Origenes und den von ihm 
abhängigen Autoren reiche Anregung zu tiefer dringender Forschung. 
Vor allem aber ist die Emendation sehr energisch in Angriff ge- 
nommen, auch durch Blass, Diels, Koetschau und Lietzmann geför- 
dert worden. Mit besonderer Freude begrüße ich das Kreuz, mit 
dem jetzt oft schwerere Korruptelen bezeichnet sind’). Kurz Kl.s 
gründliche Arbeit beweist, daß die strengen Forderungen, die man 
an jeden Editor stellen soll, auch bei Kirchenschriftstellern durchaus 
erfüllbar sind, und wenn ich mich in den Grundsätzen mit ihm einig 
weiß, bleiben nur im einzelnen Differenzen, zum Teil unerhebliche. 
14,20 fora yao Expepibousva ax’ Euov ta gavda wird mit Unrecht 
ia’ vermutet. Nicht daß durch ihn (das &xe:£oüv geschieht wesent- 
lich von Gott), sondern daß aus seinem Innern das Böse verbannt 
ist, darauf kommt es an, vgl. 15,19 det riyv olxodounv rijg xaxlas 
xoeravaladijvar &xd tis Yyurüs judy. — 16,23 ef cw ovy &georoy 
(oft in LXX und N.T.) xegi nuäs ist passender als der Superlativ 
&pıorov (so C)?). — Zu 23,20 deov zudevdiva ... of dé ov wb- 
vov obx &xaudevdnoav wird im Anhange bemerkt: »deov verlangt 
hier und sonst einen Nachsatz, der nicht immer da ist; oder sollte 
es auch = déov Eoriv (vgl. S. 123, 4) sein können?« deov ori, dann 
auch einfaches d&ov statt der gehört freilich zu den beliebten peri- 
phrastischen Mitteln der xoıwr (s. meinen Index zu Aristeas S. 180 
185), und so ist Ödov 26, 10. 27,24 gebraucht. Aber an unserer 
Stelle fehlt der Nachsatz zum absoluten Part. ebenso wenig wie 
23, 30 déov adriy émoreépey, 7] dé... Kl. scheint übersehen zu 

1) Zu 8,32ff. vgl. Philo De opif. $ 134 ff. Leg. alleg. I $ 31 ff., zu 122,25 
vgl. Philo De congr. erud. gr. § 162 ff, zu 218,20ff. Leg. alleg. II § 102 (vgl. 
Ryle 8. 164), zu 279 die bei Ryle 8. 258. 259 angeführten Philostellen. Ich er 
innere daran, daß Ryles »Philo and holy scripture« für die Auffindung der Pa- 
rallelen gute Dienste thun kann. — KI. verspricht S. XI? eine Studie über den 
Jeremiatext des Or., »der sich in auffallender Weise mit der als lucianisch be- 
trachteten Handschriftengruppe berührt«. 

2) Der Leser thut gut, die im Anhange gegebenen wertvollen Nachträge 
8. 348351 einzutragen, die ich im Folgenden zugleich berücksichtige. 

8) 119,4 scheint mir die Lesart von C sprachlich bedenklich, auch 149, 6 
bleibe ich bei 8. Dagegen folge ich 35, 28. 41, 19 der Lesart von C. 


Origenes Werke. 8. Bd. Herausgegeben von Klostermann. 779 


haben, daß nach diesem d&ov sich oft im Nachsatz das die Antithese 
verschärfende ö% findet (Brinkmann, Rh. M. LVI S. 75, Orig. I 97, 4)'); 
es fehlt 28, 9. 12. 107,8. 226, 11.19. — 41,15 ist asorlav als Ob- 
jekt zu Fegansdvov (ueprvpöv ? Kl.) gedacht. Man darf schwören, 
um ein starkes Mißtrauen zu heilen, zu beseitigen. — 50,3 zxdvra 
yao tk nag aurdv moe(rm ist ohne jeden Grund advr@ geschrie- 
ben und der kausale Gebrauch von wzagdé mit Akkus., den ich GGA. 
1899 S. 289 besprochen habe, verkannt. Ich füge den dort vorge- 
führten Beispielen jetzt 154, 2. 4 und Epiktet II 2,20 z6 ye wag’ av- 
r6v hinzu. Ebenso ist 49, 33 rd EM adrd ovverédcoey ein dem Origenes 
sehr geläufiger Gebrauch von éx¢ vorkommt, wenn statt dessen im 
Anhange wag’ vorgeschlagen wird; vgl. 160,7 +d xegt tov én ool 
peddov, 64,21 Öcov Enlıi éxvrdy bxodrpa und ähnlich 52, 3. 107, 10 
117, 21. 124,7. 157, 31. 165, 17. 237, 8. — 94,13 xal rodro td apdo- 
nun xoAy Ev huty gory, drt ply yao ndvv dldyms Eraıpowevorg 
.. «, 6c d3 ist im Anhange das epexegetische yég, das ja an und 
für sich ganz entbehrlich, aber (s. meinen Index zu Comm. Arist. III 1 
S. 183) gar nicht selten ist, verkannt. — 132, 22 un dpoguds tes Aau- 
Bavéro dv obx Hxovee scheint mir verständlich: Nehme niemand den 
Vergleich, den ich hypothetisch gebraucht habe, zum Anlaß, mir 
Theorieen zuzuschreiben, die ich gar nicht ausgesprochen habe. 
H. kann man hier offenbar nicht trauen. — 153,24 ist das feine 
daR % (67,17. 166, 33), das natürlich nach z/ ebenso gut wie nach 
ovdéy stehen kann, von Koetschau im Anhange verkannt worden. — 
173,28 &av yap did cov Bedv xal roy Aoyov odbtod Bléx@ ti eig 
aurdv »wenn ich eine Einsicht in es (das Bibelwort) habe«, ähnlich 
180,6 xl oxon&v ebyoum sbplaxsıv ti elg tov téxov dAndeg. Also 
scheint Lietzmanns Vorschlag im Anhange unnötig. — Zu den Wen- 
dungen 174, 24 todpa xal eino, 293, 15 roAurcn?) xal ela, die im 
Anhange gegen Aenderungen, die Subordination herstellen wollen, 
in Schutz genommen werden, vergleiche ich noch 61,32 ueAAsı ve 
éxitoApay 6 Adyog xal Adyev (182,20, Orig. I 52, 25. 87,12). — 
188, 8 Sedov xdyw torodtog yEvoyaı müßte gut griechisch heißen 
&pedov yeveodaı. Wie nun ein dpedov yevolunv psychologisch ebenso 
verständlich wäre wie Sedov röynv efyov bei Epiktet II 21,1, so 
dürfen wir nach andern Stellen, die eine Verwechselung des Optativs 
und Konjunktivs (Radermacher, Rh.M. 1901 S. 208) verraten (39, 13 
side xal Husis Akyausv, 21 side sEopodoynowmpsPa, 142,26 dvonras 


1) II 84, 25. 144,7. 189,9. Auch odrog 83 77,8 im Nachsatze des Vergleiches 
kann richtig sein (so oft bei Alex. Aphr.). 
2) Das fa durfte wenigstens nicht in den Text gesetzt werden. 


780 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


vielleicht richtige Konjektur, aber s. 284, 24), dem Origenes des 
Konjunktiv zutrauen. Nicht besser wird das Griechisch durch das 
von Kl. im Anhange gebilligte ysvrjoouns (vgl. Gal. 5, 12). Auch für 
190, 2 ri wot xal rodyuacıv, verweise ich auf die Beispiele m 
Schenkls Index zu Epiktet S. 689. 

Eine Frage von fundamentaler Bedeutung wird S. X. XXI 
nur berührt. Die Thatsache, daß uns viele antike Reden, profane 
und christliche, durch tachygraphische Nachschriften erhalten sind, 
ist in neuerer Zeit oft besprochen worden, besonders gründlich voa 
v. Arnim‘), der daraus die wichtigsten Konsequenzen für die Ge- 
schichte des dionischen Schrifttums gezogen und mehrere Doublettea 
als verschiedene Nachschriften eines öfter gehaltenen Vortrages erklärt 
hat. Nun bezeugt uns Eusebius H. e: VI 36, 1: date ra eksfxovrd 
pac Eryn tov Qoryévny yevdusvov, ire ON) uspioınv Fdn ovddckdpe- 
vov & tis waxoais nagacxevitc Ev rag Earl rob xorvod Aeyoutves 
wurd diadebeco tayvyodporg*) peradaBely Enırokpar, ob xedregdr 
mots tovro yeveodaı cvyxeywonxdra. Die Worte &re — FEcw verstehe 
ich so, daß Or. sich solche Uebung angeeignet habe, daß er später 
seine Predigten nicht vorher auszuarbeiten brauchte. Jedenfalls sind 
hier trachygraphische Nachschriften bezeugt °). Nun fallen nach Kls 
Nachweis S. X. XLV, Archiv S. 6 die Jeremiahomilien und wohl 
auch die Homilie über die &yyaoroluvdos nach 244, also in die von 
Eus. bezeichnete Periode*). Sind sie solche Nachschriften, und läßt 
sich das beweisen? Ich glaube es zu können. Nach der Einleitung 
der Homilie über die &yyaorpluvdos war der Predigt die Vorlesung 


1) Leben und Werke des Dio von Prusa 8. 173ff.; vgl. Schenkl, Ambros 
Opera 1 2 8. II; Norden, Antike Kunstprosa S. 536'. Ein neues Beispiel bieten 
die von Morin entdeckten Predigten des Hieronymus, wie die von Morin Berw 
d’histoire et de litt. religieuses I 1896 S. 424—426 besprochenen Stellen beweisen. 
— Für die Probleme, die uns solche durch Nachschrift erhaltene Vorträge (Fret- 
dentbal, Der Platoniker Albinos S. 303, Busse, Comm. in Arist. XVIII 1 S. VIIf, 
IV 1 S. XXXV, Skowronski, De auctoris Heerentt et Olympiodori Alexandr 
scholis, Breslau 1884, 8. 44 ff., Consbruch, Zur Ueberl. von Hephaestions byzsse- 
6ıov Halle 1901 S. 41) stellen, sind methodisch sehr lehrreich die einschneidenden 
Folgerungen von Fr. Marx für Aristoteles’ Rhetorik, Berichte der sächs. Ges. der 
Wiss. 1900, der 8. 272! einige Beispiele der Anwendung der Kurzschrift anführt. 

2) Vgl. VI 23, 2. 

8) Dieselbe Thatsache bezeugt auch Pamphilus’ Apologie (Mignes P. Gr. 
XVII 545 C) und für die Josuahomilien Rufin (P. Gr. XII 825). 

4) Aus den einzelnen S. IX. X angeführten Beziehungen läßt sich die Chro- 
nologie der Homilienwerke nicht ganz sicher bestimmen. Nach 8. 89, 25 folgte 
auf Propheten-Vorlesung und Predigt Vorlesung aus einem andern Buche (in die 
sem Falle Numeri) und im Anschlusse daran Predigt. Es können also mehrere 
Homilienreihen gleichzeitig neben einander gelaufen sein. 


Origenes Werke. 8. Bd. Herausgegeben von Klostermann. 781 


von 4 Perikopen I Kön. 25—28 vorausgegangen. Da sich der Text 
in seinem ganzen Umfange nur in mehreren Gottesdiensten exege- 
tisch behandeln lasse, sagt Or. — man sieht, wie die Alluren der 
Sophisten in der Kirche fortleben —: 6 tf wore Bovdetar 6 éxioxo- 
KOS AQotEvdtw TÜV recodewmyv, iva xegl rodto doyodnPapev. ta xeEol 
Tis Eyyaoıgıuvdov, pyoty, Ebsrabeodn (283, 21 ff.). Mag man in den 
letzten Worten eine Bemerkung des Tachygraphen über den Zwischen- 
ruf des Bischofs oder eine Wiederholung dieses Zwischenrufes durch 
Or. sehen, jedenfalls hat der Bischof ihm das Thema, als er schon 
auf der Kanzel stand, gestellt‘), die Rede ist im wesentlichen im- 
provisiert, also tachygraphisch aufgezeichnet ?). Nicht ganz so sicher 
ist ein anderer Fall. In der 2. Jeremiashomilie 19,9 heißt es: dua 
tovro 6 ’Inooöüg Banritsı (Tdya viv ebolann toy Adyov) Ev nvevuarı 
&ylo xal vgl (Luk. 3,16). Die Parenthese scheint sich am natür- 
lichsten zu erklären, wenn Or. die Bibel (codices der Bibel gab es 
ja sicher) vor sich hat und nach der Stelle sucht. Er will wohl auf 
den Wortlaut der in den Zusammenhang passenden Stelle Lukas 3, 17 
eingehen und scheint die Stelle nicht gefunden zu haben. Aber 
auch wenn man etwa im Sinne der S. 779 angeführten Stellen ver- 
stehen wollte »vielleicht finde ich jetzt die Erklärung«, auch so 
macht die Stelle jedenfalls den Eindruck momentaner Improvisation. 
Denselben Eindruck rufen Stellen hervor wie 130,2: Er kann auf 
die Erklärung des einzelnen nicht eingehen tod yedvov Exelyovrog, 
151,7 «lta, éav dof, xard Adkıv Ebstaomuev’) (vgl. 22,6. 34, 29. 
57,28. 89, 21 ff. 170,7. 173,5. 179, 30 ff.), und man thäte dem Or. 
gewiß Unrecht, wenn man meinte, daß er diesen Eindruck künstlich 
affektiert hätte. 

Die Konsequenz, die sich aus dieser Erkenntnis ergiebt, will ich 
mit Arnims Worten (S. 174) wiedergeben, weil gerade die gleich- 
artigen Beobachtungen auf verschiedenen Gebieten einander zu stützen 
geeignet sind. >Dank der Kunst der notarii wird den Augenblicks- 
eingebungen des Redners ein litterarisches Halbleben verschafft. Sie 


1) Der Bischof ist wohl auch 184, 22 raör« dé por feyevy 6 wagadodg pos 
zöv r6row (als Thema) gemeint. 

2) Darin kann uns natürlich das éédmxev (S. XLV) des Eustathius nicht 
irre machen; denn die Rede lag längst als Buch vor. 

3) Es ist zu bedenken, daß sicher zwei, vielleicht mebrere Predigten, auf 
einander folgten, s. S. 780%. Wahrscheinlich müssen wir die durch die aquitani- 
sche Pilgerin und Hieronymus für Bethlehem bezeugte Sitte, daß mehrere Pres- 
byter und zuletzt der Bischof hinter einander predigten (Morin a.a.0O. 411 fi.), 
schon in der Zeit des Or, für Caesarea voraussetzen. Darum die verschiedene 
Länge der Homilien, 


782 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


werden dadurch nicht wirkliche Litteraturwerke; die Nachschriften 
dienen nur zur Erinnerung an den mündlichen Vortrag. Wann und 
wie die Homilien zu Adyoı &xdsdouevor geworden sind, entzieht sich 
unserer genaueren Kenntnis. Selbstverständlich sind sie sofort durch 
die tachygraphischen Nachschriften verbreitet worden. Eine eigent- 
liche Buchausgabe') dieser Homilien (wie der Briefe, Eus. VI 36, 3) 
ist vermuthlich nach dem Tode des Or., schwerlich von ihm selbst 
veranstaltet worden. Denn es ist sehr charakteristisch, daß die Be- 
ziehungen nicht nur unserer Homilien, sondern auch der verschiede- 
nen Homilienwerke auf einander ?) in Form von Hinweisen nicht auf 
das schriftlich niedergelegte, sondern auf das von dem gleichen 
Hörerkreise gehörte lebendige Wort gefaßt sind. Die Sammlung, 
die nach dem Tode des Or. veranstaltet wurde, wird sich aus sehr 
verschiedenen Quellen zusammengesetzt haben. Eine Doublette?) ist 
wohl so zu erklären, daß entweder mehrere Nachschriften verschie- 
dener Predigten über das gleiche Thema, oder tachygraphische Nach- 
schrift und Koncept des Or. neben einander gestellt wurden. 

Die Erkenntnis, daß die tachygraphisch nachgeschriebenen Pre- 
digten des Or. nicht im strengen Sinne Litteraturwerke sind, ist 
auch von großer Bedeutung für die Beurteilung der Sprache und 
des Stiles‘). Wenn Norden S. 549 meint »Ein Redner war Origenes 
so wenig wie Aristarch, Varro, Philo, Hieronymus«, so möchte ich 
dies Urteil einschränken. Or. hatte alle Anlagen zum bedeutenden 
Redner, aber sie waren gebunden durch die gegebene Predigtform. 
Die streng exegetische Form der Predigt macht jede künstlerische 
Komposition im Großen unmöglich. Ebenso hemmend und lästig ist 
der Zwang, die besten und höchsten Gedanken nicht aus dem eige- 
nen Innern frei zu entwickeln°), sondern als schriftgemäß zu er- 


1) Ich zweifle nicht, daß auf diese eine Quelle unsere gesamte Tradition 
zurückgeht, und sehe keinen Grund zu der Vermutung (S. XXIII), daß sich 
manche Differenzen zwischen H und S aus der Benutzung von zwei Stenogrammen 
erklären. 

2) S. IX. X und S. 11, 11. 41,25. 89, 25. 110, 23. 

8) So XIV und XV, genauer 125, 11—126,26 ~ 119,5—120, 25, 126, 27— 
127, 10 ~ 110, 18—111, 4, 127, 11—128, 24 ~ 111, 5—112, 18, 129, 1—16 ~ 
107, 23—109, 15. 

4) Die Bibelcitate sind natürlich auch unter diesem Gesichtspunkte zu be 
erachten. 

5) Man fühlt es oft, wie schwer sein freier und enthusiastischer Geist an 
der kirchlichen Gebundenbeit zu tragen hatte. Ich setze eine Stelle hierher, zum 
Nutzen unserer Kirchenbehörden in deutscher Uebersetzung (S. 62,2): »Denn die 
göttliche Thorheit ist weiser als die Menschen. Hätte ich von der göttlichen 
Thorheit geredet, wie batten meine Verleumder mich beschuldigt, wie hätten sie 


Origenes Werke. 8. Bd. Herausgegeben von Klostermann. 788 


weisen, meist durch das Mittel allegorischer Auslegung. Or. hat end- 
lich auf das Niveau volkstiimlicher Sprache nicht herabsteigen wollen 
und können, aber gelegentliche Anpassung an dieselbe und vor allem 
die bestandige Durchsetzung mit Bibelworten fiihrt eine Mischung 
der Sprache herbei, die einen einheitlichen kunstgemäßen Stil nicht 
aufkommen läßt. Die Rücksicht auf das Publikum und die Ge- 
schichte der Litteraturgattung, welcher die christliche Predigt ange- 
hört — und gerade in Origenes’ Predigten zeigt sich der Einfluß 
der Diatribe in dem starken dialogischen Element und in der Vor- 
liebe für Satzlösung, wie auch oft in den Gedanken (94, 16. 81, 25 ff. 
149, 15.16) —, erklärt die Thatsache, daß das sprachliche Niveau 
der Predigten des Or. beträchtlich tiefer liegt nicht nur als das der 
Schrift gegen Celsus, sondern auch als das der Kommentare. Aber 
ich zweifle nicht, daß Or. eifrig gefeilt hätte, wenn er je eine Buch- 
ausgabe dieser Homilien besorgt hätte. 

Ich stelle kurz einige Erscheinungen zusammen, die mir für die 
xovvy im Gegensatz zur atticistischen Schulsprache charakteristisch 
scheinen'): Wortschatz: ßaosiv, Bäoıs, Bovvds (27, 6 fehlt 
im Index), td EAsog, xaralıumdvev, orectaouata xal xgoovs, ovy- 
zonodea. statt zyorjota:r, éexididdvae éavrdyv, tduxdg. Bildungen wie 
“Eimuarındg und denynuatixds, wegelopcriov, Onuctiov, ioyvoonorety 
Copatonosty, koyidev 44,20 und öfter mpiavery »kommen«, die zwei 
lateinischen Lehnwörter xogierov (vgl. Klostermann im Hermes 1901 
S. 156) und das durch Konjektur hergestellte Asyıov. — Aus der 
Flexion sind beachtenswert #sE 119, 11. 159,32. dgewv 99, 14. 134, 2. 
135, 19. — Zvı 45,11, Aunv 175,8. — éxoeorSaueva 14, 19 geguamocs 
19, 3 (aber Epgıbouevovg 26, 12), vevorixeroay 15, 1 redvrixeı 73, 16,7en- 
Ajoato 75,2. — oft epdgeon, olxreiojon 93, 16 olxreıgeon 92,8 ja 
oixteıgoüvra 91, 24 olxrergery 92, 24°), weıväg 112, 20, dedotm 92,3 
deeraı 56, 17°), tpavey 85,7 xaddeng 43, 12, alodavdnoeraı 49,17 
ovvauo<dn>Hivaı 173, 33, xaredydnyv 151, 1.2, sehr oft Nudprnoe, 
&ethav 137,14 eetharo 145,11, ldeadeı 92,1, werdBa 50, 18 dvdße 


mich gescholten! Wie wäre ich, obgleich sie Tausende meiner Gedanken als 
richtig anerkennen müssen, wegen dieses einen vermeintlich unrechten Wortes 
verklagt worden, daß ich von göttlicher Thorheit redete! Nun aber erkühnte 
sich Paulus, der weise Mann und Inhaber apostolischer Gewalt... .«. 

1) Was durch die nächsten biblischen Vorlagen gegeben ist, lasse ich aus 
dem Spiel, ebenso die z.T. stark überarbeiteten Fragmente. Stellen führe ich 
2. T. nicht an, wo der Index sie bietet oder der Beispiele viele sind. 

2) Ueber Accentuation wage ich nicht zu entscheiden. 

8) Trotz der bald folgenden zweimaligen deir«ı muß man in solchen Dingen 
bei der Art der Ueberlieferung natürlich ganz konservativ sein, 


784 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


76, 21. 133, 26 xareBeéro 169,8, Formen von éo@ sehr häufig als 
Präsens, oldauev 6,6. 22,12. 25, 24. 40,35. 68,4 (aber louev 34, 
18. 20) oidas 122, 24. 135, 18 ofdacw 58,20, schwache Konjugation 
der Verba auf u: dvedrixausv 32, 27 Ednaav 75, 9 dure ete. 
40, 32. 41, 5 ff. avolysıs 113, 12 devxvdav 141,13 ngo&dwxav 156, 17. 
— Notiert sei noch adverbiales réAcov 113,18 (vgl. Radermacher, 
Fleckeis. Jahrb. 1895 S. 243), rayéwgo = rdya 25,14, wely als Präp. 
mit Gen. 7, 3. 35,29 (Radermacher, Philol. N. F. XIH S. 166), zapd 
beim Komparativ statt # 62,33. 81,5. 89,18. 92,15. 133, 3, Ver- 
wirrung der Ortsrichtungen öxov = Öönoı 136,9 Exel 82,27 rapijva 
eis BaBvAdva 172, 27, konsekutives iva 14,13. 60.4. 78, 20. 82,9. 
160, 4. 289, 22, häufig ög gay etc. (statt &v) und bloßer Konjunktiv 
statt Konjunktiv mit &v z. B. nach xelv und uwézer, prädikative Stel- 
lung das Reflexivum 3,1?) 25,1. 32,18. 39,10. 52,11. 97, 7.9. 
189, 24. 193, 14, Beziehung von £avröv etc. nicht nur auf die 2. 
Person 24,8. 152, 11, sondern auch auf die 1. Person 35, 18. 40,31. 
101,19, Gebrauch des Relativums statt Interrogativum, eine völlige 
Vermischung des Perfekts mit Aorist, die Konjekturen wie die zu 
92, 30. 156, 10 vorgebrachten unsicher erscheinen läßt; man lese 
z. B. 131, 19 ff. wenoinxev ... eboev... Endiedev . . . NEROINKE 
oder 11,15. 52, 26 ff. 157,1. 2. 171,19. 192,14. Die schwindende 
Kraft des Perfekts verrät sich auch in Stellen wie wed¢g rods acxed- 
tyra eoynxdtas Ev ij wy 17,2 fvina edv oroydonrar weQuecnaxtvat 
dv Onoevtiv xal te veocoia mepevyevar, téte Hal adros aplxtara 
143, 14. — Sehr ausgiebig verwendet Or. die periphrastischen Mit- 
tel der xovv7, so eivaı mit Part. statt des einfachen Tempus, ra rs 
aneıAng etc. (s. meinen Aristeas S. 203). Zu den von Radermacher 
Rh. M. 1901 S. 207 gesammelten Beispielen füge ich r& xard tov; 
t6rovs tovtovs 34, 29. Vulgar erscheint auch &&sAdelv dv Biov 
137, 28. 288,1 (Gen. 227,22). Sehr beliebt sind die uns aus dem 
Latein geläufigen Wortstellungen wie wegi ob Asiuuaros, di’ 5 xd- 
Avupe, die in gleicher Fülle mir sonst nur aus Alex. Aphrod. be- 
kannt sind. Der Plural nach Neutrum Plur. steht (ausnahmsweise) 
14,4. 25,19. 26,9 (über 4,14 s. unten). 

Ich weiß sehr wohl, daß sich manche dieser Erscheinungen auch 
gelegentlich in ausgearbeiteten Schriften des Or. finden. Aber ich 
darf versichern, daß was ich in ihnen an solchen Charakteristiken 
der xoıvı) auf gleichem Umfange gefunden habe, einen kleinen Pro- 


1) Aber das von Blass zu 171,25 vermutete wagadıdaccı wäre ganz singulär 
bei Or. 
2) Die Konjektur im Anhange ist also unnötig. 


Origenes Werke. 3. Bd. Herausgegeben von Klostermann. 785 


centsatz im Verhältnis zur Häufung solcher Vulgarismen in den Ho- 
milien bildet. Die Indices der neuen Kirchenvaterausgabe gehen ja, 
mit Ausnahme des Radermacherschen zu Henoch, auf sprachgeschicht- 
liche Gesichtspunkte kaum ein’); es wäre wohl wünschenswert, daß 
für Schriften mit vulgärer Färbung eine Ausnahme gemacht werde 
und etwa, damit eine richtige Auswahl getroffen werde (subjektiv 
wird sie ja immer sein), ein Philologe mit der Zusammenstellung des 
sprachgeschichtlich Interessanten betraut werde. Ein Anhang von 
wenigen Seiten würde dafür genügen. Wie wichtig eine scharfe Ein- 
sicht in den sprachlichen Charakter der Homilien für die Textkritik 
im einzelnen ist, meine ich an Beispielen gezeigt zu haben. Müssen 
wir in den für den Sinn indifferenten Sprachformen die Tradition 
vorsichtig konservieren, in der Einsicht, daß wir über die Hand des 
Tachygraphen nicht hinauskommen können, aber auch in der zu- 
versichtlichen Voraussetzung, daß er seines Amtes treu gewaltet hat 
und daß Or. wirklich sich beträchtlich der Volkssprache angenähert 
hat, so stellen die tiefer greifenden Korruptelen, da zu den sonstigen 
Fehlerquellen noch die Möglichkeit einer Entstellung schon der Ur- 
schrift durch Hörfehler hinzukommt, der Kritik eine eigenartige Auf- 
gabe, deren Lösung sich die Divination nur wird annähern können. 

Ich gebe im folgenden einige Besserungsversuche: 4, 14 otzm 
tavta Evapyüs moog tov owrijga AdEat Av (st. Ödksınv) dvapeps- 
oda. 23,3 ula... Baoıklein. 27,24 déov (= det) obv Tues Ao- 
yiteotar, Ott éxnentaxaoy Exetvor tdv evioyiOyv ..., ndom nAEov 
Nueis cpagtdvres Eynaraleıpdnodusde. Das argumentum a minore 
ad maius wird gebildet 78,16 mit ed... ndoo nAcov, mit el... ado@ 
uüilov 223,21. 252,29. An unserer Stelle ist örı sinnlos; möglich 
wäre öre, aber wahrscheinlicher ist Or, &... ‚ndom nitov. Da 
scheint freilich örı ganz überflüssig, aber es dient öfter zur allge- 
meinen Bezeichnung der Abhängigkeit, deren besondere Art dann 
charakterisiert wird. Genau dieselbe Fügung findet sich 28, 13 Ao- 
yloaodaı Su, El ..., nom nAeov und 85,8. — 34,18 lowev <uiv> 
entsprechend dem folgenden fopev de. 35,9 odroı. 38,13 <> avrr. 
38, 30 Emideig. 41,6 aörd „od“ (im Sinne von adrd udvov). 43, 28 
elolv d& xal &AAoı Adyoı naga tov Adyov roy tijg dAndelas, Naga tov 
Adyov tov rüg exxAnotas. megutéuvovta td Fon nal iv xagdlay Bs 
te elneiv cmpgovitovory of YıAodopoüvres. Adyoı bedarf durchaus 
einer Bestimmung; denn die Adyoı, die die wahre, und die, die eine 
falsche wegıroun lehren, stehen in Antithese. Also Adyou ... wege- 

1) Für Wortschatz, soweit er bemerkenswert ist, und Begriffswelt habe ich 
Kl.s Index zuverlässig gefunden. Ich vermisse éez#@ey und éyxarale(xay, Warum 
ovyzeächnı angesetzt wird, weiß ich nicht. 

@stt. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 52 


786 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


teuvovres ta Hon xal chy xagdtav. Das Nächste (orte elxety ist 
sicher korrupt) ist etwa zu gestalten: os, p&p einelv, ompeorvitovory. 
44,17 fa d& xalt (statt xard) 1d dnAovoregov nagedecypa Asydi. 
46,6 verbinde ich ovvrgußYv peyddny tev éxayopévav xaxa@v und 
beginne mit 5¢ <oty> &av einen neuen Satz. 47,1 entspräche 2zg0 
Beazéov (wie dia Boazemv, z.B. Orig. I 55,2) dem üblichen Sprach- 
gebrauche. 47,10 oürwg (st. ovrog) wie bei Amos. 51,5 paxdguios. 
52,7 ist vielleicht «¢ u zu streichen. 53,9 äg ovx. 64,6 eldéva 
xo} Ste, ov (statt otc) wddcore Eorıv SvacPat, meds Exacroy Exıör- 
uta gorly tod Adyov. tt ydg pot Spedos, sl ...; 76,9 ws zepl 
(st. doxegel) Eupdyou tis yüs xal evradda diaddyerar 6 xeogyrns. 
83, 22 aurd? 88,31 <ndros> moods. 90,13 Ei st. dad. 93,8. 10 
usraßeAslv und psraBadet? 94,1 xal Enel (st. éxl) tev Asyoutvov 
&v tate yoapats & uEv Eorıv dnogentétega xal wrvotixotega, & dt 
avrédev yorcıua Toig voovor'), xegl piv TÜV drroppnTorsgmv .. ., 
epl O& tev avtddev yonoiuwmy ... 94,20 npoxailovnevnv ? 95,1 
zd meDavoyv dé xegl Tod?) éxatgeoPar, Otav two ématontar .... xal 
addy &Adoc éxatonree (st. éwatgetat). 106,10 xal el Bovdera’ ws 
enayysliaodaı (st. orsiAaodeı, implere H) thy careexiy wie 
148,25. 110, 4 &® &AAwy bestätigt, wie ich nachträglich sehe, 
durch H. 113,2 & det] die ist vielleicht der passende Gegensatz 
zu Ext tovtarv Tüv duxaernotwmy. 120, 6 ff. ist, wie im Anhange be- 
merkt, stark zerrüttet. Z.6 etwa Zorıv (deity nach H (s. z.B. 67,9 
und Orig. I 76,19). xarsyvaodn 6 xarayvmodeis hat erst Z. 10 
seine Stelle. xaefdusvoc ist im Anhange richtig auf Z. 9 gerückt, 
Z. 13 vermute ich 7) roy ovpyngpoy yevdusvov [of] aa ra (st. xal) 
ddınias. 121,2 fore st. éwel? 124,11 Toürov Enidegera toy voww 
nach 133,20. 126, 24 éAgpyeuy st. Agyerv, eine häufige Verwechse- 
lung. 127,2 fxm? vgl. 31,19. — 127,7 gow st. gory. 127, 29 ist 
im Anhange noch nicht ganz ins Reine gebracht. Es ist zu inter- 
pungieren: sverjoouey Ste dveudpdopoi tives Eouev, dv doa, 6Alyov 
Erı Eyovteg Ev adrolg „wenn überhaupt, nur wenig (Frucht) in uns 
habend“. Das limitirende & &ga habe ich GGA. 1899 S. 290 be- 
sprochen und füge jetzt 290, 7 hinzu. 133, 14 wecdBa? 151,13 éxdv 
d& wera roy évectata aldwa <elg tov wéddovta aldve> Fixmuev? 
165,18 etwa ov« dusAög. 178,34 wadtord vgl. 8,4. 174,11 xeude- 
yoyö, iva <un> 175,8 éxgdrer st. Egei. 189,10 7 <dud> roy Adyov. 
254.26 un éxl xddov dpedy yetodar adtaey h xaxia st. zyoqodat 
(£oyeodaı im Anhange), vgl. Koetschaus Index unter yvars. 


1) Bei Klost. neuer Satz. 
2) Vielleicht hier und Z. 12 zeel rd. 


Origenes Werke. 8. Bd. Herausgegeben von Klostermann. 787 


Nur wenige störende Druckfehler sind mir aufgefallen. S. 10 
ist im Apparat die Zahl 14, S. 26 die Zahl 9, S. 31 die Zahl 26, 
S. 291 die Zahl 12 ausgefallen. 33,3 fehlt die Klammer. 59, 8 
fehlen die Anfiihrungsstriche. Im Anhange ist 210, 11 statt 210, 21 
gedruckt. — Endlich noch einige praktische Vorschläge mit Rück- 
sicht auf künftige Bände! Der Ruhm prosodischer Aenderungen wie 
avrod st. adrod, orev St. zolav scheint mir nicht so groß, daß 
nicht die Entdecker auf die Ehre ihrer Nennung verzichten könnten. 
Die Raumverschwendung S. 145. 146 mißbillige ich. Die vom Autor 
citierten und die vom Editor verglichenen Autoren dürfen nicht in 
einem Register vereinigt werden (S. 316), oder sie müssen differen- 
ziert werden, etwa durch griechischen Druck bei wirklichen Citaten. 

Im ganzen kann ich nur freudig anerkennen, daß Kl. als Editor, 
abgesehen davon, daß er die Frage der tachygraphischen Nachschrift 
etwas zu leicht genommen hat, mit ebenso viel Einsicht seine Grund- 
sätze sich gebildet hat, wie er sie mit Energie durchgeführt hat. 
Den festen Grund hat er gelegt, und nur im einzelnen wird das 
Verständnis fortschreiten können, je mehr an der Hand der ge- 
sicherten Texte die liebevolle Versenkung uns den Menschen und 
seine Lebensarbeit bis in die feinsten Züge lebendig werden läßt. 
Ich rate jedem ab, die erste Bekanntschaft mit Or. in diesen Ho- 
milien zu suchen. Aber wer den Or. kennt und liebt, der wird 
diese einzigen authentischen Dokumente seiner Predigtthätigkeit 
nicht nur als geschichtliche Quellen werten — und wie interessant 
ist es zu beobachten, in welchem Maße er die Allegorieen und Ety- 
mologieen, die Textvarianten und die griechische Weisheit vor 
seine Gemeinde bringt! —, er wird auch gern öfter seine Seele in 
ihren feinsten individuellen Regungen und wechselnden Stimmungen 
belauschen und mit Wehmut in den Konflikten, die er andeutet, sich 
das tragische Schicksal vorbereiten sehen, daß die Kirche einen ihrer 
größten Geister nicht verstanden und verleugnet hat. 


Berlin, 11. April 1901. Paul Wendland. 





Weber, H., Lehrbuch der Algebra. Zweite Auflage. Bd.I. (XVI u. 704 S.) 
1898, Bd. II (XVI u. 856 S.) 1899. Braunschweig, Vieweg u. Sohn. 

Der eminente Aufschwung, den die Algebra im 19. Jahrhundert 
durch das Eingreifen der Gruppentheorie einerseits, der Zahlen- 
theorie andrerseits genommen hat, und der nunmehr an einem Ruhe- 

52 * 


788 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


punkt angelangt ist, ließ das Bedürfnis nach einer zusamınenfassen- 
den, in sich abgeschlossenen Darstellung derselben nach ihrem jetzi- 
gen Stande fühlbar werden. So ist das Erscheinen von Webers 
Algebra wohl von allen, nicht nur den jüngeren Mathematikern mit 
Freude begrüßt worden. Daß der ersten sobald eine zweite Auflage 
folgen mußte, beweist wie empfindlich die Lücke in der mathemati- 
schen Litteratur war, die hiermit ausgefüllt wurde. 

Der umfangreiche auf zwei starke Bände verteilte Stoff ist über- 
sichtlich und zweckmäßig gegliedert, und die Darstellung durch 
Ableitung aller zur Verwendung kommenden Hilfsmittel aus der 
allgemeinen Arithmetik, der Functionentheorie, der Theorie der In- 
tegrale u. s. w. von andern Lehrbüchern möglichst unabhängig ge- 
macht; hierdurch wird die Brauchbarkeit des Buches, besonders für 
den Studierenden nicht unwesentlich erhöht. 

Die Einleitung ist bestimmt, den modernen Ansprüchen an eine 
strenge Fixierung der Grundbegriffe gerecht zu werden. Auf den 
ersten Seiten begegnen wir dem Euklidischen Algorithmus, mit dem 
die Grundlage der Theorie der ganzen Zahlen gewonnen wird. Die- 
jenige der rationalen und irrationalen Zahlen wird auf die Lehre von 
den Verhältnissen gegründet, nachdem zuvor die Cantorschen Be- 
griffe einer Menge, insbesondere einer geordneten, einer discreten, 
einer dichten Menge eingeführt sind; die Stetigkeit wird durch das 
Dedekindsche Schnitt-Axiom, die Meßbarkeit durch das Archimedi- 
sche Axiom definiert. Auf die Existenz meßbarer, nicht stetiger, 
und (nach Cantor) stetiger, nicht meßbarer Mengen wird zwar hin- 
gewiesen, im Uebrigen aber auf die Frage der Abhängigkeit oder 
Unabhängigkeit der arithmetischen Axiome von einander nicht näher 
eingegangen '). Zur Definition der Irrationalzahlen werden auch die 
Cantorschen Zahlenreihen herangezogen und auf die Dedexindschen 
Schnitte zurückgeführt. Schließlich werden die negativen Zahlen und 
die Null durch die Gleichungen <+0 = x, z+(-z) = 0 undähn- 
lich die complexen Zahlen und die Operationen mit ihnen definiert. 

Im ersten Buch werden nunmehr die Grundlagen: die rationalen 
Functionen, die Determinanten, und, nachdem der Wurzel-Existenz- 
Beweis (im Wesentlichen nach Cauchy) geführt ist, die symmetrischen 
Functionen behandelt. Der hier erwähnte Baursche Satz, daß die 
Ordnung der letzten nicht verschwindenden Determinante |s,,,| die 
Anzahl der verschiedenen Wurzeln einer Gleichung angiebt, ist wohl 
als Corollar des Sturmschen geläufig ?), wenn auch vielleicht nirgends 

1) Vgl. hierzu namentlich O. Hölder, Die Axiome der Quantität und die 


Lehre vom Maaß. Leipz. Ber., Math.-phys. Cl. 1901 p. 1. 
2) S. etwa: Hattendorff, Die Sturmschen Functionen § 2. — Die von Baur 


Weber, Lehrbuch der Algebra. Zweite Auflage. 789 


gerade in dieser Form ausgesprochen worden. Einen ähnlichen Satz 
für zwei ganze Functionen f(z) = II(x—x,) und g(x) kann man an 
ihre Resultante anknüpfen, wenn man sie in der auch sonst be- 
9(&,) 
f"(@,) 
wendet, wie sie in der Sylvesterschen Verallgemeinerung des Sturm- 
schen Satzes auftritt. Die Tschirnhausen-Transformation wird allge- 
mein erörtert und auf die Gleichungen dritten, vierten und fünften 
Grades angewandt; für die Hauptgleichung fünften Grades wird ins- 
besondere außer der Bring-Jerrardschen auch die, im Bereiche der 
alternierenden Functionen rational erreichbare Brioschi - Kleinsche 
Normalform mit einem Parameter hergeleitet. Die bei der Tschirn- 
hausen-Transformation auftretende Bézoutiante macht die Einführung 
der quadratischen Formen und linearen Transformationen erforderlich. 
Für das Trägheitsgesetz der quadratischen Formen >}a,z,x, wird 
der bekannte indirekte Beweis gegeben. Dem gegenüber sei der 
direkte Beweis angedeutet, der aus der Anwendung des Cartesischen 
Satzes auf die Gleichung |a,+6,4| = 0 folgt: durch continuier- 
liche Aenderung der Coéfficienten einer Gleichung mit stets reellen 
Wurzeln ändert sich nämlich die Anzahl der Zeichenwechsel und 
Folgen nur, wenn das constante Glied der Gleichung durch Null 
hindurchgeht. — Nach Erklärung der In- und Covarianten wird für 
die cubische Form ein volles Formensystem, für die biquadratische 
ein volles Invariantensystem aufgestellt. 

Das zweite Buch ist der numerischen Existenz der Wurzeln ge- 
widmet. Die bekannten Realitätscriterien für die cubische und 
biquadratische Gleichung werden hergeleitet, deren letztere sich wohl 
zuerst, bei Waring finden. Das allgemeine Problem wird durch den 
Sturmschen Satz gelöst und dieser speciell auf die Kugelfunctionen 
und auf die Säcular-Gleichung f = |a,+6,2| = 0 angewandt. 

t, 


= y p24 M 








achtenswerten Form CI (z) = |a%"| Ew = |s,,,| an- 


Der Satz von der Wurzelrealität dieser Gleichung ist in zweifacher 
Hinsicht zu erweitern: einmal braucht man, nach Hermite, a, und 
a,, nicht als gleich, sondern nur als conjugiert complex vorauszu- 
setzen, ferner ist zu zeigen, daß die +1 reellen Wurzeln der 
Gleichung durch die m reellen Nullstellen jeder der Hauptsubdeter- 
minanten getrennt werden. Die Richtigkeit dieses allgemeineren 
Satzes folgt sofort durch den Schluß von » auf n+1, wenn man 


an seinen Satz geknipfte Bestimmung des Grades der Vielfachheit jeder Wurzel 
ist falsch, da sie auf dem Satze beruht, daß mehrere positive ganze Zahlen 
schon durch Summe und Produkt bestimmt seien; dessen Uurichtigkeit ist z. B, 
aus den beiden Zahlengruppen (8, 6, 3, 1, 1,) und (9, 4, 4, 1, 1,) zu ersehen. 


790 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 10. 
bedenkt, daß bei einer Nullstelle von a = 'a,+d,xr. die bilineare 


1,k= 1,2..," 
Form 
ff 


—-f= > 0a,,0a,, 0,0, = Ds a Fy Boe in 





1 
a Di Ma Oe 2 a,, @,, 


zerfällt, also dort das Vorzeichen von a,, hat. 
Daß die speciellen Sturmschen Functionen 


ı,k = 0, 1,..h 
8, = [84.1 | A= 0, et) 


nicht mehr als höchstens 5 Zeichenwechsel aufweisen können, kann 


man nicht nur für den Fall der cubischen, sondern auch für den der 
biquadratischen Gleichung ax‘+4b27*.. = o aus einer Relation, 
nämlich aus: 

(3a’d-Iabe + 66°)? (8g34+S3) = —483+ 36583-4878, 
erkennen. ; 

Durch die Kroneckersche Charakteristikentheorie, deren Anfänge 
sich übrigens schon bei Sturm selbst finden, werden diese Betrach- 
tungen, sowohl was die Anzahl der Variablen, als was die Art der 
Funktionen anbetrifft, in eine höhere Sphäre gerückt. Im Falle al- 
gebraischer Functionen gelingt es auch bei mehreren Variablen die 
Hermite-Sylvesterschen synthetisch gebildeten Ausdrücke der Sturm- 
schen Functionen in analoger Weise herzustellen ; dagegen ist die Er- 
zeugung solcher Functionen durch eine Verallgemeinerung des Sturm- 
schen Verfahrens bisher vergeblich gesucht worden. 

Der Satz von Hurwitz über Gleichungen, deren Wurzeln nur 
negative reelle Teile haben, ist dahin zu verallgemeinern, daß durch 
die Anzahl der Zeichenfolgen und Wechsel der Reihe: 


G, G_, G 


aml * =a 


" G,’''’ G_’ G — “sa 


a—{ 


1,G 





die Anzahlen der Wurzeln links und rechts der imaginären Achse 
angegeben werden. Der Beweis folgt einfach aus folgenden Beob- 
achtungen: wenn das letzte Glied a, = (— 1)"I1%: also eine 


reelle Wurzel das Zeichen ändert, so tritt ein Wechsel (oder eine Folge) 
n n—I1) 
in die Reihe ein; wenn G_, = (-1) ° II (, + 2,), also ein con- 
< 





Weber, Lehrbuch der Algebra. Zweite Auflage. 791 


jugirt complexes Paar, etwa x, , und z,, das Zeichen wechselt, so 





ist sgn = = sgn(— 1)"" a4, 2,..2%,_, = sgna,, also treten zwei 
a—3 

Wechsel (oder Folgen) in die Reihe ein; wenn irgend ein andres 
Cr Crt _ . e ve . 

G = |G-ı %-,--| sein Zeichen wechselt, so ändert sich wegen der 











3 
Relation G, 9 _ (2) = G,.,G,,, die Anzahl der Wechsel 
OC: 0c, 


und Folgen nicht. Natiirlich giebt es einen allgemeineren Satz, der 
die Anzahl der Wurzeln in einem zur imaginären Axe parallelen 
Streifen zu ermitteln gestattet. 

Des Weiteren folgen die unvollkommenen Sätze zur Wurzel- 
abgrenzung, inbesondere der Satz von Des Cartes, der fälschlich auch 
mit Harriots Namen verknüpft zu werden pflegt; bei Harriot findet sich 
nicht eine Spur eines solchen oder ähnlichen Satzes. 

Die Bernouillische Näherungsauflösung, die übrigens mit dem 
Eulerschen Recursionsverfahren eng zusammenhängt, kann man 
auch in Form einer Art periodischer Kettenbruchentwicklung dar- 
stellen: für eine quadratische Gleichung 2 —-ax+b = 0 ist näm- 


lich s,,,—as.+bs,_, = 0, also x = lim Sats — a, wie 
0 8, a—--: 


bekannt; für eine cubische Gleichung 2°—az’*+bx—c = 0 wird 
die Entwicklung durch die zwei Gleichungen 





SH ab: re 
5. a 6: rein 
Sen gt_ pe » Set age Saat 
u a—b (ad+9:77 tac: 
repräsentiert, u. 8. W. 
Bei den Kettenbrüchen 1 _ Ne+1,6 diirfte die 
Gass +1 1 Na, 6 
e += 
B 


Kroneckersche Zusammenfassung der zwischen den Teilnennern und 
Nennern der Näherungsbrüche bestehenden Gleichungen in die eine 
N, Na —™; Nat Nu N, = 0 nicht fehlen. 

Die Theorie der Gaußschen quadratischen Formen, sonst der 
Zahlentheorie angehörig, fügt sich hier, im Gewande der Theorie der 
quadratischen Irrationalzahlen, passend dem Rahmen der Algebra 


792 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


ein. Die Theorie der Einheitswurzeln und der quadratischen Reste 
beschließt das zweite Buch. 

Das dritte eröffnet die Algebra im engeren Sinne des Worte: 
die Theorie der algebraischen GroGen. Hier werden zunächit die 
grundlegenden Begriffe des Körpers, der Reducibilitat. der Adjunction, 
einer Permutationsgruppe, speciell einer transitiven, intransitiven, 
primitiven, imprimitiven, der Galois’schen Gruppe u. s. w. in ihrer 
Bedeutung für die Theorie der algebraischen Gleichungen erörtert. 
Nur Gleichungen mit metacyklischer (= auflösbarer) Gruppe er- 
weisen sich als auflösbar. Die Abelschen, speciell die cvklischen, 
Winkel- und Kreisteilungsgleichungen und die metacyklischen Glei- 
chungen fünften Grades werden aufgelöst, die Wurzeln metacvkli- 
scher Gleichungen höheren Grades nach Kronecker dargestellt. Die 
Nichtauflösbarkeit allgemeiner Gleichungen höheren als vierten Grades 
ergiebt sich aus der Einfachheit der alternierenden Gruppe von 
mehr als vier Größen. Die Unvermeidbarkeit des irreduciblen Falles 
bei Abelschen Gleichungen ungraden Grades wird nach Hölder be- 
wiesen. 

Der zweite Band ist außer der algebraischen Zahlentheorie 
wesentlich dem gruppentheoretischen Teile der Algebra gewidmet. 
Um in der zweiten Auflage für die insbesondere durch Frobenius 
und Hilbert geschaffenen Bereicherungen dieser Gebiete Platz zu 
gewinnen, mußte die Theorie der quadratischen Körper unterdrückt 
werden ; hoffentlich erscheint sie in der geplanten Fortsetzung des 
Werkes wieder. 

Im ersten Buche dieses Bandes wird zunächst durch Darlegung 
der abstracten Gruppentheorie die Grundlage für die darauf folgen- 
den Anwendungen gewonnen. Bei der Forderung des associativen 
Gesetzes für die Zusammensetzung der Elemente einer Gruppe sollte 
man doch darauf hinweisen, daß auch »nicht-associative<c Gruppen 
logisch möglich sind und wirklich existieren. So bilden die 
Cayleyschen Octaven eine continuirliche, ihre 16 Einheiten +1, 
tie, tia 1g, fiw (a<Pß; a,B = 1,2,3), die den Relationen 
1,+1 = ia if + 16 ia = (ie 2B) ty + ie (ip ty) = 0 genügen, eine end- 
liche Gruppe dieser Art. 

Die von einem Normalteiler geforderten Eigenschaften werden 
verständlicher, wenn man die Theorie der Zusammensetzung der der 
Zerlegung vorausschickt. Soll man nämlich für die Elemente einer 
Gruppe Systeme von je gleichviel Elementen so einsetzen, dab 
zwischen den Systemen dieselben Relationen wie zwischen den ur- 
sprünglichen Elementen bestehen, so ergiebt sich von selbst, daß das 


Weber, Lehrbuch der Algebra, Zweite Auflage. 798 


für das Einheitselement eingesetzte System eine Gruppe sein muß, 
und daß deren Elemente mit allen übrigen commutativ sind. 

Die Bezeichnung »>Teiler« müßte eigentlich für Normalteiler re- 
serviert bleiben, da nur diesen die Eigenschaft zukommt, die Gruppe 
wirklich so zu teilen, daß das Resultat der Teilung wieder als Gruppe 
existiert. 

Eine eingehende Behandlung wird den Abel’schen Gruppen uud 
deren Anwendung auf den Kreisteilungskörper zu Teil. Die Her- 
stellung einer Basis einer Abelschen Gruppe würde einfacher auf 
dem von Kronecker eingeschlagenen Wege erfolgen. Für die Con- 
stitution der Gruppen ist Dedekinds Commutatorgruppe von Be- 
deutung; sie ist in allen Normalteilern, deren Factorgruppe com- 
mutativ ist, als Normalteiler enthalten. Die fundamentale Fro- 
benius’sche Einteilung der Elemente einer Gruppe in Classen wird 
zum Beweise der Sylow’schen Sätze verwendet, auf denen der Nach- 
weis der Auflösbarkeit der Gruppen von den Ordnungen p»«, pqr--, 
u. a. wesentlich beruht. Schließlich wird der berühmte Bertrand- 
sche Satz von den Permutationsgruppen einfach bewiesen und dann 
zu den linearen Gruppen übergegangen. Das schwierige Haupt- 
problem der Theorie der linearen Gruppen, nämlich die Auffindung 
der zu einer gegebenen Gruppe holoedrisch isomorphen Substitutions- 
gruppe geringster Dimension, erhält seine Lösung auf Grund der 
Zerlegung der Frobenius’schen Gruppendeterminante in ihre irre- 
duciblen Faktoren. In der Theorie der Invarianten einer Substitu- 
tionsgruppe steht der Hilbert’sche Satz, auf dem die Endlichkeit 
der Invarianten - Systeme beruht, sowie Klein’s Formenproblem 
und Erweiterung des algebraischen Grundproblems im Mittel- 
punkte der Behandlung. Bei den Polyedergruppen wäre eine Be- 
handlung auch der 4 Polyedergruppen, die im vierdimensionalen 
Raume, und der 2, die im Raum von n >4 Dimensionen existieren, 
zu wünschen ; zumal jede endliche Gruppe einem Teiler einer dieser 
Gruppen isomorph ist. Die Isomorphie der Icosaedergruppe mit der 
alternierenden Gruppe 5ten Grades ergiebt sich am einfachsten, wenn 
man den Kanten des Icosaeders die Ziffern 01234 so beilegt, daß 
je 2 zusammenstoßende Kanten verschiedene, und in jedem Seiten- 
dreieck jede Kante und die mittelste von der gegenüberliegenden 
Ecke ausgehende Kante gleiche Bezeichnung erhalten ; den Drehungen 
des Icosaeders entsprechen dann Jie graden Vertauschungen der 
Ziffern der Kanten einer Ecke. Bei den binären Substitutionsgruppen 
im Congruenzkörper ist hervorzuheben, daß man nicht alle ein- 
fachen Gruppen so erhält; z. B. ist. die alternierende 7ten Grades 
nicht darunter enthalten. 


794 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


Die Gruppentheorie wird zunächst angewandt auf die meta- 
cyklischen Gleichungen von Primzahlpotenzgrad, auf die die anderen 
zurückkommen; insbesondere auf die vom achten Grade und auf die 
allgemeineren »Tripelgleichungen« dieses Grades. Für die allge- 
meinen Gleichungen achten Grades wird der Wimannsche Satz be- 
wiesen, daß sie nicht auf Formenprobleme weniger als 7ter Dimen- 
sion zurückzuführen sind. Als geometrische Anwendung folgt der 
Nachweis, daß die Gleichung der Wendepunkte einer allgemeinen 
Curve dritter Ordnung eine auflösbare Tripelgleichung neunten Gra- 
des ist. Zur Ermittlung der Configuration und Gruppe der 28 Dop- 
peltangenten einer allgemeinen Curve vierter Ordnung werden die 
63 Steinerschen Complexe, die Frobeniusschen syzygetischen und azy- 
getischen Tripel, Quadrupel, Complex-Paare und -Tripel und na- 
mentlich die 288 Aronholdschen Siebenersysteme eingeführt, von de- 
ren jedem die übrigen 21 Doppeltangenten und im Allgemeinen die 
Curve selbst rational abhängen. Daraus ergiebt sich schließlich die 
Constitution der Gruppe, die sich als einfach und vom Grade 288 - 7! 
erweist. Endlich wird gezeigt, daß in Bezug auf die Realität der 
28 Doppeltangenten nur vier Fälle möglich sind und diese vier Fälle 
auch wirklich eintreten. 

Bei den Gleichungen fünften Grades kommt es auf die Auf- 
findung von Resolventen mit einem Parameter an, die aber nur bei 
Hinzunahme accessorischer Irrationalitäten existieren. Als Resol- 
venten ergeben sich die der Icosaédergleichung. Setzt man 

ter, teten ter _ 
(01234) = Eten, ten, ten, ten *s 
so erleidet 2 bei den geraden Vertauschungen der x die Icosaeder- 
substitutionen 


a,2 +B, 


h = 1,.., 60), 
a+ 6. ( , 60) 
denn es ist 
6 (01234) = (12340), (01234) (04321) = —1, 
(01234) + (02143) __ 


N 007777 0077 I 1. 
1— (01234) (02143) — *** ? 


wozu allerdings das Verschwinden der Seminvariante 
3 > (x, — 2, = 2 > x)'—5>) LX, 
notwendig ist. Daß man aber einzeln S\z, = 0 und ?!x,x, = 0 


annimmt, ist nicht erforderlich, sondern bringt nur rechnerische Ver- 
einfachungen mit sich. s genügt einer Gleichung 60sten Grades 


Weber, Lehrbuch der Algebra. Zweite Auflage. 795 


me+By | 
rrF+9, 
nierende Function der x; und x ist eine im Bereich der alternieren- 
den Functionen rationale Function von z, wie aus dem Galoisschen 
Fundamentalsatze hervorgeht. Von andern Resolventen der Icosaeder- 
gleichung werden die (Jacobischen) vom 6ten Grade hervorgehoben, 
auf denen die Auflösung der Gleichungen 5ten Grades durch ellip- 
tische Functionen beruht. 

Von den linearen ternären Substitutionsgruppen wird nur die 
kleinste, vom Grade 168, behandelt. Für sie wird ein volles In- 
variantensystem aufgestellt. Unter den Resolventen des Formen- 
Problems der Gruppe finden sich solche vom 7ten Grade, die mit 
dessen Hilfe ihre Lösung erhalten. Diese speciellen Gleichungen 
7ten Grades werden nach Klein durch Adjunction einer accessori- 
schen biquadratischen Irrationalität durch elliptische Functionen 
lösbar. 

In die Theorie der algebraischen Zahlen führt Weber den Be- 
griff des »Functionals< ein. Man kann den größten gemeinsamen 
Teiler der ganzen algebraischen Zahlen a und Bf mit Hilfe von Un- 
bestimmten als «r+ßy darstellen. Dadurch wird es nötig von vorn- 
herein rationale Functionen von Unbestimmten einzuführen, bei de- 
nen es nur auf die Coefficienten ankommt. Von diesen Functionalen, 
einer Weiterbildung des Kroneckerschen Begriffs der »Formen< gilt 
auch das Kroneckersche Wort (Festschrift p. 47): »Damit erscheinen 
dann in der That die Divisoren der ganzen algebraischen Größen in 
einfacher, übersichtlicher, naturgemäßer Gestalt, in welcher für den 
speciellen Fall der gewöhnlichen Zahlen, d.h. für den Fall R = 1, 
alle sowohl bei der Kummerschen Begriffsbestimmung der idealen 
Zahlen als auch bei der Dedekindschen Definition der »Ideale< be- 
nutzten abstracten Eigenschaften an einem concreten algebraischen 
Gebilde vereinigt sind«. In dem durch Einführung der Functionale, 
die sich zu den Dedekindschen Idealen in eindeutige Beziehung setzen 
lassen, erweiterten algebraischen Körper gelten die Zerlegungssätze, 
ferner der Fermatsche Satz u.s.w. analog wie im Körper der gan- 
zen Zahlen. Insbesondere wird die Henselsche Zerlegung einer na- 
türlichen Primzahl p in Primfunctionale ausgeführt, und, nach Dede- 
kind, gezeigt, daß nur die in der Körperdiscriminante enthaltenen 
Primzahlen quadratische Faktoren haben. Aequivalente Functionale 
werden definiert, in Classen zusammengefaßt und die Endlichkeit der 
Classenanzahl bewiesen. 

In der Theorie eines Körpers X im Verhältnis zu seinen Tei- 
lern ist der Hilbertsche Trägheitskörper eines Primideals p von 2 


mit einem Parameter, denn es ist z. B. 1 ( eine alter- 


796 Gott. gel. Anz. 1%1. Nr. 10. 


wichtig; er enthält ein vollständiges Svstem von modulo p ines- 
gruenten Zahlen von 2. Ferner ist er relaiiv cvklisch und @ relativ 
metacyklisch in Bezug auf den Hilbertschen Zerlegungskörper. Auf 
Grund dieser und der Sätze über Verzweizungskörper und -Gruppen 
gelingt die Zerlegung des relativen Grundidleals und der relativen 
Discriminante. 

Für das Folgende werden einige Hilfssätze über die Punktgitter 
und die Minkowskischen Strahldistanzen herangezogen. Aus den 
Sätzen über eine obere Grenze für Summe und Produkt von Linear- 
formen ganzzahliger Variabeln, wird nach Minkowski die Existenz 
der Körperdiscriminante erschlossen. 

Nachdem die Theorie der Einheiten, insbesondere der Funda- 
mentalsysteme von solchen, ferner die reducierten Zahlen behandelt 
sind, wird die Anzahl der durch ein Ideal a teilbaren Hauptideale im 
Verhältniß zu ihrer absoluten Norm durch eine Volumbestimmung 
asymptotisch abgeschätzt. Daraus ergeben sich durch Benutzung der 
Dirichletschen Reihen für die Classenanzahl die Ausdrücke 


1 l 1 
— — = — lim (s—] so = 
9 hur N(a)’ 9 mf MN] 1— iN (p) 


in denen g eine gewisse numerische Constante ist. Aus der früher 
bewiesenen Endlichkeit dieser Anzahl ergiebt sich als specielle An- 
wendung eine Gradbestimmung für den Kreisteilungskörper, also ein 
Beweis für dessen Unzerlegbarkeit, und ferner ein Beweis des Dirich- 
letschen Satzes von den unendlich vielen Primzahlen in einer primi- 
tiven arithmetischen Reihe. 

Die gewonnenen Resultate werden nunmehr auf den Kreisteilungs- 
körper angewandt. Als Krönung des Ganzen ergiebt sich, nach einer 
langen Reihe interessanter Betrachtungen, der große Satz: Alle 
Abelschen Körper sind Kreisteilungskörper, den Kronecker ausge- 
sprochen, aber erst Weber und dann Hilbert bewiesen haben. Der 
hier gegebene Webersche Beweis beruht in letzter Instanz auf einer 
genauen Discussion der beiden Classenzahlfactoren für einen Kreis- 
teilungskörper, dessen Grad eine Potenz von 2 ist. 

Die Theorie der algebraischen Zahlen erhält ihre notwendige 
Ergänzung in dem Nachweis der Existenz nichtalgebraischer Zahlen. 
Der classische und weittragende Cantorsche Beweis für die Existenz 
trausscendenter Zahlen liefert übrigens ebenso leicht den allgemeine- 
ren Satz, daß eine solche Basis algebraisch unabhängiger transscen- 
enter Zahlen, von denen alle anderen algebraisch abhängen, nicht 
endlich und sogar nicht abzählbar ist. Aber daneben verdient doch 
auch die Livuvillesche Erzeugung transscendenter Zahlen Beachtung, 


Weber, Lehrbuch der Algebra. Zweite Auflage. 797 


da sie auf dem ersten wirklichen Transcendenz-Kriterium be- 
ruht,” wenn auch dieses Kriterium, daß für eine algebraische Zahl 


(a,a,..) = I + J von der nten Ordnung schließlich im- 


a, — 
a+: 
n-17 —— . . . . 
mer Vases kleiner als der Nenner von (a,,a,,..,a,) ist, bei seiner 
Anwendung auf gegebene Kettenbrüche etwa auf 


1 e—e" 


1-— = (1,1,1,2,1,1, 4,1, 1,6, ..), Dr = (1,3,5,-,), 
e—1 
oo = O46.) 


u. dgl. versagt, so daß die Transcendenz von e auf anderem Wege 
erschlossen werden mußte. Für den die Transcendenz von e und 
x umfassenden Lindemannschen Satz wird der Gordansche Beweis 
entwickelt. 

Das Werk, dessen reicher Inhalt im Vorstehenden zu skizzieren 
versucht ist, zeichnet sich durch eine ungemein klare, leicht faßliche 
Darstellung aus, wie sie den schwierigeren Partieen der Algebra bis- 
her nicht zu Teil geworden ist. 


Königsberg Pr., April 1901. K. Th. Vahlen. 


Festsehrift zu Goethes 150. Geburtstagsfeier dargebracht vom Freien Deut- 
schen Hochstift. Frankfurt a. M., Knauer, 1899. XV und 300 S. 8. 


Etwas verspätet gelangt hier die Goethe-Spende des Freien 
Deutschen Hochstifts zur Anzeige. Aber dafür, daß es noch nicht 
zu spät ist, hat die Festschrift selbst durch ihren inneren Wert ge- 
sorgt. Mit dem größeren Teile wenigstens ihres Inhalts überdauert 
sie den besonderen Anlaß, der sie ins Leben gerufen hat. 

Es ist nicht leicht, zu einer Feier, wie sie der 28. August 1899 
sah, eine stil- und charaktervolle Festschrift zustande zu bringen. 
Mit der bloßen Zusammenfassung mehrerer Aufsätze ist es nicht ge- 
than. Der Leser darf erwarten, daß ihm etwas Bleibendes geboten 
werde, das des Gefeierten würdig ist. Er darf auch wünschen, daß 
dies in festlicher Form geschehe. Er wird dankbar Einzelheiten und 
selbst Kleinigkeiten hinnehmen, wenn nur der Spender es versteht, 
das Einzelne zur allgemeinen Weihe zu rufen. 

Da sei denn gleich vorausgeschickt: Festlich im Aeußeren gibt 


798 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


sich die Frankfurter Geburtstagsgabe allerdings. Vornehm im Ma- 
terial und Druck, geschmackvoll in der Ausstattung unter ver- 
ständiger Anlehnung an Formen des Rococo, dabei im Vortrag ge- 
legentlich liebenswürdig altmodisch und umständlich, so liegt das 
Buch vor uns. 

Gleich das Votivbild, das Otto Donner - von Richter nach 
einer 55 Jahre älteren Skizze von Moritz von Schwind ausgeführt 
hat, wirkt anheimelnd. Unsre moderne Kunst hätte leicht etwas 
Ungoethisches in die bildliche Verherrlichung des Meisters hinein- 
tragen können. Hier bei dem woltemperierten Gemälde Schwinds 
ist diese Gefahr ausgeschlossen. Es repräsentiert die maßvolle und 
doch so warmfühlige Weise, in der die romantische Jugend dem 
greisen Dichter noch bei semen Lebzeiten ihre Liebe zu erkennen 
gab. Btwas von Bettinas Art lebt in den klaren Zügen des an- 
spielungsreichen Bildes, von dem die Reproduction übrigens doch nur 
eine schwache Vorstellung gibt. Man muß das Donnersche Original 
im Frankfurter Goethemuseum betrachten. 

Die sieben Aufsätze sodann, die den stattlichen Band füllen, 
zerlegen sich in zwei sehr ungleiche Gruppen. Von diesen wird die 
kleinere dadurch gekennzeichnet, daß die hierher gehörigen Leistun- 
gen in gar keiner Beziehung zu dem 150. Geburtstag Goethes stehen. 

Da ist zunächst Robert Herings Studie »Zum Erdgeist in 
Goethes Fauste. Ich muß gestehen, daß ich mich seiner Darlegung 
durchaus nicht anschließen kann. Der Erdgeist soll lediglich >»die 
schreckliche Seite, die in dem Weltgetriebe eine so wichtige Rolle 
spielt, verkörpern« und Goethe die Anregung dazu in Straßburg aus 
der Lektüre von Holbachs Systeme de la nature gewonnen haben. 
Um die Frage nach der Herkunft und Berechtigung des Bösen in 
der Welt soll sich überhaupt die ganze Urfaust-Dichtung crystalli- 
siert haben. Zum Beweis verwertet H. auch Klingers »Fauste. Und 
weiter wird ihm der Erdgeist zum »Protest der im jungen Goethe 
tief wurzelnden theistischen Grundanlage seines Wesens im Gegen- 
satze zu pantheistischen Gebilden, als deren frühesten eines das 
Zeichen des Makrokosmos belegt ist«. 

. Ebenso weit ab von der Frankfurter Goethefeier liegt der Auf- 
satz Veit Valentins über Goethes Beziehungen zu Wilhelm v. Diede. 
Mit übergroßer Ausführlichkeit wird der Verkehr des Dichters mit 
dem adelsstolzen, herzlich unbedeutenden Edelmann beschrieben. Im 
Wesentlichen handelt es sich immer wieder um ein paar Denkmäler, 
mit denen der Reichsfreiherr den Park bei seinem Schlosse Ziegen- 
berg schmücken will. Wol stellt sich dabei eine kleine Correctur 
(30,7) zu der Weimarer Ausgabe der Briefe und eine andre (33,15) 


Festschrift zu Goethe's 150. Geburtstagsfeier. 799 


zu Harnacks Buch über die Römische Künstlercolonie ein; wol ver- 
mag V. (S. 34) zu erweisen, daß Goethe in der »Italienischen Reise« 
das Concert bei dem Senator Rezzonico (Febr. 1788), wo Frau von 
Diede gespielt haben soll, erfunden hat; wol ist der Vf. sogar im 
Stande, sechs Briefe Goethes zum erstenmal mitzuteilen. Aber der 
Inhalt dieser Schreiben, um derentwillen offenbar der ganze Artikel 
abgefaßt ist, rechtfertigt nicht eine Ausdehnung von 47 Seiten. 
Vollends am Schluß die Combinationen über einen etwaigen Zusam- 
menhang zwischen dem Park von Ziegenberg, den Goethe kaum ge- 
sehen hat, und dem Schauplatz der »Wahlverwandtschaften< sind 
ganz ohne Gewinn. Und doch, trotz aller Einwände: es war recht, 
diesen so wenig monumentalen Artikel an die Spitze der Sammlung 
zu rücken, nicht um seines bescheidenen Inhalts, sondern um seines 
Verfassers willen. Gehdrte doch viel treue Sorge des inzwischen 
Heimgegangenen jahrelang dem Hochstift und dem Frankfurter 
Goethekult. — 

Die größere Gruppe der Beiträge zur Festschrift zeigt einen be- 
rechtigten, für diesen Zweck sogar notwendigen Lokalpatriotismus : 
das Freie deutsche Hochstift will zeigen, wie sehr Goethe ein Frank- 
furter, »4 hiesiger< war, wie tief er im Heimathboden wurzelte. Hat 
auch nicht Jeder gerade viel Neues zu sagen, so giebt doch die 
Freude und der Stolz über den herrlichen Landsmann dem Vortrag 
jene Wärme, ohne die keine Festschrift bestehen sollte. 

Heinrich Pallmann berichtet über die Familien Goethe und 
Bethmann mit kleinen Correcturen der früheren Untersuchungen 
über das gleiche Thema. In dem ersten Teil seines Aufsatzes fesselt 
vor Allem (S. 54) der Brief des Kaufmannes Balth. Friedr. Rummel 
über den Eindruck, den der »Werther« in Leipzig gemacht hatte. 
Der zweite Teil belohnt den Leser, wenn er Geduld hat, durch eine 
neue, wesentlich von der bisherigen Tradition abweichende Geschichte 
der Verhandlungen, die 1819 bis 1826 um das erste geplante Goethe- 
Denkmal in Frankfurt geführt wurden. Hier wird vor Allem klar, 
daß die Seele des ganzen Unternehmens Simon Moritz von Beth- 
mann gewesen ist, der hochherzig genug entschlossen war, das Denk- 
mal in letzter Stunde auf eigne Kosten errichten zu lassen. Sein 
Tod erst, und nicht etwa Goethes Einspruch, brachte die Angelegen- 
heit zum Scheitern. 

Liebenswürdig sodann und kundig, dabei stellenweise durch ge- 
hobenen Ton dem festlichen Anlaß Rechnung tragend, unterrichtet 
uns Elisabeth Mentzel, die unermüdliche Erforscherin der Frank- 
furter Bühnengeschichte, über den jungen Goethe und das Frankfurter 
Theater. Freilich, da das Material leider nur lückenhaft erhalten 


800 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


ist. muß sich die Verfasserin oft mit bloßen Vermutungen begnügen, 
und an ungezählten Stellen heißt es »vielleicht«, »wahrscheinlich«. 
»es läßt sich voraussetzen<, >es ist anzunehmen«, u. s. w. Die vor- 
sichtige Zurückhaltung, die in solchen Wendungen liegt, hätte Frau 
Mentzel nur noch öfter üben und nicht gar zu viele Beziehungen 
suchen sollen. Daß beispielsweise der »Kaufmann von London< noch 
auf die »Mitschuldigen« entscheidend gewirkt habe, ist kaum zu 
glauben. Andres wieder ist sehr beifallswürdig, u. A. die Discussion 
über die Frankfurter Premiere von »Erwin und Elmire<; auch die 
Annahme, daß die Texte der Frankfurter Marionettenaufführungen 
vom Doctor Faust dem des Ulmer Puppenspiels nahe gestanden und 
sicherlich den Prolog in der Hölle enthalten hätten. Es steckt viel 
Forscherfleiß in dem Aufsatz; nur mit den Eigennamen erlaubt sich 
Frau M. allzugroße Freiheiten: Weiße in Leipzig hieß Christian 
Felix; Ekhof (160,7) schrieb sich mit einem k; die >Iris< (175, 28) 
hat Joh. Georg Jacobi herausgegeben ; und einen Friedrich oder eine 
Friederike Gottsched (137,9) dürfte niemand kennen. 

Knapp und überzeugend trägt Alexander Freiherr von Bernus 
seine Sache vor, indem er in Wort und Bild auf wenigen Seiten 
dem Leser die beiden Junckerschen Blumenstücke nachweist, von 
denen Goethe in »Dichtung und Wahrheit« berichtet. 

Ausführlicher wieder, aber nicht umständlicher, als es die Sache 
verlangt, läßt sich R. Jung über Friedrich Georg Goethe, des 
Dichters Großvater, aus. Zwar sind es nur äußere Lebensereignisse, 
die man jetzt noch festlegen kann; die tieferen charakterbildenden 
Faktoren bleiben uns unbekannt. Aber selbst aus diesen scheinbar 
gleichgültigen Zahlenreihen, Steuereinschätzungen, An- und Ver- 
käufen u. s. w. resultiert doch das anschauliche Bild eines Mannes, 
der mit eigner Kraft sich aus dem Handwerkerstand emporgearbeitet, 
an Geist und Energie dabei seinen Söhnen sich überlegen zeigt. 
Auch der Humor treibt sein Spiel; denn aus kostbaren Schneider- 
rechnungen ergiebt sich, daß die ersten Beziehungen zwischen den 
Familien Goethe und Textor darin bestanden haben, daß der Grof- 
vater des Dichters von Vaters Seite den Urgroßvater mütterlicher- 
seits vor Gericht verklagte. 

Bunt, etwas quodlibetartig nimmt sich endlich der Beitrag von 
O. Heuer »Goethe und seine Vaterstadt« aus. Allerlei Zufalls- 
material mußte in die Darstellung verarbeitet werden; da waren 
kühne Sprünge und gewagte Uebergänge nicht zu vermeiden. Um 
nur einen Begriff von dem Reichtum neuen Inhalts zu geben, so 
wird S. 256f. ein Brief J. C. Goethes vom 11. Jan. 1755 an einen 
Frankfurter Arzt mitgeteilt, in dem die Rede ist von dem schwach- 


Festschrift zu Goethe’s 150. Geburtstag. 801 


sinnigen jungen Clauer, dessen Vormund der Herr Rat war. S. 258 
erhalten wir die Reproduction eines Blattes aus dem Vorschriften- 
heft, das der Schreibmeister Thym 1760 für J. W. Goethe angefertigt hat 
und das jetzt auf der Leipziger Universitatsbibliothek (Hirzelsche 
Sammlung) aufbewahrt wird. S. 265ff. weist H. nach, daß die 
Familie Goethe dem Patriciat im damaligen Sinne, d. h. also den 
Familien des städtischen Adels, nicht angehörte, wol aber dem im 
Range unmittelbar folgenden angesehenen Bürgertum. (NB! zu 
271,28: »Fritzisch« war doch nicht der Herr Rat, sondern der junge 
Wolfgang gesinnt). S. 272ff. erhalten wir Bericht über zwei für 
den Grafen Thoranc bestimmte religiöse Gemälde von Seekatz, an 
denen mutmaßlich der junge Goethe ideellen Anteil gehabt hat und 
deren Skizzen (Haman und Esther, das Salomonische Urteil) trefflich 
reproduciert sind. Interessant ist dann besonders das Jugendporträt 
des Dichters (S. 278), das nach H’s. Vermutung für Charitas 
Meixner in Worms gemalt ist. Die Beziehungen Goethes zu der 
Familie Stock werden S. 282ff. durch ungedruckte Briefe und 
Stammbuchblätter neu bestätigt. Und endlich erörtert H. klar und 
entscheidend die Frage, warum Goethe in seinen Alterstagen aus 
dem Verbande der Frankfurter Bürgerschaft ausgeschieden sei. Es 
unterliegt danach keinem Zweifel, daß den Rat der Stadt die oft 
erhobenen Vorwürfe nicht treffen, sondern daß der Dichter selbst 
die alten Fäden zerschnitten hat. Er wollte nicht, daß die uneheliche 
Geburt und spätere Legitimierung seines Sohnes August noch ein- 
mal öffentlich erörtert werde und verzichtete auf sein vaterstädtisches 
Bürgerrecht. Später freilich, bei der Verhandlung um die Verleihung 
eines Ehrenbürgerbriefes, hat sich der Magistrat nicht so einwand- 
frei benommen. | 

Es war gut, daß alle diese Verwickelungen, und ebenso die alten 
Denkmalsprojekte in der Festschrift des Freien Deutschen Hochstifts 
noch einmal aktenmäßig zur Darstellung kamen. Jetzt ruht kein 
Dunkel und kein unangemessener Tadel mehr auf den Beziehungen 
Frankfurts zu seinem größten Sohne; und was vielleicht eine frühere 
Generation kleinlichen Sinnes versehen hat, ist gut gemacht durch 
die glänzende Apotheose am 28. August 1899. 


Leipzig, 20. März 1901. Albert Köster. 


Gott, gel. Ans. 1901. Nr. 10. 53 


802 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


Le livre des avares par Abou Othman Amr ibn Bahr al-Djahiz. Texte 
arabe, publié d’aprés le manuscrit unique de Constantinople parG. van Vloten. 
Leyde, Brill. 1900. XXII, 290 8. 8. 

Mit dem Kitäb al buchalä des basrischen Gelehrten und Lite- 
rators Gähiz (st. 255/869), einem in mehrfacher Hinsicht interessanten 
und eigenartigen Buch, eröffnet van Vloten eine Ausgabe der von 
ihm uns erhaltenen Werke, nachdem sich ein erstes, das (ebenfalls 
von ihm herausgegebene) Kitäb al mahäsin, als unecht erwiesen hat. 
Unser Buch ist, wie auf dem Titel vermerkt wird, nur in einer 
einzigen Hs. bekannt (Koprülü 1359); und fast so singulär ist der 
Inhalt. Zwar weiß man, daß noch andere muslimische Gelehrte, wie 
Asma’i, Madäini, Ibn Chatib, das nämliche Thema behandelt, oder 
wenigstens Material darüber gesammelt haben '); aber davon ist, wie 
es scheint, einzig das mit dem unsrigen gleichnamige des zuletzt Ge- 
nannten erhalten, das im Brit. Museum liegt und über dessen genaueren 
Inhalt noch nichts bekannt ist. Der Geiz, von dem Gähiz handelt, 
ist nicht im Gegensatz zu dem altarabischen Begriff der Freigebig- 
keit zu verstehen; diese Tugend wußte der Verfasser, gleich manchen 
anderen Aufgeklärten seiner Zeit, bekanntlich nicht höher zu schätzen, 
als die altarabischen Ideale überhaupt ; sondern die »Geizigen< sind 
eine Klasse von Leuten, die sich im ‘Jräq, besonders in Bagra, mit 
der untergehenden Omajjidendynastie zu bilden begann, und im 
3. Jht. d. H. unter den ‘Abb4siden offenbar zahlreich war: sie ver- 
trat die Reaktion des gebildeten Mittelstandes gegen die finanzielle 
Mißwirtschaft, und deren Resultate, die durch Unterschlagungen 
und Umtriebe auf Kosten der Steuerzahler entstandene Plutokratie 
unter den Statthaltern und in der höhern Beamtenwelt. Zu diesem 
Kreise hat Gähiz, wie es scheint, in seinem höhern Lebensalter ge- 
hört, kannte sich jedenfalls darin gut aus. Was er über Gesinnungs- 
genossen früherer Generationen berichtet, verdankt er den Samm- 
lungen des Agmai, Madäini und Abü ‘Ubaida; indeß sind dies, nach 
seiner Angabe (p. 161, 15ff.), nur einige zwanzig Anekdoten. Alles 
Uebrige hat er entweder selbst gesammelt, oder er hat es aus dem 
Munde seiner Freunde und Bekannten. Er entwirft damit ein in- 
struktives Bild von jenem Kreise, allerdings in Einzeldarstellungen, 
und unterrichtet uns so über Dinge, von denen unsere historischen 
Quellen natürlich ganz schweigen. 

In der Einleitung, in der der Verf. den Leser durch allerlei 
Fragen für sein Thema zu interessieren sucht, charakterisiert er. die 
»Geizigen« fast noch besser, als es der Hauptteil des Buches zu tun 
vermag. Das Buch kann keine bloße Unterhaltungslektüre sein, denn 


1) 8. Preface p. I. Dazu vgl. Goldziher, Muhammed. Studien I 161, Anm. 7. 


Le livre des avares par Abou Othman Amr ibn Bahr al-Djahiz. 808 


die Leute, von denen es handelt, leben einem ernstlichen Princip, 
das sie zu begründen und zu verteidigen wissen. Es ist doch 
wissenswert (p. 1), was sie veranlaßt, sich von den herkömmlichen 
Begriffen zu emancipieren und »den Geiz Rechtlichkeit zu nennen 
und die Filzigkeit in Ordnung zu finden, die Freigebigkeit für Ver- 
schwendung zu halten und Uneigennützigkeit für Unverstand<, ohne 
sich um den Ruf und den Tadel der Leute zu kümmern (p. 2). Sie 
befleißigen sich im Privatleben der Mäßigkeit, sie vermeiden den Luxus 
in ihren Wohnungen, schwärmen aber für ihn bei Andern. Sie sind 
auf gute Geschäfte versessen, meiden die Ausgaben und halten ihre 
Vermögen ängstlich beisammen. Es sind Gebildete und Gelehrte, die 
den Geiz mit den subtilsten Argumenten zu rechtfertigen vermögen, 
und das Naheliegende, seine Verwerflichkeit, zu übersehen scheinen. 
Wie hat diese Kurzsichtigkeit neben der hohen Intelligenz Platz? 
Manchmal müssen sie den Widerspruch wol selbst zugeben, aber dann 
tünchen und flicken sie am unrechten Orte. Soweit es noch lebende 
Zeitgenossen betrifft, müssen ihre Namen öfter durch ein N. N. er- 
setzt werden; dies bedeutet zwar einen Nachteil für das Buch (p.8), 
aber die Anonymität ist da geboten, teils im eigenen Interesse des 
Verfassers, teils um die Betreffenden nicht in Mißkredit zu bringen. 

Auf die hier skizzierte Vorrede folgt, als erstes Stück des eigent- 
lichen Buches, die Risäle des bekannten Schu'dbiten Sahl b. Härün, 
Sekretärs des Chalifen Ma man, in einer z. Th. etwas ursprünglicheren 
Recension, als wie sie uns von Ibn ‘Abd Rabbih in seinem ‘Iqd über- 
liefert ist. Sodann 2) Anekdoten über »Geizige« unter den Chorä- 
säniern. 3) Ueber die »Moscheeleute<, d. h. eine Vereinigung von 
Männern, die in der großen Moschee von Bagra zusammenzukommen 
pflegten. 4) Zubaida b. Humaid. 5) Ahmed b. Chalef. 6) Chälid 
b. Jazid. 7) Hizämi. 8) Harithi. 9) alKindi. 19. Muhammed b. Abi 
Muammal. 11) Asad b. Gani. 12) al Thauri. 13) Tammäm b. Ga far. 
14) Ibn al ‘Aqadi. 15) Abu 1 Said al Madäini. 16) al Asmai. 
17) Die von den oben angefiihrten Gelehrten tibernommenen Anekdoten. 
18) Der Brief gegen den Geiz von Abu 1 ‘As ‘Abd al Wahhäb al 
Thagafi, und seine Widerlegung durch Ibn al Thauam; die Echtheit 
beider unterliegt Zweifeln (Préface p. V)). Endlich 19) Fortsetzung 
der Erzählungen. — Man sieht, das Hauptkontingent stellen die Ge- 
lehrten, z. Th. ausgesprochene Schwübiten; die Philosophie wird 
durch al Kindi vertreten. Uebrigens sind uns Einige der eben Ge- 
nannten sonst ganz oder fast unbekannt — van Vloten hat über 
Solche in der Einleitung eine Notizen zusammengestellt —, und dies 
gilt auch von vielen Andern, die Gähiz in den häufigen Digressionen 
beiläufig erwähnt und die z. Th. einer viel älteren Zeit angehören. 

53 * 





804 | Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


In einer längern Appendix (p. 232—272) kommt der Verf. endlich, 
etwas unvermittelt, trotz Verwandtheit des Stoffes mit dem des 
Hauptteils, auf das Beduinenleben zu sprechen, mit seiner un- 
freiwilligen Sparsamkeit und Not, auf allerlei beliebte und unbeliebte 
Gerichte, Notspeisen u. dgl.; auch auf das Menschenfressen (d.h. 
das in den alten Gedichten tatsächlich nur metaphorisch gemeinte 
Auffressen der Schutzgenossen) und andere Betätigungen des Be- 
duinenhungers, wofür er aber keine Gewähr leisten kann (p. 240, 4. 
243, 16); schließlich noch auf gewisse Gebräuche bei der Gastlichkeit. 
Manche Partieen dieses Anhangs tragen lediglich philologisches Ge- 
präge. Sachlich bietet er nicht viel Neues, auch da nicht, wo es 
erwünscht wäre, wie bei einigen Benennungen von Notspeisen. Da- 
für sind manche Verse aus alten Gedichten eingestreut als Belege 
für die sprachlichen Erörterungen. 

Die Handschrift, auf die der Herausgeber angewiesen war, ist 
im Allgemeinen nicht schlecht, aber im Einzelnen doch sehr der 
Nachbesserung bedürftig. Die diakritischen Punkte fehlen mit Vor- 
liebe an kritischen Stellen. Flüchtigkeiten des Schreibers, wie Aus- 
lassung einzelner oder gar mehrerer Worte (z. B. 183, 6. 174, 3. 
227,12f. 14.) sind nicht selten; desgleichen gedankenlose Umstellung 
von Wörtern (p. 2,2 — s.u. —; 44,14). Daß der Text doch leid- 
lich lesbar ist, wenn auch allerdings noch an mancher, in den An- 
merkungen unangefochten gebliebener Stelle, fragwürdig, haben 
wir nächst dem Herausgeber seinem Lehrer, Prof. de Goeje, zu 
danken, der die Correktur gelesen und zahlreiche Verbesserungen 
und Erläuterungen beigesteuert hat. Paralleltexte aus andern Schrif- 
ten des Gähiz, sowie dem ‘Iqd, aus Baihaqi u.s.w. sind ziemlich 
reichlich herangezogen worden, könnten aber immerhin noch ver- 
mehrt werden. Auffällig ist die Inconsequenz in der Verificierung 
der zahlreichen eingestreuten sprichwörtlichen Redensarten ; man muß 
oft fast glauben, der Herausg. habe sie nicht als solche erkannt, so 
unwahrscheinlich dies an Stellen wie 148, 18 (erklärt 149, 3; vgl. aber 
J. Qutaiba, Adab ed. Qairo 21, 21f., 118, 18 ff.); 174, 11 ff.; 180, 17f. 


(vgl. Muzhir I 236,15); 202, 12f.16; 17 I> ‚söt oe: 8. außer 
Maidäni ed. Freyt. II 902 oben auch Mu’ammarüin 12, 22) u.s. w. 
scheint, wo die Art der Einführung deutlich genug ist. Und auch 
wo eine solche fehlt und der Verf. derartige Redensarten zu rheto- 
rischem Schmuck verwendet, wären leicht Nachweise zu liefern. Nur 
einige Beispiele zum Beleg. 33,9 Jul ond! df ooASS eye Maid. (Freyt.) 
I 498; III? 432 oben; Muzhir I 236,10; J. alSikkit, Alfäz 59, 8 ff. 
50,11 sa} Sot! ul Maid. 1 346, No. 18, Murassa 2.611, J. Qu- 


Le livre des avares par Abou Othman Amr ibn Bahr al-Djahiz. 805 


taiba, Adab 21, 4, ‘Ujfin 32,12, J. alSikkit a.a.O. 526,1.3; Laqit in 
Muchtärät 7,1 etc. Dazu vgl. p. 82, 14 unserer Schrift und Maid. I 345, 


No. 14. Pag.77, 2 wäre auf Maid. II 342 Lo? 1,535 (ni 1,5K zu verweisen; 
vgl. III! 136, No. 825 und den Vers in Hamäsa 315,19. Zu p. 108, 1 
3731 well: Maid. 11670, Hariri’s Durra (Thorbecke) 168, 12 ff., u.s. w. 


Pag. 163, 6 und 204, 6: esvst „oO! yy: Maid. II 707 unten (Muzhir 
I 236, 3). Zu 180,17 vgl. Muzhir I 236,15: stell zu Bt U ast, 


224,5 Jb Aid USGI! sul up (Maid. I 464; Il 667.) wird oft 
citiert, z. B. Muzhir I 236, 8, Mu'ammardn 12, 10, Hariri’s Maq.? 361, 8. 


Pag. 233, 4: die Worte wWJ i Sie > u sind ebenfalls sprichwört- 


lich geworden, vgl. Maid. 1217, Abü Zaid, Nawädir 188 oben, u.s. w. 
Ganz bekannt ist die Redensart „e,e Ass ‚ae 3 Maid. II 482, Ham. 


255, Tabari I 3410, 7 Hariri Maq.? 100, 6. Die Mehrzahl lassen wir 
hier unerörtert. — Von andern Verweisen erlaube ich mir folgende 
hinzuzufügen: Zu 13 oben vgl. außer der ‘Iqd-stelle auch Bajän I 
163,5f. Zu 19,1ff.: “Iqd (Ausgabe 1302) III 316 g. u., etwas abwei- 
chend; 26,5 ff. ebenda 329, 19 ff. Pag. 40, 20: der Vers ebenda 330, mit 
wu statt <5,!. 81,15£.: I. alSikkit 255,3 = 617,12. 111,3—5: 


‘Igd III 317. In dem Verse des A’s& Bähila 128, 19 ist die Lesart 
der Hs. Jt wenigstens von Abd Zaid 76,4 und Hibatallah, Much- 
tärät 11,3 bezeugt; übrigens schwankt die Ueberlieferung hier in 
der Versfolge. Zu 177,6f.: Bajän I 111, mit geringen Abweichun- 
gen; ebenda finden sich noch zwei weitere Verse des Gedichts. Zu 
der Redensart 183, 20 vgl. Bajän 113,19, sowie Abd Zaid 95, 2 ff. 
Der Vers p. 185,3f. lautet so auch bei Maid. I 399, in Hariri’s 
Maq.? 458, 18 u.s.w., aber etwas anders Maid. II 493. Pag. 234, 3f.: 
Durra 169f. Zu dem Verse 235, 12f. und seinem Verfasser: J. Hi- 
Sim 612,17, J. alSikkit a.a.O. 614,7. 12; vgl. auch das Sprichwort 
Maid. I 483, No. 34. Zu 245,18f.: Bajän I 206, 21 ff. Von dem 
suis ist auch ebenda 123, 14 ff. die Rede. 

Schließlich erlaube ich mir noch einige Vorschläge zur Textver- 
besserung. Gleich in der Vorrede ist nicht Alles in Ordnung. 1,6 ist für 
B39 ZU lesen s;.=: >geht über dasselbe hinaus<. Ebenda Z. 15 


19,5,5., Hs. 053,59: 1. 12,50, >(weshalb sie sich dem Beistehn wider- 
setzten) und es durch zu Grunde gehn lassen ersetzten< d.h. 
»statt dessen zu Grunde gehn liefen<. Das Te&did der Hs. ist also 


richtig, die Emendation im Uebrigen nicht sehr gewagt, denn die 
Hs. mul, aus gewissen Conjecturen v. Vlotens zu schließen, oft sehr 


undeutlich geschrieben sein. P. 2,2 f.: u» Je wJs,: Gedankenlosig- 


806 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 10. 


keit des Schreibers; 1. spl> Je sey: >(weshalb sie die mäßige Le- 
bensweise gegen Wolleben ins Feld führten) und Lebensbitterkeit 
gegen Lebenssüße«. Ebenda Z. 7 ist statt IJAaä, zweifellos tl... zu 
lesen, wie vor- und nachher. Wenn die Hs. nicht so hat, so hat 
der Verf. doch dies gemeint. 5,2f. ist „„a> »bewahren< als IL 


Stamm zu lesen, s. Dozy i.v. 14,10 ‚zul las! yyasa: ob der Vo- 


cal so in der Hs. steht, weiß ich nicht; man könnte an das »beu- 
gende« Schicksal denken (vgl. Goldziher, Mu'ammarfn 84, 3. 98, 4 v. u.; 


J. alSikkit 156,8) und lesen whist (II. Stamm intensiv oder iterativ). 


82,3 §,J! ist wol verlesen oder verschrieben; man darf gewiß AI, 


herstellen, vgl. J. Qutaiba, Adab (Qairo 1300) 61; J. alSikkit 617, 11, 
Maidäni II 838, No. 106; übrigens zum ganzen Passus Hariris Maq.’ 
Schol. 179, 8 ff. 131,16 .,sdui, Hs. ist}; dazu p. XV »I’bomme 
au grand menton? manque aux dictionn«. Wer der Aba Jagüb ist, 
weiß ich nicht. Es ist aber wol möglich, daß sein Epitheton jüdi- 
schen Ursprungs ist; das Wort stimmt genau zu 327 (syr. is]! 
»bartig<. Dann dürfte auch das d berechtigt sein. 158, 13f. 


ROVER A: Das 3 hat v. V. aus „s der Hs. hergestellt, aber ich 
kann dem keinen Sinn abgewinnen. Ks ist & zu lesen (»weshalb soll 


ich nicht mit der Sprache heraus ?«), was eigentlich gar keine Aen- 
derung ist, da J und J in Hss. ja oft genug ganz gleich aussehen. 
Ebenda Z. 16 wird „gia,s als II. Stamm zu lesen sein, synon. mit 


IV. In dem Sprichwort 174,13 braucht man ceed nicht durch yon 


zu ersetzen (wie Tab. 1,1512, 5, J. HiS&m 726,8 u. s. w. steht); der IV. 
Stamm ist gut belegt und für unsere Stelle direct in Maid. I 609, 
No. 25, Schol. In dem Verse 200, 20 f. ist bei der überlieferten Lesart 


zu bleiben und nur ein Wörtchen zu ergänzen: Ja wt x) us pals 
1,81; vgl. Hariri, Maq.? 662, Schol. 260,17 lese ich „5 SLo (mit (Yo) 
»entgegensein, widerstreben<, und vorher „ste (U. Stamm). 

Von kleineren Versehen, die übrigens bei dem im Ganzen sehr 
correcten Druck nicht häufig sind, seien berichtigt: 61, 3 Mist! 
mit 7 st. c 77,101. sum» (wie ja richtig p. 137). 213, 16 ist 
die Qoränstelle anzugeben (76, 9). 226, 16 (sowie im Index i. v.) 
„st mit w. 232,9 wird für den folgenden Vers auf Täg al ‘ards 


verwiesen, während doch bald darauf, p. 235, der selbe Vers mit 
Angabe des Dichters, Tarafa, wiederkehrt (Ahlw. 5, 46). 238, 3 


Le livre des avares par Abou Othman Amr ibn Bahr al-Djahiz. 807 


St3ö:L wid. 241,17 ist der Vers nicht in Ordnung. 162, 5 


führt der Verweis b), p. 243, 7 der zweite Verweis e) irre. — 
Falsche Citate sind nicht ganz selten: 199, Note b) lies Bajan I 
st. U; p. XU 8 1. 12 st. 10; XIV 19 1. 14 st. 4; XV1 91.5 
st. 4; XIX 4 v.u. l. 688 st. 788; XXI 15 1. 4 st. 14. — Im In- 
dex der gr fehlt bei Umajja b. AbisSalt die Stelle 253 ult. 277 
unter of; 1. IP st. If. Die Sagäliba (278, 2 des Index) kommen auch 


249, 18 vor. Unter pgpiss! (mail! Aus cyt ze lies v statt 4. 281 
oben ist und (Unterabteilung des Stammes Asad) nachzutragen : 
foi, 16, und auf derselben Seite (gS: 14, 10. p. 284: ada 


[? (ge cy] wird in der Einleitung mit p. VII mit gf. cy? a! 
combiniert ; überdies 1. Pfr st. Pfr. 
Die Ausgabe ist Th. Nöldeke gewidmet. 


Göttingen, 2. Mai 1901. Friedrich Schulthess. 


Deutsche Reichstagsakten. Zehnter Band, erste Hälfte. Deutsche Reichs- 
tagsakten unter Kaiser Sigmund. Vierte Abteilung, erste Hälfte. 
1431—1432. Herausgegeben von Hermann Herre. Gotha, F. A. Perthes 1900, 
Il und 514 S. 


Deutsche Reichstagsakten. Eifter Band. Deutsche Reichstagsakten 
unter Kaiser Sigmund. Fünfte Abteilung. 1433—1435. Herausgegeben 
von Gustav Beckmann. Gotha, F. A. Perthes 1898. LII und 646 S. 


Nach langem Stocken ist neuerdings die Publikation der »Deut- 
schen Reichstagsakten« wieder in erfreulichen Fluß gekommen. Ein 
ganzer und ein halber Band liegen seit Ende des letzten Jahres vor, 
ebensoviel soll in kürzester Zeit veröffentlicht und damit die Regie- 
rungszeit Sigmunds abgeschlossen werden. Ueber die äußeren Um- 
stände, die an dieser Verzögerung schuld sind, berichtet das Vorwort 
zum 11. Bande in aller Ausfithrlichkeit. Man muß gestehen, seit 
Weizsäcker von der unmittelbaren Mitarbeit an dem Unternehmen 
zurücktrat, das eigentlich er geschaffen hatte, hat kein glücklicher Stern 
über den »Reichstagsakten« gewaltet. Gegenüber solchem Misgeschick 
wäre es undankbar, wollten wir der Verstimmung, die sich der Fachge- 
nossen, vor allem der auf diesem und verwandten Gebieten arbeitenden, 
im Laufe der langen Wartezeit wol bemächtigen konnte, jetzt, da wir 
das Gewünschte endlich in Händen halten, noch nachträglich Aus- 


808 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


druck geben. Um so undankbarer wäre dies, als das Gebotene auch 
den alten Spruch wahr macht: was lange währt, wird gut. Mi 
großem Fleiße haben die beiden Herausgeber sich ihrer Aufgabe ge- 
widmet, ein immenses Material an Abschriften und Notizen aus Ar- 
chiven und Bibliotheken des In- und Auslandes zusammengetragen und 
eine kaum weniger umfangreiche gedruckte Literatur sorgfältig ver- 
wertet. Ihre Forschungen dürften an Umfang alles, was für die 
früheren Bände aufgewendet worden, nach jeder Richtung über- 
treffen. Auch an der Genauigkeit und Gründlichkeit ihrer Ermitte- 
lungen wird sich jeder erfreuen, der in die Lage kommt — und das 
werden voraussichtlich nicht wenige sein — ihre Arbeit zu benutzen. 
Fast möchte es sogar scheinen, als ob in Bezug auf Genauigkeit und 
Gründlichkeit bisweilen des Guten etwas zu viel gethan wäre. Dab 
an den bewährten Grundsätzen für die formale Behandlung des 
Stofles in der Hauptsache nichts geändert werden durfte, versteht 
sich von selbst. Immerhin kann man sich des Eindrucks nicht er- 
wehren, daß die Beschaffenheit der Ueberlieferung gegen die Mitte 
des 15. Jahrhunderts einige Einschränkungen der bisher befolgten 
Editionsmethode nötig machen dürfte. Denn am Ende muß einem 
doch die aufgewandte Zeit und Mühe leid thun, wenn man beispiels- 
weise für ein Aktenstück von nur 6 Zeilen (Bd. 11 Nr. 178) nicht 
weniger als 7 Handschriften collationiert und 3 weitere citiert findet. 
Und wenn anderswo (Bd. 11 Nr. 294) einem Abdruck das Original 
zu Grunde gelegt werden kann, so fragt man sich wol, wozu außer- 
dem noch 6 Abschriften notiert werden, zumal da diese Zahl bei der 
starken Verbreitung des betreffenden Aktenstückes sich auch beliebig 
vermehren ließe. Da wäre wol der Herausgeber an erster Stelle be- 
fugt, die unnützen Reiser der handschriftlichen Ueberlieferung tüch- 
tig unter die Heckenscheere zu nehmen. Nicht notwendig ist es 
auch, sich bei der Beschreibung einer unvollständigen Copie aufzu- 
halten, die bei der Herstellung des Textes mit Recht ganz bei Seite 
bleibt (Bd. 10 S. 452 Z. 16ff.). Eine Akribie von dieser Art er- 
schwert dem Herausgeber seine Arbeit, ohne dem Benutzer die sei- 
nige zu erleichtern. 

Ueber den inhaltlichen Ertrag der Publikation ist es schwer, 
mit wenig Worten Rechenschaft zu geben. Irre ich nicht, so be- 
steht er weniger in der Aufdeckung von wesentlich Neuem, obwol es 
auch daran nicht fehlt. So war der Reichstag zu Basel 1433/4 bis- 
her so gut wie unbekannt — freilich auch nicht eben sehr bedeut- 
sam —, während auf die Beziehungen des Kaisers zu Venedig ein 
neues Licht fällt und sein Aufenthalt in Italien i. J. 1432 eine will- 
kommene Aufhellung erfährt. Soll auf Einzelheiten hingewiesen wer- 


Deutsche Reichstagsakten. X. 1. XI. 809 


den, so wäre vor allem der prachtvolle Brief des Enea Silvio Picco- 

lonini an die Stadt Siena zu nennen (Bd. 11 Nr. 55a), der sich 
überraschender Weise in einer Londoner Handschrift gefunden hat 
und die interessantesten, aber auch der Kritik bedürfenden Nach- 
richten über die Vorgänge im Concil und die Haltung des Kaisers 
während der kritischen Zeit im October und November 1433 ent- 
hält. Wichtiger aber als dergleichen Einzelheiten scheint mir zu 
sein, daß es dem emsigen und umsichtigen Sammelfleiße der Heraus- 
geber gelungen ist, für die Geschichte der kaiserlichen und Reichs- 
politik in den behandelten Jahren ein zuverlässiges und nach allen 
Seiten breit angelegtes Fundament zu schaffen, wie es bisher noch 
jeder, der auf diesem Gebiete arbeiten wollte, empfindlich vermißt 
hat. Freilich ist der Rahmen, den man von früher her an den 
»Reichstagsakten« gewohnt war, dabei vielfach ausgedehnt, mitunter 
sogar geradezu gesprengt worden. Um Reichstage, Kurfürstentage 
u.8.w. ließ sich ein großer, ja der größere und bei weitem wert- 
vollere Teil des Materials nicht wol gruppieren, wie das in den 
früheren Bänden Grundsatz war. Weder der Romzug, noch die An- 
gelegenheit des Concils haben auf den spärlichen »Tagen« dieser 
Zeit eine mehr als blos nebensächliche Rolle gespielt, und doch ging 
es nicht an, sie aus diesem Grunde zu vernachlässigen oder gar ganz 
auszuschließen. Man stand da vor einem Dilemma: eine grund- 
legende Quellensammlung für die deutsche Reichsgeschichte sollten 
die »Reichstagsakten< werden, und sie konnten es für die Zeit von 
1431 ff. nicht sein, wenn sie »Reichstagsakten« im strengen Sinne 
des Wortes bleiben wollten, weil nun einmal nichts daran zu ändern 
ist, daß die Reichstage und ihre Akten in den letzten Jahren von 
Sigmunds Regierung nur von untergeordneter Bedeutung sind. Die 
Herausgeber haben sich nun dafür entschieden, nicht nur den Ge- 
sichtspunkt der Wichtigkeit vorwalten zu lassen und demgemäß eine 
Menge Dinge aufzunehmen, die streng genommen nicht in die »Reichs- 
tagsakten« gehören, sondern auch äußerlich, wo es nötig war, von 
dem altgewohnten Schema abzugehen. So enthält der 11. Band 
einen Abschnitt über die Entwicklung der Kirchenfrage, einen andern 
über des Kaisers Verhandlungen mit Venedig, die sich in keiner Weise 
an Reichstage anlehnen, und im ganzen 10. Bande, der den Romzug 
behandelt, kommt gar nur ausnahmsweise ein »Tag«, und zwar ein 
bloßer Städtetag vor. Dieses Verfahren, das die beiden Bände nicht 
wenig aus der Reihe der übrigen heraustreten läßt, wird vielleicht 
nicht einstimmige Billigung finden. Wenn es aber gestattet ist eine 
subjektive Ansicht zu äußern — und ich glaube hierin nicht nur 
‘einem persönlichen Interesse zu folgen — so, scheint mir, kann man 


810 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


den Herausgebern nur danken, daß sie das Schema hinter der Materie 
zurücktreten ließen und lieber zu viel, als zu wenig gaben. Gleich- 
wol kommt es mir vor, als hätte sich, auch im Interesse thunlichster 
Beförderung der Arbeit, an manchen Stellen eine knappere Fassung 
empfohlen. Dies gilt namentlich vom 10. Bande. Ich habe mich 
nicht überzeugen können, daß es gerade in den »Reichstagsakten< 
notwendig war, auf die Vorgeschichte des Romzuges, der 1431 an- 
getreten wurde, ausführlich bis ins Jahr 1412 zurückzugreifen, oder 
sich so tief auf die Anfänge des Basler Concils, seine Auflösung und 
die von ihm geführte Correspondenz einzulassen, wie das u. a. Bd. 10, 
S. 145 ff., 188 und 258 geschieht. Der Herausgeber scheint da von dem 
Wunsche, nur ja keine seiner mühevoll erbeuteten Notizen umkommen 
zu lassen, zu weit von seinem Ziele abgeleitet worden zu sein. Auch 
der Abdruck von Bruchstücken aus der Concilsgeschichte des Johann 
von Segovia, dem wir im 12. Bande an zahlreichen Stellen begeg- 
nen, scheint mir weder durch den Charakter der Publikation gefor- 
dert, noch durch Gründe der Zweckmäßigkeit gerechtfertigt. Die 
bisher vorhandene Ausgabe ist ja freilich das Gegenteil einer leicht 
benutzbaren; da aber die Collationierungen der »Reichstagsakten« so 
gut wie keine Aenderung des Textes ergeben, so hätte ein Hinweis 
auf die betreffenden Stellen wol allen Anforderungen genügt. Un- 
bedingt der Aufnahme unwürdig ist Nr. 85 im 11. Bande. Eine 
Rede, die der humanistische Annalist Blondus nach antiken Mustern 
dem kaiserlichen Gesandten in den Mund legt, nimmt sich inmitten 
von »Reichstagsakten« doch zu sonderbar aus, selbst wenn man ihren 
Inhalt als glaubwürdig hinnehmen dürfte, wie der Herausgeber thut, 
der aber nicht beachtet, daß der erste und wichtigste Punkt, den 
der Gesandte nach Blondus dem Papste so warm ans Herz gelegt 
haben soll, die Anerkennung des Concils, bereits erledigt war, als 
die Gesandtschaft in Rom eintraf. 

Von den einleitenden Abhandlungen, die, wie gewöhnlich, einen 
ziemlich breiten Raum einnehmen, verdienen die von Dr. Beckmann 
im 11. Bande gebotenen besonderen Beifall. Sie sind sehr gut ge- 
schrieben und bieten in knapper und klarer Form die denkbar beste 
Orientierung über den Stoff, lassen namentlich die recht verwickel- 
ten Beziehungen des Kaisers zum Concil von Basel in -anschaulich- 
ster Weise hervortreten. Daß man mit dem Gesagten bisweilen 
nicht ganz einverstanden sein kann, thut dem Werte der Leistung 
keinen Schaden. So hege ich z.B. einigen Zweifel, ob die Gefahr 
einer Absetzung des Papstes im Sommer und Herbst 1433 wirklich 
so nahe gewesen ist, wie Beckmann den von ihm reproducierten 
italienischen Berichten glaubt. Daß dergleichen befürchtet wurde, 


Deutsche Reichstagsakten. X. 1. XI. 811 


beweist noch nicht, daß die leitenden Persönlichkeiten in Basel im 
Ernste darauf hingearbeitet haben. Es läßt sich vielmehr denken, 
daß die Gefahr, namentlich von Seiten der Cardinäle, absichtlich 
übertrieben wurde, um den Papst gefügig zu machen. Ausschlag- 
gebend dürfte damals, wie so oft, die Politik des französischen Hofes 
gewesen sein; diese aber schlug eben damals zu Gunsten des Pap- 
stes um (s. Bd. 11 S. 82 Z. 27ff.). Auch zu der apologetisch ge- 
haltenen Bemerkung über den Eindruck von Sigmunds Auftreten in 
Italien (Bd. 11 S. 7) möchte ich mir eine Einschränkung erlauben. 
Das absprechende Urteil, das die meisten Neueren fällen, und das 
Lamprecht in übertriebenster Fassung, weil mit geringster Sach- 
kenntnis, wiederholt, geht freilich zu weit. Aber gegenüber den 
ehrenvollen Empfängen und Festlichkeiten, die dem Kaiser an vielen 
Orten zu teil wurden, darf man doch nicht vergessen, wie wenig 
respectvoll die Eingeweihten über ihn. dachten und gelegentlich auch 
sprachen. Die spöttischen Aeußerungen eines Lorenzo Valla wiegen 
hier doch wol mindestens ebenso schwer, wie die ehrenden Beiwörter 
städtischer Chronisten. Dem tadelnden Urteil über die angeblichen 
Competenzüberschreitungen des Concils gegenüber Kaiser und Reich 
(Bd. 11 S. 372f.) kann ich nicht beistimmen. Nach kanonischem 
Rechte war die Synode verpflichtet, die Klagen des Klerus von Bam- 
berg und des Erzbischofs von Besancon vor ihrem Forum anzunehmen, 
und in dem Streit um die sächsische Kurwürde war sie dazu wenig- 
stens berechtigt. Man darf eben nicht vergessen, daß das kanonische 
Recht, so fremd uns das heute auch erscheinen mag, einmal gelten- 
des Recht gewesen ist, und daß ein allgemeines Concil sich vor allem 
daran gebunden erachten mußte. Mir scheint auch, Sigmund habe 
diese Beschwerden mehr als Vorwände benutzt, um seinen Groll ge- 
gen die Versammlung zu äußern, der in Wirklichkeit auf ganz andere 
Beweggründe zurückging. 

Nicht minder reich an einzelnen Ergebnissen, als die Einleitungen 
des elften, sind die entsprechenden Abschnitte im zehnten Bande, 
und an Sorgfalt der Durcharbeitung übertreffen sie jene womöglich. 
Vielleicht hat der Herausgeber hier bisweilen des Guten etwas zu 
viel gethan. Man darf auch in einer kritischen Einleitung nicht »alles 
sagen« wollen, soll dem Leser nicht Interesse und Ueberblick ver- 
loren gehen. Eine Akribie, die darauf ausgeht, jedes politische Ge- 
schäft in allen seinen Phasen mit kinematographischer Treue bis auf 
das Eintauchen der Feder zu verfolgen und wiederzugeben, ist 
schwerlich die geeignete Methode, um verwickelte historische Zu- 
sammenhänge anschaulich zu machen. Auch eine allgemeine Wür- 
digung von Sigmunds Politik hat Dr. Herre gelegentlich versucht, 


812 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


von der ich fürchte, daß sie nicht viel Anklang finden wird. Trotz 
manchen romantischen Reden und Posen ist Sigmund im Grunde, 
wie jeder wirkliche Politiker, vor allem auf seine eigenen, oft genug 
nur zu materiellen Interessen bedacht gewesen. Dies scheint mir 
Dr. Herre nicht richtig erkannt und deshalb in der Beurteilung vor 
des Kaisers Haltung gegenüber Papst und Concil einigermaßen fehl- 
gegriffen zu haben. Von einer »Voreingenommenheit fur die kor- 
ziliare Theorie« (Bd. 10 S. 297) kann bei Sigmund jedenfalls nicht 
die Rede sein. 

Zum Schlusse seien einige Berichtigungen im einzelnen ge- 
stattet. Bd. 10 Nr. 75 ist in der Ueberschrift von einem »eigen- 
händigen Briefe< des Papstes an Sigmund die Rede, der Text aber 
rechtfertigt diesen mit den Bräuchen der Curie nicht wol vereinbaren 
Ausdruck keineswegs. Bd. 10 S. 24f. und 133 wird eine Sendung 
Englands und Frankreichs an den Papst im J. 1425 erwähnt, deren 
Zweck die beschleunigte Berufung des Concils von Basel gewesen 
sei. Soweit England in Frage kommt, ist das richtig, aber nicht 
neu; wir haben sogar die bei diesem Anlaß gehaltenen Reden. Daß 
aber Frankreich sich dabei beteiligt habe, ist mindestens ein mis- 
verständlicher Ausdruck. Es handelt sich nur um den unter engli- 
scher Herrschaft stehenden Teil des Landes, während Karl VII. da- 
mals von einem solchen Schritte sehr weit entfernt war. Bei Be 
sprechung des Verhältnisses von Sigmund zu Eugen IV. (Bd. 10 
S. 144) sind die interessanten Mitteilungen Fillastres über ihre per- 
sönlichen Beziehungen in Konstanz übersehen. Bd. 10 S. 300 und 
307 wird vermutet, Johann von Segovia habe seinen Bericht über 
Vorgänge in Rom aus mündlichen Mitteilungen der kaiserlichen Ge- 
sandten ‘geschépft. Es läßt sich aber erkennen, daß er für alles, 
was an der Curie vorging, eine besondere Quelle besessen haben 
muß, die denn auch wol an diesen beiden Stellen zugrunde liegen 
wird. Bd. 11 S. 372 heißt es, der Cardinal von Rouen habe >»als 
einflußreiches Mitglied der Baseler Versammlung< sogar in eigener 
Sache gerichtet. Das ist nicht ganz zutreffend. Der Cardinal war 
Vicekanzler der römischen Kirche und als solcher auch der oberste 
Chef der im Konzil geübten Jurisdiction. Bd. 11 S. 62 Z. 38 ver- 
mißt man die Erläuterung, wer der herr, der den kunig von Franck- 
reich regiert hat sei. Es ist Georges de la Trémoille. Ob Bd. 11 
Nr. 249 richtig als cop. chart. coaeva bezeichnet ist, erscheint frag- 
lich. Sollte es nicht vielmehr ein corrigiertes Concept sein? Der 
Satz Bd. 11 S. 111 Z. 34 gibt so, wie er da steht, keinen guten 
Sinn: omnes qui sunt pro parte domini nostri pape sunt congregali 
hodie in ecclesia sancti Augustini secunda hora post meridiem, 


Deutsche Reichtagsakten. X. 1. XI. XII. 813 


cognoscamus, et removent cum istis cardinalibus. Es wird vielleicht 
zu lesen sein: omnes — — sint congregati — — wut cognoscamus 
quot remanent cum istis cardinalibus. Bd. 11, S. 123 Z. 46 soll 
Sigmund sich selbst des Leichtsinnes zeihen: omnia quadam animi 
nostri levitate sufferimus. Es muß natürlich lenitate heißen. Eine 
kleine Inconsequenz herrscht im 10. Bande in der Behandlung der 
Personennamen. S. 134 wechselt in einer Aufzählung die französische, 
lateinische und deutsche Form: Nikolaus Lami, Egidius Canivet, 
Wilhelm Everardi (statt Evrard), Dionysius von Sabrevoys. S. 304 
wird ein Jacobus Alberti der Quelle » Jacques Albert< statt »Aubert« 
genannt. Der Dekan von Utrecht hieß nicht Stater (S. 298), sondern 
Schatter, ebenso der Bd. 11 S. 374 erwähnte Notar nicht Staet, 
sondern Scaec (Schaek). Den im 11. Bande öfters vorkommenden 
Venetianer Joh. Franciscus de Capitibus Liste — im Register ist er 
ausgefallen — übersetzt man ins Italienische statt Giov. Francesco 
Capodilista wol besser als Gianfrancesco di Capodistria ? 


Berlin, im März 1901. Haller. 


Nachschrift. Inzwischen, als das Vorstehende bereits seit 
Monaten der Redaction übergeben war, ist auch der 12. Band er- 
schienen, herausgegeben von Dr. Beckmann !). Der Band, der die 
Regierungszeit Sigmunds zum Abschluß bringt, wird eingeleitet durch 
ein lebendig und anziehend geschriebenes Vorwort von Quidde, der 
u. A. Gelegenheit nimmt, einige neuerdings laut gewordene Einwen- 
dungen gegen die von Weizsäcker überkommenen Grundsätze der 
Textbehandlung zu bekämpfen, vielleicht etwas ausführlicher, als 
nötig war. Ob man und oder unndt, hund oder hunndt drucken 
lassen soll, u. ä., erscheint uns heute nicht mehr so wichtig, daß es 
geboten wäre, die feststehende und vielfach als vorbildlich ange- 
sehene Methode der RTA. auf 11 Quartseiten zu verteidigen. Auf 
den reichen Inhalt des Bandes kann das Vorwort mit berech- 
tigtem Stolze hinweisen : der größere Teil ist ganz neu, und auch 
das Bekannte tritt dadurch vielfach in helleres Licht. Im Mittel- 
punkte steht der Reichstag zu Eger 1437, seine Geschichte ist hier, 
wie p. XXX bemerkt wird, »auf ganz neue Grundlagen gestellt<. 
Darum gruppieren sich zwei inhaltsreiche Abschnitte tiber die Ent- 
wicklung der Kirchenfrage vom December 1435 bis Mai 1437 und 
über den Kurfürstentag zu Frankfurt am 3. November 1437, der 


' 1) Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund. Sechste Abteilung. 
1435—1437. Herausgegeben von Gustav Beckmann. Gotha, Perthes 1901. 
LXVIII, 351 S. 4°. 


814 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


gleichfalls nur die Kirchenfrage zum Gegenstande hat. Man darf 
also wol in den Teilen, die sich auf die kirchlichen Dinge beziehen, 
den hauptsächlichen Wert des Bandes erkennen. Dabei tritt deut- 
licher, als bisher bekannt war, der Widerstand hervor, den die 
Deutschen im Allgemeinen und K. Sigmund im besonderen den 
selbstsüchtigen Absichten Frankreichs, zu deren Erreichung das 
Concil die Wege ebnen sollte, aber ebenso auch den Tendenzen der 
Curie entgegensetzen. Eine höchst wertvolle Aufklärung bietet in 
dieser Beziehung der Bericht eines päpstlichen Gesandten über die 
Lage in Deutschland im Jahre 1437 (Nr. 154)'). Konnte nun Deutsch- 
land weder mit Frankreich noch mit dem Papste gehen, mußte ihm 
die Verlegung des Concils und die im Gefolge davon zu befürchtende 
Rückkehr der Curie nach Avignon ebenso unannehmbar sein, wie 
eine Verlegung in den Machtbereich des Papstes und Erstickung der 
Reform, wie sie die Curie im Schilde führte, so war damit die Not- 
wendigkeit einer selbständigen Politik gegeben. Sigmund, die 
deutsche Nation, die Kurfürsten haben eine solche in der That ver- 
sucht, indem sie zuerst auf das Verbleiben des Concils in Basel hin- 
wirkten, später, als der Conflict zwischen Papst und Synode offen 
ausgebrochen war, die Vermittlung in die Hand nahmen. Mit dem 
zweiten, der Vermittlung, sind sie, wie auch Beckmann S. 291 zu- 
giebt, gescheitert. Man könnte auch weiter gehen: sie mußten 
scheitern, denn für eine Vermittlung war überhaupt kein Raum 
mehr, selbst wenn ein solcher Meister der Diplomatie, wie Sigmund, 
sich ihrer annahm. Dazu war — was Beckmann nicht hervorge- 
hoben hat — der Gegensatz damals zu sehr principieller Natur. 
Wer will vermitteln, wo von zweien jeder die höchste Instanz zu 
sein beansprucht? Man lese z. B. den fesselnden Bericht des 
Bischofs von Vich über seine Sendung zu dem sterbenden Kaiser 
(Nr. 160, December 1437), wie dort ein einziger Gedanke alles 
andere beherrscht, der Wunsch, den Beweis zu führen, daß die 
autoritas universalis ecclesiae supra papam sei. Wo die Dinge so 
weit gediehen sind, da ist jede Vermittlung aussichtslos. Sache einer 
vorausschauenden Politik wäre es gewesen, zu verhüten, daß es so- 
weit käme, insbesondere die deutsche Nation vor dem Dilemma zu 
bewahren, entweder für die Reform einzutreten, um den Preis, daß 
das Papsttum wieder französisch werde, oder die Reform preis- 


1) Die Vermutung, daß der Verfasser kein anderer sei als Galeazzo Capriani 
(nicht de Captianis, iwie Beckmann consequent druckt), scheint mir durchaus 
plausibel, wie ich ihn auch schon Concil. Basil. 1, 149 für den Autor des ganz 
analogen Berichtes über die Lage in Basel im November 1436 halten zu können 
glaubte. Er wurde 1444 Bischof von Mantua. 


Deutsche Reichstagsakten. XII. 815 


zugeben, um dem französischen Papsttum zu entgehen. Was haben 
nun die Deutschen, was hat namentlich Sigmund hierfür gethan ? 
Wenig genug, und das wenige war ein Mißgriff: der Versuch, das 
Concil in Basel festzuhalten. Gegen den Tadel, den ich deswegen 
schon früher über Sigmunds Verhalten geäußert habe, sucht Beck- 
mann den Kaiser in Schutz zu nehmen (S. 6). Ueberzeugt hat er 
mich nicht, im Gegenteil, mir scheint, seine eigenen Dokumente 
bieten die beste Bekräftigung meiner Auffassung. Ich hatte Sigmund 
schwankendes Verhalten vorgeworfen und ihn deswegen für die Ver- 
wirrung der Lage im Concil mitverantwortlich gemacht. Die nun 
vorliegenden Akten erhärten die Richtigkeit dieses Vorwurfs durch- 
aus. Der Kaiser verlangt zuerst (1436), daß das Concil in Basel 
bleibe '), und macht sich anheischig, auch die Griechen dorthin zu 
bringen (was ihm aber nicht gelang). Dann, ehe noch aus Konstan- 
tinopel Nachricht eingetroffen ist, ändert er plötzlich sein Programm, 
läßt Basel fallen und arbeitet wiederholt und mit Nachdruck für 
eine Verlegung nach Ofen ?). Sein Vertreter in Basel, der Bischof 
von Lübeck, ist unter den Legaten des Concils, die sich im Sommer 
1437 aufmachen, um die Griechen nach Avignon abzuholen. Und 
eben um dieselbe Zeit agitiert der Kaiser bei den Ständen des 
deutschen Reiches gegen die »schlimmen Ränke« (malas machina- 
tiones, S. 236) der Franzosen, die das Concil nach Avignon ziehen 
wollen *), um den Italienern das Papsttum und den Deutschen das 
Kaiserreich zu entreißen. In so volltönenden Worten, wie sie nur 
je aus seinem beredten Munde gekommen sind, spricht er von 
seinem festen Entschluß, solchen Skandal zu verhindern, erklärt er, 
er wolle lieber sterben, als dulden, daß auf deutschem Boden ein 
Schisma ausbreche; ja er will alle andern Geschäfte liegen lassen 
und selbst nach Basel eilen, — in Wirklichkeit aber macht er sich auf, 


1) Beckmann betont mir gegenüber nachdrücklich, daß der Kaiser zu die- 
sem Verlangen durch die deutsche Nation angeregt worden sei, nicht aber um- 
gekehrt. Das ist richtig, entlastet aber den Kaiser keineswegs von der Verant- 
wortung. Hätte er dem Wunsche der Concilsnation nicht zugestimmt, sondern 
von Anfang an, seies Ofen — wie er später that —, sei es Wien für das Unions- 
concil zur Verfügung gestellt, so hätten auch die deutschen Concilsmitglieder sich 
ohne Zweifel danach gerichtet, und wahrscheinlich noch viele andere, wie uns 
Job. von Segovia ausdrücklich bezeugt (Mon. Concil. 2, 929), ein Zeugnis, das 
mir Beckmaun nicht zu würdigen scheint. 

2) Beckmanns sonst so klare Ausführungen lassen diese Sprünge (S. 7) 
nicht mit entsprechender Deutlichkeit hervortreten. 

3) Der Bischof von Lübeck kehrte denn auch schon im Dauphine um, an- 
geblich wegen Krankheit. Man darf dieses Unwolsein wol als ein diplomatisches, 
auf höhere Weisung eingetretenes ansehen. 


816 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


um von Eger weiter ostwärts zu ziehen! Was hinter diesen Wider- 
sprüchen für Absichten steckten, hätte die Folgezeit ohne Zweifel 
offenbart, aber der Tod trat dazwischen, riß den Kaiser aus der 
Fülle seiner Entwürfe und schnitt uns die Antwort auf unsere Fragen 
wol für immer ab. Vermutungen ist hier ein breiter Raum gelassen; 
auch dürfte sich vielleicht bei sorgfältigen Zurückgehen auf Sig- 
munds kirchenpolitische Vergangenheit mit einem gewissen Grad von 
Wahrscheinlichkeit das Programm reconstruieren lassen, das ihm 
für die Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse im deutschen 
Reiche vorschwebte. Kein Zweifel, daß Quidde das Richtige trifft, 
wenn er (p. LVIII) meint, Sigmunds Haltung sei »nicht nur durch 
den Wunsch zu vermitteln, sondern auch durch seine eigenen be- 
sonderen Interessen bestimmt«. Doch hier ist nicht der Ort, diesen 
Dingen nachzugehen. Es genügt, festzustellen, daß Sigmunds Ein- 
greifen in Basel, verspätet und widerspruchsvoll, wie es war, weder 
zur Verhütung des Conflictes, noch zur Klärung der Situation, sondern 
vielmehr zu einer Steigerung der Verwirrung beigetragen und seinen 
Nachfolgern eine wenig erfreuliche Erbschaft geschaffen hat. 

Zum Schlusse auch diesmal einige Berichtigungen, durch die 
natürlich kein Vorwurf gegen die Sauberkeit der Edition erhoben 
werden soll. Die Behauptung, das Annatenverbot habe die Curie zu 
einer Zeit getroffen, als sie »in ihrem Florentiner Exil die Einkünfte 
des Kirchenstaates entbehrte< (S. 1), ist einer der mancherlei Irr- 
tümer, die, wenn ich nicht irre, durch Georg Voigt in Umlauf ge- 
setzt sind, und an deren Ausrottung man fast verzweifeln möchte. 
Als das Verbot erlassen wurde, am 9. Juni 1435, war der Kirchen- 
staat schon längst wieder unterworfen, und das damalige »Exil« des 
Papstes in Florenz war nicht weniger freiwillig, als seine heutige 
»Gefangenschaft« im Vatikan. Mit Bedauern sehe ich, daß Beck- 
mann §. 22 1. 31 einer Emendation von mir gefolgt ist, die ich in- 
zwischen selbst als falsch erkannt habe. (Die HS. hat salvoque tm- 
pigwebatur , ich emendierte Concil. Basil. 1, 425 salvo quod inili 
gerebatur; aber das Richtige ist doch wol salvo quod impingebatur 
oder que tmpingebantur). No. 139, Schreiben des Concilsadvokaten 
Stefan von Novara an den Kaiser, verdient die Aufnahme in die 
RTA. unbedingt nicht: eine ganz leere humanistische Federübung. 
S. 261 1. 5—6: loco lectorum habuimus paleas supra terram et recen- 
suimus (dazu Note: nicht ganz deutlich) dominium Christi, quia 
»domini est terra et plenitudo eius, orbis terrarum« (Ps. 23,1) be- 
friedigt nicht. Sollte da nicht stehen recoluimus dictum Christi 
u. 8. w.? §S. 293 werden zwischen einem Antrag von Mainz und 
einem solchen von Trier nur »Differenzen von untergeordneter Be- 


Deutsche Reichstagsakten. Nachschrift. 817 


deutung« gefunden. Schwerlich mit Recht, denn der Trierer Antrag 
enthält u. a. die Entschädigung des Papstes für die aufgehobenen 
Annaten, der Mainzer Antrag enthält sie nicht; diese Frage aber bildet 
eigentlich den Kern des ganzen Streites. No. 183 scheint mir als 
»Denkschrift einiger Anhänger der Vermittlungspartei< nicht richtig 
bezeichnet ; es ist vielmehr eine Apologie des Papstes. S. 302 finden 
sich zwei Textfehler: 1. 28 ist irrig loco annatarum ei sublatarum emen 
diert für loco annatorum ei sigillorum; es muß zweifellos heißen et 
sigillorum, da von einer Entschädigung die Rede ist, die sedi apostolice 
et reliquis prelatis gewährt werden soll; den Prälaten aber war 
gerade die Siegelabgabe durch Concilsdecret entzogen worden. 
Auf 1. 42—43 liest man: ecclesie orientalis que continet innumerabiles 
gentes et populos et fortiter (Note: sic) sicut ecclesia Latina. Was 
das heißen soll, weiß ich nicht. Es wird wol zu lesen sein ef forte 
ter sicut u. 8. w., d. h. die griechische Kirche hat vielleicht dreimal 
soviel Bekenner, wie die lateinische. S. 305 Anm. 2 und 4 werden 
Teile von Ausführungen päpstlicher Gesandten, auf die die Kurfürsten 
antworten, als »nicht aufgefunden< bezeichnet. Sind sie überhaupt jemals 
schriftlich vorhanden gewesen? Die Kurfürsten beginnen ihre Antwort : 
Audiverunt domint met... legacionem vestram; das ist doch nur 
ein mündlicher Vortrag. Das Register endlich enthält einige Un- 
genauigkeiten. Blondus war nicht päpstlicher Kanzleibeamter, sondern 
Secretär, Bapt. de Padua nicht Beamter der päpstlichen Kammer, 
sondern Cubicular des Papstes. Der Augustinermönch Petrus, den 
die deutsche Nation zu Ende des Jahres 1435 zu Sigmund 
schickte, ist gewiß kein anderer, als Peter von Indersdorf (s. Concil. 
Basil. 1, Register). Der Candola, der S. 177 und 193 vorkommt, 
heißt auch in Wirklichkeit Candola und ist nicht mit Jacopo Caldora zu 
verwechseln, wie im Register geschieht. Joh. Pulchripatris ist hier 
als »frater« aufgeführt; er war nicht Mönch. Der Erzbischof von 
Tarent hieß nicht Joh. Tagliacotti, sondern Joh. Orsini von Tagliacozzo. 
Statt Laufenberg ist Laufenburg zu setzen. Einen Bischof von 
Aix giebt es damals nicht, Aix ist Erzbistum, und der S. 43 vor- 
kommende episcopus Aquensis ist der Bischof von Dax. So erklärt 
sich auch der Zusatz »Angelicum<, wofür ohne Zweifel >» Anglicum« 
zu lesen ist,denn der Bischof von Dax war Gesandter Heinrichs VI 
für die Gascogne. 


Rom, im Juli 1901. Haller. 


Gött. gel. Anz. 1901, Nr. 10. 54 


818 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


Urkundenbuch der Stadt Basel. Herausgegeben von der histori- 
schen und antiquarischen Gesellschaft in Basel. 
Vierter Band, bearbeitet durch Rudolf Wackernagel. 
Siebenter Band, bearbeitet durch Johannes Haller. 
Basel, R. Reich, vormals C. Dettloffs Buchhandlung 1899. 492 und 577 Seiten. 


Die in der Vorrede zum dritten Bande des Urkundenbuches der 
Stadt Basel angekündigte Scheidung des Materials nach politischen 
und privatrechtlichen Urkunden!) ist mit den zwei vorliegenden 
Bänden eingetreten, und zwar gehören diese beiden Bände der Serie 
der politischen Urkunden an, die bis zum Jahre 1901 — dem Ge 
denkjahre der 400jährigen Zugehörigkeit Basels zur schweizerischen 
Eidgenossenschaft — vollständig abgeschlossen vorliegen soll. 

Band IV umfaßt mit 469 Nummern die Jahre 1301—1331, 
Band VII mit 431 Nummern die Jahre 1441 —1454 °). 

Es sind bewegte Zeiten der Basler Geschichte, über welche die 
zu überblickenden Documente Aufschluß geben. 

In den acht Jahrzehnten, über die sich der IV. Band erstreckt, 
sucht sich das Domcapitel gleichzeitig der ihm vom päpstlichen Hof 
aufgedrungenen französischen Bischöfe und der weiteren Ausdehnung 
der Machtsphäre des Rats zu erwehren; — hier ‚wie dort mit sehr 
mangelhaftem Erfolg. Innerhalb des Rats gewinnen die Zünfte die 
Oberhand, und die unter sich gespaltene Ritterschaft schwankt 
zwischen dem Anschluß an den bischöflichen Lehnsherrn und an die 
städtische Behörde, bis sie durch das Uebergreifen der österreichi- 
schen Herrschaft vom Elsaß in den Breisgau und in der Persönlich- 
keit des ritterlichen Herzogs Leopold III. einen äußeren Anziehungs- 
und Stützpunkt findet und nun im Gegensatz zu Bischof und Rat 
die für Bistum und Stadt gleich bedrohlichen Absichten dieses 
Fürsten nach Kräften fördert. Und da auch Kaiser Karl IV. dem 
Vorgehen Leopolds allen Vorschub leistet, steht Basel am Schlusse 
dieses Zeitraumes auf dem Punkte, aus einer der vollen Selbständig- 
keit schon ganz nahen bischöflichen Freistadt eine österreichische 
Landstadt zu werden und in der vorderösterreichischen Herrschaft 
aufzugehen. Vorausgegangen waren diesem unaufhaltsamen Vor- 
dringen Oesterreichs die Kämpfe Ludwigs des Baiern um das Reich 
gegen das Haus Habsburg und die päpstliche Gewalt. 

In diesen innern und äußern Fährlichkeiten suchte und fand 


1) S. Götting. gel. Anz. Jahrgg. 1898. S. 289. 
2) Inzwischen ist auch der von Rudolf Wackernagel bearbeitete Band V er 
schienen, die Jahre 1382—1605 umfassend. 


Urkundenbuch der Stadt Basel. IV. VII. 819 


die Stadt Basel zunächst einen gewissen Halt in dem Beitritt zu 
allen kleinern und größern Landfrieden und dem Abschluß kurz- 
lebiger, aber immer wieder erneuerter, enger Verbindungen mit be- 
nachbarten Städten, vor allen mit Straßburg und Freiburg, denen 
sich nachträglich meist auch noch Breisach anschloß. Dann aber, 
nachdem das mit Straßburg zerfallene Freiburg nach einer schweren 
Fehde und Niederlage gegen seinen angestammten Herrn dessen 
Herrschaft freiwillig gegen die österreichische vertauscht hatte (1368), 
verlor dieser Halt seine Kraft. Wie ein unentrinnbares Verhängnis 
mußte der Stadt Basel die Gefährde vor Augen stehen, welche ihr 
durch den Erwerb von Kleinbasel, der Reichsvogtei über Großbasel, 
des Gerichts in der Vorstadt St. Albain, des Schutzrechts über die 
Juden und des Rechts der Auslösung des der Stadt versetzten 
Reichszolls durch Herzog Leopold ihr immer näher auf den Leib 
rückte. Das Uebergewicht des österreichischen Einflusses in Basel 
war entschieden, und das Auftreten Herzog Leopolds gegen Bistum 
und Stadt unterschied sich kaum mehr von demjenigen eines Landes- 
herrn, als sein jäher Tod in der Schlacht bei Sempach und die 
politischen Folgen dieser Schlacht die sofort energisch und klug be- 
nutzte Gelegenheit zur Beseitigung der unmittelbaren Gefahr er- 
öffneten. 

Die Gruppe der Urkunden, die sich auf die Wahrung der städti- 
schen Stellung durch Bündnisse verschiedener Art und insbesondere 
auf das Verhältnis der Stadt zu dem vordringenden Oesterreich be- 
ziehen, nimmt den größten und immer breiteren Raum im vierten 
Bande des Urkundenbuches der Stadt Basel ein. 

Kaum viel geringer an Zahl und jedenfalls nicht geringer an 
Interesse ist die Gruppe derjenigen Documente, welche über die 
weitere Entwicklung der innern städtischen Verhältnisse Aufschluß 
geben: über die Beziehungen von Bischof und Capitel zu Bürger- 
meister und Rat, den Ausbau der Stadtverfassung, die Begründung 
fester Rechtsverhältnisse, bestimmter Normen und gesicherter Zu- 
stände als Grundlage für Handel und Verkehr. 

Der zäheste Streit, der diese ganze Zeit hindurch zwischen 
Domcapitel und Rat geführt wurde, ist derjenige über das Ungeld, 
d. h. die Unterwerfung der Geistlichkeit unter die vom Rate aufge- 
legte Abgabe vom Verkehre in Lebensmitteln und anderm Waren- 
umsatz. Mit aller Kraft verwahrt sich das Capitel bei jeder Ge- 
legenheit dagegen, dieser Auflage unterstellt zu werden, da der Rat 
kein Recht habe, ohne ausdrückliche Erlaubnis des Domcapitels neue 
allgemeine Verordnungen für die Stadt Basel zu erlassen. Vergeb- 
lich giebt der Rat bei seinem ersten Versuche die Erklärung ab, 

54 * 


820 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


daß es sich dabei ja keineswegs um ein statutum generale, sondem 
nur um ein statutum speciale handle, d. h. um eine Verfügung, 
die nur so lange in Kraft bleiben solle, bis die Stadt von ihren 
Schulden befreit sei, die großenteils auch zum Nutzen und für die 
Bedürfnisse des Domcapitels gemacht worden seien (S. Nr. 39 v. J. 
1318, sodann die Nr. 199 u. 301 aus den Jahren 1351 u. 1366). 
Noch im Jahre 1376 kam es zu einem Spruche Herzog Leopolds, 
durch den es den Bürgern von Basel ausdrücklich untersagt wurde, 
ohne Urlaub und Willen des Bischofs und seines Capitels ein Un- 
geld aufzusetzen. Freilich waren nur die Räte und Boten des 
Bischofs zu dieser Verhandlung nach Schaffhausen gekommen; die 
Stadt hatte ihre Abwesenheit durch Feindschaft und Krieg ent- 
schuldigt, trotz dem herzoglichen Geleite (Nr. 403). 

Dem allgemeinen Zuge der Zeit entspricht es, wenn das Dom- 
capitel im Jahre 1337 mit Zustimmung des Bistums beschließt, zur 
Ehre des Gotteshauses zukünftig keine nicht ritterbürtigen Basler 
Bürger als Kanoniker oder zu einer Stiftspfründe anzunehmen 
(Nr. 132), und von großer Bedeutung ist die in ihrem übrigen In- 
halt wohl frühern bischöflichen Briefen entsprechende Handfeste des 
Bischofs Johann Senn für Großbasel aus dem gleichen Jahre 1337 
(Nr. 134) deswegen, weil aus ihr mit Sicherheit zu schließen ist, 
daß die regelmäßige Vertretung der antwerke oder Zünfte um jene 
Zeit durchgesetzt worden sein muß. Jedenfalls kommt die folgen- 
schwere Neuerung hier das erste Mal zu bestimmtem Ausdruck‘). 

Zwei höchst bedeutsame, enge zusammengehörende und sich er- 
gänzende Stücke sind die Nummern 139 und 140: der sogenannte 
Einungbrief über die Pfaffheit vom 7. Dezember 1339 (erneuert 
1352, Nr. 202), ein von Bischof und Capitel auf Bitte des Rats er- 
lassenes Strafgesetz für die im Stadtgebiet wohnende Priesterschaft, 
und der ebenfalls in das Jahr 1339 gesetzte, vom Rat mit Willen 
und Gunst des Bischofs und Capitels, der Gotteshausdienstleute und 
der Bürger errichtete »städtische Einungbrief« oder Stadtfriede. 

In die gleiche Zeit fällt die Bestellung der Siebner zur Ver- 
waltung des Ungeldes und zur Aufsicht über das Archiv und das 
Zeughaus durch Bürgermeister, Rat und Zunftmeister (Nr. 141), und 
in das Jahr 1360 die Einsetzung des Fünfergerichts in Bausachen 
durch Bürgermeister und Rat, mit Willen und Gunst des Bischofs, 
der Domherren, der Dienstmannen des Gotteshauses und der Bürger 
(Nr. 255). 

Im Jahre 1356 giebt der Bischof den zwei Handwerken der 


1) Vgl. A. Heusler: Verfassungsgesch. d. Stadt Basel 8. 196 £. 


Urkundenbuch der Stadt Basel. IV. VII. 821 


Fischer und Schiffsleute eine Zunft (Nr. 208), wogegen im Jahre 
1361 die Bestätigung oder Erneuerung der von des ertpidems und 
füres wegen verlorenen Zunftordnung der Scherer, Maler, Sattler 
und Sporer vom Rat ausgeht (Nr. 260). 

Gar sonderbar berührt es, wenn bei Wiederholung der bischöf- 
lichen Handfeste für Großbasel im Jahre 1367 das Domcapitel sein 
Siegel nur unter dem Vorbehalte an den »Privilegienbrief< hängt, 
daß dessen Inhalt von Bürgermeister, Oberstzunftmeister, Rat und 
Gemeinde nicht so verstanden und beobachtet werde, prout litera 
iacet et sonat, sed prout in ea contenta haetenus ... sunt intellecta 
et observata ((Nr. 314), und nicht weniger auffällig und ungewöhn- 
lich erscheint es, wenn in dem wichtigen Verkommnis, welches im 
November 1377 die zu der Stadt Basel gehörenden Edelleute über 
Beilegung künftiger Streitigkeiten mit dem Rate treffen, die gleiche 
ritterliche Persönlichkeit auf der einen Seite in der Eigenschaft eines 
Bürgermeisters als Vertreter der Stadt handelnd auftritt und auf der 
andern Seite unter den mit der Stadt pactierenden Adligen aufge- 
zählt wird (Nr. 428). 

Vom dem Reichsoberhaupt hat die Stadt Basel neben der wieder- 
holten Bestätigung ihrer früheren Privilegien die Befreiung von der 
Grundruhr auf dem Rheine, die Befreiung von fremden Gerichten 
und die Gunst erhalten, daß ihre Bürger nicht für Schulden 
des Bischofs oder anderer Personen gepfändet werden dürfen, — 
alles von Kaiser Karl IV im Frühjahr 1357 (Nr. 230—233). Auch 
übergab Karl der Stadt die Juden als seine Kammerknechte, aller- 
dings nur auf Widerruf (1365, Nr. 287), und ebenfalls auf Wider- 
ruf ertheilte er ihr 1372 das Geleitsrecht für alle Gäste und durch- 
fahrende Leute, die Geleit fordern (Nr. 354). Im Jahre 1368 er- 
laubte er der Stadt die Erhebung eines bestimmten Transitzolls auf 
Kaufmannswaren, eine Erlaubnis, die nur gegen Bezahlung von 
2000 Gulden zurückgenommen werden durfte (Nr. 322), und neun 
Jahre später durfte dieser Zoll gegen entsprechende Steigerung der 
Pfandsumme erhöht werden (Nr. 423). Drei Tage vorher (6. August 
1377) hatte der Kaiser der Stadt den Grafen Walraf den ältern von 
Tierstein zum Richter und Schirmer ihres — zu seinem Verdrusse 
häufig überfahrenen — befreiten Gerichtsstandes gegeben (Nr. 422) 
und ihr gleichzeitig das Privileg der Aufnahme verrufener Aechter 
ertheilt (Nr. 421). 

Der gleiche Kaiser Karl bestätigte aber 'auch dem Bischof und 
Domcapitel alle ihre Privilegien unter Widerruf alles dessen, was die 
Bürger gegen sie unternommen haben sollten (1366, Nr. 305). 
Daß die Stadt sich nicht an seinem Zuge gen Lamparten über den 


822 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


Berg im Jahre 1368 beteiligt hatte, mußte sie ihm mit 2000 Gulden 
büßen (Nr. 331). 

Von großem Werte sind auch diejenigen Stücke, die in die da- 
maligen Münzverhältnisse und die schon damals weit ausgebreiteten 
Handelsbeziehungen der zur Vermittlung des Verkehrs nach allen 
Richtungen und zur Spedition von Handelsgütern so trefflich ge- 
legenen Stadt Einblick gewähren. 

Von den erstern sind hervorzuheben die Zurückweisung der 
neuen bischöflichen Münze durch die Herrn von Rappoltstein und 
eine Reihe elsäßischer Städte vom Jahre 1342 (Nr. 149); dann ganz 
besonders die bisher ungedruckte Münzeinigung zwischen dem öster- 
reichischen Hauptmann und Pfleger im Turgau, Argau und Elsaß, 
dem Bischof und der Stadt Basel, der Abtei und Stadt Zürich, vom 
20. Januar 1346 (Nr. 158), und die allerdings aus den Eidg. Ab- 
schieden schon bekannte große Münzconvention vom 7. März 1377 
zwischen den Häusern Oesterreich, Habsburg, Kiburg, Neuenburg, 
Krenkingen und den Städten Basel, Zürich, Bern und Soloturn 
(Nr. 413). Auch die Vorschriften über die Anfertigung der bischöf- 
lichen Münze vom 16. December 1370 (Nr. 342) und die Versetzung 
der Münze an die Stadt um 4000 Gulden (1373, Nr. 360) sind zu er- 
wähnen. Ä 

Von der wachsenden Bedeutung der Verkehrs- und Handelsver- 
hältnisse legen die zahlreichen Vereinbarungen mit andern Städten 
(Zürich, Mühlhausen, Freiburg i. Br., Luzern, Laufenburg) Zeugnis ab, 
durch welche die Contrahenten gegenseitig darauf verzichten, will 
kürlich auf Leib und Gut ihrer Bürger zu greifen; ferner die Anstände 
über Kaufmannsgut mit Kaufleuten aus Mailand und Parma, (Nr. 320) 
mit Bürgern von Asti und dem Abt von Montferrat (Nr. 248); der 
gehässige Erlaß des Papstes Innocenz VI an die Stadt Basel, daß 
sie den Grafen von Tierstein nicht an der Aufhebung von Mailänder 
Kaufleuten und Warenführern auf ihrem Gebiete hindern möge (Nr. 222); 
die Geleitsbriefe Herzog Rudolfs von Oesterreich für die Kaufleute 
von Mailand, Venedig, Florenz und andern Orten’ der Lombarde 
(Nr. 258) und des Grafen von Habsburg-Laufenburg für die Mai- 
länder Kaufleute insbesondere (Nr. 350). 

Nicht zu übersehen ist daneben die Kundschaft über 11 Sätze be- 
treffend Zoll, Wage, Maß und Gewicht von Basel aus dem Jahre 
1352, wenn schon das Urkundenbuch dafür nur auf Trouillet ver- 
weist und sich mit Berichtigungen zu dessen Texte begnügt 
(Nr. 204). 

Endlich mag noch auf Jie Streitigkeiten der Brodbecken mit 
den Müllern und ihren Knechten hingewiesen werden, die 1335 durch 


Urkundenbuch der Stadt Basel. IV. VII. 823 


einen Schiedsspruch beigelegt wurden (Nr. 128); wird doch auf 
solche Dinge nur hie und da durch einen glücklichen Zufall urkund- 
liches Licht geworfen. — 

Eine dritte Gruppe von Documenten bezieht sich auf Besitz- 
und Rechtsverhältnisse öffentlichen oder halböffentlichen Charakters. 
Sie darf hier um so eher übergangen werden, als es bei manchen 
Stücken dieser Gruppe fraglich erscheint, ob sie mit Recht ihren 
Platz unter den politischen Urkunden gefunden haben und nicht 
richtiger den Urkunden über kirchliche, gewerbliche und privatrecht- 
liche Verhältnisse zugeschieden worden wären. Doch giebt es ja 
immer und überall streitige Grenzgebiete. 


Wesentlich anderer Natur ist der sich nur über 13 Jahre er- 
streckende Inhalt des VII. Bandes. 

Die ganze Stellung der Stadt ist inzwischen eine veränderte ge- 
worden. Sie hat ihre lange festgehaltene, enge Verbindung mit den 
benachbarten rheinischen Städten aufgegeben oder doch stark ge- 
lockert und einen neuen festen Rückhalt an den ihr zunächst ge- 
legenen Orten der schweizerischen Eidgenossenschaft jenseits des Jura 
gesucht und gefunden, wie denn auch gleich die zweite Nummer des 
Bandes ein am 2. März 1441 auf 20 Jahre abgeschlossenes Schutz- 
und Trutzbündnis Basels mit Bern und Solothurn bietet. 

Von Bern gemahnt zogen dessen »Eidgenossen« von Basel 1443 
gegen die Herrschaft Oesterreich ins Feld, und die Verbindung 
Basels mit den Schweizern bot im folgenden Jahre den Vorwand, 
das unter dem Dauphin von Frankreich heranziehende Heer der 
Armagnaken im Einverständnis mit dem österreichischen oder doch 
österreichisch gesinnten Adel in erster Linie gegen Basel zu lenken. 

Es ist bekannt, wie der Heldenkampf einer eidgenössischen 
Schar bei St. Jakob vor den Toren Basels am 26. August 1444 den 
Dauphin zu einem raschen Friedensschlusse mit den Eidgenossen und 
mit Basel führte, während nun der Entscheidungskampf der Stadt mit 
Oesterreich. und der ihm verbundenen Ritterschaft unter dem Na- 
men des St. Jakoberkriegs erst recht entbrannte, um unter mannig- 
fachen Wechselfällen zu der sogenannten Breisacher Richtung vom 
14. Mai 1449 (Nr. 193) mit ihren verschiedenen Nachträgen und 
Ergänzungen zu führen und damit zur endgültigen Auseinander- 
setzung der Stadt Basel mit der österreichischen Herrschaft und 
dem ihr anhangenden Adel. 

Auf diesen Streit von 1444—49 und auf die lange erfolglosen 
Versuche, ihn gütlich oder rechtlich beizulegen, bezieht sich der 
Großteil der in Band VII des Urkundenbuchs mitgetheilten Docu- 


824 Gött. gel. Anz. 1901. Hr. 10. 


mente. Von ganz besonderem Werte sind dabei die zahlreichen, 
außerordentlich eingehenden und bisher meist ungedruckten »Kund- 
schaften< über die Ereignisse dieser Jahre und die dem Streite m 
Grunde liegenden Verhältnisse. Eine ganze Folge solcher Kund- 
schaften verbreitet sich über Zoll und freien Zug, über die Behand- 
lung von Pfändungen, gerichtlichen Mahnungen und Klagen im Ver- 
kehr der Bürger von Basel mit den umliegenden österreichischen 
Gebieten (Nr. 64, 66, 83, 84, 85, 87, 89, 96, 97). Eine andere, 
noch weit längere Reihe von Documenten bilden die dem Friedens 
schlusse mit der Herrschaft Oesterreich folgenden Sühn- oder Ver- 
tragsbriefe mit einzelnen Persönlichkeiten und die sogenannten »Eat- 
sagungen< d. h. Verzichterklärungen auf die weitere Verfolgung ar- 
gehobener Klagen. Wie weitschichtig aber die gegenseitigen 
Klagepunkte waren und wie sorgfältig sie untersucht und ge 
würdigt wurden, wird wohl am besten dadurch illustriert, daß der 
Abdruck eines Schiedsspruchs von 3 »Zusatzleuten< der Stadt Basel 
vom 30. October 1447 (Nr. 143) nicht weniger als 63 Seiten des 
Urkundenbuchs beansprucht. 

Von dem Concil, das während dieser Jahre in Basel noch eine 
Scheinexistenz führte, finden sich in dem reichen Materiale des Ur- 
kundenbuchs nur zweimal fast zufällige Spuren : zuerst im Januar 
1442, wo die Räte zu Basel für den Papst eine Wohnung mit 12 
Betten um monatlich 20 Gulden mieten (Nr. 8), und sodann in den 
Jahren 1447/48, wo Kaiser Friedrich und das Kammergericht der 
Stadt befehlen, endlich den Vätern des Concils ihr Geleit aufzusagen 
und sie aus ihren Mauern wegzuweisen. Nur widerwillig und nach 
einer Protestation gegen den kaiserlichen Befehl verstanden sich 
schließlich Bürgermeister und Rat dazu, die Aufforderung zur Räu- 
mung der Stadt an die noch in ihren Mauern weilenden Ueberreste 
des Concils ergehen zu lassen (Juni 1448). Wenige Wochen nach- 
her legten sie wiederum in aller Form Protest dagegen ein, daß sie 
in einer vom bischöflichen Official dem neugewählten Papst Ni- 
kolaus V abgegebenen Obedienzerklarung inbegriffen seien (Nr. 140. 
167. 171. 172. 178). 

In dem Verhältnis der Stadt zum Reich und zum Bistum änderte 
sich nichts in diesen Jahren. Es war inzwischen stabil geworden. 
Kaiser und Bischof erneuerten wörtlich die Privilegienbriefe und die 
Handfesten ihrer Vorfahren (Nr. 341. 342. 313); der neue Bischof 
Arnold von Rotberg bestätigte auch wenige Monate nach seiner 
Wahl ausdrücklich alle Verkäufe seiner Vorgänger an die Stadt, ins- 
besondere diejenigen von Kleinbasel, Liestal, Waldenburg und Hom- 
burg (17. Juni 1451, Nr. 314). 


Urkundenbuch der Stadt Basel. IV. VII. 825 


Die Stadtverfassung erfuhr in dieser Zeit äußerer Bedrängnisse 
ebenfalls keine wesentliche Fortbildung. Bei den besonderen Voll- 
machten, welche dem Collegium der Dreizehn im Mai 1445 für 
alle Sachen des Kriegs ertheilt wurden (Nr. 44), handelte es sich 
doch nur um eine ausnahmsweise, vorübergehende Maßregel. Be- 
merkenswert ist die Trennung der bisher in einer Zunft vereinigten 
Rebleute und Grautücher in zwei gesonderte Zünfte unter Mitwir- 
kung von Bürgermeister und Rat (Nr. 380), nachdem 10 Jahre vor- 
her ähnliche Trennungsgelüste der allerdings näher zusammengehö- 
renden Gerber und Schumacher durch das Eingreifen der gleichen 
Behörde gütlich beigelegt worden waren (Nr. 7). 

Recht erwünschten Einblick in die weitere Entwickelung der 
Verkehrsverhältnisse Basels gewähren die auch in diesem Bande in 
ziemlicher Anzahl vertretenen Urkunden über die Rheinschiffahrt 
(Nr. 76. 255. 264. 272. 378. 388. 429); aus Nr. 255 darf auf die 
regelmäßige Beschickung der zwei Frankfurter Messen durch Basler 
geschlossen werden ; Nr. 272 befaßt sich speciell mit der Beförde- 
rung von Rompilgern (im Jubeljahr 1450). Und nicht weniger er- 
wünscht ist die Veröffentlichung des bisher ungedruckten Münzver- 
trags zwischen dem österreichischen Hauptmann zu Ensisheim und 
den Städten Basel, Freiburg i. B., Colmar und Breisach vom 16. Juli 
1450 (Nr. 276). | 

Von der verständigen Fürsorge des Rats für die Hebung des 
städtischen Gewerbes sprechen die Vergünstigungen — darunter Be- 
freiung von Steuern und Ungeld auf 3 Jahre —, die 5 Färbern aus 
den luzernischen Horw gewährt werden, um sie zur Niederlassung in 
Basel zu vermögen (Nr. 423). Auch einem auf 5 Jahre mit dem 
jährlichen Honorar von 30 Gulden »und Vorbehalt eines bescheidenen 
Lohnes« angestellten Stadtarzte wird Befreiung von allen Steuern 
zugesichert (Nr. 420). 

In das Gebiet der culturellen Merkwürdigkeiten gehören schließ- 
lich die von Bürgermeister und Rat ausgestellte Empfehlung eines 
ehemaligen städtischen Folterknechts zur Unterstützung auf seiner 
Wallfahrt nach Santiago de Compostela (Nr. 220) und zwei ein- 
gehende Verzeichnisse von Kostbarkeiten, die Herzog Albrecht II. 
von Baiern zur Aufbewahrung an Bürgermeister und Rat von Basel 
übersendet (Nr. 253) und die als Sicherheit für ein Anleihen von 
700 Gulden durch zwei Edelleute bei der Stadt Basel hinterlegt 
wurden. 


Daß die Namenregister zu den beiden Bänden wieder mit der 
größten Sorgfalt ausgearbeitet sind, braucht kaum besonders erwähnt 


826 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


zu werden; wie denn überhaupt der IV. und VIL Band des Tr- 

kundenbuchs der Stadt Basel mit ihrem so außerordestlich reichen 

und mannigfaltigen Inhalt und ibrer saubern Arbeit sich m jeder Be 

ziehung den vorausgegangenen Bänden würdig an die Seite stellen. 
St. Gallen, September 1900. H. Wartmann. 


Johannes Bugenhagens Pomerania. Herausgegeben im Auftrage der Gesellschaft 
für Pommersche Geschichte und Alterthamskuode mit Unterstützung der kösnigl 
Preußischen Archivverwaltung von Otto Heinemann (a. u. d T.: Quelle 
zur Pommerschen Geschichte. Herausgegeben von der Gesellschaft für Pom- 
mersche Geschichte und Alterthumskunde IV) Stettin, Verlag von Léon Sar 
Biers Buchhandlung 1900. 4°. 4 Bil., LIX 181 S. M. 10. 


Zu den ältesten Historischen Vereinen in Deutschland gehört 
die 1824 in Stettin gegründete Gesellschaft für pommersche Ge- 
schichte und Alterthumskunde, die seit 1832 eine jetzt schon 50 
Bände zäblende Zeitschrift, die Baltischen Studien, herausgiebt, seit 
1885 die Veröffentlichung von Quellen zur pommerschen Geschichte 
ins Werk setzt und daneben auch das Inventar der Baudenkmäler 
Pommerns in Angriff genommen hat (von den 29 Kreisen der Pro- 
vinz sind 12 inventarisiert). Die Ausgabe der Geschichtsquellen, 
seit 1885 in vier Bänden erschienen, macht im Vergleich zu der an- 
derer Gebiete den Eindruck einer gewissen Dürftigkeit und scheint 
zugleich einen festen Plan vermissen zu lassen. Band 1 bringt das 
älteste Stadtbuch einer kleinen Landstadt auf Rügen, Band 2 das in 
Wetzlar nach langer Verschollenheit aufgefundene Copialbuch des 
Cistercienserklosters Neuenkamp in Neuvorpommern, Band 3 ein 
Rechtsbuch des 16. Jahrbunderts, den sogenannten Wendisch-Rügia- 
nischen Landgebrauch des Mathäus von Normann, den man als Ge- 
schichtsquelle doch nur indirect bezeichnen kann. Diese Bunt- 
scheckigkeit der pommerschen Quellensammlung hat ihren Haupt- 
grund in dem Mangel einer eigentlichen historischen Literatur in 
Ponımern bis zur Reformationszeit. Obwohl nach der Bekehrung 
zum Christenthum durch Bischof Otto von Bamberg sich das lang- 
gestreckte Küstenland im 12. und 13. Jahrhundert mit einem Netz 
deutscher Klöster und Städte ziemlich schnell bedeckte, sind Auf- 
zeichnungen geschichtlicher Natur, von den Urkunden und Stadt- 
büchern natürlich abgesehen, in Pommern im Verhältnis zu den 
Nachbarländern Mecklenburg und Preußen nur in ganz geringem 
Umfang entstanden und von dem Wenigen, was vorhanden war, ist 
auch noch einiges verloren gegangen. Vor ungefähr zwanzig Jahren 
tauchte in den Kreisen der Gesellschaft für pommersche Geschichte 


Johannes Bugenhagens Pomerania, hrsg. von Heinemann. 827 


und Alterthumskunde in Stettin der Plan auf, diese Trümmer der 
pommerschen mittelalterlichen Chronistik zu sammeln und ihr als 
Schlußstein die einzige größere pommersche Chronik, die an der 
Schwelle der neuen Zeit von dem zukünftigen Reformator Pommerns 
Johannes Bugenhagen verfaßte Pomerania, einzufügen. Aeußere 
Umstände haben damals den Plan nicht zur Ausführung gelangen 
lassen, jetzt hat die Gesellschaft wenigstens die eine Hälfte desselben 
verwirklicht und durch einen jüngeren Archivar in Stettin Bugen- 
hagens Werk neu herausgeben lassen, es bildet den 4. Band der 
Quellen zur pommerschen Geschichte. 

Schon 1728 wurde Bugenhagens Pomerania von dem Greifs- 
walder Theologen Jacob Heinrich Balthasar nach einer Abschrift der 
Originalhandschrift, die damals im Besitz des Juristen Christian 
Nettelbladt war und mit dessen Bibliothek 1744 in den Besitz der 
Greifswalder Universitäts-Bibliothek. übergegangen ist, veröffentlicht 
(Joh. Bugenhagii Pomerania in quatuor libros divisa .. ex manu- 
scripto edidit Jac. Henr. Balthasar, Gryphiswaldiae, sumtibus Jac. 
Löfleri 1728. 4°. 20+188 +2 Bill). Für die damalige Zeit war die 
Ausgabe sehr gut, der Text ist, wenige Stellen abgerechnet (acht- 
mal sind einzelne Worte ausgelassen) sorgfältig behandelt, eine recht 
verständige, einen Theil der quellenkritischen Aufgaben lösende Ein- 
leitung ist vorangeschickt. Der neue Herausgeber wird der Leistung 
seines Vorgängers S. X besser gerecht, als eine 1881 erschienene 
Göttinger Dissertation (Gustav Jähnke, Die Pomerania des Johannes 
Bugenhagen und ihre Quellen), deren Verfasser S. 24 Balthasar für 
die Herausgabe der Pomerania für wenig geeignet erklärt, sich aber 
in einer eingehenden Besprechung von Georg Haag, dem damals 
besten Kenner der mittelalterlichen Chronistik Pommerns, 1883 in 
den Baltischen Studien 33 S. 211—229 selbst die Qualification zur 
Herausgabe Bugenhagens absprechen lassen mußte. Gerechter als 
diese beiden urtheilt der neue Herausgeber über alle seine Vor- 
läufer, Balthasar, Jähnke und Haag, so oft er auch im Einzelnen ihre 
Angaben berichtigen kann. 

Die Hauptaufgabe der neuen Ausgabe lag, da das Autograph 
des Verfassers erhalten und selbstverständlich zu Grunde gelegt ist, 
in dem Nachweis der benutzten Quellen. Bugenhagen steht trotz 
humanistischer Schulung noch ganz im Banne der mittelalterlichen 
Tradition, er schreibt seine Vorlagen wörtlich aus, höchstens giebt 
er dem Stil eine kleine Aufbesserung, meist erleichtert er das Auf- 
finden seiner Quellen dadurch, daß er sie am Rande anmerkt. S.XI 
—LV weist nun Heinemann diese Quellen im Einzelnen nach, indem 
er vier Arten unterscheidet, Geschichtswerke, Urkunden, Inschriften 


828 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


und mündliche Ueberlieferung. Die Geschichtswerke zerfallen wieder 
in nichtpommersche und pommersche. Daß unter diesen an erster 
Stelle Helmolds Slavenchronik sich befand, hat bereits der erste 
Herausgeber Balthasar S. 10 angemerkt, auch auf die inzwischen 
verlorene, wahrscheinlich 1677 bei der Beschießung durch den großen 
Kurfürsten verbrannte Stettiner Handschrift hingewiesen, die Bugen- 
hagen vorgelegen hat. Neben Helmolds chronica Slavorum antiqua 
eitiert er die deutsche und lateinische gedruckte Ausgabe der chro- 
nica Slavorum nova, das 1485—88 (jedenfalls vor 1492) gedruckte 
Chronicon Slavicum parochi Suselensis, wie zuerst W. Boehmer in 
der Einleitung zum niederdeutschen Kantzow dargethan hat. Eine 
recht erfreuliche, über die Ermittelung der Vorgänger hinausgehende 
Entdeckung ist dem neuen Herausgeber Heinemann hinsichtlich der 
nächsten Quellengruppe, der von Bugenhagen benutzten Lebens- 
beschreibungen des Apostels der Pommern, Bischofs Otto von Bam- 
berg, gelungen: er hat die von Bugenhagen S. 11 (I 2) und 32 
(I 11) angeführte gedruckte (und zwar corruptissime) historia divi 
Ottonis in einem Exemplar der Königlichen Bibliothek zu Kopen- 
hagen ermittelt und als ihren Inhalt den sog. Anonymus (d.i. der in 
zusammenhängende Erzählung umgesetzte dialogus Herbords de vita 
Ottonis) feststellen können, worüber er aber nicht in der Vorrede, 
sondern im Centralblatt für Bibliothekswesen 16 (1899) S. 495 —498 
eingehend berichtet hat. Neben dieser "gedruckten Ottobiographie 
benutzte Bugenhagen die von Abt Andreas von Michelsberg 1487 
umgearbeitete vita des Ebbo, welche ihm in einer jetzt in der Bi- 
bliothek der Jacobikirche in Stettin befindlichen Handschrift vorlag: 
beide hat er mosaikartig zusammengearbeitet und außerdem noch 
kürzere Lebensbeschreibungen des Heiligen in Stettin, Camin und 
Stargard vor sich gehabt (S. XVII). >Nur einige kleinere Notizen ent- 
nahm Bugenhagen der 1493 zu Nürnberg gedruckten Weltchronik Hart- 
mann Schedels« und der ihr angehängten Europa des Aeneas Sylvius 
(S. XVII. XVII), nur je einmal beruft er sich auf Konrad Wimpinas 
Gedicht über die Thaten Albrecht des Beherzten von Sachsen, auf 
die Rede Heinrich Bebels de laudibus Germaniae und spielt auf 
Erasmus’ encomium moriae an. Auch einen Stammbaum der Habs- 
burger hat Bugenhagen vor sich gehabt, wenigstens berührt sich die 
von ihm III c. 22 (S. 150) gegebene Schilderung der riesenstarken 
Cimbarka oder Cimburgis von Masovien, der Mutter Kaiser Frie- 
drichs III. und der Margaretha von Sachsen, der Gemahlin Friedrichs 
des Sanftmütigen, wörtlich mit einer von Rauch, Scriptores rerum 
Austriacarum I 380 ff. im Anhange an Enenkels Fürstenbuch heraus- 
gegebenen Genealogia domus Habsburgo-Austriacae. Da Heinemann 


Johannes Bugenhagens Pomerania, hrsg. von Heinemann. 


829 


auf die Quelle dieser Notiz nicht eingegangen ist, setze ich die Ver- 


gleichung her. 
Rauch S. 387: 

Die selb Csimburga was gar ein 
andechtige fraw, sy pett und vast 
gar vil und was gar fleissig an 
dem gocedinst. Die selb fraw was 
so stark, daz sy ein huefnagel mat 
dem dawm in ein feuchtein prett 
gance eindruckt und zeprach em 
haselnuze zwischen zwain vingern. 


Bugenhagen S. 150 (III, 22): 
Fuit hec Cimburga mulier multum 
deo devota et teiunits et piis pre- 
cibus celo intenta, et tamen mira 
scribitur corporis fuisse fortitudine, 
puta, que ad capitellum usque po- 
tuerit asseri abiegno claviculum 
vel solo pollice infigere, nucem 
quoque avellanam pollict atque in- 


dict inclusam absque reliquorum 
adminiculo digitorum frangere. 
Diese von Cuspinian und Fugger bis Hormayr und Huber wie- 
derkehrende Beschreibung der Stammmutter des Hauses Habsburg 
war von Interesse fiir Bugenhagen, weil ihre Schwester Maria die 
Großmutter Herzog Bogislaw X. von Pommern wurde (S. 151). Das 
ganze Kapitel 22 scheint nach einem officiellen, wenn auch nicht 
fehlerfreien Stammbaum gearbeitet zu sein. 
Die Pommerschen Quellen Bugenhagens, auf welche Heinemann 
S. XXI zu sprechen kommt, ordnet er zweckmälig geographisch und 
beginnt mit dem Osten, mit Oliva, indem er für die Benutzung der 
älteren Chronik von Oliva, die zuerst 1861 Theodor Hirsch in den 
Scriptores rerum Prussicarum erwiesen hatte, kurz auf diesen und 
meine Dissertation von 1871 sich bezieht, obwohl er auch die in- 
zwischen erschienene 2. Ausgabe Hirsch’s im 5. Bande der Ss. r. Pr. 
(1874) und die polnische Ausgabe W. v. Ketrzynskis in den Monumenta 
Poloniae historica VI (1893) kennt. Hatte 1871 Bugenhagens Ex- 
cerpt großen Werth für die Textkritik der Chronik von Oliva, so 
konnte jetzt, nachdem weitere Handschriften dieser wichtigen Quelle 
in Polen aufgefunden und bei den neuen Ausgaben verwerthet sind, 
festgestellt werden, daß Bugenhagen den schlechteren Text der 1350 
verfaßten Chronik vor sich hatte, seine Lesarten stimmen mit den 
Handschriften von Kurnik und Dzikow mehr überein, als mit dem 
von Zeißberg entdeckten Lemberger Codex. Verloren ist für uns 
und nur aus der Pomerania bekannt, was Bugenhagen im Cister- 
cienserkloster Buckow bei Schlawe, dem Prämonstratenserkloster Pu- 
dagla auf Usedom, in Demmin, Neuenkamp und Anklam vorfand ; 
erhalten haben sich von seinen Quellen Greifswalder, Stralsunder, 
Caminer, Stargarder und Colbatzer Aufzeichnungen, die Stralsunder 
nur noch in späteren Ableitungen, die übrigen lagen ihm in ähnlicher 
Fassung vor, wie noch heute. Von besonderem quellenkritischen 


830 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


Interesse sind die Stargarder Denkmäler, das sogenannte Protocollum 
des frater Angelus (S. XXV), eine 1345 zu dem Zwecke verfaßte 
Denkschrift, die Unabhängigkeit Pommerns von Polen in kirchlicher _ 
Beziehung nachzuweisen. Bisher war sie nur aus einer mangelhaften 
Abschrift des Greifswalder Professors Palthen (} 1710) bekannt und 
ist nach dieser 1858 von Kosegarten im 17. Jahrgang der Baltischen 
Studien (S. 103—137) herausgegeben; jetzt ist es Heinemann ge- 
gelungen in Hamburg eine um 180 Jahre ältere Handschrift aufzu- 
finden, über die er einen kurzen Bericht in den Pommerschen Monats- 
blättern XIV 1900 S. 17—19 giebt; er hat damit die Vorlage der 
Palthenschen Abschrift entdeckt. Das Hauptinteresse dieses Proto- 
collum liegt nun darin, daß sein Verfasser seine Beweisführung nicht 
auf Urkunden, sondern auf Chroniken stützt, auf Helmold, auf die 
Viten des hl. Otto und auf die Chronica Polonorum, in welcher schon 
1876 Georg Haag die zuletzt von Cwiklinski 1878 (Mon. Polon. hist. III, 
diese Ausgabe scheint Heinemann nicht zu kennen) herausgegebene 
älteste schlesische Landeschronik erkannte. Diese Chronik lag dem 
Bruder Angelus in einer Handschrift, die in Kapitel eingetheilt war, 
vor, während die drei noch heute erhaltenen Codices, der Fürsten- 
steinsche, der Rhedigersche und der Königsberger, eine solche Ein- 
theilung nicht haben (Angelus citiert cap. 3, 4, 6, 11, 15, 19, 16, 12). 
Neben der chronica Polonorum beruft sich A. 5 Mal auf die vita 
S. Stanislai, wie eine Vergleichung der benutzten Stellen zeigt, meint 
er die c. 1260 von Vincenz von Kielce verfaßte jüngere Lebensbe- 
schreibung (Mon. Pol. IV 363 ff.), auch dieses Denkmal fand er in 
Kapitel eingetheilt (c. 2, 20, 19 werden angeführt). Einmal (S. 123 
des Abdrucks) citiert A. >in secundo capite cronice Romanorum« für 
die Nachfolge der Prinzessin Wanda auf dem Thron ihres Vaters 
Craccus, die Stelle klingt aber wörtlich an S. 608/9 der Chronica 
Polonorum an und ist ohne Zweifel aus dieser entlehnt, Quelle der 
chronica Polonorum ist bekanntlich Vincentius Kadlubek (hier lib. I 
c. 5—7). Hält man nun fest, daß in zwei Handschriften der Chro- 
nica Polonorum, der Fürstensteiner und der Königsberger, diese auf 
die Papst- und Kaisergeschichte des Martin von Troppau folgt, so 
liegt die Annahme nahe, daß auch in dem von Angelus benutzten 
Codex diese Verbindung bestanden habe und daß dieser versehent- 
lich die erste Schrift seinerVorlage anführte, statt der zweiten; eine 
andere Erklärung dieser »räthselhaften chronica Romanorum« (Balt. 
Studien 31, 80) hat Haag, Balt. Stud. 26, 100 Anın. 40 vorgeschlagen, 
indem er meint, daß ein späterer Glossator des Angelus, der den 
Kommentar des Johannes Dombrowka zu Vinceu“ Kadlubek kannte, 
auf Grund eines ähnlichen Citates Polonorum in Romanorum änderte; 


Johannes Bugenhagens Pomerania, hrsg. von Heinemann. 831 


Dombrowka führt nämlich für die Wanda-Sage die cronica Roma- 
norum als Quelle an. 

Alle diese Citate des Angelus finden sich nun auch bei Bugen- 
hagen wieder, die Chronica Polonorum wird fünfmal (S. 12, 14, 30, 
31, 32), die historia divi Stanislai zweimal S. 12, 31 genannt; daß 
B. diese und die chronica Romanorum nur aus Angelus kennt, ist 
sicher, über die Römische Chronik läßt er sich ja auch im nächsten 
Kapitel 4 S. 13—14 mißbilligend und verwundert aus. Anders liegt 
es mit der Chronica Polonorum: mit Recht führt Heinemann S. XIX 
aus, daß diese dem Bugenhagen vorgelegen haben muß, denn er 
entnahm ihr zwei nicht bei Angelus vorkommende Nachrichten über 
die Gründung Krakaus (S. 12) und Lestko III (S. 14) genau mit 
den Worten der Chronik, an der letzten Stelle sogar mit einem Zu- 
satz (Aurum sttisti, aurum bibe), den ihre drei erhaltenen Hand- 
schriften nicht haben. Vermuthlich fand Bugenhagen in Stargard 
1517 noch die 1345 von Angelus benutzte Handschrift der Chronica 
Polonorum vor, die ja auch in der Eintheilung in Kapitel von den 
noch vorhandenen abwich. 

Mit dem Protokoll des Angelus ist in der Palthenschen Ab- 
schrift eine in Camin entstandene Chronik und ein Stammbaum der 
Herzöge von Pommern aus dem 15. Jahrhundert verbunden, die 
ebenfalls zu Bugenhagens Quellen gehören. Von Urkunden lagen 
ihm, wie Heinemann S. XLV—L nachweist, 10 Kaiserurkunden, 2 
Bullen, 15 herzogliche, 2 bischöflich caminsche und 7 auswärtige, im 
Ganzen 36, vor; Inschriften fand er (S. L—LIII) in der Marien- 
und Ottenkirche in Stettin und in den Cistercienserklöstern Eldena 
und Neuenkamp, der mündlichen Tradition hat er nur wenig ent- 
nommen (S. LIII—LIV). Die Einleitung des Herausgebers, der wir 
bei dieser Quellenanalyse fast immer folgen konnten, schließt mit 
der Darlegung der Grundsätze der Edition, die, da die Original- 
handschrift und eine vom Verfasser durchgesehene Abschrift (die 
Hamburger Handschrift) vorliegen, sich auf Verbesserung einzelner 
Schreibfehler und Modernisierung der Interpunction beschränken. 
Der Text macht, soweit man ohne Vergleichung der Handschrift ur- 
theilen kann, einen zuverlässigen Eindruck, die Auslassungen Bal- 
thasars (acht habe ich gezählt) sind berichtigt. Doch fehlt es nicht 
ganz an Stellen, an denen die alte Ausgabe Balthasars den Text 
Bugenhagens besser wiederzugeben scheint als die neue; außer den 
6 S. 181 verbesserten Druckfehlern habe ich noch folgende Errata 
angemerkt: S. 9 Z. 6 von unten I. appellabatur für appellatatur ; 
S. 17 2.6 v. o. hat zwar auch Balthasar S. 19 Z. 4 omnibus merci- 
bus optimam civitatem (Wineta), aber im Hinblick auf den Wortlaut 


832 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 


der Quelle, Helmold I c. 2: civitas illa mercibus omnium nationum 
locuples ist wohl opimam zu bessern; S. 24 Z. 13 v. o. lies latıssima 
est nec minor statt .. e nec ..; S. 25 Z. 13 v. 0. cuiusdam für 
cutusdem: S. 27 Z. 8 v. u. fehlt zwischen paucos und annos surre- 
zisse; S. 43 Z. 17 v. 0. 1. pre se constitutis st. per se (fur uns ko- 
men ist Balt. Stud. N.F. 3, 183); S. 56 Z. 3. v. 0. ergänze vel vor 
simulachrorum; S. 69 Z. 6 v. u. 1. episcopos für episcopus; S. 71 
Z.7v. 0. fehlt hinter timentibus-dux, S.T5 Z. 5 v. 0. 1. Stetinum st. 
Stetinam; S. 112 Z. 5 v. 0. 1. ecclesiam st. ecclesia {ebenso die 
Quelle); S. 136 Z. 11 v. 0. Oue s. One. In den Anmerkungen hat 
der Herausgeber überall die benutzten Quellen nachgewiesen, meist 
den Wortlaut derselben angeführt, auch Irrthümer und Versehen 
Bugenhagens berichtigt. Nur selten kann man seine Erklärungen 
nicht annehmen oder dieselben ergänzen. Einige solcher Fälle will 
ich anführen. S. 28 erzählt Bugenhagen, Treptow an der Rega, seine 
Vaterstadt, habe auf dem Stadtsiegel den Beinamen Largum Treptow 
geführt, was der Herausgeber gestützt auf Mittheilungen des Magi- 
strats von Treptow als unbegründet zurückweist: ich glaube hier 
liegt eine Entstellung von NIGHEN TREPTOW in RICHEN TREP- 
TOW vor’). S. 68 ist der Satz Sed dolus an virtus quis in hoste re- 
quirit nicht als Citat aus Vergils Aen. II 390 erkannt. Die lange 
Auseinandersetzung der Anm. 4 S. 113/114 erledigt sich z. Th. durch 
einen Schreibfehler Bugenhagens, 113 Z. 2 v. u. ist Bugslao quinto für 
decimo verschrieben. S. 124 verbessert der Herausgeber das Datum 
der Eroberung Stargards durch die Brandenburger aus 1280 in 1283, 
wie die Colbatzer Annalen berichten; da aber Bugenhagen ins 12. 
Jahr nach dieser Eroberung eine Urkunde von 1292 setzt, ist 1280 
beizubehalten. S. 127 geht die Nachricht über den Feuertod des 
falschen Waldemar nicht auf die Chronik von Oliva zurück, wie 
Anm. 4 will. Ä | 

Ein sorgfältig gearbeitetes Namenregister beschliesst die neue 
Ausgabe der Pomerania (S. 165—181): da Bugenhagen sehr häufig 
sich im Stammbaum der so vielfach gleichnamigen pommerschen Her- 
zöge irrt, wäre auch eine genealogische Tafel, wie sie Balthasar 
seiner Ausgabe beigab, für den Benutzer angenehm gewesen, zumal 
Klempins Stammtafeln von 1876 von Heinemann an einigen Stellen 
berichtigt werden. Jedenfalls bedeutet diese neue Ausgabe einen 
erfreulichen Fortschritt in der Quellenkunde. der heimischen Geschichte. 

1) Eine andere Erklärung hat der Herausgeber nachträglich in den Pomm. 


Monatsbl. 1901 S. 72—75 versucht: in einer Urkunde (aber nicht auf dem Siegel) 
von 1285 heißt die Stadt Tr. civitas larga. 


Halle. M. Perlbach. 
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen. 





November 1901. Nr. Il. 


Preuschen, E., Antilegomena. Die Reste der außerkanonischen Evangelien 
und urchristlichen Ueberlieferungen herausgegeben und übersetzt. VIII und 
175 8. Gießen, Ricker 1901. Preis 3 M. 


Das Bedürfnis nach einer solchen Sammlung altchristlicher Lite- 
raturreste und die Zeitgemäßheit vorliegender Veröffentlichung er- 
hellen schon daraus, daß man selbst in streng wissenschaftlichen Ar- 
beiten zahlreichen Hinweisen darauf und Entlehnungen daraus schon 
gleich in den nächsten Monaten nach der Veröffentlichung begegnen 
konnte. Die Texte (nur griechische sind aufgenommen mit einigen 
Ergänzungen aus den Syrischen, Armenischen und Talmudischen) 
sind nach den besten Ausgaben und mit Angabe der wichtigsten Va- 
rianten mitgeteilt, eine deutsche Uebersetzung angefügt; dazu reich- 
liche Literaturnachweise, zweckmafige Verzeichnisse der Stellen und 
der Eigennamen — Alles in einer zum Gebrauche einladenden Form 
hergestellt. Das Biichlein wird Vielen bald noch unentbehrlicher 
werden, als die gleichfalls recht brauchbare Sammlung von Texten 
zur Geschichte der alten Kirche und des Kanons, welche der Verf. 
1895 unter dem ebenso weitschichtigen Titel »Analecta< zusammen- 
gestellt hat. 

Den Inhalt bilden die Angaben des Origenes iiber apokryphe Evan- 
gelien in der ersten Homilie zu Lucas; dann die Reste des Aegypter- 
evangeliums, wobei mit gutem Fug von neueren Versuchen zur Er- 
weiterung dieses Gebietes durch allerhand herrenloses Gut Um- 
gang genommen ist. Auf die Evangeliencitate der Naassener wird 
zwar wegen der Notiz Philos. V, 7 p. 136 hingewiesen; sie selbst 
aber sind besonders zusammengestellt, nachdem zuvor die Reste des 
Hebräer- und Ebionitenevangeliums gesammelt erschienen. Weiter- 
hin schließt sich an was wir noch wissen von Ueberlieferungen des 
Matthias (S. 13, 2 lies oörog und 3 duapreiv), vom Evangelium des 
Philippus und demjenigen des Petrus mit dessen sämtlichen ge- 
retteten Bruchstücken ; es folgen die das Thomasevangelium be- 
treffenden Stellen, das Evangelienfragment von Fajjum, die Evan- 

@ött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 55 


834 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


geliencitate im sogenannten zweiten Clemensbrief (trotz 12,2 unver- 
worren mit dem Aegypterevangelium) und bei Justin (lies hier S. 29, 13 
Apol. 1, 63 statt 62), die Notizen über die Evangelien bei Celsus 
(tilge hier S. 38,31 das Komma), die Adyıx von Oxyrynchus (die 
mit »vielleicht< dargebotene Conjectur xara xdauov zu S. 43, 17 ist 
einfach zu streichen); weiterhin 24 glücklich ausgewählte >»herren- 
lose Herrnworte< (S. 44, 18 lies 64 statt 63), der Rest der Apoka- 
lypse und der Verkündigung des Petrus, die Nachrichten über und 
die Fragmente von Papias, die Aussagen der Presbyter bei Irenäus 
und die Ueberreste des Hegesippus. Als Anhang erscheinen die 
Nachricht des Epiphanius über ein ophitisches Evangelium der Eva, 
die Evangeliencitate in den clementinischen Homilien und ein, viel- 
leicht einer Evangelienschrift angehöriges, Fragment aus den Oxy- 
rynchus-Papyri. Damit ist zweifelsohne meist solcherlei außerkano- 
nisches Material beisammen , darauf man sich bei jeder eingehende- 
ren Beschäftigung mit den kanonischen Evangelien auf Schritt und 
Tritt gewiesen sieht. Wer die Einheit der hier gebotenen Stoffe in 
diesem Zweck findet, wird sich nicht weiter aufhalten bei dem etwas 
zu umfangreichen und den Inhalt nicht genau bezeichnenden Titel des 
Buches, wie z. B. van Manen thut (Theologisch Tijdschrift 1901. 
S. 467—469). In ganz hervorragender Weise entsprechen jenem 
Zwecke die mitgeteilten Citate Justins, über die sich im Organ der 
Leipziger Orthodoxie W. Walther entrüstet, weil durch die Ueber- 
setzung auch der Laie aus seiner glücklichen Unwissenheit aufge- 
stört und zu unliebsamen Urteilen veranlaßt werden könne (Theo- 
logisches Literaturblatt 1901, S. 425 f.). 

Gerade nur um solcher Laien willen ist wohl eine Uebersetzung 
beigegeben. Wer die unpräcise, in schwankenden Schritten einher- 
gehende Ausdrucksweise vieler dieser Stücke kennt und die mit einer 
Wiedergabe in lesbarem Deutsch verknüpften Schwierigkeiten in — 
Anschlag bringt, wird diesem Versuch trotz zahlreicher Flüchtig- 
keitsfehler seine Berechtigung nicht absprechen. Freilich mehren sich 
hier besonders die möglichen Einreden. So dürfte z.B. der sermo 
peccati S. 5, 35 statt mit »das Wort Sünde« S. 108 dem Zusammen- 
hang entsprechend (st peccaverit frater tuus in verbo) eher mit » Wort- 
sünde« wiedergegeben werden. Näher noch liegt die Vergleichung 
des sermo S. 65, 34, was dem Gebrauch von Aoyog = "37 auch wo 
das Sache bedeutet in LXX entspricht. Auch der Scholiast Tischen- 
dorfs hat Adyog &uepriag, welcher Ausdruck Sir. 23, 13 gleichfalls 
entweder = sündige Rede oder — etwas Sündhaftes gefaßt wird. 
In der Wiedergabe der Taufgeschichte bei Justin sind 124 die Worte 
toig dvdommoıg S. 26,19 ausgefallen. Der Verf. hat wohl seine 


Preuschen, Antilegomena. 835 


Gründe gehabt, ta dövvare nagd dvdpnnog Övvarde nage Bed 
S. 30,18 wiederzugeben S. 127 mit »Was schwach ist bei den Men- 
schen, ist stark bei Gott<«. Aber der Zusammenhang erfordert den 
Sinn des vorschwebenden Herrnworts Marc. 10,27 = Matth. 19, 26, 
welches hier als Parallele hätte notiert werden müssen; vgl. die 
Stelle aus den Clementinen S. 85,17. Vielleicht hätte auch zu dem 
ö&yoapov S. 45,12 als Erläuterung 1 Joh. 4,20 angeführt werden 
diirfen. Ferner ist S. 139 die zweite Halfte des Spruches S. 45, 
27—29 weggefallen. S. 168 ist »ihm« Druckfehler für »>ihnen< = 
avtots S. 83, 16 und ist statt »im Tempel zu sein« zu lesen »daß er 
im Tempel seic = S. 83, 23. Die Worte S. 89,19f. vgl. S. 173 
könnten verständlicher wiedergegeben werden, etwa: er zeigte uns, 
wie ohne innern Widerspruch ein Schlechter mit guten Grund u.s. w. 
Weitere, hier nicht angeführte, Versehen haben Schmiedel im »Lite- 
rarischen Centralblatt« Nr. 37, S. 1491 f. und Jülicher in der »Theo- 
logischen Literaturzeitung< Nr. 21, S. 508 f. verzeichnet. 


Straßburg i. E. H. Holtzmann. 


Kunze, J., Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 
Untersuchungen über die dogmatische Autorität, ihr Werden und ihre Geschichte, 
vornehmlich in der alten Kirche. Leipzig, Dörffling u. Franke. 1899. XII u. 
560 S. Preis 14 M. 


Nachdem Th. Zahn im Jahre 1893 die Ueberzeugung ausge- 
sprochen, daß noch einige Jahrzehnte darüber hingehen möchten, bis 
eine Geschichte des apostolischen Symbols geschrieben sei ‘(das apo- 
stolische Symbolum p. 23), veröffentlichte schon im folgenden Jahre 
Kattenbusch den ersten Band seines »apostolischen Symbols<, dessen 
zweiten Bandes zweite Hälfte sechs Jahre später den Mitforschern vor- 
gelegt werden konnte. Ehe jedoch Kattenbusch seine Resultate im 
Zusammenhang und abgeschlossen darbieten konnte, wurde auch von 
anderer Seite die Erforschung der Geschichte des Symbols in An- 
griff genommen, worunter freilich die Kontinuität der Forschung zu 
leiden hatte. So hat sich nicht bloß Kattenbusch mehrfach zu Selbst- 
korrekturen genötigt gesehen und seine Hauptthese schließlich nicht 
ganz unerheblich modifiziert, es konnten auch die Mitforscher nicht 
vollständig Kattenbusch berücksichtigen. Das gilt unter anderem 
auch von dem hier zu besprechenden Werke Kunzes, welches vor 
Abschluß des zweiten Bandes von Kattenbusch erschien. 

Zöckler hat (deutsche Litztg. 1899 Nr. 29 p. 1132) Kunzes Ar- 

55* 


886 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


beit als eine »den Ertrag der seitherigen Bearbeitung ... zusam- 
menfassende und kritisch revidierende Monographie< bezeichnet. 
Dies Urteil wird man aus dem eben genannten Grunde doch etwas 
modifizieren müssen. Die »seitherige Bearbeitung< lag noch nicht 
abgeschlossen vor. Es ist dies Urteil aber auch aus einem anderen 
Grunde irreführend. Denn Kunze hat gar nicht die Absicht, den 
Ertrag der seitherigen Bearbeitung zusammen zu fassen und kritisch 
zu revidieren. Seine Arbeit bietet vielmehr eine auf eingehenden, 
selbständigen Quellenuntersuchungen ruhende Ergänzung zu den 
früheren Arbeiten, wenigstens sofern die Symbolforschung in Be- 
tracht kommt. Kunze behandelt nicht ex instituto die Frage nach 
der Urgestalt und der Herkunft des Symbols. Das sind Fragen, die 
Kunze entweder nur gelegentlich streift oder die für seine Thema- 
stellung ein untergeordnetes Interesse besitzen. Die Hauptfrage, die 
Kunze bewegt, ist die Frage, wie sich das »Taufbekenntnis< zur re- 
gula fidei verhalte. Es ist selbstverständlich, daß Kunze dann auch 
sein Augenmerk der Bedeutung des Kanons zuwenden mußte. So 
bietet, wie dies denn auch der das Resultat gleich ankündigende 
Titel zeigt, das Werk Kunzes neben Symbolforschungen, an welchen 
sich Kunze schon in seinen früheren Schriften beteiligt hatte, auch 
Forschungen, welche den Kanon und seine Entstehungsgeschichte 
zum Inhalt haben. Die Grenzen der alten Kirchengeschichte sind, 
wie dies auch der Untertitel andeutet, mehrfach überschritten. Zu- 
gleich will die Arbeit Kunzes eine dogmatische sein; nicht sofern 
sie bloß, wie der Untertitel besagt: » Untersuchungen über die dogma- 
tische Autorität, ihr Werden und ihre Geschichte, vornehmlich in 
der alten Kirche«, bietet, sondern sofern sie aus der historischen 
Forschung dogmatische Erträge zu gewinnen sucht und mit einer 
Auseinandersetzung darüber, was dogmatische Autorität sein dürfe 
und müsse, abschließt. Damit wäre im allgemeinen die Besonder- 
heit der Arbeit Kunzes charakterisiert, auf deren Einzelheiten wir 
erst nach der Inhaltsangabe eingehen können. 

Kunze hat seinen Stoff in 10 Kapitel gegliedert. Er beginnt 
mit einer kurzen Einleitung, welche die zu untersuchende Frage ent- 
wickelt. Harnack habe die auf Lessing zurückgehende, heute herr- 
schende Ansicht vorbildlich formuliert, wenn er sage, daß der Kanon 
ursprünglich die Glaubensregel sei, die Schrift in Wahrheit zwischen 
eingekommen sei. Die Kirche, meint Kunze, könne aber doch ur- 
sprünglich eine doppelte Norm besessen haben, die später auf die 
Schrift reduziert worden sei. Diese Fragestellung macht es darum 
nötig, das Verhältnis beider Autoritäten zu einander zu untersuchen 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 837 


und zugleich das Verhältnis zu erörtern, in welchem Glaubensregel 
und Taufbekenntnis zu einander stehen. 

Es wird demzufolge im zweiten Kapitel der Name und allge- 
meine Begriff der Glaubensregel behandelt. Es ist wesentlich For- 
melstatistik und Wortexegese, die der Verf. selbst nicht hoch ein- 
schätzt (p. 14). Die Ausführungen stimmen wesentlich überein mit 
denjenigen Zahns, dessen Artikel »Glaubensregel< in RE? wohl nicht 
mehr benutzt werden konnte. Kunze verweist nur auf Zahns Auf- 
satz: Glaubensregel etc. (p. 7). Der Begriff xavov tijg dAndeiag ist 
älter als der Begriff xavov rg niareng. Die Genitive werden in der 
herkömmlichen Weise erläutert. Gegen Harnack wird der Nachweis 
unternommen, daß die Begriffe xrjevypa und napddocıs mit dem Be- 
griffe Glaubensregel alternieren (p. 10). Die pluralische Formel 
regulae ist ein besonderer Sprachgebrauch Tertullians, der überhaupt 
eine besondere Stellung einnimmt. Als Hauptfrage ist aber zu be- 
trachten, woher die Glaubensregel ihren Inhalt habe, der irgendwie 
als Lehrsumme zu verstehen sei. Indem Kunze sich auf die Auf- 
stellungen Zahns, Harnacks und Kattenbuschs einläßt und im Satze 
Zahns, daß die Glaubensregel identisch sei mit dem Taufbekenntnis 
der alten Kirche, einen wichtigen Fortschritt zum Richtigen hin er- 
kennt, wendet er sich der Frage zu, ob denn überhaupt im alt- 
katholischen Zeitalter das Vorhandensein eines Taufbekenntnisses in 
demselben Umfang sich belegen lasse, als die fragliche Größe der 
reg. fid. vorkomme. 

So wird »das Taufbekenntnis in der vornicänischen Kirche« das 
Thema des dritten Kapitels. Das mit großem Fleiß aus den vor- 
nicänischen Vätern gesammelte, auch hin und wieder Kattenbusch 
ergänzende Material wird in z. T. sehr eingehender und scharfsinniger 
Einzelexegese gegen Kattenbusch verwertet, dessen abweichende Be- 
hauptungen fast auf jeder Seite dieses Kapitels im. Text oder in den 
Anmerkungen notiert und abgewiesen werden. Es erhellt nach 
Kunze nicht nur die Thatsache eines trinitarisch gegliederten und 
an das römische sich anschließenden Symbols, sondern auch des wei- 
teren, daß weder Tertullian noch Cyprian noch Irenaeus dies Be- 
kenntnis für spezifisch römisch gehalten, es vielmehr als ökumenische 
Größe vorausgesetzt haben. Dies Ergebnis wird bestätigt durch die 
morgenländischen Theologen. Bei Athanasius liegt ein Taufbekennt- 
nis so offen wie möglich vor. Origenes, der mit besonderer Aus- 
führlichkeit behandelt ist, besitzt ein mit der abrenuntiatio verbun- 
denes Taufbekenntnis, das im großen und ganzen mit der auch durch 
R bezeugten Gestalt übereinstimmt (60). Mit Kattenbusch den rö- 
mischen Aufenthalt des Origenes zu urgieren, hält Kunze für unan- 


888 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


gebracht (42 A. 54. 66). Von Origines aus gewinnt man nun auch ein 
sicheres Urteil über das Taufbekenntnis bei Clemens Alexandrinus, 
der ein den anderen Taufbekenntnissen ähnliches Taufbekenntnis ge- 
habt hat (gg. Harnack, Kattenbusch). So hat die alexandrinische 
Kirche in der Zeit von Clemens bis Athanasius ein bei der Taufe 
abzulegendes trinitarisches Bekenntnis von der gemeinüblichen Grund- 
gestalt besessen, das man als allgemein kirchlich beurteilt hat. Sy- 
rische und kleinasiatische Zeugnisse bestätigen die Verbreitung eines 
nicht lediglich trinitarischen Taufbekenntnisses für den Osten, wel- 
ches überhaupt nicht bloß als Glaubensbekenntnis, sondern, da es 
stets mit der abrenuntiatio verknüpft uns entgegentritt, als dogma- 
tisch-ethische Ganzheit aufzufassen ist. 

Im vierten Kapitel entwickelt nun Kunze das Verhältnis von 
Glaubensregel und Taufbekenntnis, indem er von der These Zahns 
ausgeht. Es ist nur zuzugeben, daß »vielfach, wenn nicht gar überall« 
(74) der Begriff regula fidei irgendwie das Taufbekenntnis meine. 
Aber selbst bei Tertullian, wo der Begriff reg. fid. sich mit dem 
Taufbekenntnis »fast bis zur Identität nahe berührt«, haftet dem 
Begriff reg. fid. das Moment des Antihäretischen an (82). Daß die 
reg. das antihäretisch gerichtete Taufbekenntnis ist, wird vollends 
durch Origenes und Clemens bewiesen. Woher stammen aber diese 
Erweiterungen ? Die Lösung dieser für das Verständnis des ganzen 
Problems Ausschlag gebenden Frage wird im folgenden Kapitel 
»Glaubensregel und heilige Schrift« in Angriff genommen. 

Die Lektüre dieser ausführlichen und sehr ins Detail gehenden 
Untersuchung wird erleichtert durch gelegentliche Rückblicke, die in 
kurzen Sätzen das gewonnene Ergebnis noch einmal dem Leser zum 
Bewußtsein bringen, ohne daß dadurch die Geschlossenheit der Dar- 
stellung litte. Die reg. fid. ist weder das Symbol noch die Selbst- 
auslegung des Symbols. Harnacks Bedenken gegen Zahns Formu- 
lierung (Harnack DG I? 293. 325. 295 A. 1) eignet Kunze sich an, 
führt aber die »Interpretation< des Bekenntnisses nicht auf die 
Ueberlieferung (I? 327 A.2) oder das »fromme Bewußtsein« (Katten- 
busch II 83) zurück, sondern auf die Schrift, die im Begriff der 
reg. fid. mit enthalten ist (p. 95). Einen »Kanon< ohne die heil. 
Schrift hat es nicht gegeben (ib. cf. p. 99). Die Erweiterungen 
stammen also aus der Schrift. Mit dieser These, die Kunze öfters 
wiederholt, hat er die Lösung des im Begriff reg. fid. enthaltenen 
Problems gegeben, der man sich schon manchesmal genähert habe, 
die aber heute sich nicht leicht durchsetzen werde (p. 95). Es folgt 
nun im einzelnen die Begründung dieser These. Die Stellung des 
Irenaeus ist einer besonders eingehenden Analyse unterzogen. In 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 839 


den Anmerkungen findet man hin und wieder auch textkritische Be- 
merkungen. Es ist selbstverständlich, daß Kunzes Erörterungen hier 
zugleich einen Beitrag zur Kanonsgeschichte geben. Bei Irenaeus 
fallen die heil. Schriften ganz wesentlich unter den Begriff der Wahr- 
heitsregel, ohne daß ausgeschlossen wäre, daß Irenaeus auch zugleich 
das Taufbekenntnis meine. Es ist die apostolische Autorität, welche 
den >Kanon« ausmacht (116). Ist nun aber die reg. veritatis eine 
solche als Ausprägung des apostolischen Glaubens, so gehört die 
Schrift mit zur regula veritatis. Es sind aber die hellen Stellen, 
welche die regula bilden. Darum kann denn auch Irenaeus von 
einem owudrıov (demin.) reden, während er doch das ganze Schrift- 
korpus zu meinen scheint. Er denkt nur an den summarischen Aus- 
zug aus der Schrift (120). Dadurch wird die Behauptung nicht 
zurückgezogen, daß reg. ver. das Taufbekenntnis sei (78f.). Denn 
Iren. hat eben sein Taufbekenntnis nicht anders geschätzt, denn als 
summarischen Ausdruck der Schriftwahrheit. Diesen klaren That- 
bestand bei Iren. hat man bisher deswegen verkennen können, weil 
man nicht beachtete, daß adv. haer. III 34 bloß ein Exkurs sei, hin- 
ter welchem Iren. III 5: wieder den Schriftbeweis aufnehme. Eine 
auffallende Uebereinstimmung mit Irenaeus findet man bei Clemens 
Alexandrinus (145). Auch Origenes zählt die Schrift »irgendwie< 
mit zur Glaubensregel, ja selbst Tertullian, der allerdings anderer- 
seits die Trennung von Schrift und regula fidei erreicht hat, dies 
aber selbst als Neuerung kennzeichnet (178). Diese Neuerung hat 
sich auch in der Folgezeit nicht durchgesetzt; das beweist Novatian. 
So werden überall, wo die kirchliche Glaubensregel gegen die Häre- 
tiker verwandt wird, die Schriften alten und neuen Testamentes in 
den Begriff der Glaubensregel aufgenommen. 

Das sechste Kapitel »Zusammenfassende Erörterung über die 
Glaubensregel in der altkatholischen Kirche<, soll das bisher ge- 
fundene Ergebnis auch an solchen Stoffen erproben, die Kunze als 
ungeeignet noch nicht verwerten konnte. Kunzes These lautet, daß 
der Begriff »Kanon« weder mit der heil. Schrift noch mit dem Tauf- 
bekenntnis schlechthin zu identifizieren sei, daß er vielmehr beide 
Größen in sich begreife und das Moment des Antihäretischen mit- 
enthalte. Darum: >reg. fid. ist das antihäretisch gewendete aus der 
heil. Schrift ergänzte und ausgelegte Taufbekenntnis, diese, die 
Schrift selbst mit eingeschlossen«, oder auch: >reg. fid. ist die gegen 
die Häretiker zur Einheit zusammengefaßte heil. Schrift ‘alten und 
neuen Testamentes, insofern sie den im alten Taufbekenntnis ausge- 
sprochenen Glauben zum Inhalt hat, dies, das Bekenntnis selbst mit 
eingeschlossen< (p. 185). Die nun folgenden Erörterungen laufen auf 


840 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


eine längere Auseinandersetzung mit Harnack hinaus. Wenn Harnack 
Recht hat, so entsteht die Frage, wie man dazu gekommen sei, 
die >Interpretation< so mit der Formel zu verschmelzen, daß sie an 
ihrer Autorität Anteil hatte. Diese Frage ist identisch mit der an- 
deren, wie sich die Kirche des Gnostizismus und Marcionitismus er- 
wehrt habe. Kunze meint, daß allein die von ihm gegebene Fas- 
sung die Ueberwindung der gnostischen Krisis erklärt. Die fraglos 
vorhandene Unsicherheit der regula wird zurückgeführt auf die Un- 
sicherheit über den Umfang der Schrift. Grade die Einbeziehung 
der Schrift in die regula macht sowohl den festen dogmatischen 
Maßstab wie die Unsicherheit begreiflich. Wenn aber manchmal die 
Schrift der regula untergeordnet wird, so wird doch nicht die ganze 
Schrift einer außer ihr belegenen Norm unterstellt, sondern nur die 
je einzelne Schrift der Gesamtmasse der übrigen Schriften gegenüber 
‘ gestellt (206). Dies Resultat bestätigt der Vorbereitungsunterricht 
vor der Taufe. Anhangsweise werden noch Grundsätze gegeben, 
‚nach welchen aus den Relationen der Glaubensregel das Tauf- 
bekenntnis eines Autors zu ermitteln ist«. 

Mit den bisherigen Erörterungen stellt sich Kunze in Gegensatz 
zu der >allgemein herrschenden Auffassung«. Die im siebenten Ka- 
pitel >die weitere Entwicklung der Glaubensregel im Morgen- und 
Abendland< gegebenen Ausführungen hinterlassen dem Kundigen, 
wenn es auch hin und wieder nicht an scharfen Ausfällen fehlt, doch 
im ganzen den Eindruck einer weit gehenden Uebereinstimmung der 
verschiedenen Forscher. Zunächst wird freilich nochmals betont, 
daß die »Festigkeit< der Bekenntnisformel, die Harnack in der alten 
Kirche voraussetze, nicht einmal bei Tertullian, an den die spätere 
Entwicklung anknüpfe, zu finden sei. In der römischen Praxis da- 
gegen trete die Neigung hervor, die Formel als solche zu schätzen, 
d.h. aber, nicht das ganze Taufbekenntnis, sondern bloß die trinita- 
rische Formel (227). Das vierte Jahrhundert aber bedeutet nach 
Kunze einen Wendepunkt in der Geschichte der reg. fid. Das Tauf- 
bekenntnis besitzt freilich nach Ausweis der Katechesen Cyrills keine 
‚an sich seiende Lehrautorität«, wie es denn überhaupt im Morgen- 
land nicht als feste, streng apostolische Formel betrachtet worden 
ist, die neben oder über der Schrift steht (239). Zahns Hinweis auf 
die Didascalia ist hinfällig (239—43). Der christliche Orient hat 
also keine Formel gekannt, die als solche für apostolisch gegolten 
hätte. Die Autorität des Taufbekenntnisses ruht wesentlich darauf, 
daß es die Schriftlehre zusammenfaGt. Wir haben also hier die 
gradlinige Fortsetzung der Entwicklung, die nicht durch Tertullian 
bezeichnet war. Aber ein Fortschritt ist insofern bemerkbar, als der 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 841 


Begriff »Kanon« noch stärker als zuvor an der Schritt haftet (247). 
Isidor von Pelusium erklärt die Schrift ausdrücklich für die Glaubens- 
regel (250). So erscheint denn die Entwicklung nicht so willkürlich 
und irrationell, als wenn man annimmt, der Begriff, reg. ver. habe 
ursprünglich nur ein formuliertes Lehrbekenntnis bezeichnet. Von 
da aus führt keine verbindende Brücke zu der Bezeichnung der 
Schriftensammlung als Kanon. 

Aber dies Ergebnis ist nicht das einzige Ergebnis der Entwick- 
lung der reg. fid. im Osten. Die Entwicklung mündet vielmehr in 
zwei Armen aus. Das Konzil von Nicaea bedeutet den Wendepunkt. 
Indem das Nicaenum sich als Formel durchsetzte und aus sich selbst 
ausgelegt wurde, erfuhr der Begriff xavov rg niorsng eine Ver- 
änderung. Im C. hat die griechische Kirche ihren Ruhepunkt ge- 
wonnen. Dieser Entwicklung folgte der Sprachgebrauch, indem der 
Name reg. fid. auf N. und C. überging. Unter Justinian stellt sich 
uns die perfekt gewordene veränderte Sachlage dar. Da man nicht 
zwei regulae fidei haben konnte, rückte das Bekenntnis als das deut- 
lichere über die Schrift. Diese ganze Entwicklung stand unter 
kaiserlicher Einwirkung. 

Auch für das Abendland bedeutete N. einen Einschnitt. Hilarius 
bildet den Uebergang. Man begegnet einer bisher nicht gekannten 
Hochschätzung des alten Taufbekenntnisses, dessen Autorität durch 
die jetzt auftauchende Sage von der Abfassung durch die Apostel 
rapide steigen und den Wortlaut selbst heiligen mußte. Das Symbol 
wird eine selbständige Lehrautorität. An die Stelle der biblischen 
tritt eine rationelle Betrachtungsweise der Symbolformel, deren 
klassischer Zeuge das Athanasianum ist, das Kunze mit Loofs gegen 
Harnack als einheitliche Bildung betrachtet. Trotz allem wird aber 
doch der Schrift der Begriff der Glaubensregel nicht entzogen. Es 
bleibt aber an der Schrift das Fremdwort canon haften. So gewinnt 
auch das Abendland einen zweispältigen Abschluß. Doch rückt das 
Symbol als Norm über die Schrift, und über beiden erhebt sich 
schließlich die Kirche, bis endlich im Tridentinum der Kanon ganz 
unter die Kirche gebeugt ist. Die letzte Seite dieses Kapitels stellt 
die Merkmale des katkolischen Schriftprinzips zusammen. 

Im folgenden Kapitel wendet Kunze wieder den Blick rückwärts, 
wenn er die »Herausbildung der Glaubensregel im Kampf mit Gnosti- 
cismus und Marcionitismus< behandelt, und die Frage diskutiert, ob 
Kanon und Symbol eine Schöpfung der antignostischen Kirche sind. 
Der Begriff ist neu, in der Kirche als nachgnostisch zu be- 
trachten (313). Das berechtigt noch nicht zu der Folgerung, daß 
die Sache selbst nachgnostisch sei. Es entsteht demnach die Frage, 


842 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


ob die Kirche die ntl. heil. Schrift und das Bekenntnis erst ge- 
schaffen habe, als sie der Gnostiker sich zu erwehren hatte, wie dies 
die Anschauung der »neueren Theologie« sei. Kunze verneint nach- 
drücklich diese Frage, sodaß dies ausführliche und interessante 
Kapitel zu einer fortlaufenden Auseinandersetzung namentlich mit 
Harnack wird; vereinzelt nur wird Jülicher erwähnt. Bei aller Selb- 
ständigkeit im Einzelnen verrät Kunze hier doch eine große Ab- 
hängigkeit von Zahn. Nach einigen allgemeinen Erörterungen, die 
gegen Harnacks Darstellung erhoben werden, wird aus den Quellen 
der geschichtliche Nachweis unternommen, daß das kirchliche Tauf- 
bekenntnis und das kirchliche N. T., wie sie in der reg. ver. zu- 
sammengefaßt wurden, älter seien als der antignostische Kampf. Es’ 
wird zunächst auf 69 Seiten das Verhältnis der Gnostiker zu der 
späteren reg. fid. untersucht. Irenaeus und Tertullian haben keines- 
wegs, wenn sie auf die regulae der Gnostiker hinweisen, besondere 
Lehrbekenntnisse der Gnostiker benannt. Regula bedeutet hier nicht 
kurz formulierte Lehrformel, sondern Lehrbegriff. Es ist 
die Uebersetzung nicht von xav&v, sonderu von tad@eots. Bereits 
die Gnostiker hatten das kirchliche Taufbekenntnis besessen. Auch 
nach Tertullian bekennen sich die Gnostiker zur communis fides der 
Kirche. Die gnostische Litteratur bestätigt dies Ergebnis. Die Be- 
kenntnisse der Gnostiker haben durchaus den gemeinchristlichen Cha- 
rakter gewahrt. Es sind nur diese Bekenntnisse nie von den Gno- 
stikern als Lehr autorität geltend gemacht. Ihre Autorität ist die 
Schrift, d. h. der »Kanon<« der antignostischen Väter. Die neben 
Schrift und Bekenntnis gestellte Geheimüberlieferung ist keine 
Formel, sondern eine ausführliche Lehre (375), welche die öffent- 
liche apostolische Ueberlieferung der Katholiken nicht verdrängte. 
Das evangelium veritatis stand auch nicht als Wahrheitsevangelium 
im Gegensatz zum kirchlichen Lügenevangelium. Es war vielmehr 
ein Evangelium, welches nicht mehr im Bilde und Gleichnis sprach. 
Es haben also die Gnostiker die öffentliche, schriftlich-mündliche 
Ueberlieferung der Kirche bestehen lassen, ihren apostolischen Cha- 
rakter formell nicht geleugnet. Aber die gemeinkirchliche Unter- 
weisung wurde als Bild und Gleichnis beurteilt, deren Verständnis 
erst die Geheimüberlieferung der Gnostiker ermöglichte. Das ap. 
Bekenntnis und das N. T. ist demnach keine gnostische Schöpfung; 
richtig ist nur, daß die Gnostiker zuerst einen ausgeführten ntl. 
Schriftbeweis gegeben haben. Neues Testament und Taufbekenntnis 
sind also älter als der Gnosticismus (384). Das geringe Plus des 
späteren kirchlichen Testaments gegenüber dem uns bekannten gno- 
stischen darf man nicht daraus erklären, daß die Kirche gegen die 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 848 


Gnostiker noch pseudoapostolische Schriften fabriziert oder ältere 
Schriften zum Zwecke der Kanonisierung dazu umgestempelt habe. 
Weder von der »Schépfung< des N. T. noch des Bekenntnisses hätte 
sich die Kirche Erfolg versprechen können, da sie die Geheimiiber- 
lieferung der Gnostiker zu bekämpfen hatte. Unter Beseitigung 
jener gnostischen Sonderautorität setzte die Kirche, —- und das war 
ihre positive Leistung gegen die Gnosis —, >das gemeine Christen- 
bekenntnis mitsamt der alt- und neutestamentlichen Schrift als die 
Norm (regula) in Geltung, nach der ausschließlich entschieden 
werden müsse, was christlicher Glaube ... seie (388). 

Der zweite Teil des Kapitels behandelt das Verhältnis des 
Marcionitismus zur späteren regula fidei. Marcion teilte mit 
der Kirche die Sakramente, machte aber Abstriche am gemein- 
samen Glauben. In der Stellung zum N. T. erscheint Marcion mehr- 
fach als derjenige, welcher die regula verändert hat. Während also 
zwischen Kirche und Gnosis hinsichtlich des N. T. Uebereinstimmung 
herrschte, war das zwischen Marcion und der Kirche nicht der Fall. 
Er setzt aber doch dasselbe Bekenntnis und N. T. in der Kirche 
voraus, wie die Gnostiker. Das N. T. und Taufbekenntnis des Iren. 
sind also älter als Marcion und die Gnostiker. Wenn freilich die 
strenge Abgeschlossenheit zum Wesen des Kanons gehört, dann war 
Marcion der Kirche voraus. Aber die alte Kirche hat weder beim 
Symbol noch beim N. T. auf dies Merkmal Gewicht gelegt. Marcion 
darf also nicht als Schöpfer des N. T. betrachtet werden. Die Kirche 
hat weder im Kampf mit der Gnosis noch im Kampf mit dem Mar- 
cionitismus ihr N. T. gebildet oder wesentliche Stücke ihm an- 
gegliedert. 

Dafür kann man sich auf die Apologeten berufen, deren Christen- 
tum sich wesentlich mit dem der antignostischen Väter deckt. Justin 
kennt als Apologet nur das A. T., während die ntl. Schriften gegen 
Heiden und Juden nicht als Instanz, sondern nur als Ausweis ver- 
wertet werden. Es sind aber für den ntl. Kanon die inneren Vor- 
bedingungen vorhanden. Denn Justin hätte, wenn er gegen inner- 
kirchliche Gegner aufzutreten genötigt gewesen wäre, die ntl. 
Schriften als Norm gehandhabt (425). Dafür darf man sich auch auf 
Tertullians Apologetikum berufen, welches die Maßstäbe Justins teilt, 
trotzdem doch Tertullian ein neues Testament als Autorität besitzt. 
Das Neue in der Position der antignostischen Väter gegenüber den 
Apologeten ist demnach hauptsächlich nur ein Formales: daß man 
nämlich sein eigenes Christentum vom ursprünglichen Christentum, 
welches in den apostolischen Schriften überliefert war, bewußt unter- 
scheidet und also dieses als kritische Autorität in Geltung setzt. 


844 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


Diese formale Neuerung ist aber zuerst nicht von den altkatho- 
lischen Vätern, sondern zuerst von den Gnostikern und Marcion voll- 
zogen worden. In dieser Beziehung sind also in der That odie 
kirchlichen Theologen den Gnostikern notgedrungen nachgefolgt«. 
(428). In der materialen Wertung und Verwendung des N. T. und 
des Bekenntnisses stehen dagegen die altkatholischen Väter auf seiten 
der Apologeten. Indeß muß man doch auch von einer materialen 
Neuerung sprechen. Mit der Verwendung des N. T. als Kanon 
mußte eine gewisse Verfestigung eintreten. Der innerkirchliche 
Gegensatz mußte »mit einem Schlage« die Lage ändern. »Die apo- 
stolische Litteratur mußte sich abgrenzen .... Diese ideelle Ver- 
festigung hat aber darum nicht erst die sog. altkatholische Kirche, 
sondern bereits der Gnosticismus vollzogen« (430). Die materiale 
Neuerung hinsichtlich des N. T. bestand darnach nicht in der Hin- 
zufügung gewisser Schriften, sondern in der reinlicheren Absonde- 
rung der nachapostolischen Stoffe. »Die Physiognomie des Neuen 
Testamentes bleibt so, wie sie schon in jenem viel früheren Zeitraum 
gewesen ist«e (431). In Rom freilich hat eine mechanische Abgren- 
zung der regula stattgefunden, sowohl hinsichtlich des Symbols als 
des Neuen Testamentes (Canon Murat... Das ist aber spezifische 
Eigentümlichkeit der römischen, nicht aber der gesamten altkatholi- 
schen Kirche. So sind also Taufsymbol und Neues Testament vor- 
katholische, positive Bildungen (436). Zum Schluß zieht Kunze aus 
diesem Ergebnis Konsequenzen für die Vorgeschichte der zweiteiligen 
regula. Es ist durchaus unwahrscheinlich, daß das Abendland, im 
bes. Rom, das Taufbekenntnis geschaffen hat. Es ist ebenfalls un- 
wahrscheinlich, daß das Neue Testament sich gebildet hat aus den 
Herrenworten, an die sich später die apostolischen Worte als neue 
Instanz anschlossen. Vielmehr gilt das N. T. als apostolische 
Schriftensammlung. 

Im 9ten Kapitel wird die regula disciplinae behandelt, die schon 
im 3ten Kapitel gestreift war. Kunzes Ausführungen sind hier 
wiederum an denjenigen Harnacks antithetisch orientiert. Zwischen 
der Großkirche und der Gnosis sowohl wie dem Marcionitismus be- 
steht auch ein ethischer Gegensatz. Es ist darin die regula disc- 
plinae ebenso antihäretisch wie die reg. fidei und also dieser ent- 
sprechend zu definieren. Kunze sucht seine Gedanken namentlich 
im Anschluß an die ovvrayıj; und éxotay bei der christl. Taufe zu 
entwickeln. Natürlich nimmt auch hier Tertullian eine besondere 
Stellung ein, sofern er die Schrift hinter die Abrenuntiationsformel 
zurückschiebt, während bei den andern Vätern die Schrift voransteht. So 
hat denn auch Tert. so wenig auf den Zusammenhang von Glauben 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 845 


und Leben im Christentum geachtet (gegen Harnack), daß er viel- 
mehr fides und disciplina auseinanderreißt. Bei Cyprian tritt wieder- 
um die Autorität der Kirche an die erste Stelle. So hält die Ent- 
wickelung auf dem Gebiet der fides gleichen Schritt mit der Ent- 
wickelung auf dem Gebiet der disciplina. Eine wesentliche 
Wandlung des Christentums von Justin bis Irenaeus ist nicht er- 
kennbar. Die altkatholische Zeit unterscheidet sich nicht von der 
früheren hinsichtlich der dogmatisch-ethischen Normen durch wichtige 
Neuerungen. Die Maßstäbe sind dieselben geblieben. »Die Neue- 
rungen der altkatholischen Kirche sind . . . nicht materiale, sondern 
formale, nicht Neuschöpfungen, sondern Neuschätzungen« (464). 

Mit dem 10ten Kapitel, in welchem die »Gesamtübersicht über 
die Entwickelung der reg. fidei und ihr Ausgang in der Reforma- 
tion< behandelt wird, schließt Kunze seine Untersuchung, die in 
eine dogmatische Erörterung über die regula auslauft. Nachdem zu- 
nächst die vorhergehenden Resultate rekapituliert sind, wendet sich 
Kunze der Stellung Luthers zur Schrift und zum Symbol zu, die er 
anders als Harnack glaubt beurtheilen zu müssen. Luther hat sich 
das Apostolikum gleichwie die alte Kirche als Summe des Schrift- 
glaubens positiv und innerlich angeeignet, ohne doch sich an den 
Wortlaut des Bekenntnisses gebunden zu fühlen, an dem er viel- 
mehr gegebenen Falls Kritik geübt hat. Das ist überhaupt die 
richtige evangelische Stellung zum Apostolikum (Kunze streift hier 
den Apostolikumstreit), daß man auf die Geschichte des‘ Symbols 
sich stützend, den Wortlaut nicht grundsätzlich für sakrosankt er- 
klärt. Denn das Symbol hat betonte und unbetonte Stellen. Aber 
für eine Aenderung des Symbols liegen weder entscheidende sach- 
liche Gründe vor, noch wäre den Gegnern mit einigen Aenderungen 
am Symbol gedient. Das Symbol ist überhaupt für den ev. Christen 
nicht regula fidei; dies ist allein die Schrift. Mit der Stellung 
Luthers zur Schrift und mit der Autorität der Schrift beschäftigen 
sich die letzten Ausführungen dieses Kapitels. Luther hat die 
Schrift unter dem Gesichtspunkte des Apostolischen für maßgebend 
angesehen. Seine Stellung ist dieselbe wie die der alten Kirche. 
Seine Kritik an der Schrift ist nicht von subjektiv religiösen Ideen 
geleitet, sondern wesentlich historisch orientiert. Seine Stellung zur 
Schrift unterscheidet sich auch durchaus von der kirchlich katholi- 
schen Stellung zur Schrift, die ja die Kirche den Kanon festellen 
läßt. In Luthers Stellung zur Schrift wird man demnach nicht 
einen flagranten Widerspruch (Harnack III 609 A 1) entdecken 
können. Man muß vielmehr die Einheitlichkeit und Geschlossenheit 
seiner Stellung zur Schrift anerkennen. Unverbrüchlich gilt das apo- 


846 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


stolische Evangelium, dagegen das konkrete N.T. nur, weil und se 
weit es das Evangelium der Apostel ist. Als dogmatischen Ertrag 
der ganzen Untersuchung über die Geschichte der reg. fid. stellt 
dann Kunze zum Schluß die These auf, daß das N. T. regula fidei 
und disciplinae, d. h. dogmatische und ethische Autorität und Norm 
der christlichen Kirche sein und bleiben müsse, weil es und soweit 
es das einzige, authentische, geschichtliche Denkmal des apostolischen 
Evangeliums sei, durch welches die Kirche gegründet worden (529). 
Unter diesem rein geschichtlichen Geschichtspunkt eignet dem N.T. 
Kanonizität, ist es regula fidei (533). Es führt dieser Satz natürlich 
zu einer Auseinandersetzung mit der >neuprotestantischen< Position, 
daß allein der sog. historische Christus dogmatische Autorität sei. 
Der Neuprotestantisınus kämpft wohl mit Recht gegen einen un- 
evangelischen Begriff vom Kanon, aber zugleich doch gegen den 
Kanon, gegen das apostolische Evangelium selbst. Evangelium und 
Apostel sind für ihn nicht mehr Wechselbegriffe, wie in der Kirche 
von Anfang an, sondern sie werden einander gegenübergestellt. Da- 
mit ist sowohl der ntl. Kanon schlechthin abgethan (546), als auch die 
altkirchliche regula fidei, wie sie seit Irenaeus als dogmatische 
Autorität aufgerichtet war. Man versucht ein neues Evangelium zu 
schaffen, dessen Aussichten freilich, auch nur rein wissenschaftlich 
betrachtet, gering sind. Es führt diese ganze moderne Bewegung 
entweder auf den Skeptizismus eines Strauß hinaus, oder man findet 
den Weg. wieder zurück zum alten, apostolischen Evangelium des 
Neuen Testamentes. 

Es erhellt aus der Inhaltsübersicht, daß die Fragen, welche 
Kunze in seinem Buch behandelt, komplizierter und mannigfaltiger 
sind, als man zunächst auf Grund des Titels erwartet. Es weiß 
aber jeder, der auf diesem Gebiete arbeitet, daß man auf eine 
einigermaßen befriedigende Lösung der betreffenden Frage nicht 
rechnen darf, wenn man nicht von einer möglichst breiten Basis aus- 
geht und den Zusammenhang der dogmengeschichtlichen und re 
‘ligionsgeschichtlichen Entwicklung im Auge behält. Es ist selbst- 
verständlich, daß von hier aus auch andererseits auf die allgemeine 
Entwicklung Schlaglichter fallen müssen. So bietet denn die Arbeit 
Kunzes nicht bloß erhebliche Beiträge zur Geschichte des Symbols 
und des Kanons, über deren gegenseitiges Verhältnis sie ja im be 
sonderen unterrichten will; sie bietet zugleich einen Beitrag zur 
Entstehung der katholischen Kirche und zur Ketzergeschichte des 
zweiten und dritten Jahrhunderts. Wenn außerdem dogmatische Ent- 
wickelungen und Ergebnisse vorgetragen werden, so hat das seinen 
Grund in der besonderen Absicht des Verfassers, der deswegen auch 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 847 


den Apostolikumstreit berührt. Man wird demgegenüber nur fragen 
dürfen, ob das dogmatische Interesse das historische verkürzt hat, 
oder ob und wie weit eine Verbindung rein bistorischer und dogma- 
tischer Untersuchungen möglich und berechtigt ist. 

Kunze hat in seinem Buch ein umfassendes Quellenmaterial mit 
großem Fleiß und Scharfsinn zusammengetragen. Die Fülle des zu 
verarbeitenden Materials hat dem gelehrten Verfasser doch nicht den 
Ueberblick über das Ganze entzogen. Immer behält er das Endziel 
im Auge. Er beherrscht frei und selbständig die große Stofffülle 
und vermag es auch, hin und wieder Kattenbusch zu ergänzen, 
Stellen vorzuführen, die Katt. entgangen sind. Die Partieen über 
die morgenländische Entwicklung, namentlich die Herausbildung der 
Glaubensregel im Kampf mit Gnostizismus und Marcionitismus, sind 
besonders sorgfältig gearbeitet. Die dann nnd wann gegebenen text- 
kritischen Bemerkungen und Vorschläge zur Verbesserung eines un- 
klaren Textes zeigen, wie sehr es Kunze um das Verständnis der 
Einzelstelle zu thun gewesen ist und mit welcher Gründlichkeit er 
jede einzelne Aeußerung behandeln will. Das ist ein Vorzug der 
Methode Kunzes, der um so höher zu werten ist, als vorläufig auf 
dem von Kunze bearbeiteten Gebiet der Einzelexegese noch viel zu 
thun übrig bleibt. In der Einzelexegese selbst beweist der Verf. ein 
großes Maß von Selbständigkeit. Dessen kann man leicht inne wer- 
den, wenn man die entsprechenden Ausführungen bei Kattenbusch 
vergleicht. Kein Geringerer als Kattenbusch selbst hat die gediegene 
Gelehrsamkeit, die Scharfsinnigkeit und den Gedankenreichtum die- 
ses Buches anerkennend hervorgelioben , und sogar in m. E. zu weit 
gehender Bescheidenheit, die man freilich um so höher achten 
wird, als Kunzes Polemik gegen Kattenbusch im ganzen angemesse- 
ner hätte sein können, gemeint, es sei Kunze vielleicht annähernd 
besser als ihm geglückt, das richtige Geschichtsbild zu fixieren (Th. 
L. Ztg. 1900 Nr. 1). Zuweilen aber möchte man doch wünschen, 
daß Kunze ausführlicher auf die Einzelexegese sich eingelassen hätte. 
Kunze wird gewiß die verschiedenen Möglichkeiten bei sich erwogen 
und vielleicht nur aus Furcht, den Leser zu ermüden, es unterlassen 
haben, sie auch alle vorzufiihren. Dadurch gewinnt nun zweifellos 
auch seine Darstellung, zumal wenn man sie mit derjenigen Katten- 
buschs vergleicht, an Straffheit und Geschlossenheit. Und doch wäre 
es im Interesse einer möglichst gesicherten Erkenntnis wünschens- 
wert gewesen, wenn Kunze hier eventuelle Rücksichten auf den 
Leser oder den Umfang des Buches bei. Seite geschoben hätte. Das 
hätte freilich zur Folge gehabt, daß öfters kaum eine definitive Ent- 
scheidung gegeben werden könnte, und daß gelegentlich sich eine 


848 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


skeptische Stimmung aufdrängen würde, die natürlich manchen Leser 
nicht befriedigen, die aber der Kundige verstehen würde. Nun aber 
hinterlassen die Ausführungen Kunzes ein zu starkes Gefühl der 
Sicherheit, und seine Resultate werden auch zuweilen nicht immer 
mit der durch den gegenwärtigen Stand der Quellen gebotenen Vor- 
sicht und Limitation vorgetragen. Ich könnte, um nur ein Beispiel 
zu nennen, auf die Verwertung des Alexander von Lycopolis (p. 135. 
147) hinweisen, dessen christlicher Charakter doch durchaus nicht 
über allen Zweifel erhaben ist. Baur und Brinkmann erblicken viel- 
mehr in ihm einen Nichtchristen ; Krüger schließt sich dem an, und 
auch Zöckler erhebt Bedenken. Kunze hätte darum es wenigstens 
näher rechtfertigen müssen, warum er diese Bedenken nicht teilt. 
Daß die Einzelexegese zuweilen zu wünschen übrig läßt, kann hier 
nur kurz bemerkt werden. Iren. adv. haer. III.2, hätte eine aus- 
führlichere Behandlung vertragen können (103). Dann hätte sich 
Kunze vielleicht genötigt gesehen, die Beweiskraft dieser Stelle selbst 
einzuschränken. Iren. II. 40,1 (II. 27, 1—28, 3) (p. 104) wird eben- 
falls mit zu großer Sicherheit verwertet. Man kann nicht ohne 
weiteres aus dieser Stelle folgern, daß die Schrift die Wahrheits- 
regel ist (p. 106), sei es auch nur in ihren klaren und deutlichen 
Oertern. Kunze selbst will auch zunächst reg. ver. hier nur mit 
»normgebender Wahrheit oder wahrer Lehre< (p. 104) übersetzt 
wissen. Dieselbe allgemeine Fassung vertritt Kunze auch p. 8 
(cf. ebenfalls Zahn, Glaubensregel RE? 683,25). Zu schnell wird 
auch zu Hilarius ad Const. I. 3 Stellung genommen. Ein näheres 
Eingehen auf diese und ähnliche Stellen würde aber schon zu sach- 
lichen Erörterungen führen, die vorläufig noch zurückgestellt werden 
müssen. Wenn Kunze p. 234 ausdrücklich Nicetas von Remesiana zu 
den orientalischen Vätern zählt, hätte er nicht p. 267 denselben Nicetas 
als Abendländer behandeln dürfen (cf. Zöckler). Kunze giebt auch keine 
sachliche Begründung für dies Verfahren. Wir lesen nur die Worte: 
»In diesem Zusammenhang werden wir auch nochmals an Nicetas v. Re- 
mesiana in Dazien erinnern diirfen<. Man wird sich auch darüber 
wundern, daß Kunze Justin (p. 415) schlechthin als Typus der apo- 
logetischen Theologen behandelt, während doch gerade Justin eine 
eigenartige Stellung unter den Apologeten einnimmt. Man muß 6 
auch beanstanden, daß Kunze in diesem Zusammenhang sich über- 
haupt auf Justin beschränkt und z. B. Melito v. Sardes oder Theo- 
philus v. Antiochien gar nicht berücksichtigt. Ich kann hier natür- 
lich nicht die ganze Theophilusfrage aufrollen. Da aber nun einmal 
Kunze sich auch auf die Frage nach dem Ursprung des ntl. Kanons 
eingelassen hat, wobei er sich in den Hauptsachen von Zahn leiten 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 849 


äßt (cf. p. 419 ff), hätte man doch gern Kunze zur Theophilusfrage 
Stellung nehmen gesehen. Kunze hätte im eigensten Interesse die 
Apologeten und die Stellung der Apologeten zum »Kanon« weniger 
summarisch behandeln müssen. Man kann doch gerade durch einen 
Hinweis auf Theophilus Bedenken gegen Kunzes Aufstellungen er- 
wecken (cf. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die heilige 
Schrift, Berlin 1871 p. 186 A.2). Theophilus hat doch auch nur 
die Propheten und Evangelien eng mit einander verknüpft (ad Autol. 
II 22, IH 12) und die Herrenworte mit der Zitationsformel 7 eö- 
ayy£iıos pavi duödaxsı, rd ebayy£iıdv pnoıv (III. 13.14) eingeführt. 
Aus den Briefen Pauli aber, die er fast alle, wenn nicht gar alle kennt, 
finden sich bei Theophilus keine direkten Zitate, sondern nur freie 
Anspielungen. Das Ergebnis, zu dem Zahn (G.K. I. 91 A.1) auf 
Grund von II,14 (xeAever Tuäs 6 Belog Adyog sc. Paulus) kommt, 
ist nicht unanfechtbar. Harnacks Auslegung (Z. K. G. XI,1) ist wohl 
vorzuziehen. . Doch darauf kann hier nicht näher eingegangen 
werden. Es soll hier nur darauf hingewiesen werden, daß die Be- 
deutung, welche Theophilus für die Geschichte des Kanons hat, 
Kunze hätte veranlassen müssen, auch Theophilus heranzuziehen. 
Ebenfalls vermißt man ein Eingehen auf die Akten der scillitani- 
schen Märtyrer. Zahns doch recht unnatürliche Exegese (GK. 1/102) 
des hier in Betracht kommenden Satzes wird Kunze sich wohl kaum 
aneignen. Das nächstliegende Verständnis dieser Worte ist aber 
keineswegs geeignet, die Grundauffassung Kunzes zu stützen. Ueber- 
haupt vermißt man hier, wo Kunze nicht mehr seine Hauptthese be- 
handelt, die Sorgfalt und Gründlichkeit, die man sonst in seinem 
Buche kennen lernt. Wenn ferner Kunze dem Ursprung des Kanons 
nachgeht und die Bedeutung des Gnostizismus und Marcionitismus 
für die Bildung des Kanons untersucht, hätte er auch dem Montanismus 
sein Augenmerk zuwenden müssen. Kunze geht aber, nachdem er 
von den Gnostikern und von Marcion gehandelt hat, sofort zu den 
Apologeten über. Wenn ich recht sehe, hat Kunze nur an einer 
Stelle im Texte den Montanismus erwähnt, und zwar ganz vorüber- 
gehend in einem Nebensatze (414 dazu cf. die Anmerkung 1 auf 
p. 415). Die Zielstrebigkeit der Darstellung wird man anerkennen 
müssen ; die damit verbundene Gefahr eines zu sicheren Auftretens 
ist nicht vermieden worden. 

Man hat nun allerdings (Zöckler, DLZtg. 1900 p. 1136) der 
Gesamtdarstellung zu häufige, den Leser ermüdende Wiederholungen 
vorgeworfen, oder auch Mangel an übersichtlicher Gruppierung 
(Wohlenberg ThLBl. 1900 Nr. 2). Ich möchte diesen Vorwurf nicht 
erheben. Freilich hätte die lockere Verbindung der Anmerkung 1 

Gött. gel. Ans, 1901. Nr. 11. 56 


850 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


mit dem Texte p. 427 gewiß vermieden werden, und dem Leser dieser 
Einblick in das Werden des Manuskripts erspart werden können; 
p. 286 A.1 findet sich eine Selbstkorrektur. Im ganzen leidet aber 
die Darstellung Kunzes keineswegs an Nachlässigkeit im Stil oder 
an überflüssigen Wiederholungen. Die am Schluß der einzelnen 
Kapitel und in den Kapiteln selbst gegebenen Rekapitulationen er- 
leichtern es dem Leser, ein anschauliches Bild von der Position 
Kunzes zu gewinnen, und man wird Kunze für diese Rekapitula- 
tionen um so dankbarer sein, als der umfassende Stoff ohnehin an 
die Gedächtniskraft des Einzelnen große Ansprüche stellt. Nur zu 
Beginn des 10. Kapitels scheint Kunze etwas ausführlicher als nötig 
zu rekapitulieren, und wenn er hier auch die (apostolische) Kirche 
unter den Begriff der regula bringt (p. 465), ein Moment zu be- 
tonen, auf das man nicht genügend vorbereitet gewesen ist, und 
welches auch die im Titel des Buches enthaltene Erläuterung der 
Glaubensregel erweitert, auch den doch aus der alten Kirche stam- 
menden Begriff regula selbst zu verwirren geeignet ist. Dadurch 
wird zugleich der Begriff zu einer bloß oder, wie Kunze sagt, 
wesentlich formalen Größe« (465). Kunze hat aber mehrfach (p. 95. 
99. 185) die regula so definiert, daß er nur die Schrift und das Be- 
kenntnis von ihr umspannt sein ließ. Das Unvermittelte der im 
10. Kapitel gebotenen Erweiterung des Begriffs regula muß Kunze 
selbst gefühlt haben. Denn er rechtfertigt (p. 472) ausdrücklich 
diese Erweiterung, wenn er darauf hinweist, daß bei Cyprian that- 
sächlich der Begriff der reg. fid. auf die Kirche übergehe, daß 
in der Reihenfolge Irenaeus, Tertullian, Cyprian wirkliche Neuerungen 
und Fortbildungen zum Katholizismus hin bezeichnet seien, man 
also berechtigt sei, die (apostolische) Kirche unter den Begriff regula 
zu bringen. Es dient aber doch nicht zur Klärung, wenn Jer eigen- 
artige, von Kunze auf die Schrift und das Bekenntnis bezogene Be- 
griff der altkirchlichen regula, im weiteren Verlauf der Untersuchung 
auf Größen übertragen wird, die, wie Kunze meint, nicht unter diesem 
Begriff eingeführt sind, mögen sie auch wirklich dogmatische Autorität 
sein. Kunze selbst muß dies hinsichtlich Cyprians zugeben. Daß Kunze 
zu diesem Vorgehen veranlaßt worden ist, wird seinen Grund darin 
haben, daß er über die dogmatische Autorität überhaupt eine 
historisch-dogmatische Untersuchung hat anstellen wollen. Dadurch 
hat sich aber die ursprüngliche Fragestellung: >was hat der bei den 
altkirchlichen Schriftsteller immer wiederkehrende Begriff regula veri- 
tatis oder fidei zu bedeuten ? verschoben, und die andere, mit der 
Jersten nicht mehr identische Fragestellung veranlaßt: was ist letzt- 
ich und überhaupt dogmatische Autorität (rcgula)? Dann ist natür- 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 851 


lich Kunze berechtigt, in der Konsequenz dieser Fragestellung das 
Vaticanum zu erwähnen und auf die Kirche als letzte dogmatische 
Autorität hinzuweisen (472). Die ursprüngliche Fragestellung aber, 
welche den altkirchlichen Begriff regula veritatis klarstellen wollte 
(cf. Cap. I) und fest umschrieb, muß diese Erweiterung des Be- 
griffs regula verbieten. Es hat den Anschein, als ob Kunze 
im Verlauf seiner Untersuchungen sich die Grenzen weiter gesteckt 
hat, als ursprünglich beabsichtigt gewesen. 

Dies darf man vielleicht auch aus der Thatsache schließen, daß 
der letzte Teil der Untersuchung Kunzes, d. h. also der Teil, 
welcher die augustinische und nachaugustinische Entwicklung erörtert, 
nicht mehr so eingehend und sorgfältig gearbeitet ist, wie die große 
Hauptpartie des Buches, welche den Begriff Glaubensregel in der 
alten Kirche zum Gegenstand der Behandlung hat (cf. den Neben- 
titel: »vornehmlich in der alten Kirche<), und daß schließlich die 
historische Untersuchung in eine dogmatische Auseinandersetzung 
auslauft, die ebensowenig durch den Titel gedeckt werden kann, wie 
die oben besprochene Erweiterung, Nicht nur die mittelalterliche 
Entwicklung ist recht summarisch vorgeführt, auch die Darlegung 
der Stellung Luthers läßt zu wünschen übrig. Es hat Kunze hier 
nicht alles berücksichtigt, was zu berücksichtigen gewesen wäre, und 
einige von Kunze zitierten Aeußerungen Luthers sprechen (524 A. 3) 
gegen Kunzes Auffassung. 

Auch die letzte dogmatische Auseinandersetzung mit der »neu- 
protestantischen« Position läßt die erforderliche Gründlichkeit ver- 
missen. Die im letzten Dezennium so außerordentlich angeschwollene 
Litteratur über die dogmatische Autorität, und die mit diesem Pro- 
blem verknüpften schwierigen Fragen lassen sich nicht so kurz er- 
ledigen, wie es von Kunze geschehen ist. Es kann dies Problem 
gar nicht erörtert werden, ohne daß zugleich das Verhältnis von 
Glaube und Geschichte im allgemeinen erörtert würde. Auf diese 
weitschichtige Frage läßt sich aber Kunze nicht ein. Er scheint 
sie vielmehr abzulehnen. Wenn aber Kunze überhaupt nicht bloß eine 
historische Untersuchung über die dogmatische Autorität liefern 
wollte, sondern zugleich eine dogmatische Untersuchung, dürfte er 
nicht aus einem vorgefundenen jhistorischen Bestande dogmatische 
Schlußfolgerungen ziehen. Die Autorität der Schrift ist damit noch 
nicht dogmatisch begründet, daß gesagt wird, das N. T. müsse reg. 
fidei sein, weil es das einzige authentische Denkmal des apostoli- 
schen Evangeliums sei, durch welches die Kirche gegründet worden, 
und soweit es das sei (p. 529). Eine ähnliche Begründung der Schrift- 
autorität hat man freilich schon früher gehört, und ein Rezensent 

56 * 


852 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


der Arbeit Kunzes (Wohlenberg im Th.L.Bl. 1900) hat diesen Grund- 
gedanken als besonders wertvoll hervorgehoben. Das Werk Kunzes 
habe seinen Vorzug in der Darstellung und Prüfung des gesamten 
Materials für die Frage nach der dogmatischen Autorität in der 
Kirche, und in der festen Grundlegung, daß diese Autorität die der 
Apostel sei, d. h. aber für uns Nachgeborene die heil. Schrift. Dann 
geht freilich der Rezensent über diesen Gedanken Kunzes hinaus, 
wenn er ihm vorwirft, er habe Grundtvig nicht gebührend berück- 
sichtigt, dessen Hauptgedanke heute endlich anerkannt werden müsse. 
Die alte regula fidei, d.h. das Taufbekenntnis, sei älter als die Schrift. 
Die gegenwärtige theologische Entwicklung zeige, daß die einseitig 
subjektivistische Begriffsbestimmung der fides salvifica die Kirche eher 
auflöse als aufbaue. Auf die Schrift berufe sich jeder. Das Aposto- 
likum sei xavov tig dAndelas. Es berührt eigentümlich, daß grade 
Wohlenberg, der durch Kunzes Arbeit die moderne theologische 
Position völlig erschüttert sieht, zu dieser Konsequenz sich verleiten 
läßt, nachdem er noch kurz vorher mit Kunze die Schrift als die 
dogmatische Autorität beurteilt hatte. Kunze selbst wird die von 
seinem Rezensenten aus der gegenwärtigen theologischen Lage ge- 
zogene Folgerung nicht billigen. Hat er doch sich ziemlich scharf 
gegen eine mehr im Sinne des Grundtvigianismus verstandene un- 
evangelische Schätzung des Symbols ausgesprochen (p. 496) und nur 
die Schrift, nie ein Bekenntnis, auch nicht das Apostolikum als reg. 
fid. betrachtet wissen wollen (ib. cf. p. 492). 

Es ist aber diese Begründung der Schriftautorität unzureichend. 
Denn die Dogmatik hat es immer nur mit Glaubensaussagen zu 
thun, d.h. aber, Aussagen eines inneren Lebens, das sich nur an 
einem anderen inneren Leben entzünden kann. Kunze meint, daß 
unter dem »rein geschichtlichen Gesichtspunkte«e dem N. T. »Kano- 
nizitit< eignet, daß es unter diesem Gesichtspunkt reg. fid. sei 
(533; cf. 497. 529. 538. 540). Er ist überzeugt, daß seine Be- 
stimmung der Kanonizität nicht bloß den Intentionen derer, die erst- 
malig das N.T. brauchten, wie den Intentionen Luthers entspreche, 
sondern daß sie auch für die Gegenwart sich empfehle, die alles ge- 
schichtlich betrachte (534). Aber ein noch so zweifelsfreier und 
sicherer historischer Beweis ersetzt nicht den dogmatischen. Wenn 
auch der Nachweis erbracht ist, daß die Schrift das apostolische 
Evangelium ist, oder es enthalte, so ist doch die entscheidende Frage 
noch nicht beantwortet, warum dies apostolische Evangelium Autorität 
besitze, und worin diese Autorität bestehe. Eine solche prinzipielle, 
dogmatische Untersuchung über die Autorität des »apostolischen« Evan- 
geliums wird dazu führen müssen, die Schrift zu gunsten des Personea- 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 863 


lebens Jesu zurückzustellen in die Reihe der Mittel, die zu Christus 
und zum selbstgewissen Glauben hinführen. So gewinnt man eine 
regula, auf grund derer man »religiöse« Kritik an der Schrift übt. 
Die so gewonnene regula hat aber nicht die »bunteste Willkür auf dem 
Boden des Christentums< zur Folge (534). Denn Christus, der Hei- 
land, und die heilsverlangende Seele sind immer und überall dieselben. 
Kunze verwertet auch selbst gelegentlich diesen religiösen Kanon, 
ohne freilich damit seine eigentliche Position aufgeben zu wollen, 
welche aus der geschichtlichen Untersuchung »den dogmatischen Er- 
trag« gewinnen will (529). Kunze giebt nämlich die Richtigkeit 
dessen zu, daß >die Autorität der Schrift nicht auf einer bestimmten 
Theorie ihrer Entstehung, sondern auf ihrer dem Glauben, der durch 
sie erweckt wird, jederzeit erfahrbaren Kraft ruht« (530). In die- 
sem Zusammenhang eignet er sich auch Luthers paradoxen Satz an, 
die heil. Schrift, insbesondere das N.T., bleibe was es sei, wenn- 
gleich Judas, Pilatus und Herodes es geschrieben hätten (531). 
Kunze meint aber, man müsse sich dann stets gegenwärtig halten, 
daß dies von jedem Worte Gottes gelte, auch dem nicht in der 
Schrift enthaltenen. In dies fortgehende Gotteswort sei die Schrift 
als die auch heute noch vornehmlich redende und zeugende mitein- 
geschlossen. Dagegen wird gewiß niemand von den »neuprotestan- 
tischen< Dogmatikern Einsprache erheben, es vielmehr als eine will- 
kommene Konzession an die >»neuprotestantische« Position betrach- 
ten und hoffen, daß von hier aus eine Verständigung über die dog- 
matische Autorität gewonnen werden kann. Denn diese Aenderung 
zeigt, daß Kunze wenigstens die religiösen Motive der »neuprote- 
stantischen« Theologie versteht, wenn er ihnen auch, aus Furcht 
vor subjektivistischer Willkür und überzeugt von der Tragfähigkeit 
eines historischen Beweises innerhalb der dogmatischen Argumenta- 
tion, noch keinen Einfluß auf die Gestaltung der dogmatischen Auto- 
rität gewähren will. 

Es ist darum auch zu bedauern, daß Kunze sich in der Polemik 
gelegentlich zu scharfen und nicht berechtigten Aeußerungen fort- 
reißen läßt. Wenn es p. 473 in der Anmerkung heißt, es sei bloße 
Silbenstecherei, wenn wir Evangelische nicht sagen wollten, daß wir 
im Apostolikum unsern Glauben »in der Einheit mit der ganzen 
Christenheit auf Erden« bekennen, so verdienen die von Theologen 
und theologisch interessierten Laien gegen diese liturgische For.mel 
erhobenen Bedenken keineswegs diese scharfe Zensur von ‘seiten 
eines Theologen, der die Geschichte des Apostolikums so, wie Kunze 
überschaut. Kunze vergißt auch das religiöse Motiv der geueren 
Theologie, wenn er die einen starken Vorwurf enthaltende forde- 


854 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


rung an die neuere Theologie richtet, sie möchte mit den übrig ge- 
bliebenen Steinen (sc. des N.T.) das Gebäude des neuen Evange- 
liums errichten, das unserer Zeit anders als das alte apostolische, 
aber doch ebenso wie jenes der damaligen Zeit, imponieren solle 
(547). Das sind aber wohl nur Aeußerungen, die einer vorüber- 
gehenden Stimmung entsprungen sind. Denn Kunze scheut sich 
nicht, das »Wahrheitsmoment der neueren Theologie< hinsichtlich 
der Stellung zum Kanon >unumwunden< anzuerkennen (546) und 
gegen einen orthodoxen, katholisierenden Schriftgebrauch Verwahrung 
einzulegen. 

Weniger zu entschuldigen ist es, wenn Kunze seine Gegner 
nicht ganz zu Worte kommen läßt. Es finden sich freilich überall 
in den Anmerkungen und im Texte Auseinandersetzungen besonders 
mit Kattenbusch und Harnack. Aber Kunze zitiert sie fast nur, wenn 
er sie glaubt korrigieren zu müssen. Auch führt er dem Leser nir- 
gends die Gesamtposition des Gegners vor, sodaß der Harnack oder 
Kattenbusch nicht aus eigenen Studien kennende Leser ein unzu- 
treffendes Bild von den Bemühungen und Ergebnissen dieser For- 
scher gewinnen muß. Es wird noch zu zeigen sein, daß Kunze ge 
legentlich sich sehr nahe mit Kattenbusch berührt. Er hätte an 
solchen Stellen wenigstens seine Uebereinstimmung mit ihm zum 
Ausdruck bringen können. Ein solcher Hinweis findet aber selten 
statt, und betrifft dann nur nebensächliche Punkte, nicht die Ge 
samtposition. Auch gegen Harnack sucht Kunze seine Auffassung 
möglichst scharf und pointiert abzugrenzen und verschärft dadurch 
unnötig den an sich nicht so großen Gegensatz. Jülicher wird äußerst 
selten genannt, und ebenfalls, ohne daß der Leser ein Gesamtbild 
von seiner Position gewinnt, die trotz Kunzes Bemerkung p. 314 A.1 
von der Position Kunzes nicht so verschieden ist, wie es nach Kunze 
scheint (cf. dazu p. 414. 466). Dies Verfahren Kunzes erweckt den 
Anschein, als suche Kunze geflissentlich von Kattenbusch, Harnack 
und überhaupt der »neueren Theologie< abzurücken. Dieser Ein- 
druck würde aber doch Kunze nicht gerecht. Denn K. sucht doch 
wieder — und das empfindet man besonders in den letzten Partieen 
des Buches —, dem Gegner durchaus gerecht zu werden und das 
Wahrheitsmoment seiner Position herauszuheben (cf. 382. 427. 478 A. 1. 
481. 486 A.1. 494. 546). Es ist dies die Absicht des Verfassers; 
der. gegenteilige Eindruck hätte aber wohl vermieden werden kön- 
nen, wenn Kunze die Anschauung des Gegners im Zusammenhang 
vorgeführt hätte. 

Der Druck ist gut überwacht. Die Schreibung Gruntvigianismus 
statt Grundtvigianismus beruht wohl auf einem Druckfehler (p. 496 


Kunze, Glaubensregel, Reilige Schrift und Taufbekenntnis. 855 


2.13 v. ob.); p. 309 Z.4 v. ob. findet sich die Schreibung > Cajetan«, 
Z. 6 v. ob. » Kajetan«; p. 73 Z. 5 v.u. ist ein daß ausgefallen. 

Daß der Verf. es unterlassen hat, seinem Buch einen Index 
beizufügen, ist sehr zu bedauern. Ein Index hätte den Gebrauch 
des Buches wesentlich erleichtert. Die ausführlichen Inhaltsangaben 
der einzelnen Kapitel genügen nicht. Sie geben wohl einen Ueber- 
blick über den Gedankengang, lassen aber im Stich, wenn man sich 
über des Verf. Stellung zu einzelnen Detailpunkten orientieren will. 
Auch der Umstand, daß der Verf. mehrfach dieselben Väter an ver- 
schiedenen Stellen seines Buches behandelt, hätte einen Index wün- 
schenswert gemacht. 

Es ist nun selbst in dieser Zeitschrift unmöglich, in eine ein- 
gehende, geschweige denn erschöpfende Besprechung des weitschich- 
tigen Stoffes und aller von Kunze behandelten Probleme einzutreten. 
Eine solche Besprechung müßte notwendig selbst eine umfassende 
Monographie werden. Es kommt darum natürlich vor allem darauf 
an, zur Hauptthese Kunzes Stellung zu nehmen. 

Kunze selbst weist gelegentlich sowohl darauf hin (p. 95), daß 
man sich manchesmal der richtigen, von ihm wieder vertretenen Er- 
kenntnis genähert habe, als auch darauf, daß diese Erkenntnis sich 
heute nicht ganz leicht durchsetzen werde. Denn die herrschende, 
auf Lessing zurückgehende, von Harnack in vorbildlicher Weise for- 
mulierte Meinung verbinde nur die Glaubensregel und das Symbol 
mit einander (p. 3. 15, Kunze übersieht hier Harnacks Aufsatz in 
Z. Th. K. 1894 p. 130 ff.) Die Differenzen zwischen Zahn und Harnack 
seien nicht durchgreifender Natur. Auch Kattenbusch habe den 
hergebrachten Begriff von reg. fid. nicht grundsätzlich umgestaltet, 
trotz mancher Erkenntnis, die über die bisherige Fragestellung 
hinausführen könnte (15). 

Ueberschaut man nun die Besprechungen , die Kunzes Arbeit 
erfahren hat, so ist ihr allerdings nur von einer Seite unbedingte 
Zustimmung zu teil geworden. Zöckler hat (DLZtg. 1900 p. 1136) 
sich Kunze völlig angeschlossen. Widerspruch seitens der »mehr links< 
stehenden Theologen erwartet Zöckler freilich zu hören. Diesen 
Widerspruch hat nun allerdings auch ein sehr »rechts« stehender 
Theologe erhoben (Wohlenberg, Th. L. Bl. Nr. 2. 3) und an Irenaeus 
durchzuführen versucht, freilich ohne die Bemühungen Kattenbuschs 
zu berücksichtigen. Der Rezensent des litterarischen Centralblattes 
(1900 p. 1153) fürchtet, Kunze habe umgekehrt wie seine Gegner, 
die zu sehr durch die Brille Tertullians sahen, diesen zu sehr den 
Alexandrinern genähert, die doch auch, wie er selbst sage (186), der 
Schrift wesentlich entnommen hätten, was zur Bewährung des alten 


ws Go. gf Aas. 1905. Se. LI 


Symbols getient habe. Vollends Tertaiken bebe wirkäch mit seiner 
Giaahensrege| nur das Taafbekenstam za interpretieren gemeint. 
In der theol. Latersturzeitung hat Kattesbusch, der m semem Bach 
ther das Apostolkum Kunze zur noch fückie erwähnen kusste, 
Mellang gencmmen. Man wird sich, wean man die einschlägisrs 
Ausführungen Kattenbuschs in semem großen Werke sich vergeges- 
Wartigt und namentlich an die zusammenfassenden Schintausfabrm- 
gen denkt, nicht darüber wundern, daß Kattenbesch die Teberzeugung 
ausspricht, es handle sich bei seinen und Kunzes Aufstellungen mehr 
um scheinbare, als wirkliche Gegensätze. Kunzes Bilder seien doch 
nur Verschiebungen (a.2.0. p. 10). Kattenbusch meint aber doch, 
dab es ein aut-aut in der Stellung der Kirchenvater zur regula als 
Schrift oder Symbol gebe. Man müsse regionenweise unterscheiden. 
Im Orient hätten die yoagal als xavdy gegolten, im Abendland das 
Symbol; Asia zeige eine mittlere Haltung, das et-et. 

Man kann nun thatsächlich eine weitgehende Uebereinstimmung 
Kunzes und Kattenbuschs konstatieren, die freilich Kunze zum Aus- 
druck zu bringen unterläßt. Ich denke dabei nicht an die Schluf- 
ergebnisse, die Kattenbusch II 963 f. zusammengestellt hat. Sie be- 
weisen allerdings, daß Kunze mehr als berechtigt, die Ausführungen 
Kattenbuschs im Lichte der »hergebrachten< Meinung betrachtet 
hat. Aber dieser letzte Teil des zweiten Bandes hat Kunze noch 
nicht vorgelegen. Ich beschränke mich darum auf die Kunze be- 
kannten Partieen des zweiten Bandes. Kunze kommt in seinem 
Buch p. 284 auf Nicetas von Remesiana zu sprechen. Er weist mit 
Rocht darauf hin, daß von Nicetas das Symbol nicht als eine von 
den Aposteln überlieferte Formel geschätzt werde. Er zitiert auch 
die Worte des Nicetas: »Denn aus der ganzen Schrift ist dies der 
Kürze halber gesammelt« etc. Kunze macht auch darauf aufmerk- 
sam, daß Nicetas ganz den von Cyrill eingenommenen Standpunkt 
vertrete. Wenn man nun die entsprechenden Partieen bei Katten- 
busch nachliest, findet man dieselben Gedanken ausgesprochen, zur 
ausführlicher begründet als bei Kunze. Es werden von Kattenbusch 
dieselben Worte des Nicetas zitiert; es wird ebenfalls auf die Ab- 
hängigkeit von Cyrill hingewiesen. Seine Uebereinstimmung mi 
Kattenbusch hätte doch Kunze, der so oft gegen Kattenbuch pole 
misiert, hier zum Ausdruck bringen können. Es ist ja möglich, das 
Kunze gegen Kattenbusch Stellung nimmt, wenn er die litterarische 
Abhängigkeit des Nicetas von Cyrill nur gering wertet Er dewset 
dies aber nicht an, und diese Diflereaz ist im Vergleich mit der Ceber- 
einstimmung ganz geringfügig. Noch auffalleader ist die Ucherun- 
stimmung beider Forscher hinsichtlich Cynlls. Aus catech IVs 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 857 


IVi7 schließt Kunze, daß für Cyrill das Symbol ein richtiger In- 
begriff der Schriftwahrheit gewesen sei (231). Das Symbol besitze 
»keine an sich seiende Lehrautoritat< (ib... Wenn richtender Maß- 
stab etwas einzelnes sei, dann sei es die Schrift, aber doch mit Ein- 
schluß des Taufbekenntnisses (ib.). Kattenbusch äußert sich ähnlich. 
Die Kirche habe nach Cyrill das Symbol hergestellt aus der >gan- 
zen Schrift< (II 226). Und wenn Kunze behauptet, daß bei Cyrill 
das Symbol »keine an sich seiende Lehrautorität« besitze, so lesen wir 
bei Kattenbusch, daß das Symbol in seinem. Werte (sc. als Richt- 
schnur der Lehrentwicklung) »nicht prinzipiell auf sich selbst< beruhe 
(ib.). Wenn Kunze darauf aufmerksam macht, daß nicht die Apostel 
im Symbol reden, sondern die Kirche (230 A. 1), so hat Kattenbusch 
dasselbe ausgeführt (II 10; II 226). Man hätte demnach hier, wo 
Kunze sich so nahe mit Kattenbusch berührt, wenigstens einen Hin- 
weis auf die gleichen Ausführungen Kattenbuschs erwarten dürfen. 
Die weite Uebereinstimmung beider Forscher in dieser Frage läßt 
sich leicht auch durch andere Belege nachweisen. Wenn Kunze 
sagt (236), daß Euseb von Caesarea das Taufsymbol als Schriftinhalt 
würdige, das Bekenntnis also nicht als Quelle der Lehre neben der 
Schrift in Betracht komme (237), so weist Kattenbusch darauf hin 
(II 220), daß Euseb seiner Absicht nach Schrifttheologe sei, daß er 
Marcell gegenüber nie vom xavov tijg dAndelas rede, da er sich 
offenbar mit ihm darin einig wisse, daß dies die Schrift sei. Kunze 
weist auch noch auf Marcus Eremita und Eutherius v. Tyana hin, 
auf welch’ letzteren Kattenbusch sich nicht einlassen will (II 275), 
. da Kunze sich in seinem Marcus Eremita ein Eingehen auf Euthe- 
rius vorbehalten hatte. Es ist auch überflüssig, Kattenbuschs Stellung 
zu diesen zwei Männern kennen zu lernen. Man findet ohnehin Be- 
rührungspunkte genug, und Kunze hätte es nicht nötig gehabt, dort, 
wo er von Basilius v. Caesarea spricht (237), wieder die von Katten- 
busch gegebenen Ausführungen als unbrauchbar zu bezeichnen, um 
den bei den morgenländischen Vätern vorliegenden Thatbestand zu 
erklären. Kattenbusch hat es oft genug ausgesprochen, daß die 
Morgenländer dieser Zeit das Taufbekenntnis als Schriftsumme wür- 
digten. Nicht nur, daß Kattenbusch am Schluß seiner Ausführungen 
(II 963) den Titel Glaubensregel auf die Schriften bezogen wissen 
will, und ‘erst allmählich über die Schriften als xavadyv das Symbol 
gerückt sieht (cf. auch ThLZtg. 1900 Nr. 1); Kattenbusch hat auch 
in dem Kunze vorliegenden Teile seines Werkes sich ähnlich wie 
Kunze über diesen Abschnitt der Entwicklung ausgesprochen. Grade 
im Hinblick auf Sätze des Basilius meint Kattenbusch (II 236), Ba- 
silius habe unter dem Titel xa@v&» prinzipiell wohl die Schriften ver- 


858 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


standen. Gregor v. Nyssa habe den Taufbefehl Christi als »Summe 
der Schrift und wiederum von N. in einem< betrachtet (ib. cf. Kunze 237), 
und Epiphanius nenne die Schrift xavov rüg dAndelas (II 235). Katten- 
busch beruft sich hier auf Voigt, »Eine verschollene Urkunde< etc., 
den auch Kunze vielfach zustimmend erwähnt (cf. auch Harnack 
DG?’ I 320 A. 2). Esist darum auffallend, daß Kunze so wenig sich 
bemüht, ein Gesamtbild von der Position Kattenbuschs zu geben. 
Das Maß der Uebereinstimmung zwischen Kunze und Katten- 
busch wird aber noch größer, wenn man beachtet, daß Kunze nur 
unter großen Schwierigkeiten seine eigentliche These durchführen 
kann. Kattenbusch hatte die yoapai als xavav der Orientalen hin- 
gestellt. Davon scheint sich nun doch Kunze recht zu entfernen, 
wenn er Taufbekenntnis und heil. Schrift die Glaubensregel aus- 
machen läßt. Aber diese These giebt Kunze doch hier gerade preis. 
Freilich bemüht er sich, sie festzuhalten. Er meint (p. 231), daß 
der >richtende Maßstab« Cyrills nicht das Taufbekenntnis allein sei, 
sondern wenn etwas einzelnes, dann vielmehr die Schrift, aber doch 
nicht mit Aus-, sondern Einschluß des Taufbekenntnisses (231 A. 1 ef. 
233). Thatsächlich aber fehlt es grade in diesen Partieen nicht an Aeuße- 
rungen, die die Hauptthese Kunzes hinfallig machen. Denn das 
Taufsymbol gilt ja nur als Schriftsumme, als Schriftinhalt (236), es 
ist mit seiner wesentlichen Grundlage in die Schrift gestellt (238), 
es ist keine Lehrquelle neben der Schrift, sondern aus dieser Quelle 
geschopft (237; cf.235. 263. 274): die griechische Theologie hat lange 
Zeit allein die Kanonizität der Schrift zu verwerten gewußt (286 
cf. p.186; 188.238). Ebendort (cf. 247 A. 1; p. 251) findet sich die 
Bemerkung, es dürfe aus der Thatsache, daß im Abendland sich für die 
Schriften der Titel canon eingebürgert habe, gefolgert werden, daß die 
kanonische Schätzung der Schrift aus der griechischen Theologie sich 
herschreibe, und in das Abendland von dort importiert sei. Ganz die- 
selbe Notiz finden wir bei Kattenbusch (II 398 A. 68). So muß denn 
auch Kunze darauf hinweisen, daß bei Marcus Eremita ganz wie bei 
Cyrill die Schrift im grunde allein die tragende Autorität sei. 
Das Bekenntnis habe nur abgeleiteter Weise normative Bedeutung als 
der Mond, der sein Licht von der Sonne der hl. Schrift empfange (233). 
Für Eutherius von Tyana sei die Schrift das erste und letzte (233 
A.2). Kunze muß auch später auf Isidorus von Pelusium aufmerksam 
machen (p. 250), der mit dürren Worten die Schrift, und zwar die 
Schrift allein als Glaubensregel bezeichnet (cf. Katt. II 236). Da aber 
diese Schätzung der Schrift nach auch Kunze weiter zurückgeht, läßt 
sich seine These nicht halten; er entwickelt im grunde dasselbe, wie 
Kattenbusch (cf. bes. 238f.). Hinsichtlich der folgenden Entwicklung 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 859 


im Orient wird man überhaupt nicht mehr von Differenzen reden 
können. Kunze zeigt hier in sehr klarer und überzeugender Weise, 
daß die durch N bedingte Entwicklung dazu geführt habe, daß das 
Symbol NC als das deutlichere über die Schrift rückte, und daß die 
Schrift am Symbol bewährt wurde. So sei das Bekenntnis eine »>aus 
sich gültige regula fideie geworden (260), Dasselbe behauptet Kat- 
tenbusch. Im Orient schiebe sich über die Schrift als xavov das 
Symbol (II 963. 220 ff.). 

Wie verhält es sich nun mit der abendländischen Entwicklung, 
die ja bisher nicht berücksichtigt wurde? Wenn man die zusammen- 
fassenden Sätze sich vergegenwärtigt, in welchen Kunze und Katten- 
busch zur Entwicklung im Abendland Stellung nehmen, gewinnt 
man den Eindruck einer wirklichen, nicht unerheblichen Differenz. 
Kunze meint, daß im Occident das alte Symbol allmählich an An- 
sehen gewann und selbständige Lehrautorität, also reg. fid. wurde, 
daß zwar auch die Schrift unter dem Titel canon zur reg. fid. er- 
hoben wurde, aber doch das Symbol als Norm über die Schrift 
rückte. So gelte denn, während noch Hilarius eine mittlere Haltung 
einnehme, auch für Augustin der Inhalt des Symbols als unabhängig 
von der Schrift, wenn A. auch das Symbol als Schriftsumme gewür- 
digt habe (265-—290). Kattenbusch dagegen behauptet, daß im 
Westen sich allmählich über das Symbol als regula die heil. Schrift 
schiebe (II 963). Im vierten Jahrh. sei für das Symbol eine kritische 
Zeit gekommen, sofern die Schrifttheologie des Orients in den Occi- 
dent eingedrungen sei (II 964). Man habe im Abendland jetzt ge- 
merkt, wie nötig man die Schrift habe (ThLZtg. p. 12). So sei all- 
mählich ein Rollentausch hinsichtlich der formalen Maßstäbe zwi- 
schen beiden Kirchen eingetreten (ib... Augustin habe einen rech- 
ten inneren Ausgleich zwischen Symbol- und Schriftprinzip gefunden 
(ib.; II 964). Fortab habe es seine Autorität an derjenigen der Schrift 
gehabt, die in ihm »zusammengefaßt« sei. 

Das sind allerdings Gegensätze. Im Detail fehlt es doch nicht 
an Annäherungen. Man darf auch der Ueberzeugung sein, daß 
Kunze zu etwas anderen Resultaten gekommen wäre, wenn er mehr 
den großen dogmengeschichtlichen Zusammenhängen sein Augenmerk 
zugewandt, ein lebensvolleres Gesamtbild von der Eigenart der 
großen Theologen dieser Zeit gegeben und die chronologischen Ver- 
hältnisse genauer beobachtet hätte, statt mehr statistisch die einzel- 
nen dicta der verschiedenen Väter nebeneinander zu stellen. Es ist 
ja grade das vierte Jahrh. von eminenter Bedeutung für die Ent- 
wicklung der abendländischen Theologie geworden. Seit der Mitte 
des vierten Jahrh. wandelte sich die dem Einfluß der griechischen 


860 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


Theologie und Exegese ausgesetzte abendländische Theologie er- 
heblich. Altabendländische dogmatische Vorstellungen wurden mo- 
difiziert oder mußten hineingearbeitet werden in die durch den 
Orient dem Occident aufgedrängten Probleme. Aus gelegentlichen 
Bemerkungen ersieht man, wie förmlich eine neue Welt sich dem 
Abendlande erschloß. Ein deutlicher Hinweis auf dies Hineinfluten 
morgenländischer Vorstellungen ins Abendland wäre sowohl bei Theo- 
logen wie Hilarius und Augustin, als auch Cassian und anderen 
wünschenswert gewesen. Es geschieht freilich gelegentlich. Kunze 
macht darauf aufmerksam, daß der vom Orient beeinflußte Rufin die 
Schrift reichlich in seine Symbolauslegung hereinziehe (274). Bei 
Cassian, den Kunze in seinem Marcus Eremita 181 ff. als Vertreter 
des Abendlandes behandelt hatte, findet sich die Bemerkung, daß er 
»noch nicht römisch genug« sei, um mit der Widerlegung aus dem 
Symbol sich zu begnügen (275). Wie ist aber dies Verfahren zu er- 
klären? Muß man nicht grade darauf Rücksicht nehmen, daß sich 
Cassian selbst im Orient aufgehalten hat? Grade bei den hier von 
Kunze herangezogenen Vätern, wie Hieronymus, Cassian, Rufin etc. 
ist neben der Abhängigkeit von Rom doch auch diejenige vom Orient 
in Rechnung zu stellen und demgemäß ihre Stellung zum Symbol 
zu beurteilen. Daß bei Cassian widerspruchsvolle Gedanken über 
den Ursprung des Symbols vorhanden sind, wird man mit Kunze 
annehmen müssen (267. cf. Kattenbusch IJ 14). Daß Cassian das 
Symbol als selbständige Lehrautorität neben der Schrift behandelt 
(275 cf. Katt. II 15), wird auch schwerlich jemand bestreiten. Man 
wird aber dann erst recht fragen müssen, woher die »nichtrömische« 
Methode Cassians stamme. Cassian hat ja die expositio Rufins ge- 
kannt (Katt. I 105 II 14). Rufin wiederum ist abhängig von Cyrill. 
Es ist möglich, daß er auch die explanatio des Nicetas benutzt hat 
(Zahn, NKZ. 1896 p. 105). Eine Entscheidung in dieser schwierigen 
Frage ist hier nicht nötig. Denn die Abhängigkeit Cassians, der 
selbst im Orient gelebt hat, von dem den Cyrill ausschreibenden 
Rufin ist zweifellos. So haben wir hier eine direkte Verbindung 
Cassians mit dem Orient. Es wird demnach die dem römischen Stand- 
punkt sich nicht einfügende Methode Cassians lediglich auf orienta- 
lische Einflüsse zurückgehen. Aber auch Augustin kommt in Betracht, 
von dem unten die Rede sein wird. Es wärezu wünschen gewesen, 
daß Kunze auf diese Zusammenhänge im großen und im einzelnen 
ausführlich eingegangen wäre. Die Anm. 275 A 2ist nicht ausreichend. 

Aber Cassian steht nicht mehr am Anfang dieser Entwicklung. 
Neben der griechischen Theologie wird in dieser Zeit im Abendland 
der Gedanke von der Autorität der empirischen Kirche und des rö- 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 861 


mischen Bischofs immer lebendiger, um schon im beginnenden fünften 
Jahrh. auf einen scharfen Ausdruck gebracht zu werden. Ist die 
dogmatische oder dogmatisch-polemische Methode des Abendlands 
von diesen neuen Fragestellungen betroffen worden? 

Die Frage, was denn reg. fid. sei, konnte verschieden beant- 
wortet werden. Es konnten die ins Morgenland verbannten und 
die vom Orient beeinflußten Väter auch das Schriftprinzip des Orients 
sich aneignen. Man konnte aber auch im Gegensatz zur Kirche des 
Ostens und im Zusammenhang mit den Ansprüchen Roms das alte 
Symbol urgieren. Oder man konnte es versuchen, beide Maßstäbe 
mit einander auszugleichen, oder auch zu gunsten eines dritten auf- 
zuheben. Aus den Quellen dieser Zeit merkt man nun nicht bloß, 
— und das ist wiederum für die Erkenntnis der vorhergegangenen 
Entwicklung wichtig —, daß man im Orient einen neuen Maßstab 
kennen lernte, man sieht auch, wie man diesen Maßstab anfänglich 
ignorierte. 

Ich denke zunächst an Hilarius, der nach Kunze eine Ueber- 
gangsstellung einnehmen soll (263), sofern er sich ganz der Richtung 
anschließe, nach welcher die eigentliche Norm die Schrift sei, anderer- 
seits aber auch eine bis dahin nicht gekannte Hochschätzung des 
Symbols bekunde (265). Ich halte die Darstellung Kunzes nicht für 
ganz zutreffend. Es ist unschwer, bei Hilarius eine Beeinflussung durch 
den Orient zu konstatieren. Hilarius hat auch den Schriftbeweis des 
Morgenlandes kennen gelernt und sich angeeignet (cf. Kunze 264). 
Und doch wäre es falsch, zur Beurteilung seiner theologischen Hal- 
tung bloß Maßstäbe anzulegen, die ihm im Orient nahe getreten 
sind. Denn daß ihm die spekulativen Probleme des Morgenlandes 
nie recht vertraut geworden sind, wenn er auch im Orient korrekter 
über die Trinität denken lernte, läßt sich unschwer zeigen. Auch 
in seiner Christologie zeigt er abendländische Gedankenreihen. So 
hat er denn auch dem Schriftbeweis der Orientalen kein rechtes Ver- 
trauen entgegengebracht. Es ist ja selbstverständlich, daß die Schrift 
Autorität besitzt. Aber ist sie regula? Nach dem Vorgang der 
Mauriner hat man im Hinblick auf ad Const. I 3 das Symbol für 
die regula des Hilarius erklärt; so noch Kattenbusch (II 380). Hil. re- 
det hier von einer apostolorum regula, um welche die Arianer sich 
nicht kümmerten. Kunze hält es für falsch, hier an das Symbol zu 
denken. Denn wenn Hil. sage: non cessant ore impio et sacrilego 
animo evangeliorum sinceritatem corrumpere, et rectum apostolorum re- 
gulam depravare, divinos prophetas non intelligunt, so könne auch das 
mittlere Glied nur heilige Schriften, nämlich die der Apostel, be- 
zeichnen. Kunze führt zum Erweise der Richtigkeit dieser Auslegung 


862 Gött. gel. Anz. 1%1. Nr. 11 


andere Worte des Hilarius an, in welchen Gesetz und Propheten, Evan- 
gelium und Apostel neben einander gestellt werden (264 A 1). Diese 
Parallelen beweisen nun freilich, daß Hil. das ganze N. T. unter dem 
Begriff »Evangelium und Apostel< zusammengefaßt hat. Mehr können 
sie aber auch nicht beweisen, und diese Zusammenstellung selbst ist 
eine ganz gewöhnliche. Es wäre aber auch nichts ungewöhnliches, 
wenn Hilarius mit dem einfachen Begriff evangeliorum in der oben zi- 
tierten Stelle das ganze N.T. gemeint hatte. Denn auffallend bleibt 
immer, daß er dort nicht von den apostoli spricht, sondern von der 
regula apostolorum. Grade dieser Ausdruck fehlt in den von Kunze 
beigebrachten Parallelen. Kunze hätte vielleicht zur Rechtfertigung 
seiner Auffassung auf ad Const. [7 aufmerksam machen können, wo 
Hilarius schreibt, fide: doctrina praeceptis evangelicis et apostolicis eluceat. 
Mit diesen Worten will er aber nicht die Schrift als regula hin- 
stellen. Der Konjunktiv zeigt vielmehr an, daß es sich nicht um 
eine allgemein anerkannte, in ihrer Verwendung unbedingt zuver- 
lissige Norm handelt. Hil. giebt hier nur eine besondere Anwei- 
sung, der zufolge in Glaubenssachen auch die Schrift herangezogen 
werden möge. Dann wäre aber der Rückschluß berechtigt, daß die 
eigentliche regula das Symbol sei. Freilich könnte es auffallend er- 
scheinen, — und das ist ja auch Kunzes eigentliches Argument —, 
daß Hil. in dem oben angeführten Satze zwischen das N. und A.T. 
das Symbol stellt, worauf Katt. nicht achtet. Es ist aber andererseits 
doch nicht ein ganz vorsichtiges Verfahren, wenn man auf Grund dieser 
Wortstellung die Deutung ablehnt, daß die regula hier das Symbol be- 
zeichne. Denn nichts berechtigt zu der Annahme, daß Hil. eine feste Rei- 
henfolge inne halten mußte. Selbst wenn man Kunzes Deutung der stritti- 
gen Worte sich aneignete, wäre es immer noch auffallend, daß das A.T. 
nach dem N.T. genannt wird. Es müßte dann aber auch noch er- 
klärt werden, warum die Schriften der Apostel unter den Begriff 
regula gestellt werden, die Evangelien dagegen nicht. Man kann 
darum nicht mit so unbedingter Sicherheit, wie es seitens Kunze 
geschieht, die schon von den Maurinern gegebene Deutung ablehnen. 
Wenn man nicht bereits auf grund des Gesagten sich für diese Deu- 
tung entscheiden will, bleibt höchstens ein non liquet übrig. Für 
die Deutung der Mauriner lassen sich aber nun noch die Worte I6 
anführen, mit welchen Hil. des Taufbekenntnisses gedenkt : non pos- 
sum nisi ... profitentem signare. Simplicitate quuerendus est (sc. 
Deus), confessione discendus est. Vergleicht man damit, dab 
Hil. I 3 von den Arianern sagt, daß sie simplices ... sub prac 
textu nominis Christiani raptos zu Mitschuldigen ihrer 
Häresie machen, so fällt offenbar auf das Symbol der Hauptton. 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 868 


Man wird dann weiter annehmen dürfen, daß Hil. mit gutem Grund 
von der apostolorum regula gesprochen hat, mit welcher er demnach 
an das Symbol gedacht hat. So scheint doch der ganze Zusammen- 
hang dieser Schrift die Deutung der Mauriner zu fordern. Aus den 
späteren Schriften gewinnt man vollends den Eindruck, daß Hil. als 
regula -nicht die Schrift betrachtet wissen will, daß er vielmehr letzt- 
lich sich am Symbol orientiert. Es wird durch die in diesen Schrif- 
ten sich findenden Aeußerungen auch die oben gegebene Deutung 
von ad Const. I 3 als die richtige wahrscheinlich gemacht. Kunze 
meint allerdings (266), daß Hil., wenn er von der fides apostolica 
rede, doch wiederum als synonym andere Ausdrücke gebrauche, 
welche die Abhängigkeit des Symbols von der Schrift bezeugen (und 
der Taufformel). Er denkt an Ausdrücke, wie: fides evangelica, 
fides evangeliorum. Kunze zieht aber aus diesen Formulierungen zu 
weit gehende Schlüsse. Denn die Begriffe fides apostolica und evan- 
gelica sind nicht derartig gegen einander abgegrenzt, daß der erste 
die Abhängigkeit vom Symbol, der letztere die Abhängigkeit von 
der Schrift deutlich mache. Kunze hätte zunächst nicht die Tauf- 
formel in Parenthese setzen dürfen. Denn mit der evangelica fides 
hat Hilarius, was auch Kunze nicht bestreitet, grade die Taufformel 
bezeichnet. Erklärt er doch gradezu de Trin. II 5 die Taufformel 
für die forma fidei certa. Nun aber korrespondieren nicht Tauf- 
formel und Schrift, sondern Taufformel und Symbol. Das gilt über- 
haupt für jene Zeit. Hat man doch sogar im Abendland den Be- 
griff Evangelium auf das Symbol angewendet. In der praefatio zum 
Gelasianum (ed Wilson p. 53) hören wir vom evangelici sym- 
bolt sacramentum a Domino inspiratum. In der exhortatio ad neo- 
phytos de symbolo, die, mag auch die Verfasserfrage nicht sicher zu 
entscheiden sein, doch ohne Zweifel dem Abendland (cf. die neueste 
Arbeit von Künstle: eine Bibliothek der Symbole etc. Mainz 1900 
p. 65f.) und höchst wahrscheinlich der uns hier interessierenden Zeit 
angehört, gilt das Symbol als. das salutiferae signaculum fides 
(Caspari, Ungedruckte etc. Quellen II Christiania 1869 p. 133. Cf. 
Caspari ib. p. 50 in der explanatio symboli ad initiandos: quod sym- 
bolum est spiritale signaculum, cordis nostri meditatio), ja als das 
verbum evangelicae praedicationis (Caspari a.a.O. p. 133). Es ist 
demnach im Abendland damals mit dem Symbol nicht bloß das Prä- 
dikat »apostolisch<, sondern auch das Prädikat »evangelisch« ver- 
bunden gewesen. Dann kann man aber den Begriff evangelica fides 
nicht mehr im Sinne Kunzes verwerten. Diese Bezeichnung des 
Symbols hat es natürlich späterhin, als die Schrift zur Lehrquelle 
wurde, erleichtert, das Symbol als Summe des Schriftganzen aufzu- 


864 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


fassen (Cassian, Augustin u.a.). Das ist aber noch nicht der Fall. 
Denn in der eben genannten exhortatio kommt das Symbol als 
doctrina und regula fidei in Betracht. Wir haben hier die abend- 
ländische Antithese zu Isidor von Pelusium. 

(Schluß folgt im nächsten Hefte.) 


Kiel, September 1901. O. Scheel. 


Tr) 


Thiele, E., Luthers Sprichwörtersammlung. Nach seiner Handschrift 
zum ersten Male herausgegeben und mit Anmerkungen versehen. Weimar, 
Böhlaus Nachfolger. 1900. XXII und 448 Ss. Preis 10 Mark. 


Es ist ein Verdienst J. Köstlins, zuerst auf eine in Luthers 
Handschrift vorhandene Sammlung von Sprichwörtern aufmerksam 
gemacht zu haben, die sich in der Familie Lingke fortgeerbt hatte. 
Er hatte sie gesehen, ehe er noch daran dachte, seine Lutherbio- 
graphie zu schreiben, und als sie ihm wichtig wurde, war nur noch 
festzustellen, daß sie von einem Breslauer Antiquar an einen solchen 
in Cambridge gekommen war. Erneute Nachforschungen lieferten im 
Jahre 1889 das Resultat, daß die Handschrift von der Bodleiana in 
Oxford erworben worden war. Eine im Interesse der Veröffent- 
lichung in der Weimarer Lutherausgabe hergestellte, aber nach den 
Mitteilungen des Herausgebers wenig gelungene Photographie konnte 
nicht genügen, erst unter Zusammenhalt mit einer von dem Germa- 
nisten Sievers genommenen Abschrift war es möglich, mit einiger 
Sicherheit den Text wiederzugeben. 

Jedermann wird dankbar dafür sein, daß man mit der Heraus- 
gabe der wichtigen Handschrift nicht so lange gewartet hat, bis 
sie in der Lutherausgabe erscheinen konnte, noch mehr aber dafür, 
daß der Herausgeber sich nicht darauf beschränkt hat, einfach den 
ihm vorliegenden Text, es sind nur 489 Sprüchwörter oder Redens- 
arten, gewissenhaft abzudrucken, sondern durch reiche Commentation 
verständlich zu machen. So ist auf Grund jahrelanger, mühesamer 
Forschungsarbeit, der man überall nicht nur die besondere Be- 
fähigung des Autors zu dieser Arbeit, sondern auch die nur aus der 
Sachkunde hervorgehende Freude an ihr anmerkt, ein Werk ent- 
standen, welches in der Lutherforschung stets einen Ehrenplatz ein- 
nehmen und gewiß auch von den Philologen als Grundlage für wei- 
tere Forschungen auf diesem Gebiete und ebenso von den Cultur- 
historikern warm begrüßt werden wird. Der Gang, den der Heraus- 
geber einschlägt, ist der, daß er nach verhältnismäßig kurzer Be- 


Thiele, Luthers Sprichwörtersammlung. 865 


handlung der einleitenden Fragen auf S. 1—24 den Text abdruckt 
und dann unter Wiederholung der einzelnen Sprichwörter auf S. 25 
—422 zu jedem einzelnen unter Beibringung von gleichlautenden 
Aussprüchen bei Luther und Andern und Varianten, die zur Fest- 
stellung des Sinnes dienen können, seine Erklärung giebt, worauf 
dann sehr beachtenswerte Nachträge und Berichtigungen und was 
besonders dankenswert ist, ein genaues Wortregister folgen. 

Eine Hauptfrage für den Lutherforscher wird immer die sein, 
wann und zu welchem Zweck hat Luther diese unvollendet gebliebene 
Sammlung angelegt? Da in der Handschrift selbst bestimmte An- 
haltspunkte nicht vorliegen, in Luthers Werken, in der zeitgenössi- 
schen Litteratur, Briefen, Tischreden etc. bis jetzt ein Hinweis dar- 
auf sich nicht gefunden hat, können die beiden Fragen zur Zeit mit 
Sicherheit nicht beantwortet werden. Immerhin hat der Heraus- 
geber einige nicht von der Hand zu weisende Vermutungen ausge- 
sprochen. Erstens wird man ihm beistimmen müssen, daß nach der 
Anmerkung zu Nr. 219 Luther, als er dies schrieb, schon die Er- 
fahrungen des Bauernkriegs hinter sich hatte. Zweitens — und da- 
mit verbindet sich schon die Antwort auf die Frage nach dem 
Zwecke —, verweist der Verf. darauf, daß Luther in der Vorrede zu 
seinen Fabeln (deren ebenfalls von Thiele herrührende Ausgabe in 
Niemeyers Neudrucken Nr. 76 S.1), wo er als Zweck seines Deutschen 
Aesops, die Absicht den bisherigen schlechten Deutschen Aesop zu 
verdrängen hinstellt, zugleich den Wunsch ausspricht, auch die 
‚Sprüche so bei vns im brauch sind«, zu sammeln und ordentlich in 
ein Buch zu fassen. Daraus und weil Luther mit der damals schon 
vorhandenen Sprichwörtersammlung des Agrikola — die Seb. Franks, 
die er noch schärfer verurteilte, erschien erst 1542 — sehr wenig 
zufrieden war (vgl S. XVII), ist Thiele zu schließen geneigt, daß 
Luthers Sammlung den gleichen Zweck gehabt hat, nämlich »die- 
jenigen Sammlungen, die seine Unzufriedenheit erregt hatten, durch 
eine bessere zu ersetzen« (S. XVII), und daß ihre Entstehungszeit 
— ich möchte lieber sagen — ihr Beginn schon in das Jahr 1530 
gleich hinter die der Fabeln zu setzen wäre. Das ist eine an- 
sprechende Vermutung, und soweit könnte ich beistimmen. Aber 
Thiele geht, ohne ein abschließendes Urteil aussprechen zu wollen, 
noch weiter. Indem er dafür eine Bemerkung aus Luthers Vorrede 
zu den Fabeln 8. 1 heranzieht, sagt er S. XVIII: »Sieht man nun, 
wie er in seiner Bearbeitung statt der üblichen Moral jeder Fabel 
eine Reihe von Sprichwörtern anhängt, so scheint es, als habe er 
beides vereinigen wollen. Hierzu war aber eine eigene Sammlung 
dieser letzteren ihm unentbehrlich«, und weiter unten: »Ferner sind 

Goth. gel. Ans, 1901. Nr. 11, 67 


v 


use zasır krise som Kerinuzarea tree ft BI REN ees. 
zur Murau zu warten wactnes. om m Onn. Fagen Beret I we- 
tens, wad er schlicht mat der Vermatang. sul »Leummı DE ENGE 
Sammlung nur einen Secheazweck, em spiter I De Fun dır- 
sendung zu haden<, veriAgt hate. 

Las scheint mir schwerlich richtig zu sem Leer Greer 
wird zu seiner Hepthese wesentlich durch dra Bestectcoen «r- 
anlaft: 1. dab Lather, wie gesagt, m semen Fate scam oo Wr 
ral Sprichwörter beifügt und eine Sasmmblaxg ta Fasun um Som- 
wirtern wünschte, 2. durch die sehr richtige. iesoer tem Heras: 
geier nicht weiter verfulgte Beobachtung. dab m Laciers Sammer 
das Bestreben, Gruppen zu bilden, zu bemerken ist. umd 3. aus a 
den Sprichwortern durch Randbemerkungen andere ak die gesiar- 
liche Deutung zu geben sucht. Was nun diese Ramibemerkzzga 
‚anlangt, ws fallen sie, so weit ich sehe in zwei Gruppen, ers 
s‚iche, die eine Erklärung, die Luther zum Teil im Gegensatz m 
der Auflassung anderer (z.B. Nr. 41 ff. u 73fL, gefunden zu habe 
meinte, festlegen sollte, und zweitens solche, die er später vem 
Wiederlesen hinzusetzte, und die der Ausdruck seiner augenblick- 
lichen Stimmung sind, und darin wird der Herausgeber, wie ich 
wiederhole, recht haben, dab man demnach schließen darf, daß Luther 
mit seiner Sammlung resp. Erklärung anderen entgegentreten wollte. 
Aber es frägt sich doch, ob die mehr gegen Mitte und Ende als am 
Anfang zu beobachtende Gruppenbildung, also das Hervorstechen des 
Jehrhaften Interesses, schon das Recht zu der Annahme giebt, Luther 
habe diese Sammlung nur zur Verwendung bei den Fabeln ange 
stellt. (sanz abgeschen davon, daß Luther bei aller Derbheit, die 
ja auch in den Fabeln zum Ausdruck kommt, eine ganze Reihe der 
von ihm gesammelten Sprichwörter schwerlich in einem Fabelbuche 
gebraucht haben würde, bei andern sich kaum denken läßt, wie sie 
eine solche Verwendung finden konnten (vgl. für Beides z.B. Nr. 68. 
69. 184. 186. 205. 267. 290. 295. 337. 388. 397. 398. 420. 425. 
426. (428). 431. 432. 445. 448), scheint mir der Herausgeber eine 
Frage nicht genügend gewürdigt zu haben. Woher diese kleine Zahl 
von Sprichwortern, während Luther so unendlich viele zu Gebote 
stunden, giebt doch ein einziger Band seiner Vorlesungen in den 
unmittelbaren Nachschriften, wie wir sie jetzt wieder haben, z.B. im 
XX. Bde. der Weimarer Ausgabe, eine Fülle von Ergänzungen? Die 
Thatsache, daß wir es mit einem Fragment zu thun haben, giebt 
keine genügende Erklärung. Noch weniger kann man sagen, wie 
der Herausgeber anzunehmen scheint, daß eben das lehrhafte Inter- 
esse gerade diese Auswahl bedingt hat. Hätte Luther seine Samm- 


Thiele, Luthers Sprichwörtersammlung. 867 


lung behufs Verwendung in den Fabeln angelegt, dann dürfte man 
eine Zusammenstellung gerade der landläufigsten Redensarten er- 
warten. Warum fehlen S. 60 zu Nr. 33 die vom Herausgeber mit 
aufgeführten, Luther so lieben und vertrauten Redensarten? Wer 
diese Sprichwörter hinter einander liest, muß m. E. den Eindruck 
gewinnen, daß neben einzelnen ganz geläufigen, doch die meisten 
seltene und ungewöhnliche, oft gar nicht volksmäßig gebildete, son- 
dern reflectierende Sprechweise aufweisende Auslassungen sind. 
Warum hat nun Luther aus den vielen ihm nach seinen Schriften zu 
Gebote stehenden gerade diese gewählt, für die Parallelstellen oft 
weder bei ihm manchmal auch nicht bei andern zu finden sind? 
Wohl deshalb, weil sie ihm selber ungewöhnlich, bemerkenswert, der 
Erklärung oder gegenüber andern einer richtigen Erklärung bedürf- 
tig schienen; aber wie die Randbemerkungen ergeben wird er sie 
schwerlich nur für sich gesammelt haben, und wenn er zur Ver- 
öffentlichung der längst nicht abgeschlossenen Sammlung gekommen 
wäre, würde er wohl zu mindesten kurze erklärende Bemerkungen 
hinzugefügt haben. Auch das sind alles Vermutungen, aber sie 
scheinen mir die Zusammensetzung der Sammlung am besten zu er- 
klären. 

Die Commentierung muß, obwohl eine Vollständigkeit der Pa- 
rallelen nicht einmal bei Luther, geschweige aus der zeitgenössischen 
Litteratur, weder beabsichtigt noch möglich war, als eine ganz vor- 
treffliche und sorgfältige bezeichnet werden, aus der nicht nur der 
Lutherforscher, sondern auch der Sprachforscher Manches lernen 
kann. Das schließt natürlich nicht aus, daß man über Manches anderer 
Meinung sein kann und wird. Da ich bezüglich der Sprichwörter- 
litteratur nicht als Fachmann sprechen darf, und noch weniger, wo 
es sich um rein sprachliche Fragen handelt, muß ich mich auf einige 
Bemerkungen bzw. Ergänzungen beschränken. 

Bei Nr. 1 » Art gehet vber Kunst« halte ich die Variante » Art 
läßt nicht von Art« für unzutreffend. Nicht umsonst steht der > Art« 
die Kunst gegenüber, oder ist es zu modern, »Aunst< im eigentlichen 
Sinn und dann Art im Sinn von »ingenium«, Talent, zu fassen? — 
Zu Nr.7 vgl. W. A. XX, 613 je klüger, je thörichter. — Vortrefllich 
sind die Bemerkungen zu Nr. 12 S. 37, nur könnte man zweifeln, 
ob Luther bei dem Reim Kaiser Friedrichs und dem kaiserlichen 
Reim wirklich an die in der Zimmernschen Chronik 3, 484, 14 be- 
richtete Bemerkung Maximilians zu diesem Reim denkt oder nicht 
vielmehr an einen der Tradition nach von einem Kaiser Friedrich 
herrührenden Spruch. Der Reim ist in Nürnberg nicht mehr zu 
lesen, auch hat sich weder in der die Stadt betreffenden Litteratur, 

67 * 


Shae o VEN ) 


868 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


so weit meine Kunde reicht, noch in der Tradition eine Erinnerung 
daran erhalten. Immerhin wird es darauf zurückzuführen sein, dab 
die Redensart »den Reim auslöschen«e sich noch in Haussprüchen 
in Mittelfranken erhalten hat. Als Belege dafür führe ich folgende 
von Dr. Heerwagen in Nürnberg gesammelte Haussprüche an, die 
ich durch gütige Vermittelung des Herrn Archivrat Dr. Mummenhof 
erhalten habe. 


Gottes Gnad’, ein g’sunder Leib 
Ein gutes Bett, ein schönes Weib, 
Tausend Dukaten in der Not, 
Fröhlich Urstand nach dem Tod, 
Wer die sechs Glück beisammen hat, 
Der komm und lösch den Reimen ab. 
(Röckingen, Mittelfranken.) 


Wer kein Sorg und Leiden hat, 
Der lösch mir diesen Reimen ab. 
(Bauernhaus bei Uffenheim.) 


Kreuz und Leiden, 
Das schreib ich mit der Kreiden, 
Wer kein Kreuz und Leiden hat, 
Der wisch mir diesen Reimen ab. 
(Ostheim, Mittelfranken.) 


Bei der Erklärung von »sfar< Nr. 15 halte ich die Auffassung des 
Herausgebers gegenüber der von Pietsch für die einzig mögliche. 
Zu Nr. 29 verweise ich noch auf Weim. A. XIX: » Nun sol keine ein- 
zeln personen sich widder die gemeine setzen noch die gemeine an sich 
hengen, denn sie hewet damit ynn die höhe, so werden yhn die spnn 
gewislich ynn die Augen fallen«. Vielleicht kann man bei Nr. 17 
»Er reit«< denken an die bei Jud. Nazarei (Neudr. 142, S. 52) sich 
findende R. A. denken » Walt der Ititt<, (vgl. das walt die Sucht) vgl. 
die S. 190 zu 186 citierte Stelle aus Luther E. A. 23, 222. Eine 
Parallele zu Nr. 18 » Auf den Esel setsen« könnte die mir nicht 
ganz klare R.A. »den Esel mit den Fingern bieten< sein. Vgl 
Förstemann, Reformationsurkunden. Hamburg 1842 S. 156: »Do der 
Legat zu Augspurgk eingeritten sey, habe er Creug vnd segen vber 
das Volgk gethan, haben Im ettlich den essel mit den fingern gepoten«. 
Das könnte soviel sein als >eine lange Nase machen< und würde 
dann in die Kategorie der verächtlichen Bewegungen gehören wie 
‚eine Feige machen«, vgl. unten zu Nr. 290. Bei Nr. 36 scheint 
mir nur Erl. A. 36, 127 eine passende Parallelstelle zu sein. Zu 


Thiele, Luthers Sprichwörtersammlung. 869 


Nr. 37. »Ein man kein mane möchte ich noch erinnern an den 
Spruch über der Thür zum Rathausgänglein im Rathaussaale in 
Nürnberg » Eins manns red ist eine halbe red, man soll die teyl ver- 
hören bed«, dessen Vorhandensein schon zur Zeit des Markgrafen 
Albrecht Achilles bezeugt ist. Vgl. Mummenhoff, Das Rathaus in 
Nürnberg. Nürnberg 1891 S. 37. — Bei Nr. 38 »Einem zu enge« 
etc., wofür Luther an der S. 64 angeführten Stelle in den Tisch- 
reden eine besondere Anwendung bringt, könnte man auch an die 
allgemeinere Fassung denken, die Lessing in seinem Nachlaß (K. G. 
Lessing, Lessings Leben, Berlin 1795 III, 238 aus Seb. Franck ver- 
zeichnet: > Zu wenig und zu viel verderbt das Spiel«. 

Mit Recht wird zu Nr. 49 an Luthers Wappen erinnert, aber 
der Herausgeber hat übersehen, daß Luther schon vor dem Jahre 
1520, worauf ich bereits in meinem Luther II, 351 aufmerksam ge- 
macht habe, das Wappen mit der Rose geführt haben muß, da es 
sich schon in der Erfurter Matrikel beim Antritt des Rektorates 
des Joh. Crotus (vergl. Weißenborn II, 317) findet. Danach war da- 
mals freilich die Grundfarbe anders als später. Vgl. auch eine Be- 
merkung bei Osiander eine mündliche Weissagung von dem Papst- 
umb 1527 Bog. C tj: »Damit man aber sehe, wer der münch 
sey, so stehet er da, ynn seiner Kleyduny ond hat die rosen in der 
hand, ich meyn ia es sei der Luther«. Die Rose hat dieselbe Form 
wie in Luthers Wappen, aber natürlich ohne Kreuz. Sonst ist noch 
zu vergleichen Knaake, Luthers Wappen, Ztschr. f. kirchliche Wissen- 
schaft 1880 S. 52ff. Bei der Erzählung von der Häresie des Arius 
sagt Judas Nazaraei (Neudrucke 142. 143 S. 13): »do wattet der ult 
Leviathan in rosen«. 

Nr. 67 ist ein altes lateinisches Sprichwort, vgl. Otto, Sprich- 
wörter der Römer S. 93. Wenn Luther zu 74 »Wers kan dem 
kompts« die Randbemerkung macht perversa omnia a diabolo, meinte 
er wohl eine obscöne Deutung des Sprichworts. Zu Nr. 78: »Zeug 
macht meister< könnte man heranziehen: »Das werck wirdt den 
Meyster beweren« Cochlaeus (Vogelsang) Neudruck, Nr. 174 S. 12. 
Zu Nr. 79 bemerke ich, daß die Vorstellung, daß der Teufel schwarz 
ist, wohl im Gegesatz zum Engel des Lichts (2. Cor. 11, 14), alt ist. 
Vielleicht findet, sie sich zuerst in der christlichen Litteratur bei 
Pseudobarnabas 4,9: &s woeneı vlois Heod dvriorausv, tva un oxi 
zageloövoıv 6 wédag. vgl. XX,1: 4 08 rod wedavog Öbog xrd. — 

Was den schon von Luther in den Fabeln herangezogenen 
Dr. Megenhofer (vgl. Nr. 80) anlangt, kann ich teilweise auf Grund 
freundlicher Mitteilung von Dr. G. Bauch nachtragen, daß er aus Leipzig 
stammte (vgl. Leipziger Matrikel ed. Erler II, 37), in Leipzig 1504 


870 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 11. 


als Dr. utriusque iuris, Professor und Canonicus Nunburgensis er- 
scheint, mit Hermann von dem Busche befreundet war, (Buschius 
epigrammatum liber III), 1508 Nachfolger Friedrich von Kitschers 
Stiftspropst und Ordinarius iuris canon. in Wittenberg, nach den 
Statuten von 1508 zu den Reformatoren der Universität gehörte, im 
Wintersemester Dekan der Juristenfakultät war, aber bald Christoph 
Scheurl als Vicedekan substituierte. Ein Brief Scheurls an ihn vom 
20. April 1508 in den Neuen Mitteilungen des Thüring. sächs. Altertums- 
vereins XIX, 408, endlich erwähnt ihn Scheurl als verstorben in einem 
Briefe vom 27. Juni 1510 in Scheurls Briefbuch I, 60. — » Es regne 
aus, so wirds schon wetter«, Nr. 81, ist offenbar nichts weiter als das 
alte nubilo serena succedunt (Plin.) uud das noch gebräuchlichere 
Post nubila Phoebus. Bei 110 ist die Redensart bei Dietz I, 117, 
für welche dieser die richtige Erklärung giebt, m. E. nicht heranzu- 
ziehen. Zu Nr. 124 u. 125 weiß ich leider auch keine Erklärung 
zu geben. Einen Augenblick dachte ich daran, daß vielleicht der 
dem H. Göden zugeschriebene Spruch Lex sine executione est velut 
campana sine pistillo (Th. Kolde, der Kanzler Brück, Gotha 1874 
S. 6, vgl. Otto, röm. Sprichwörter unter pistillum: Acumen omm 
pistillo retusius, stumpfer als eine Mörserkeule) herangezogen werden 
könnte, aber es wird dadurch auch nicht viel gewonnen. > Rädlem- 
treiben« Nr. 126 heißt nichts weiter als die treibende Kraft, der 
Anführer sein, und Nr. 131 schwerlich etwas anderes, als in schalkhafter 
Weise vorgeben, daß man etwas thäte, mit dem Schalksberger Wein 
bei Würzburg hat die von Luther entlehnte Redensart nichts zu 
thun. An Nr. 138 erinnert: »Ad Calendas Graecas, wenns Säu 
regnet« bei dem Augsburger Prediger Michael Keller in seinen Ser- 
monen vom Nachtmahl, vgl. F. Roth, Augsburgs Reformationsge- 
schichte, München 1901, S. 133, und bei Nr. 132 halte ich die Erklä- 
rung Wanders für die richtige. Daß Federlesen Nr. 140 bei Luther 
auch in anderm Sinne vorkommt (vgl. W. A. 19, 326), habe ich Gött. 
gel. Anz. 1901 S. 717 nachgewiesen. Zu 177 vgl. Eberlin, X. Bundes- 
genosse (Neudruck Bd. 1, 107) auf dem Titel: » Wann man annam 
disz reformate, So gschweigt man mancher kloster katz, Die vornen 
läckt ond hinden kratzt.« — Zu Nr. 184 vgl. Cochlaeus (Vogelsang), 
der im Heimlichen Gespräch (Neudrucke 177, S. 35) Melanchthons 
Frau sagen läßt: »O der omechtigen pälge, der stinckenden Münch 
end pfaffen hurn wie halten sie so hock unnd vil von ynen selbst, Ich 
allein hab mit Got und mit ehren eynen rechten Eheman, under ihnen 
allen, und die hoffertige Schlepseck haltenn mich für die aller ge- 
ringsten under yhnen«. — Die Erklärung Wanders zu 217 ist zu 
weit hergeholt; jemand der nicht einmal den Hund vom Ofen locken 


Thiele, Luthers Sprichwértersammlung. 871 


kann, ist ein solcher, der auch das Gewöhnlichste nicht versteht. 
Zu Nr. 137, das im 16. Jahrh. noch nicht so gebräuchlich gewesen 
zu sein scheint als heutzutage, kann ich eine Parallele aufweisen aus 
Simon Haferitz, Ein Serms / vom Fest der heili- /gen drey Konig / ge- 
prediget / durch / Simonem /Haferitz zu Alstet (M.D.XXLL. Blatt 
fiij: »Dan es ist ie war das die großen Hause in der Christenheit 
wolten alle gern Christum anbetten, das ist alle gern gute Christen 
sein, wan es yren ehren, gewalt, vnd reichtumb nicht eu nah were. 
Sie wissen wol, wo ste der schuch drugket<, hier also, wo sie am em- 
pfindlichsten sind. — Zu Nr. 258: Teufelsbraten hat damit nichts 
zu thun. — Bei Nr. 287 scheint mir die persönliche Bemerkung des 
Herausgebers zum richtigen Verständnis zu führen. — Es ist richtig, 
daß Luther »die Feigen weisen«, im Sinne höhnischer, verächtlicher 
Abweisung gebraucht, wie Nr. 290, aber die Redensart hat ursprüng- 
lich, eine obscöne Bedeutung cf. Dietz 1,645, im mittelalterlichen 
Latein facere ficam, nach dem italienischen fave la fica (fica = 
cunnus). Vgl. auch Eberlin im 1. Bundesgenossen Neudrucke I 
S. 7. Dazu die Anm. S. 209. Bei der Redensart: Ein pflocklin da- 
fursteeken (Nr. 313) spielen bei Luther zwei verschiedene Vorstel- 
lungen mit, einmal denkt er an das Bild von der Armbrust, wie der 
Herausgeber richtig bemerkt, sodann aber an Pflock im Sinne von 
Zaum, den man dem Tier ins Maul legt, wie aus den angeführten 
Beispielen deutlich hervorgeht besonders E. A. 32,25. und De Wette 
V,34. Zur Redensart selbst noch die Parallele W. A. 19, 278, 29. 
Vgl. auch den Nachtrag des Herausgebers S. 428. Als ganz besonders 
wertvollmuß die Erklärung von Nr. 381, Habersack singen, hervorge- 
hoben werden. Klaiber wird aber darin recht haben, dass die 
Redensart ; »die singen unserm H.G. von einem Strohsach< den Gegen- 
satz dazu bildet. Auch hier wird man an einen volkstümlichen Vers 
zu denken haben, vgl. »Axum strosack< bei Judas Nazarei, vom 
alten und neuen Gott Neudrucke Nr. 142. 143. S. 43 und dazu die 
Erläuterungen auf S. 124. — Zu »Kappe schneiden« Nr. 392 vgl. 
»Kappe kaufen« in dem Widmungsbrief zur Schrift an den Adel 
W. A. 6,404: gelingt mir nit, seo hab ich doch ein vorteil, darff mir 
niemant eine kappen kauffen, noch den kamp bescheren. Nr. 435 be- 
darf noch genügender Erklärung, mit »K6ten spielen« hat es sicher- 
lich nichts zu thun. Zu Nr. 438 »er hat yhn hinder den ohren« 
möchte ich an Jesus Sirach 19, 24 erinnern : »Er schläget die Augen 
nieder und horchet mit Schalksohrenc. Zu Nr. 449 kann ich eine 
Parallele beibringen. In einem noch ungedruckten Briefe des Augs- 
burger Humanisten Pinicianus (Einiges Wenige über ihn bei Cohrs, 
die ev. Katechismusversuche. Bd. III, 416ff) an Althamer vom 


872 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


5. August 1525 weist der Briefsteller das ihm von jenem gespendete 
übergroße Lob zurück und fährt fort: Tutius futsset cum mea do- 
ctrina, quae non magna est, latitasse, quam cum pudore in doctorum 
corona apparere. Pauci admodum vivunt, qui Clementissimum Cae- 
sarem Maximilianum in Aeniponte secreta mansione asınum coronare 
viderunt. Sed parum refert. Mihi non secus accidit quam nostn 
saeculi novis hominibus (ut Cicero vocat) nobilibus et equitrbns aura- 
tis nullis sive egregie militaribus factis nobilitatis et evectis. De quibus 
ex nostris quidam dicterium non infacetum deprompsit, sic tnciptens. 


Ain Ritter an mie, In indocto pariter nthil perit poea 
Kalbfleisch in einer gelben prie quam ab arbore virens direpta 
Ist nichs dran verloren Et duo illa coronantis verba: sis 


Dan Saffran und messin sporn. fatuus (vates dicere volui). 

Darin ist die Erklärung gegeben. Wer war wohl der quidam 
ex nostris, von dem der Vers herrührt, und läßt sich die Geschichte 
von dem [in] secreta mansione (heimliches Gemach ?) gekrönten Esel. 
die wohl in Maximilians Jugendzeit fallen wird, noch sonst nach- 
- weisen ? Ich habe darüber nichts finden können. — Zu Nr. 468 
vgl. noch W. A. 19, 326, 11: »mit der Wahrheit unter die Banck«. 

Wenn es auch nur weniges ist, was ich beifügen konnte, so wird 
der Herausgeber doch daraus entnehmen können, mit welchem leb- 
haften Interesse ich seine schöne Arbeit studiert habe. Sie ver- 
anlaßt mich zu dem Wunsche, daß er uns eine vollständige Samm- 
lung aller bei Luther vorkommenden Sprichwörter schenken möchte. 


Erlangen, 1. Nov. 1901. D. Th. Kolde. 





Monod, &., Etudes critiques sur les sources de Phistoire caro 
lingienne. Premiére partie. Introduction. Les Annales Carolingiennes. Pre- 
mier livre. Des origines & 829. (Bibliothéque de l’&cole des hautes études 119). 
Paris, E. Bouillon. 1898. 175 S. 

Die Entwickelung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahr- 
hundert hat es mit sich gebracht, daß selbst diejenigen Gebiete 
aus der Geschichte des frühesten Mittelalters, für die auch in 
Frankreich besonderes Interesse herrscht, doch überwiegend von 
deutschen Gelehrten erhellt worden sind. Nahezu ausschließlich war 
diesen die kritische Behandlung der fränkischen Geschichtsquellen 
überlassen, deren Veröffentlichung in den früheren Jahrhunderten 
zumeist französischer Gelehrsamkeit verdankt wird, und sie ist 
dauernd im engsten Zusammenhange mit den Ausgaben der Monu- 
menta Germaniae historica vorgeschritten. Auf der durch sie be- 
gründeten quellenkritischen Methode beruhen die Aufsätze von 


Monod, Etudes critiques sur les sources de l’'histoire carolingienne, I. 878 


Gabriel Monod, die anfangs der siebziger Jahre recht eigentlich den 
Beginn selbständigen Anteils der französischen Historiker an solchen 
Arbeiten bezeichnen. Seitdem ist in Paris unter der Führung von 
Männern wie Monod, Havet, Giry — von denen die beiden letzten 
aus fruchtbarer Thätigkeit hinweggerissen sind — die Erforschung 
der fränkischen Geschichte planmäßig in Angriff genommen und er- 
freulich gefördert worden. Dennoch blieb noch immer Wattenbachs 
klassisches Buch der einzige Führer durch die Geschichtsquellen der 
merowingischen und karolingischen Zeit und durch das Labyrinth 
ihrer kritischen Bearbeitungen, trotzdem das Werk, in den erneuten 
Ausgaben den schwankenden Ergebnissen der Forschung nur zu 
leicht nachgebend und sie zu allseitig berücksichtigend, grade für 
diese Zeit den einheitlichen Charakter der ursprünglichen Anlage 
mehr und mehr verloren hat. Schon um deswillen wird die Dar- 
stellung der karolingischen Historiographie freudig begrüßt, mit der 
Monod selbst jetzt seine älteren Arbeiten fortführen will. Vorläufig 
liegt ein erstes Heft vor, das nach einer umfangreichen Einleitung 
»die karolingischen Annalen bis 829« behandelt. 

In Deutschland wird diese Einleitung leicht als der Schwerpunkt 
der vorliegenden Arbeit erscheinen. Ihr erstes Kapitel soll die »all- 
gemeinen Merkmale der karolingischen Historiographie< behandeln ; 
Monod hat offenbar gern die Gelegenheit benutzt, ihre Entwicklung 
aus der merowingischen Geschichtsschreibung zu schildern, und er 
betrachtet sie in der knappen Zusammenfassung, in der er Meister 
ist. Erst daran schließt sich die Uebersicht über Art und Gliede- 
rung der karolingischen Quellen. Die beiden Abschnitte sind inso- 
fern verschieden, als der erste in gewisser Weise einen Abschluß 
gegenüber Monods älteren Einzeluntersuchungen bedeutet, der zweite 
vielmehr auf die folgenden vorbereitet. In jenem besticht die 
strenge Sonderung der zeitlich und sachlich verschiedenen Quellen; 
die Heiligenleben der gallo-römischen, der irländischen, der angel- 
sächsischen Zeit, die an die Consularfasten anschließenden Chroniken, 
die Zeitgeschichten Gregors, Fredegars und des Liber historiae 
(= Gesta regum Francorum) werden gegen einander herausgehoben. 
Indessen ist es doch fühlbar, daß Monods Darstellung z. T. schon 
älteren Ursprungs ist; der Zusammenhang der merowingischen mit 
den gallo-römischen Quellen wird auf Grund von Mommsens Ausgabe 
der Chronica minora neu zu behandeln, insbesondere die Chronik von 
511 (der sog. Sulpicius Severus, den M. trotz Holder-Egger als 
Chronik von 733« bezeichnet) in ihrer engen Berührung mit den 
Fasten von 452 anders zu beurteilen sein. Und daß M. nicht wohl 
an seiner früheren Anschauung über die Entstehung des sog. 


874 Gött. gel. Ans. 1901. Nr. 11. 


. Fredegar um 642 festhalten darf !), beweisen die jüngst erschienenen 
scharfsinnigen Untersuchungen Schnürers (Collectanea Friburgensia 
IX. 1900), die mindestens in der Hauptfrage des nicht einheitlichen 
Charakters und der Dreiteilung des Geschichtswerkes Kruschs Er- 
gebnisse werthvoll bestätigen. 

Grade diese Arbeit ist allerdings in anderer Hinsicht für Monod 
bedeutsam , da Schnürer die Abfassung der einzelnen Teile des 
Werkes in der Nähe des Hofes und in Beziehung zu der königlichen 
Kanzlei vermutet. Er liefert damit einen neuen Beleg für die 
These von dem engen Zusammenhang zwischen Geschichte und Ge- 
schichtsschreibung, die recht eigentlich das Grundmotiv von Monods 
Uebersicht im ersten Kapitel bildet: die Historiographie des Franken- 
reichs ist nicht Beschreibung des Vergangenen, sondern Geschichte 
der Gegenwart. Deshalb üben die politischen Ereignisse ihre un- 
mittelbare Wirkung auf sie aus. »Nie ist damals eine irgend be- 
deutende Schrift fern vom Treiben der großen Welt, vom Schau- 
platz der großen Ereignisse entstanden<. So berechtigt diese Auf- 
fassung für die Anfänge der fränkischen Geschichtsschreibung ist, so 
trifft sie doch nicht mehr dort zu, wo man beginnt, die Geschichte 
als Wissenschaft zu betreiben, und so bedenklich wird sie, wenn 
z. B. um ihretwillen für die Ann. Laureshamenses die Entstehung in 
höfischen Kreisen beansprucht wird. Im allgemeinen aber hält sich 
Monod von gewagten Vermutungen frei; und wir danken seinem, 
übrigens schon früher von ihm ausgesprochenen Satze so anregende 
Beobachtungen wie diejenigen über Reims als den Mittelpunkt des 
französischen Lebens von der Mitte des 9. bis zum Ausgange des 
10. Jahrhunderts. Hier, am Sitze des Erzbischofs, blieb die Tradition 
erhalten, die Flodoard und Richer und, wie wir hinzufügen dürfen, 
Gerbert mit der karolingischen Epoche verknüpft. Der Bruch, der 
in Deutschland das Geistesleben des 10. Jahrhunderts von dem ka- 
rolingischen trennt, ist in Westfrancien noch nicht eingetreten; dort 
bringt, wenigstens für die Geschichtsschreibung, erst das 11. Jahr- 
hundert das verhängnisvolle Abreißen der Ueberlieferung. Von 
jenem ununterbrochenen Zusammenhange mit der Kultur der Karo- 
lingerzeit aus wird aber auch die Bedeutung zu würdigen sein, 
welche die Gelehrten von Reims und ihre Schüler für das Ottonische 
Deutschland gewonnen haben. 

Die enge Verbindung, in die M. die Geschichtsschreibung mit dem 
Königshofe als dem Mittelpunkte des politischen und geistigen Lebens 
bringt, berechtigt ihn, das zweite Kapitel seiner Einleitung der vom 


1) Mit um so größerer Spannung wird man die von ihm angekündigte be- 
sondere Untersuchung über das Werk erwarten. 


Monod, Etudes critiques sur les sources de Vhistoire carolingienne. I. 878 


Kaiser heraufgeführten »karolingischen Renaissance« zu widmen. 
Auch der Kenner von Haucks glänzender Schilderung wird an der 
klaren Herausarbeitung der Hauptgesichtspunkte seine Freude haben, 
durch welche die verschiedenen an Karls Hofe zusammenfließenden 
Strömungen vielleicht zu scharf gegen einander abgegrenzt werden ; 
und er wird mit erhöhtem Interesse den Ausführungen folgen, in 
denen der nach Traube’s Nachweisen sehr hoch einzuschätzende per- 
sönliche Anteil des Kaisers an der litterarischen Bewegung sorgsam 
abgewogen wird. Gern würden wir von dem französischen Gelehrten 
ein im einzelnen ausgeführtes Bild von dem westfränkischen Geistes- 
leben unter Ludwig d. Fr. und Karl dem Kahlen erhalten haben; 
gewiß hat er mit der Beobachtung Recht, daß unter ihnen von 
einem Niedergange noch kaum etwas zu spüren ist. In formaler 
Hinsicht ist sogar bei den Schülern der großen Gelehrten aus Karls 
Zeit ein Fortschritt unverkennbar; auch bedeutet das Auftreten 
Hincmars und des Johannes Scotus unzweifelhaft eine Vertiefung der 
Kenntnisse, an der Ostfrancien zunächst keinen Anteil mehr hatte. 
Dennoch aber ist ein wesentlicher Unterschied gegen die erste 
Epoche der karolingischen Renaissance dadurch bedingt, daß jetzt 
der Hof und die Hofschule keineswegs mehr die frühere Rolle 
spielen ; wohl stehen sie noch mitten im geistigen Leben ; aber nicht 
mehr sind sie es, die es wecken und befruchten, sondern von der 
Peripherie aus, von den Klöstern und Bischofssitzen, wird es an den 
Königshof gebracht. Seitdem ist auch im Westreiche der Klerus 
der ausschließliche Träger der Bildung geworden... Wie er in seinen 
Schulen durch das 10. und sogar durch das 11. Jahrhundert hin- 
durch die Kultur jener Zeit bewahrt hat, darauf weist M. mit 
wenigen Worten hin. Daß er diese Entwickelung uns darstelle, wird 
ein allgemeiner Wunsch sein; denn die von ihm angedeutete enge 
Verknüpfung der Renaissance des 12. Jahrhunderts mit dem karo- 
lingischen Geistesleben scheint einer der Gründe für die Ueberlegen- 
heit und den Siegeszug der französischen Kultur im 12. und 13. Jahr- 
hundert und berührt eines der interessantesten Probleme unserer 
mittelalterlichen Geschichte. 

Von so weiten Ausblicken, welche die Einleitung eröffnet, führt 
uns der Verfasser im ersten Buch in das Getriebe der kritischen 
Werkstätten, in denen »die karolingischen Annalen< seit ihrer Aus- 
gabe durch Pertz wieder und wieder behandelt worden sind. Sie sind 
»der Ausgangspunkt der karolingischen Geschichtsschreibung, durch 
Herkunft, Entwickelung, Form von allen Schriften der früheren 
Zeiten unterschieden«. Dennoch wird, meine ich, trotz der ablehnen- 
den Haltung Monods noch einmal die Frage erörtert werden müssen, 


876 Gott. gel, Ans, 1901. Nr. 11. 


inwieweit die Aufzeichnungen der angelsächsischen Ostertafeln, sei 
es auch nur indirekt, durch Beda auf die spätrömischen Jahrbücher 
zurückzuführen sind, denen sie mindestens in der Form eng verwandt 
sind. Ueberhaupt kam es Monod in diesem Teile — abgesehen 
von dem Kapitel über die »Annales royalese — zunächst nicht so 
sehr darauf an, neue Gesichtspunkte aufzudecken oder kritische Er- 
gebnisse zu gewinnen; ihn zeichnet vielmehr die ruhige Sicherheit 
aus, mit welcher der bisherige Gang der Forschung zusammenge- 
faßt, und der gesunde Sinn, mit welchem das im ganzen als zu- 
treffend Erkannte hervorgehoben wird. Von dieser freiwilligen Be- 
schränkung zeugen sowohl das dritte Kapitel über die Lorscher 
Frankenchronik, über die trotz Waitz und Pückert noch nicht das 
letzte Wort gesprochen ist, und der Anhang über den Poeta Saxo, 
den Hüffer neuerdings in dem Agius von Corvei erkennen will, wie 
namentlich das erste Kapitel über die kleinen Annalen (wesentlich 
des 8. Jahrhunderts), die M. im Anschluß an Giesebrecht, Watten- 
bach, Waitz nach den bekannten Hauptgruppen von S. Amand, 
Lorsch (Laureshamenses, Mosellani), Murbach ordnet. Er geht dabei 
auf den praktischen Zweck aus, für die Verwertung der Quellen 
die Anleitung zu geben. Darum ist er auch in der glücklichen Lage, 
eine Note additionelle über Kurze’s einschlägigen Aufsatz im Neuen 
ArchivXX, der ihm erst nach Abschluß des ersten Kapitels zuging, mit 
der amüsanten Wendung zu schließen : »nous nous trouverions égale- 
ment imprudent de contredire ou d’adopter ces conclusions<. Aber 
ist nın der Belehrung Heischende bei diesem Auswege Monods 
irgend besser daran als bisher bei dem schwankenden Urteile Watten- 
bachs? wer die karolingischen Annalen nach ihrem historiographi- 
schen Werte und nach ihrer litterarischen Bedeutung würdigen will, 
wird gezwungen sein, Stellung zu nehmen. Wie man aber über das 
von Kurze aufgestellte, nicht immer einfache System denken mag, 
ein Verdienst hat sein Versuch, die uns erhaltenen Annalen aus ein- 
ander abzuleiten, unter allen Umständen : er schließt jeden Gedanken 
aus, auf die geheimnisvollen allumfassenden Hofannalen von Arnold 
und Bernays zurückzukommen, die Monod wieder in ausführlicher Kritik 
zurückweist. Monod und, wie es scheint, auch Bernheim !) schrecken 
vor den sechs Reihen verlorener Annalen bei Kurze zurück ; allein es 
handelt sich dabei meist nur um verlorene handschriftliche Mittel- 
glieder, keineswegs immer um neue Redaktionen oder gar Werke. 
Allerdings hat Kurze selbst leider viel zu dem Mißtrauen beigetragen, 
das seinen Ansichten begegnet; die Art, wie er für erhaltene und 


1) In seiner Besprechung Monods, Histor. Vierteljahrschrift III, 99 ff 


Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 877 


verlorene Quellen des 8. Jahrhunderts mit gleicher Sicherheit Ent- 
stehungsort und Verfasser zu nennen weiß (besonders Neues Archiv 
XXV, 294 ff.), ist nicht geeignet, unserer quellenkritischen Arbeit 
Freunde zu gewinnen. Aber der künftige Herausgeber der kleinen 
Annalen in der Schulausgabe der Monumenta Germaniae wird sich 
der schwierigen Aufgabe, Kurzes Ansichten durchzuarbeiten und über 
sie hinaus vorzudringen, nicht entziehen dürfen ’). 


Während M. sich für die kleinen Annalen des 8. Jahrhunderts 
mit der Sichtung der früheren Untersuchungen begnügt, tritt er in 
dem zweiten Kapitel über die »Annales royales« mit selbständiger 
kritischer Forschung hervor, deren Ergebnis sich mit seiner, in der 
Einleitung dargelegten Gesamtauffassung nahe berührt: die Reichs- 
annalen (Ann. Laurissenses maiores = Ann. regni Francorum) sind 
ein höfisches Werk, in der Umgebung des Kaisers geschrieben, um 
das Andenken seiner Thaten zu bewahren, ein »journal des nouvelles 
du palaise.. An dieser sich an Ranke anlehnenden und nochmals 
gegen v. Sybel begründeten Anschauung wird heut niemand mehr 
zweifeln; bei jeder Prüfung tritt deutlicher ins Bewußtsein, wie aus- 
schließlich und durch alle Theile hindurch gleichmäßig das Interesse 
der Jahrbücher an der Persönlichkeit des Herrschers haftet, wie 
alle Ereignisse mit den Augen des Hofes angesehen werden. Von 
den Jahren an, mit denen die Berichte selbständig und gleichzeitig 
werden, verzeichnen sie nicht sowohl die Geschehnisse selbst als das 
Eintreffen der Nachrichten darüber am Hofe; auch die Ordnung der 
Erzählung wird hierdurch bedingt. Wenn dann Naturereignisse z. B. 
zu 801. 815. 821 in den Rheingegenden aus eigener Kenntnis, aus 
den übrigen Theilen des Frankenreichs nach Hörensagen aufge- 
zeichnet werden, so dürfen wir auch um deswillen die Schreiber in 
der Nähe der Herrscher, nämlich in der Aachener Pfalz suchen. 
Dorthin als Entstehungsort weisen nun aber nicht nur die »Annales 
regnie, sondern auch die sogenannten >Annales Einhardi«, ihre 
Veberarbeitung; auch ihrem Verfasser ist der kaiserliche Hof der 
gewisser Maßen selbstverständliche Mittelpunkt alles Geschehens ?), 
und ihm, der jetzt allgemein als Niederdeutscher erkannt wird, liegt 
doch die germanische Heimat »jenseits des Rheins<. Deshalb scheint 
mir Monods Gedanke, die Ann. Einhardi als eine Privatarbeit den 
>halbofficiellen« Jahrbüchern gegeniiberzustellen, nicht hinreichend 


1) Bernheim a. a. O. steckt ihm allerdings ein ungleich bescheideneres Ziel. 
2) Man beachte auch z. B. zu 798 die Ergänzung der Reichsannalen durch 
die Worte Zburis legatue narravit, 


878 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


begründet, zumal wenn man auch den Verfasser der Ueberarbeitung 
unter den Männern sucht, welche der kaiserlichen Kapelle angehören 

Dem Versuche, über die allgemeine, aber m. E. sicher zutreffende 
Beobachtung hinaus die Verfasser der Reichsannalen zu bestimmen 
und ibre Niederschrift in innigste Verbindung mit Vorgängen in der 
königlichen Kapelle zu bringen, ist der vielleicht interessanteste, 
gewiß aber auch der anfechtbarste Teil in Monods Etudes critiques 
gewidmet. Er geht dabei natürlich von den Abschnitten aus, die 
innerhalb der Annales regni zu erkennen seien, und scheidet dem- 
gemäß, z. T. in Anlehnung an die bekannten älteren Arbeiten, vier 
Hauptteile. Den ersten Verfasser läßt er, entsprechend der seit 
W. v. Giesebrecht giltigen Annahme, um 788 das Werk einheitlich 
entwerfen, weist ihm dann aber die Fortsetzung nur bis zum Jahre 
791 zu; schon ungefähr gleichzeitig den Ereignissen seien die Jahre 
792—801 hinzugefügt; vom Jahre 801 an sollen der Eintritt eines 
neuen Schreibers und dessen tagebuchartige Notizen den Berichten 
. bis 818 das Gepräge gegeben haben, wenn auch bei den Jahren 809 
und 814 vielleicht die Verfasser wechselten‘). Der Schluß von 
819—829 zeige den abweichenden Stil eines letzten Autors‘). 
Nun ist 791 der Erzkaplan Angilram gestorben; von 792—801 
teilen sich nach Monod in die Leitung der Kapelle Angilbert 
und Hildibald, der seit 802 — nachdem Angilbert, wie M. ver- 
mutet, sich endgiltig in seine Abtei S. Riquier zurückgezogen 
hätte -- der Kapelle bis zu seinem Tode im Jahre 818 allein vorstand: 
ihm folgte 819—829 Abt Hilduin von S. Denis. So bringen nach M. 
die Jahre 792. 801. 818. 829 für die Reichsannalen einen Wechsel 
der Verfasser, für die Kapelle einen Wechsel ihrer Vorsteher. Zwar 
ist M. zu gewissenhaft, um aus diesem Parallelismus gradenwegs den 
Schluß zu ziehen, daß die Erzkaplane die Verfasser der Reichs 
annalen seien, aber »ohne sich positiv über die Personen der Autoren 
aussprechen zu wollen«, vermutet er immerhin die Niederschrift des 
Werkes unter dem mehr oder weniger directen Einflusse der Erz- 
kaplane Angilram, Angilbert, Hildibald und Hilduin. Und an mehr 


1) In der Begründung für diese Einschnitte von 809 und 814 ist Monod wenig 
glücklich. Die Jahre 814—818 abzutrennen, veranlaßt ihn vor allem der eigentüm- 
liche Gebrauch von circa und circiter „qui ne se remarque & aucune des années 
precedentes“. Trotzdem begegnet er genau so schon 809 und 811 und — trots 
Monods gegenteiliger Angabe — ist er auch in den späteren Jahren von 819bis 
829 noch völlig gleichartig zu bemerken. Ueberhaupt ist in solchen, immer ge- 
fährlichen Angaben M. nicht vorsichtig genug gewesen, und hierin liegt ein 
Mangel seiner Arbeit. So soll auch conventus populs sus nach 818 nie vor 
kommen, steht aber noch zu 825 wie zu 826. 

2) Er sei vielleicht mit dem Schreiber von 809-813 identisch, 


Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 879 


als einer Stelle tritt doch deutlich der Wunsch ans Licht, ihnen 
selbst (zumal Angilbert) auch eigenen schriftstellerischen Anteil an 
den Jahrbüchern zuzusprechen, bis schließlich — wie M. in den Mé- 
langes Havet begründet zu haben glaubt und auch Kurze zugestan- 
den hat — wenigstens Abt Hilduin ausdrücklich als der Verfasser 
des letzten Teils angesprochen werden kann. +» 

Allen derartigen Vermutungen — die schon zu weit gehen 
würden, selbst wenn Monods Voraussetzungen zuträfen — wird in- 
dessen der Boden durch den Nachweis entzogen, daß die charakteri- 
stischen Caesuren in den Reichsannalen nicht an den von M. be- 
zeichneten Stellen, sondern zu andern Jahren zu bemerken sind. Bei 
ihrer Festlegung ist, wie heut allgemein anerkannt wird, die Ueber- 
lieferungsgeschichte der Annalen nicht zu verwerten; denn weder 
zum J. 788, wo die von Kurze mit A bezeichnete Handschriftenklasse 
endet, noch innerhalb des J. 813, wo die Klasse B abbricht, berech- 
tigen innere Gründe, einen Wechsel der Verfasser anzunehmen. Wir 
sind daher für die Entscheidung ausschließlich auf stilistische Mo- 
mente angewiesen, und diese haben, seit Dünzelmanns Aufsatz im 
Neuen Archiv II, für die verschiedenartigsten Einteilungsversuche 
den Vorwand hergeben müssen, so daß man ihnen heut wenig Ver- 
trauen entgegenbringt. Dennoch führen nur sie zu einigermaßen 
sicheren Ergebnissen. Demjenigen nämlich, der das Ganze des Wer- 
kes von 741—829 überschaut, heben sich mit voller Deutlichkeit 
drei sprachlich unterschiedene Gruppen gegen einander ab. Die 
erste, deren Merkmale Simson (Jahrbücher Karls d. Gr. I’, 657 Ex- 
curs III) und Manitius (Mitteil. des Inst. für österreich. Geschichtsf. 
XIII, 225) überzeugend zusammengestellt haben, umfaßt die Berichte 
im Vulgärlatein, denen noch der letzte Absatz des J. 794 zugehört }). 
Ihr folgen ausschließlich Nachrichten, deren Sprache schon den Einfluß 
klassischer Schulung verrät; die Eigenheiten des Volksmäßigen 
sind nahezu mit einem Schlage verschwunden; noch ist nicht alles 
korrekt, aber leicht fließen die Sätze in schlichter, sachlicher Er- 
zählung, die wohl zuweilen in volleren Perioden sich unmittelbar an 
römische Schriftsteller anlehnt, aber doch noch keineswegs im hohen 
Stile schwelgt: es ist die Zeit der karolingischen Frührenaissance, 


1) Kurze’s Absicht (Neues Archiv XX, 40; vgl. die Schulausgabe der Ann. 
regni Francorum 8. 96 N. 4), den ersten Absatz des J. 795 zur vorangehenden 
Gruppe zu ziehen, scheitert m. E. an der starken Verwendung der relativen An- 
knüpfung; auch kommt placitum noch 811, missus statt Jegatus noch 803 und 
807 vor. 


880 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


die aus den etwas persönlich gefärbten Jahresberichten von 795—807 
zu uns spricht). 

Daß aus der Erzählung des J. 808 ein neuer Geist entgegen- 
weht, hat Dünzelmann richtig empfunden, wenn er auch den Wert 
seiner eigenen Beobachtung dadurch gemindert hat, daß er schon 
den ganzen Bericht von 807 dem neuen Schreiber zuweist, obwohl 
die astronomischen Notizen und die Aufzählung der persischen Ge- 
schenke durchaus der Art der vorangehenden Jahre entsprechen. 
Erst die Sätze über die Sendung Burchards gegen die Mauren wird 
man geneigt sein, für einen andern Verfasser zu beanspruchen, des- 
sen Eintreten mit dem J. 808 — ich betone dies mit aller Ent- 
schiedenheit — über jeden Zweifel erhaben ist. Der geschickte 
Satzbau, die passende Verwendung der Participialkonstructionen, die 
Fülle der Verbindungspartikeln (at z.B. kommt nicht vor 809 und 
nicht nach 819 vor) bezeichnen den neuen Stil; ihn zeichnet der 
ungleich reichere Wortschatz aus, und er ist durchtränkt mit Phra- 
sen der römischen Klassiker; aber — er ist auch schon phrasenhaft. 
Die in den früheren Zeiten nüchtern erzählten Thatsachen werden 
mit eleganten, doch zumeist sachlich bedeutungslosen Wendungen 
umkleidet *): Karl sendet 808 seinen Sohn cum valida manu, dieser 
eilt quanta potuit celeritaie, dann, populatis circumquaque agris, kehrt 
er zurück cum incolumi exercitu (vgl. z.B. 810 die Rüstungen ge- 
gen König Gottfried). Selbstverständlich fehlt es der Sprache durch- 
aus nicht an Berührungen mit derjenigen der früheren Jahre, ist 
sie doch aus ihr in bewußter Weiterbildung entwickelt worden; aber 
der Fortschritt ist so plötzlich und so durchgreifend, daß er nur 
durch den Eintritt eines in neuer Schule erwachsenen Verfassers zu 
erklären ist*). Grade das J. 808 enthält aber auch die vielberufe- 

1) So irrig auch die Folgerungen von Dünzelmann, Manitius, Dorr (Neues Ar- 
chiv II. VII. X) sind, so nützlich und dankeuswert ist das von ihnen zusammen- 
getragene Material zur Stilvergleichung; das sei ausdrücklich betont. 

2) Nur aus dem J. 808 seien noch verzeichnet: statwis per aliquot dies ın 
litore habitis; cum magno copiarum suarum detrimento (copiae durchaus niemals 
vorher gebraucht !); populartum fidet diffidentem — alles Wendungen, die dann 
häufiger wiederkehren. Begreiflicher Weise begegnen solche klassischen Aus- 
drücke besonders häufig in Kriegsberichten — weil vor allem für diese die klas- 
sischen Muster vorlagen. 

3) Ich verzichte hier auf eine Begründung im einzelnen um so eher, als die 
Beobachtung, einmal gemacht, ganz selbstverständlich erscheint. Leicht kann 
ein jeder sich überzeugen, indem er sich mit dem Stile der sog. Ann. Einhardi 
vertraut macht. Dann wird er schon bei der Lectüre erkennen, daß in den Ann. 
regni erst die Berichte von 808 an (resp. vom Schlusse von 807) in jeder Be 
ziehung sprachlich den Ann. Einhardi verwandt sind, während die Sprache der 
früheren Jahre nur eine Vorstufe für den Stil der Ueberarbeitung darstellt, 


Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 881 


nen, auch von Monod besprochenen Worte: pracerat tunc temporis 
ecclesiae Romanae Leo tertius, aus denen v. Sybel zu Unrecht die 
Abfassung des Jahresberichts nach Leo’s Tode 815 folgern wollte. 
Wie seltsam wären diese Worte bei einem Annalisten, der von 795 
—806 dauernd von eben diesem Papste Leo gehandelt hat; wie 
leicht hingegen erklären sie sich, wenn ein Schreiber, der erst nach 
dem J. 806 begann, hier zum ersten Male des Papstes gedachte! 
So bilden m. E. die J. 794 und 807 die unverkennbaren und 
sichersten Grenzen, welche die Sprache innerhalb der Reichsannalen 
abzustecken erlaubt; bei den J. 795 und 808') bemerken wir die - 
Thätigkeit neuer Verfasser. 

Ob innerhalb der auf diese Weise gekennzeichneten Gruppen 
741—794, 795—807, 808—829 noch kleinere Abschnitte bestimmt zu 
gliedern sind, wird reiflicher Prüfung bedürfen. So zeigen die J. 792. 
793 einen gewissen Fortschritt gegenüber den früheren Jahren, und 
die irrige Wiederholung der Festangaben zu Beginn von 792 mag 
in der That dazu führen, die Berichte von 792—794 dem ersten 
Annalisten abzusprechen, so daß in dieser Begrenzung Monods An- 
sicht nicht unbegründet erscheint. Andererseits ist auch in der 
letzten Gruppe mit einiger Sicherheit ein Einschnitt zu machen. 
Denn am Schlusse des J. 820 — doch noch nicht mit dem J. 819, 
wie Monod (mit Rücksicht auf Hildibalds Tod 818) wünscht — dürfte 
mit der eingehenden Schilderung der Naturerscheinungen ein anderer 
Verfasser einsetzen, dessen Eigenart von Dünzelmann, Simson, Kurze 
und Monod beschrieben worden ist. Dagegen halte ich es für un- 
möglich, innerhalb der Jahre 795—807 einzelne Autoren zu schei- 
den; und vor allem bin ich so wenig wie Kurze in der Lage, im 
J. 801 irgend eine Aenderung in der Sprache der Jahrbücher zu 
erkennen, die aus einem Wechsel der Schreiber erklärt werden 
müßte. Darum sei schon hier darauf aufmerksam gemacht, daß die- 
ser von Monod festgehaltene Haupteinschnitt ursprünglich überhaupt 
nicht durch stilistische Erwägungen, sondern mit dem — unrichtig 
beurteilten — Verhältnis der sog. Ann. Einhardi zu den Ann. regni 
begründet worden ist. Für die ganze zweite Gruppe von 795—807 
ist dadurch aber noch nicht die einheitliche Niederschrift durch ein 
und denselben Mann positiv erwiesen. Vielmehr gilt für sie wie für 
die Reichsannalen überhaupt eine andere allgemeine Betrachtung. 
Wenn man nämlich ihre Entstehung am Hof als sicher annimmt 


1) 808 scheint noch einmal die altüberkommene Wendung et inmutatus est nu- 
merus annorum am Jahresschlusse gebraucht zu sein; danach verschwindet sie 
endgiltig. 

Geet, gel. Ans. 1901. Hr. 11. 58 


882 Gött. gel. Anz 1901. Nr. 11. 


und mit Ranke und Monod ihre dauernde Weiterführung aus den 
Willen und Wunsche der Herrscher ableitet und wenn man die 
Schreiber deshalb in der Hofgeistlichkeit der kaiserlichen Kapelle 
sucht —, grade dann ist man keineswegs genötigt, größere Abschnitte 
ausschließlich als das Werk einzelner bestimmt zu nennender Verfasser 
anzusehen, grade dann liegt vielmehr immer die Möglichkeit vor 
daß diese oder jene Eintragung aus zufälligen Gründen von diesem 
oder jenem Angehörigen des vertrauten Kreises vorgenommen wor- 
den ist, dem die Sorge für die Jahrbücher aufgetragen war. 

Schon mit Rücksicht auf die hierdurch bedingte Unsicherheit ist 
es bedenklich, einzelne hervorragende Persönlichkeiten wie die Erz- 
kaplane, Einhard oder den von Kurze auf den Schild erhobenen 
Riculf als Verfasser zu bezeichnen, zumal es an jedem sicheren 
Zeugnisse für den einen oder den andern fehlt; selbst die Nennung 
der Namen Fulrads (zu 755), Angilberts (zu 792) und Einhards (zu 
806) ohne irgend welche nähere Angabe ihres Standes oder Amtes 
beweist nichts, als daß die Reichsannalen in einem diesen hervor- 
ragenden Männern nahestehenden Kreise aufgezeichnet worden sind. 
Mag es wenigstens nicht unmöglich sein, daß Erzkaplan Hilduin an 
dem letzten Teile der Annales regni 820—829 unmittelbaren An- 
teil gehabt habe’), ein Beweis hierfür ist noch nicht erbracht: 
denn alle Gründe Monods (selbst das Abbrechen der Annalen 829 
vor dem Ausbruch der großen Verschwörung) bestätigen nur das 
Eine, daß der Verfasser die Interessen des Erzkaplans teilte und 
daß dieser selbst auf die Haltung des letzten Teiles von Einfluß 
gewesen sein wird. Und in dieser Weise mögen auch die früheren 
Vorsteher der Hofgeistlichkeit auf die älteren, von ihren Unter- 
gebenen geschriebenen Jahresberichte eine gewisse Einwirkung aus 
geübt haben. Monods weitergehende Behauptung aber, daß jede 
Mal bei ihrem Amtsantritt auch die Verfasser der Reichsannalea 
wechselten, hat der Prüfung nicht Stich gehalten. Weder 795 noch 
vor allem 808 haben uns bekannte Vorgänge in der Kapelle de 
Wechsel der Jahrbücherschreiber mit sich gebracht; und selbst 820 ist 
er doch erst geraume Zeit nach Hilduins Amtsantritt erfolgt. An den 


1) In dem bekannten Berichte über die Wunder des h. Sebastian zum J. 8% 
mit dem vor allem Hilduins Autorschaft gestützt zu werden pflegt, heißt es: 
quaedam tanti stuporis esse narrantur; ‘diese auch sonst bemerkbare Vorsicht 
wo der Verfasser nicht als Augenzeuge schreibt, spricht mindestens nicht fü 
Hilduin als Verfasser. — Keinesfalls ist übrigens, wie Kurze behauptete, Hilda 
oder der letzte Verfasser der Ann. regni mit dem Schreiber des 1. Theiles de 
Ann. Bertiniani identisch. In diesen herrscht eine, man möchte sagen, archi 
stische Sprache. 


Monod, Etudes critiques sur les sources de Vhistoire carolingienne. I. 888 


von Monod vor allem hervorgehobenen Einschnitte mitten im J. 801 
schließlich ist irgend eine Aenderung im Charakter und Stil der Jahr- 
bücher überhaupt nicht nachweisbar. 


Wesentlich auf Grund dieser Ergebnisse über die Abfassung der 
Annales regni sind wir jetzt in der Lage, ungleich freier als die 
bisherige Forschung über die Entstehung ihrer in den sogenannten 
Ann. Einhardi vorliegenden Ueberarbeitung zu urteilen. In Bezug 
auf sie steht Monod ganz auf dem Boden der älteren Gelehrten, 
welche die Ueberarbeitung der Ann. regni nur bis zum J. 801 reichen 
und deshalb sehr bald nach diesem Jahre verfaßt sein ließen. Eine 
Bestätigung dafür fanden sie in der Thatsache, daß der Poeta Saxo 
die Ann. Einhardi nur bis zum J. 801 benutzt habe; denn sie nah- 
men an, daß dem Dichter eine ursprünglichere Gestalt der Ueber- 
arbeitung vorlag als die uns überkommenen Hss. bis 829, eben weil 
sie nur bis 801 reichte. Diesem bösen circulus vitiosus ist auch 
Monod verfallen, trotzdem Kurze (Neues Archiv XIX, 330) seitdem 
gezeigt hatte, daß die Quelle des Poeta Saxo den uns erhaltenen 
Handschriften durchaus gleichartig und wie sie verderbt und schon 
mit der Vita Karoli verbunden war. Daß sie mitten im J. 801 ver- 
stümmelt abbrach, so daß sich der Dichter ihrer nicht weiter be- 
dienen konnte, läßt natürlich irgend einen Rückschluß auf die Ent- 
stehungszeit und Ausdehnung der Ann. Einhardi durchaus nicht zu. 
So bleibt uns, um Auskunft darüber zu erhalten, nur übrig, die An- 
nalen selbst zu befragen, indem wir uns vorläufig von allen hin- 
sichtlich ihrer überkommenen Vorstellungen frei machen. 

Den von Kurze unter dem Buchstaben E zusammengefaßten 
Handschriften der Reichsannalen bis 829 ist gemeinsam, daß sie, so 
weit sie vollständig erhalten sind, sich an die Vita Karoli Einhards 
anschließen ') und daß sie die Annalen nicht in der ursprünglichen 
Fassung bieten ; vielmehr sind die älteren Jahresberichte in den Hss. 
der Klasse E sachlich und sprachlich umgearbeitet; erst die letzten 
Jahre stimmen vollständig mit den in den Hss.-Gruppen C und D 
überlieferten Ann. regni bis 829 überein. Das ist der Befund, von 
dem jede Beurteilung ausgehen muß; denn da wir ihm zufolge die 
Ueberarbeitung für sich allein überhaupt nicht besitzen, sondern sie 
ausschließlich in der engen Verbindung mit dem Schlusse der Reichs- 
annalen kennen, haben wir zunächst die Aufgabe, die Ueberarbeitung 
aus dieser jede Kritik hindernden Vereinigung zu lösen; wir müssen 

1) Wie Kurze zu folgern vermag, daß die Hs. E 9, von der wir nichts als 
ein Bruchstück von 806—821 besitzen, ursprünglich nicht mit der Vita Karoli 
verbunden war, ist unerfindlich. 

D8 * 


884 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


feststellen, wie weit sie in den Hss. der Klasse E überhaupt er- 
kennbar ist und mit welchem Jahr in diesen die einfache Abschrift 
der Reichsannalen beginnt. So klar die Aufgabe scheint, sie ist bis- 
her nicht gestellt, geschweige denn gelöst worden; daß sie — wie 
eine Reihe anderer wichtiger kritischer Fragen — aufgeworfen und 
bestimmt beantwortet werden kann, ist erst eine Folge von Kur- 
zes Arbeiten und seiner Schulausgabe der Ann. regni Francorum; 
ein Verdienst, das um so entschiedener hervorgehoben werden soll, 
je weniger ich mich den Ergebnissen seiner Untersuchungen und den 
kritischen Voraussetzungen der m. E. verfehlten Ausgabe anschließen 
kann. 

Längst sind die Forscher darüber einig, daß die sachliche Be- 
arbeitung der Reichsannalen mit dem J. 800 ihr Ende erreicht hat. 
Aber ohne Mühe läßt sich an der Hand der neuen Ausgabe verfol- 
gen, daß die sprachliche Feilung noch erheblich länger ihre Spuren 
hinterlassen hat; sie ist durch das ganze Jahr 801 hin besonders 
merkbar (keineswegs nur bis zu dem Satze imperator — perrezit, 
wo die Benutzung durch den Poeta Saxo aufhört) und in den Be- 
richten von 802—807 noch ebenso deutlich wie in den Jahren 808 
—812). Möglicherweise dürfen wir das Wirken des Bearbeiters 
noch im J. 815 erkennen?) ; jedenfalls aber fehlt vom J. 816 an 
schlechterdings jede Spur von ihm: mindestens von 816 bis 829 ge- 
ben die Hss. E durchaus nichts als einen Text der Annales regni. 
Begnügen wir uns damit, aus diesem einfachen Sachverhalt vorerst 
einen fast selbstverständlichen Schluß zu ziehen. Wir haben in den 
Hss. der Klasse E zwei ganz verschiedene Bestandteile zu scheiden: 
eine Ueberarbeitung der alten Reichsannalen, die wir bis in die 
Jahre 812—815 wahrnehmen können, und eine nahezu völlig kor- 
rekte Ueberlieferung der Annales regni Francorum etwa von 816—829. 

1) Bei der Wichtigkeit dieser Behauptung stelle ich die wertvollsten Varian- 
ten zusammen. 801: legatus predicti regis (S. 116 N. p); ad memoratun 
regem (N. x); legatts suis (N. z) u.s.w. — 802: propter pacem (S. 117 
N. c); venattbus indulgens (N. q, statt operam dedst), — 803: domni fehlt 
(5.118 N. g). — 804: tnhsbttus (S. 118 N.1 statt cerritus); imperator autem (N.n). 
— 805: venations vacans (S.120 N.y, statt operam dans vgl. zu 802). — 807: 
in Aquense palatio (S. 124 N. u). — 809: Aldulfus videlicet (S. 128 N. t); 
locum (S. 130 N. b, statt mintsterium). — 810: in memorato (S. 131 N. 0). — 


811: domns fehlt (S. 135 N. i). — 812: Herioldi quondam regis (S.136 N.k); 
domnt fehlt (N. y, vgl. 803. 811). 

2) 815: infectum (S. 141 N. i, statt tnperfectum); exstrunit (S. 148 N. p, 
statt construstt); doch wären hier vielleicht Einwürfe eines Skeptikers möglich, 
der den Text von E gegen CD aufnehmen wollte, oder eines andern, der bier 
nur Abschreibefehler der Hs. E sehen würde. Es ist für die Entscheidung der 
Hauptfrage zunächst unerheblich. 


Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. L 885 


Erst jetzt dürfen wir zu der Frage vorschreiten, wann denn die 
Ueberarbeitung bis etwa 812 entstanden sei. Allerdings ist der An- 
schauung Monods und seiner Vorgänger, daß die sog. Ann. Einhardi 
um 801 verfaßt seien, schon durch die Untersuchung und Gliede- 
rung der Hss. E jeder Boden entzogen. Aber mit unsern neuen Er- 
gebnissen ließe sich die von Kurze wiederholt energisch vertretene 
Behauptung immerhin vereinigen, daß die Ueberarbeitung nicht vor 
dem J. 830 begonnen sei. Ich sehe auch hier von jeder Erörterung 
der vorgebrachten Gründe oder der angewandten Methode ab; die 
Quellen selbst — die allein Grundlage historischer Erkenntnis bil- 
den — sprechen ihre vernehmliche Sprache. 

Der Wortlaut der Ann. Einhardi gestattet, ihre Entstehung in 
dem Zeitraum weniger Jahre fest zu umgrenzen. Zum J. 799 er- 
zählen sie von der Unterwerfung der Bretonen, deren »treulose Un- 
beständigkeit« sie indessen bald wieder zum Abfalle trieb'); die 
nächste Empörung aber, von der die Reichsannalen wissen , fand im 
J. 811 statt. Ja, die Vermutung liegt nahe, daß erst nach 813, 
nach dem Tode Karls der Ueberarbeiter ans Werk gegangen ist, 
wenn man die rücksichtslose Schilderung der gegen Karls Herrschaft 
gerichteten Empörungen und die in den Reichsannalen übergangenen 
Niederlagen liest und wenn man bemerkt, wie dem Kaiser der Titel 
domnus consequent entzogen wird?). Den terminus ante quem hin- 
gegen liefert uns ein Satz, dessen Nichtbeachtung auch nach Kurzes 
Ausgabe ganz rätselhaft erscheint. Zum J. 798 nämlich benutzen 
die Ann. Einhardi die Erwähnung der Abodriten, um deren Feind- 
schaft mit den Sachsen damit zu erklären, daß die Abodriten, seit- 
dem sie einmal das Bündnis mit den Franken eingegangen waren, 
immer ihre Bundesgenossen geblieben sind: nam Abodriti aucxiliares 
Francorum semper fuerunt, ex quo semel ab eis in societatem re- 


1) Videbatur enim, quod ea provincia tum esset ex toto subacta; et esset, nisi 
perfidae gentis instabilitas cito id aliorsum more solito commutasset. Dünzel- 
mann, Neues Archiv II, 493 behauptet zwar, ctto könne von einem Aufstande im 
J. 811 nicht gesagt werden und nimmt deswegen eine sonst nicht überlieferte 
Empörung vor 801 an. Zu diesem Auswege liegt aber kein Anlaß mehr vor. 
Erst 800 huldigten die bretonischen Häuptlinge dem König (v. Simson, Jahrb. Karls 
d. Gr. II, 202. 213). Auch erscheint eine Empörung nach zehnjähriger Ruhe 
leicht demjenigen zu schnell erfolgt, der noch unter dem Eindruck dieser Em- 
pörung steht. 

2) Die seltenen Fälle, in denen er stehen geblieben ist, danken nur der Ab- 
schrift aus der sonst immer geänderten Vorlage der Reichsannalen ihr Dasein. 
Während auch in dem Abschnitt 801—813 Karl in E nie domnus heißt, ist das 
Prädicat an der einzigen Stelle, wo es in der Redaktion BCD Ludwig beigelegt 
wird, im J. 809 auch in E stehen geblieben. 


886 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


cepti sunt. Aus den Reichsannalen erfahren wir nun, daß eben diese 
Abodriten seit dem J. 817 zu Feinden der fränkischen Herrschaft 
wurden; Ludwig hat von 817 an dauernd mit ihren Emporungen 
zu schaffen '). Der Satz der Ann. Einhardi 798 kann deshalb schlech- 
terdings nur vor dem J. 817 niedergeschrieben, die Ueberarbeitung 
der Reichsannalen muß vor demselben J. 817 abgeschlossen, sie 
wird vermutlich erst nach des großen Kaisers Tode begonnen wor- 
den sein. 

Das überraschende Ergebnis, daß die oben nachgewiesene nicht 
bis 801, sondern bis 812—815 reichende Ueberarbeitung der Annales 
regni schon vor dem J. 817 beendet wurde, ist ohne Schwierigkeit 
mit dem Handschriftenverhältnis zu vereinigen und gewinnt durch 
dessen befriedigende Erklärung erwünschte Bestätigung. Bereits 
Kurze hat die enge Beziehung der Gruppen D und E unter den 
Hss. der Reichsannalen bemerkt und zum Ausgangspunkt seiner 
Aufstellungen gemacht. Sie ist indessen keineswegs auf die sachlich 
erheblichen Zusätze zu den Jahren 785 und 792 über die Verschwö- 
rungen sowie zum J. 813 über den Brand der Mainzer Brücke und 
die Krankheit des Kaisers beschränkt; sondern sie tritt uns auch in 
der wichtigen Ortsangabe Badenfkot zu 809 — wo B und C eine 
Lücke für den Namen gelassen haben — und in einigen an sich un- 
bedeutenden Lesarten bis zum J. 813 entgegen, in denen D und E 
gegen B und C zusammenstehen?). Grade die letzteren schließen 
es gänzlich aus, daß etwa D an allen jenen mit E übereinstimmenden 
Stellen aus E abgeleitet sei; sie -stellen vielmehr sicher, daß 
den Ann. Einhardi eine Handschrift der D-Klasse vorgelegen hat. 
Andererseits hört nun grade mit dem J. 813 die Abhängigkeit der 
E-Hss. von D auf’); für die J. 814—829 ist sie so wenig zu er- 


1) v. Simson, Jahrb. Ludwigs d. Fr. I, 110. 

2) 801: urbes montesque D. E (8.114 N.z). — 808 Nantharius abbas D. E 
(S. 127 N. q). — 809: dommum fehlt D. E (S. 127 N. e). — 810: snterirent D. 
E (S. 132 N. a). — 813: aquilonalem D. E (S. 138 N. d, statt aguslonem). 
Grade durch diese ganz unerheblichen Varianten von D und E wird ausge 
schlossen — was Monod notgedrungen vermuten mußte (S. 146 N. 1) —, daß die 
Hss.-Klasse D von E abhängig sei. Was bei den sachlich erheblichen Zusätzen 
zu 785. 792. 813 wenigstens möglich wäre, das ist bei diesen gleichgiltigen Kleinig- 
keiten unmöglich. Wer will glauben, daß D — sonst eine Abschrift der Reichs- 
annalen — grade nur diese unbedeutenden Varianten neben den Zusätzen aus E 
herausgesucht und übernommen hätte ? 

8) Die gegenteilige Behauptung von Kurze (Neues Archiv XIX , 323) ist 
falsch. Nur ist zu 828 (S. 176 N. e) defect D. E gegen defecta est C, und zu 
829 (S. 177 N. d) ex parte non modica D. E gegen C aufzunehmen, das aach 
sonst nach Kurze’s Angaben an falschen Lesungen nicht arm ist. 


Monod, Etudes critiques sur les sources de histoire carolingienne. I. 887 


weisen !), daß vielmehr E als eine Vorlage von D gelten könnte, 
wenn nicht vielmehr beide auf das über das J. 813 hinaus fortgesetzte 
Original der Annales regni zurückzuführen sind. Aber auch inhalt- 
lich bedeutet das J. 813 für die Gruppe D einen Abschnitt: nur bis 
dorthin zeichnet sie sich durch wichtige Ergänzungen und einige 
Aenderungen der Reichsannalen aus*); von 814—829 hingegen ist 
D — wie E — nichts als ein nahezu völlig korrekter Text der Jahr- 
bücher ohne irgend sachliche oder stilistische Eigentümlichkeit. Die 
Urschrift der Klasse D wird daher zunächst nur bis zum J. 813 
gereicht haben ; und sie muß es sein, die den vor 817 abgeschlossenen 
Ann. Einhardi zu Grunde gelegt ist. Ja, der Gedanke liegt sehr 
nahe, daß der Archetypus D eben deshalb angefertigt wurde, um 
dem Verfasser der Ueberarbeitung ein Exemplar der Reichsannalen 
in die Hand zu geben. Für einen solchen nur gelegentlichen Ge- 
brauch zu einem bestimmten Zweck würde die geringe Verbreitung 
der Fassung D aufs beste stimmen: die einzige vollständige Hs. D 1 
stammt aus Worms; das verlorene Bruchstück von 771—829, die 
Vorlage der Ann. Fuldenses (D 2) und der Niederaltaicher Hs. D3, 
hat ohne Zweifel in Fulda gelegen; außerdem scheint D benutzt 
nur für die Ann. Sithienses, die wegen ihrer vielbesprochenen unten 
noch zu erörternden Beziehung zu den Ann. Fuldenses der Behaup- 
tung nicht entgegenstehen, daß die Kenntnis von D auf das enge 
Gebiet Worms-Fulda beschränkt geblieben ist — dem ja Lorsch und 
Michelstadt zugehören. 

Die Kenner der neueren Arbeiten über die karolingischen An- 
nalen haben längst bemerkt, daß die bisher gewonnenen Ergebnisse 
mit den von Kurze aufgestellten Ansichten unvereinbar sind. Mit 
der Annahme, daß die Annalen unmittelbar nach dem J.813 die Ge- 
stalt D erhalten haben, die er erst nach 829 entstanden sein ließ, und 
mit dem Nachweis, daß bereits 817 die Ann. Einhardi vollendet 
waren, die nach Kurze frühestens 830 begonnen sind, stürzt das ganze 
kunstvoll errichtete Fundament seiner Ausgabe zusammen. Das 
Verhältnis der Handschriften und die Entstehungsgeschichte der 


1) Zu 820 (8. 154 N. g) hat C: Buyn; E: Bundium; D: Buynbundium. 
Hier ist, wenn überhaupt ein Schluß zulässig ist, die Lesart von D als Contami- 
nation, aber C so wenig wie E mit Kurze als Ableitung von D zu erkennen. 

2) In D 1 ist am Schluß der Jahresberichte von 808—812 statt des früheren 
et inmutavit se numerus annorum in mit der Jahreszahl nur im mit dieser ge- 
setst. Am Ende von 813 und in allen folgenden Jahren fehlt es. Würde diese 
Eigentümlichkeit auf den Archetypus von D zurückgehen, so gäbe sie einen 
Grund mehr für seine Entstehung sogleich nach Karls Tode und seine Aus- 
dehnung nur bis 818. 


858 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1L 


Reichsannalen muß von neuem behandelt werden. Indessen sebe ich 
hier vollständig davon ab, auf diese Fragen einzugehen, da eine aus 
dem Straßburger historischen Seminar hervorgehende Dissertation des 
Herrn Wibel sich eindringlich mit ihnen beschäftigen wird: mit Rück- 
sicht auf sie habe ich mich auch in meinen Angaben über die Ge 
schichte der Klasse D auf das für das Verständnis Unentbehrliche 
beschränkt. Nur die Folgerungen für die Abfassung der Ann. 
Einhardi müssen schon in diesem Zusammenhange gezogen werden. 

Die Thatsache nämlich, daß eine noch das J. 813 umfassende 
His. der D-Klasse in der Ueberarbeitung benutzt ist, begründet end- 
giltig die oben ausgesprochene Vermutung, daß diese frühestens 814, 
also erst nach Karls Tode, in Angriff genommen ist. Unmittelbar 
nach seinem Ende ist der Gedanke lebendig geworden, das Werk, 
das seine Thaten verzeichnete, in eine des Herrschers würdige 
Sprache umzugießen. Der fortgeschrittenen Bildung des Hofes moch- 
ten die älteren Theile fast barbarisch erscheinen, während allerdings 
die späteren Jahresberichte mehr und mehr dem Geschmacke der 
Zeit nahe kamen. Da war es nahezu selbstverständlich, daß eine 
durchgreifende Umgestaltung, die notwendig noch einen großen Theil 
der Berichte aus den neunziger Jahren umfassen mußte, sich bis zu 
dem bedeutungsvollen Höhepunkt in Karls Regierung erstreckte: bis 
zur Kaiserkrénung. Mit dem Ende von Karls Königszeit endet auch 
die einschneidende Thätigkeit des Mannes, der die Bearbeitung der 
Reichsannalen bis 800 fast zu einer neuen Schrift zu machen wußte, 
während er für den letzten, vielleicht von den Freunden und Ge- 
nossen geschriebenen Teil bis 813 sich mit verhältnismäßig geringen 
Aenderungen begniigte. Daß er dabei einem eigentlichen Auftrage 
nachkam, wird man nicht wohl behaupten dürfen ; aber daß sein 
Werk rege Wünsche des höfischen Kreises zu befriedigen hatte, 
wird derjenige leicht glauben, der sich erinnert, daß in denselben 
Jahren zu Beginn von Ludwigs Herrschaft in eben demselben Kreise, 
sei es in der Kanzlei oder zu S. Martin von Tours, die alten Marcul- 
fischen Urkundenformulare in reines und gefälliges Latein umgewan- 
delt worden sind. 

Auch die Sprache hätte sich als weiteres Moment dafür ver- 
werten lassen, daß die Ueberarbeitung nicht bereits 801, aber schwerlich 
erst nach 830 geschrieben ist. Ich habe schon oben (S. 880) bemerkt, 
daß vom J. 808 an der Stil der Ann. regni sich in charakteristischer 
Weise dem Gebrauche der Ann. Einhardi nähert, und Dünzelmann 
hat ganz mit Recht beider engste Berührung vom J. 816 an hervor- 
gehoben. Wir werden jetzt vermuten dürfen, daß die zwischen 814 
und 817 fertig gestellte Ueberarbeitung seit 816 am Hofe vor- 


Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 889 


lag!); und das bewunderte Werk ward wie eine Schrift der Klas- 
siker von den Annalisten als Muster erhobener Sprache nachgeahmt. 
An eine Identität des Ueberarbeiters mit einem der Fortsetzer der 
Reichsannalen wird besser nicht gedacht; die zuletzt von Hiiffer in 
seinen Korveier Studien zusammengestellten Eigenheiten begegnen in 
keinem Abschnitte der Ann. regni; »ein Sachse am Hofe Ludwigs 
führt in den sog. Ann. Einhardi das Wort«. Monod will nicht ohne 
Grund den Verfasser unter den Geistlichen in der Umgebung des 
offenbar mit besonderem Interesse begleiteten Grafen Theoderich er- 
kennen, wihrend namentlich Hiiffer den sprachgewandten Schrift- 
steller in Gerold, dem Kaplan Ludwigs d. Fr. sieht, auf den Martin 
Meyer zuerst aufmerksam gemacht hat. Dieser Vermutung, die noch 
die Entstehung der Ann. Einhardi nach 830 zur Voraussetzung 
hatte, ist ihre Verschiebung auf den Zeitraum 814—816 nicht gün- 
stig, da Gerold erst 876 starb. Sollte der, welcher in frühen Jah- 
ren als Jüngling so hervorragendes geleistet hätte, nie wieder zur 
Feder gegriffen haben? An Sachsen hat es am Kaiserhofe nicht ge- 
fehlt; und so feinsinnig auch Hüffer für Gerold eingetreten ist, 
einenBeweis für seine Autorschaft hat er nicht liefern können ”). 
Wahrscheinlicher als die Annahme, daß die ausführlichen und z. T. 
höchst wertvollen Ergänzungen der Ann. Einhardi bis zum J. 800 
von einem Jünglinge herrühren, der von allen jenen Vorgängen 
durchaus nichts selbst erlebt hatte, sondern nur durch Mitteilungen 
anderer davon wußte, bleibt unter allen Umständen eine dahin zielende 
Lösung, daß ein älterer Mann — vielleicht aus Theoderichs Um- 
gebung — das Werk verfaßt hat, welcher mindestens noch einen 
Teil des Berichteten mit eigenen Augen gesehen, mit eignen Ohren 
den Legaten Eburis 798 nach der Rückkehr aus dem Kampfe von 
der Niederlage der Sachsen hat erzählen hören. Darum ist aber 
doch an Einhard, nach dem leider nun einmal die Ueberarbeitung 
genannt ist, in keiner Weise zu denken, zumal er ja kein Nieder- 
deutscher ist. Mit vielen Aelteren haben zwar noch Wattenbach 
und Mühlbacher an ihm festgehalten, während zuletzt Kurze und 
jetzt Monod ausführlich ihm jedes Anrecht darauf abgesprochen haben. 


1) Der von Simson bemerkte Umstand, daß über die spanische Gesandtschaft 
am Schlusse von 816 und, z. T. völlig gleich, am Anfang von 817 gehandelt 
wird, könnte den Gedanken wecken, daß mit dem J. 816 etwa eine Originalhs. 
der Reichsannalen endete und von dem J. 817 an der Originaltext in eine Hs. 
eingetragen wurde, in welcher der frühere Text bis 816 nur abgeschrieben war. 

2) Daß Agius, nach Hüffer ein Schüler Gerolds und der Poeta Saxo, nur 
eine verstümmelte Hs. der Ann. Einhardi benutzen konnte (s. oben S. 883), 
würde gradezu dagegen sprechen, daß Gerold diese verfaßt habe, 


890 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


Ein selbständiges Urteil hierüber vermag nur der zu fällen, welcher 
über das Verhältnis der sog. Ann. Einhardi zu Einhards Vita Karoli 
sich eine feste Meinung gebildet hat. 


Auch für diese neuerdings äußerst lebhaft erörterte Frage ist 
die Entscheidung über die Abfassungszeit der Ann. Einhardi von 
wesentlicher Bedeutung gewesen. Wem ihre Entstehung um 801 
im allgemeinen als sicher galt, für den war es selbstverständlich, 
daß sie als Quelle der nach Karls Tode geschriebenen Biographie 
anzusehen seien; auch Monod hat deshalb diese Auffassung vertreten. 
Kurze dagegen, der die Ueberarbeitung bis in die 30er Jahre hinaus- 
rückte, mußte sie aus der Vita Karoli ableiten, die schon 821 im 
Kloster Reichenau vorhanden gewesen sein soll. Gegen seinen >in- 
direkten< Beweis aus der Entstehungszeit der Quellen wandte sich 
Bernheim, der früher!) aus dem unmittelbaren Vergleiche beider 
Schriften die Benutzung der Annalen in der Vita >direkt< bewiesen 
zu haben glaubte. In ihrem Kampfe, der nicht so sehr um die Er- 
gebnisse an sich wie um den Wert der beiderseitigen Beweisarten *) 
geführt wurde, appellierte schließlich Bernheim in begreiflicher Un- 
geduld an die »communis opinio< derer, die sich heut noch mit sol- 
chen Dingen abgeben und die deshalb »nicht um die Frage herum- 
zugehen, sondern öffentlich Zeugnis abzulegen« haben. Und da selbst 
Monod von Kurze’s Ausführungen so beeinflußt worden ist, daß er 
‚eine unzweifelhafte Lösung der Frage für unmöglich hält«, so ist 
hier allerdings der Ort, mit der Entschiedenheit, die auf einer wohl- 
begründeten Ueberzeugung beruht, zu erklären, daß Bernheim un- 
bedingt das Rechte getroffen hat, wenn er die sog. Ann. Einhardi 
als Quelle der Vita Karoli bezeichnet. Aber wichtiger als solche 
Erklärung ohne werbende Kraft wird auch Bernheim der überzeu- 
gende Beweis für seine Ansicht sein, selbst wenn dieser Beweis — 
der von ihm so gering geachtete »indirekte« ist. Wiederum genügt 
für die Entscheidung ein einziger Blick auf die Quellen selbst, auf 
eben jene Stelle, die wir oben schon für die Entstehungszeit der 
Ann. Einhardi verwerteten und die in der Vita Karoli bedeutungs- 
voll verändert ist. Man vergleiche: 

1) Historische Aufsätze dem Andenken an G. Waitz gewidmet. S. 73 ff, Ich 
verzeichne die Litteratur über die »Frage«: Kurze in N. Archiv XXI, 61. — 
Bernheim in Deutsche Zeitschr. f. Geschichtswiss. N. F. I. Monatsblätter S. 129 ff. 
und Kurze ebenda S. 257 ff. — Bernheim in Histor. Vierteljahrschrift I, 161 ff. 
— Kurze in Neues Archiv XXVI, 153 ff. 

2) Nur gegen die methodologischen Auseinandersetzungen Bernheims hat sich 
H. Bresslau im N. Archiv XXIV, 752f. ausgesprochen; sachlich stimmt auch er, 
wie ich erklären darf, Bernheims Ansicht von der Priorität der Vita su. 


Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 891 


Ann. Einh. 798: 
Nam Abodriti auxiliares Fran- 


Vita Karoli c. 12: 
Causa belli erat, quod Abodritos, 


corumsemper fuerunt, ex quo qui cum Francis olim foede- 
semel ab eis in socielatem recepti rati erant, assidua incursione 
sunt. lacescebant. 

So sicher es ist, daß die Ann. Einhardi vor dem Abfall der Abo- 
driten, also vor 817 geschrieben sind, so unbestritten muß nach 
diesen Worten die Abfassung der Vita Karoli nach ihrer Empörung, 
also nach 817 sein. Der »indirekte« Schluß aus der Entstehungs- 
zeit der Werke liefert also den Ausschlag gebenden Beweis dafür, 
daß die Ann. Einhardi die Quelle der Vita gewesen sind; es ist das 
Verhältnis, für welches außerdem — darum ist Bernheims Ungeduld 
verständlich — schlechterdings alles spricht. 

Niemand, auch Kurze nicht, dem die Ueberarbeitung trotz ihrer 
späten Entstehung nach 830 mit dem J. 801 endet, hat je daran 
gezweifelt, daß Einhard seine Nachrichten aus Karls Kaiserzeit den 
Reichsannalen von 801—813 entnommen hat. Schon Simson, De 
statu quaestionis sintne Einhardi necne sint... Annales imperii S. 40 
hat die gleichartigen Stellen zusammengetragen, aus denen ich nur 
die bezeichnendste hervorhebe : 


Ann. regni (= Einh.) 813: 
evocatum ad se apud Aquasgrani 
filtum suum Hludowicum Aquita- 
niae regem coronam illi inposutt 
et imperialis nominis sibi consor- 
tem fecit Bernhardumque nepotem 

. regem appellari iussit. 


Vita Kar. c. 30: 
vocatum ad se Hiudowicum flsum 
Aquitaniae regem... consortem sits to- 
tius regni et imperialis nominis here- 
dem constitutt imposttoque caps 
eius!) diademate, imperatorem et 
augusium *) iussit appellari. 


Bei diesen Worten hat mit allen auch Kurze (Neues Archiv XXVI, 
156) angenommen, daß der Biograph »die älteren Annalen wörtlich ab- 
schreibt«. Wie steht es indessen mit den Ereignissen aus Karls 
Königszeit, wo die Reichsannalen und ihre Bearbeitung wesentlich 
auseinandergehen, die Vita Karoli sich aber im Ausdruck nicht mit 
jenen, sondern nur mit dieser berührt? Ich wähle einige Sätze aus 
dem Berichte des J. 787. Da heißt es: 
Ann. regni: Ann. Einh.: 

dum Capuam venisset, Areghisus Capuam Campaniae civitatem: ac- 
dux reliquid Beneventum civitatem cessit ibique castris positis conse- 
dit, inde bellum gesturus, ni me- 
elegit XII obsides et tertium de- moratus dux ... praevenisset ... 


1) Vgl. A. Einh. = A. regni 801: coronam capits eius inposutt. 
2) Vgl. A, Einh, = A. regni- 801: imperator et augustis est appellatus. 


892 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


Ann. regni: Ann. Einh. 
cimum filium supradicti ducis no- bello abstinuit et minore ducis 
mine Grimoaldum. filio nomine Grimoldo obsidatus 


gratia suscepto maiorem patri re- 
| misit. Accepit insuper obsides... 
Vita Carolı c. 10: 
Campuam Campaniae urbem accessit alque ibi positis castris bellum Bene- 
ventanis, ni dederentur, comminatus est. Praevenit hoc duz gentis Ara- 
gisus ..... Rex .. oblatos sibt obsides suscepit ... unoque ex filus 
qut minor erat obsidatus gratia retento matorem patri remisit. 

Hier wie an zahllosen andern Stellen aus der Geschichte Karls 
vor der Kaiserkrönung hat der Wortlaut der Vita nicht die leisesten 
Anklänge an die Reichsannalen; dagegen berührt er sich mit den 
sog. Ann. Einhardi genau so eng wie bei den Ereignissen von 801 —813 
mit den Annales regni. Und da will Kurze wirklich glauben machen, 
daß der Biograph bis zum J. 800 seine Vorlage — das sind nach 
Kurze eben die Ann. regni — zwar für den Thatbestand benutzt, 
aber sorgfältigst jede wörtliche Anlehnung gemieden und sich mög- 
lichst selbständiger Sprache beflissen habe, um eben dieselbe Quelle 
vom J. 801 an mit der gleichen Sorgfalt wörtlich auszuschreiben 
und sich möglichst in ihren Ausdrücken zu bewegen? solcher Sinn- 
widrigkeit ist der einfache Schluß entgegenzuhalten, daß der Autor, 
dessen Werk sich bis 800 genau so zu den Ann. Einhardi verhält 
wie nach 800 zu den Ann. regni, und der diese nach übereinstim- 
mender Ansicht vom J. 800 an ausgeschrieben hat, vor 800 eben 
jene Ann. Einhardi als Quelle vor sich gehabt haben muß. Hier 
greift jetzt entscheidend das Ergebnis unserer früheren Untersuchung 
ein, der zufolge es eine Ueberarbeitung der Ann. regni bis zum 
J. 800 für sich allein nie gegeben hat; sie ist vielmehr — zwischen 
814 und 817 entstanden — von vornherein mit einer nur an einigen 
Stellen stilistisch gefeilten Abschrift der Reichsannalen bis 813 ver- 
bunden gewesen. Dieses Werk, für welches also die Vereinigung 
einer Bearbeitung der Ann. regni bis 800 mit ihrer Abschrift von 
801—813 charakteristisch ist, liegt uns von 741—813 in dem ersten 
und ursprünglichen Teile der Handschriftenklasse E vor. Wenn daher 
Einhard in seiner Biographie Karls grade bis 800 aus der Bearbei- 
tung, von da an aber aus den Ann. regni selbst geschöpft zu haben 
scheint, so löst sich uns dies merkwürdige Doppelverhältnis dahin 
auf, daß er schon in seiner Vorlage beide in dieser Verbindung fand: 
Einhard legte seinem Werk eine Hs. der Gruppe E oder, wenn wir 
bei dem alten Namen bleiben wollen, die von 741—813 reichenden 
Ann. Einhardi zu Grunde, die ihm die Geschichte Pippins und Karls 


Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 893 


überlieferten ; die eine und einzige Handschrift bot in ihrem ganzen 
Umfang ihm den Stoff für seine Erzählung und das erfolgreich nach- 
geahmte Muster für seine Sprache ’). 

So stimmen, wie es sich bei richtigem Vorgehen gehört, »indirekter« 
und >direkter< Beweis, jeder für sich fast entscheidend, dahin zusammen, 
daß die Ueberarbeitung der Annalen die ursprüngliche, die Vita 
Karoli die abgeleitete Quelle ist. Die Art, wie in ihr die Annalen 
benutzt sind, hat Bernheim völlig zutreffend dargelegt ; ausdrücklich 
mag noch hervorgehoben werden, wie durchaus Einhards Stil unter 
dem beherrschenden Einfluß des Ueberarbeiters steht, auch da wo 
er sachlich gar nicht mit ihm zusammenhängt *). Daß diese Abhän- 
gigkeit durchaus nur durch umfangreiche sachliche und phraseologische 
Excerpte aus den Annalen erklärt werden kann, wie Bernheim 
meint, glaube ich nicht. Wenn Einhard sich eine annalistische Ta- 
belle über die wichtigsten Daten aus Karls Leben angelegt hatte — 
und ohne sie ist allerdings die in ihrer Art vortreffliche geistige Be- 
wältigung des Stoffes (man vergleiche z. B. das Kapitel über die 
Sachsenkriege) undenkbar —, dann war es ihm ein Leichtes, von 
Abschnitt zu Abschnitt die entsprechenden Berichte der Annalen ein- 
zusehen. 

Ist nach alledem erwiesen, daß Einhard seine Vita Karoli auf 
die Annales Einhardi (—813) gestützt und daß er sie erst nach 817 
geschrieben hat, zumal das olim in c. 12 den Ablauf einer gewissen 
Zeit seit 817 bedingt, so müßte das Werk doch schon vor 821/22 
beendigt gewesen sein, wenn seine Erwähnung in dem bekannten 
Reichenauer Bücherkatalog *) mit einer auf das J. 821/22 weisenden 
Ueberschrift die Existenz der Vita et gesta Karoli zu Reichenau im 
J. 821 so sicher beweisen würde, wie Kurze ohne jegliche Prüfung 
hinnahm. Am Hofe wurde die Biographie spätestens im J. 824 be- 
kannt. Denn dem Schreiber der Reichsannalen flossen bei der Schil- 
derung des Ueberfalls der Basken Worte aus der Vita c. 9 in die 


1) Inwieweit gelegentlich daneben die Reichsannalen (in der Fassung D?) 
oder ihre »Ueberarbeitung von 805« benutzt sind, lasse ich vorläufig unerörtert, 

2) Ich verzeichne einige aus der Fülle ausgewählte Beispiele. V.K. c. 2: qui et 
claritate generis et opum amplitudine ceteris emimebant, vgl. Ann. Einh. 789: nam és 
ceteris... et nobilitate generis et auctoritate senectutis longe praeminebat. — V. K. 
c. 14: morte praeventus = A.E. 759; piraticam exercentes = A. E. 798. — V. 
K. c. 18: honore consenuit = A.E. 774; c. 19: ne per olium torperent = A. E. 7%. — 
V. K. c. 20 aegritudine simulata = A. E. 763. — Es wäre gewiß dankenswert, 
wenn bei einer Neuausgabe der Vita die Masse dieser Entlehnungen, sei es in 
Anmerkungen oder in einem Glossar, verzeichnet würden. 

8) Becker Catalogi bibliothecarum n° 6. Wichtig ist der Vergleich mit der 
Genfer Hs. n° 21, deren Verzeichnis Beer in Wiener Studien IX, 160 gedruckt hat. 


894 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


Feder, und auch ‘sonst fehlt es seitdem nicht an Wendungen, die us 
zeigen, daß Einhards Werk ebenso wie die Ueberarbeitung der Reichs- 
annalen dem Verfasser ihres letzten Teiles erwünschtes Vorbild für 
seine Sprache war. 


Erst jetzt, nachdem wir die Hauptabschnitte der Ann. regni von 
741—794. 795—807. 808—820 resp. 829 nach ihren Stileigentin- 
lichkeiten geschieden haben, nachdem die Entstehung der Ann. Ein- 
hardi von 741—813 aus dem Archetypus der Hs. D auf die Jahre 
814—817 festgesetzt und die Abfassung der Vita Karoli unter Benutzung 
der Ann. Einh. nach dem J. 817 entschieden ist, erst jetzt vermögen wir 
selbständig an die Streitfrage heranzutreten, der Monod den letzten 
Abschnitt seines zweiten Kapitels widmet: hat Einhard irgend 
welchen Anteil an den Annalen? Monod lehnt seine Mitwirkung 
sowohl an den Jahrbüchern selbst wie an der Ueberarbeitung gänr- 
lich ab; wenn man ihm auch in dem Ergebnis beistimmen und in der 
Verwerfung der späteren Quellenzeugnisse (auch der Translatio s. 
Sebastiani) zur Seite stehen wird, so läßt sich doch nicht verkennen, 
daß er sowohl Manitius und Dorr wie auch Kurze gegenüber, der 
Einhard die Reichsannalen von 795—819 zuschreibt, mehr eine Me- 
nung aufstellt als einen Sachverhalt begründet. Bei dem Versagen 
aller gleichzeitigen Nachrichten läßt sich: ein Beweis für oder gegen 
Einhards Mitarbeit nur aus dem Stil seiner sicher beglaubigten 
Werke erbringen. Da schien nun zwischen dem hochbewerteten 
Sprachkünstler der Biographie und dem schlichten Schreiber der 
Briefe und der Translatio sanctorum Marcellini et Petri ein beträcht- 
licher Unterschied, so groß, daß Dünzelmann auf den eigenartigen 
Ausweg verfiel, zwei Gelehrte des Namens Einhard zu trennen und 
die Schriften auf sie zu verteilen. Wenn wir aber der Vita Karoli 
sorgfältig den Festschmuck abnehmen, den sie von den klassischen 
Autoren und den Annales Einhardi erborgte, so begegnen wir auch 
in ihr überall dem sachlich schlichten Wesen und der ungekünstelten 
Sprache des gebildeten Mannes, von denen Einhards andere Schriften 
zeugen. Dieses Vergleichsmaterial lehrt überzeugend, daß Einhard 
weder mit der Abfassung der Reichsannalen in ihren letzten Teilen 
von 808 an noch mit der Ueberarbeitung in den Ann. Einhardi das 
Geringste zu thun gehabt haben kann. Aus beiden spricht die schon 
zu voll entwickelte Blüte karolingischer Hochrenaissance, während 
Einhards Stil noch den Charakter der früheren Epoche zeigt. Kam 
er doch um 794 aus Fulda an den Hof'); und weil seine Ausbildung 


1) Vgl. Kurse, Einhard 8. 9. 


Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 895 


in den nächsten Jahren durch Alchvin vollendet worden ist, so ist 
seine Sprache allerdings derjenigen der Annalen von 795—807 ver- 
wandt. Allein das beweist in jenen Zeiten neuerworbener Kenntnisse 
und schulmäßiger Erziehung am Hofe nichts weiter, als daß Männer 
von gleicher Bildung wie Einhard in den Jahrbüchern die Feder ge- 
führt haben. Gewiß wird man nicht wie bei den späteren Jahren 
und bei der Ueberarbeitung sagen dürfen, daß Einhard an dem Ab- 
schnitt von 795—807 unmöglich irgend welchen Anteil hat nehmen 
können, aber es fehlt einstweilen an jedem Zeugnisse dafür, und 
seine Mitwirkung bleibt eine durch nichts gestützte und deshalb un- 
fruchtbare Vermutung. 

Durch die geringere Schätzung von Einhards stilistischen Fähig- 
keiten und seine Ausschließung aus der Reihe der höfischen Annalen- 
schreiber würden jetzt eine Reihe von Bedenken beseitigt werden, 
die man früher gegen die Abfassung der Ann. Sithienses und des 
ersten Teils der Ann. Fuldenses durch ihn erhoben hat‘). Neuer- 
dings hat Kurze in seiner Biographie Einhards ihm wieder mit 
großer Bestimmtheit, und nicht ohne Eindruck zu machen, beide 
Jahrbücher zugeschrieben ;, während er aber noch beide als Quellen 
der nach 830 geschriebenen Ann. Einhardi ansah, kommt jetzt nach 
deren Einreihung in die Jahre 814—817 endlich und endgiltig 
wieder die alte Anschauung zu Ehren, die für die Fuldischen An- 
nalen zuerst Waitz in den Göttinger Nachrichten 1864 S. 58 ff. be- 
gründet hat, daß die Ann. Sithienses wie die Fuldenses nicht Quellen, 
sondern Ableitungen der Ann. Einhardi sind. Außerdem ist auch 
durch Kurze noch nicht der — um mit Holder-Egger zu reden — 
»trostiose« Streit um das Verhältnis der Ann. Sithienses zu den Ful- 
denses aus der Welt geschaft. Wenn Kurze in der Ausgabe der Ann. 
Fuldenses ein verlorenes, reicheres Exemplar der Ann. Sithienses 
als Quelle jener annahm, so mag er sich des Mittelwegs erinnert 
haben, auf den Waitz leider ganz umsonst in den Forschungen zur 
deutschen Gesch. XVIII, 361 hinwies, ohne ihn allerdings in seiner 
nicht glücklichen Polemik gegen Simson selbst zu verfolgen. Aber 
wenn überhaupt irgend ein annalistisches Werk »mit Einhard in 
Verbindung zu bringen ist«, so sind es trotz Kurze nicht die Jahr- 
bücher von Fulda, sondern höchstens vielleicht jene knappe tabella- 
rische Uebersicht, die uns in der Hs. von Sithiu zwar im ganzen 
getreu, aber doch nur in mehrfach verderbter und wohl vorzeitig 
abgebrochener Abschrift überliefert, die aber aus den Fuldaer An- 
nalen vollkommener herzustellen ist. 


1) Vgl. z. B. Wattenbach, Geschichtsquellen 1°, 227. 


896 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


Mit diesem Ausblicke, der notwendig war, um hier die wesent- 
lichsten Momente der Einhardfrage!) zusammenzufassen, treten wir 
schon aus dem Rahmen der von Monod in dem vorliegenden Hefte 
behandelten Probleme hinaus. So wenig aber der letzte Gedanken- 
gang vorläufig zu verfolgen sein wird, so wenig werden wir einst- 
weilen eine Fortsetzung der anregenden Studien des französischen 
Gelehrten erhoffen dürfen : die Untersuchung der karolingischen Ge- 
schichtsquellen des 9. Jahrhunderts wird für eine Zahl belangreicher 
Fragen nicht eher wieder aufgenommen werden können, als bis 
Hampe’s glücklicher Fund zu Durham der Forschung allgemein zu- 
gänglich gemacht worden ist !). Erst die neue Hs.*), die im ganzen 
eine schöne Bestätigung von Pückerts umsichtiger und vorsichtiger 
Forschung zu liefern scheint, entzieht das Annalenwerk von 805 
allen willkürlichen Constructionen und gewährt — um nur das Wich- 
tigste zu erwähnen — den sicheren Boden für die Beurteilung der 
Lorscher Chronik, der Chronik von Aniane, der Metzer Annalen. 

So wird es kritischen Arbeiten zu den karolingischen Geschichts- 
quellen in den nächsten Jahren nicht an interessantem Stoffe mangeln; 
und es unterliegt keinem Zweifel, daß sie zu sicheren Ergebnissen 
zu führen vermögen, die auch von allgemeiner Bedeutung sein 
werden. Denn bei der geringen Teilnahme, deren sich in Deutsch- 
land heut die Geschichte des Mittelalters im allgemeinen und kritische 
Forschung im besonderen erfreut, ist es nicht überflüssig als einen 
Vorzug von Monods gehaltvollem Buche hervorzuheben, daß es mit 
seinem Nebeneinander der weitumschauenden Einleitung und der den 


1) Leider sind in der falschen Voraussetzung, daß die Ann. Einhardi sowohl 
die Ann. Sith. und die Fuld. wie die Vita Karoli benutzt hätten, die Uebereinstim- 
mungen mit ihnen in der Neuausgabe der Ann. regni durch Petitdruck bezeichnet. 
Der scheinbare Vorzug ist nun zum schweren Nachteil geworden. Noch pein- 
licher ist die Verwendung des Sperrdruckes bei sachlicher Verwandschaft, aber 
sprachlicher Verschiedenheit gegenüber jenen zu Unrecht als Quellen der Ueber- 
arbeitung behandelten Schriften. Wie D. Schäfer schon zu einer Verwerfung des 
Verfahrens (Hist. Zeitschrift 78, S. 35) gekommen ist, so hat auch mir Beob- 
achtung in den Seminarübungen ergeben, daß die Art, wie die Sperrung ange- 
wandt ist, für nicht ganz geübte Benutzer eher schädlich als nützlich ist und 
auch den geübten die kritische Arbeit nicht erleichtert. Und nun ist obendrein 
alle darauf verwandte ungeheuere Mühe umsonst, weil die kritischen Grundlagen 
verkehrt waren! Bei einer Neuausgabe würde Petitdruck nur gegenüber den 
wörtlichen Entlehnungen aus den Ann. regni und in den Anmerkungen Hinweis 
auf die sachlichen Uebereinstimmungen mit andern Quellen, vor allem mit der Be- 
arbeitung von 805, zu erwägen sein. 

2) Dank der Güte der Centraldirection der Mon. Germanise konnte ich 
Freund Hampe’s Text in Straßburg selbst einsehen ; später hatte Herr Wibel die 
Freundlichkeit, mir seine Abschrift zur Verfügung zu stellen. 


Leo Meyer, Handbuch der grieehischen Etymologie. Dritter Band. 897 


Einzeluntersuchungen gewidmeten Kapitel bei allen Ergänzungen, 
deren seine Schlüsse bedürfen, doch so recht klar macht, wie erst aus 
der sorgsamsten Behandlung der einzelnen Bausteine das erfreuliche 
Ganze eines Werkes ersteht. Die Aufteilung der früher allein für 
Einhard beanspruchten Schriften an einen größeren Kreis von Ge- 
lehrten am Kaiserhofe, die Aufdeckung der in den Reichsannalen so 
ungemein deutlichen Fortschritte der klassischen Bildung, der Nach- 
weis der innigen Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Werken 
und hiermit des lebhaften geistigen Austausches — es sind Momente, 
die nur in methodischer Forschung langsam erworben werden und 
die doch dem Gesamtbilde erst die Wärme und die Mannigfaltigkeit 
geschichtlichen Lebens verleihen. — _ 

Als G. Waitz vor 30 Jahren in diesen Blättern (1872 S. 903) 
Monods, seines Göttinger Zuhörers und Genossen seiner Uebungen, 
erste kritische Studien zur merowingischen Quellenkunde erfreut zur 
Anzeige brachte, da hegte er den Wunsch, daß nun häufiger die 
französischen Gelehrten solchen Untersuchungen sich widmen möchten, 
damit »ihre und unsere Arbeiten in einander greifen und zusammen- 
wirken«. Es deutet auf den Wechsel der Zeiten, wenn heut viel- 
mehr die Hoffnung auszusprechen ist, daß die deutsche Geschichts- 
wissenschaft auch in Zukunft und auch an den Universitäten Deutsch- 
lands der kommenden Generation die Fähigkeit überliefern möge, sich 
dauernd den ihrer Vergangenheit würdigen Anteil an der Feinarbeit zu 
bewahren, die das Geistesleben unseres Mittelalters erschließen wird. 


Straßburg i. E. Hermann Bloch. 





Meyer, Leo, Handbuch der griechischen Etymologie. Dritter 
Band. Wörter mit dem Anlaut y, ß, d, &, x, 9, & Leipzig, Verlag von 
S. Hirzel. 1901. 488 Seiten in GroBoctav. 

Außerordentlich rasch ist dieser dritte Band unseres Handbuchs 
dem zweiten Bande nachgefolgt. Während dieser letztgenannte die 
vocalisch anlautenden Wörter, insbesondere die mit dem Vocal « und 
die mit seinen Diphthongen ac, ss, und os, sowie noch die mit dem 
Vocal v und die mit seinen Diphthongen «v, sv und ov zum Ab- 
schluß gebracht und dazu.noch die mit x (nebst £), x (nebst %) und 
t anlautenden, umfaßt der neue dritte Band die mit den sogenannten 
tonenden Explosivlauten y, B und d und dazunoch £, und außerdem 
noch die mit den Aspiraten x, $ und ® anlautenden Wörter. So 
bleiben für den vierten und letzten Band also nur noch die Wörter 
mit dem Anlaut o, mit anlautenden Nasalen, also die mit » und g, 
und außerdem die mit anlautenden @ und A übrig. 

Gott. gel. Aus, 1901. Nr, 11. 59 


898 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


Es ist für den Gesammtcharakter einer Sprache von nicht ge- 
ringer Bedeutung, in welcher Weise die Gesammtheit der Wörter 
und insbesondere derjenigen Wörter, die in unserm Handbuch als 
die eigentlich etymologischen Kernwörter zusammengestellt worden 
sind, sich nach ihrem verschiedenen Anlaut vertheilt. So bildet im 
Griechischen die Gesammtzahl der vocalisch anlautenden Wörter un- 
gefähr die Hälfte der Wörter mit consonantischem Anlaut, die 
Wörter aber mit anlautenden « sind an und für sich weit zahl- 
reicher, als die mit irgend einem andern, sei es vocalischem oder 
consonantischem Anlaut. Es folgen dann erst der Reihe nach die 
Wörter mit anlautendem x und x, die mit dem Zischlaut und die 
mit #. Die dann folgenden Wörter mit anlautendem e sind ungefähr 
halb so zahlreich als die mit anlautendem a. Auf die mit anlau- 
tendem & folgen bald die mit anlautendem z, danach die mit anlau- 
tendem o und die mit anlautendem d, die sich an Umfang ungefähr 
gleichstehen. In etwas weiterem Abstande reihen sich die mit an- 
lautendem 8 und die eben so zahlreichen mit anlautendem A an, 
darauf die mit 9, mit z, mit y und mit $. Minder zahlreich sind 
die Wörter mit anlautendem » und die mit g. Es folgen die mit 
anlautendem 7, mit v und die mit dem zweilautigen a. Wieder 
noch weniger zahlreich sind die mit anlautendem &, dem überhaupt 
wenigst häufigen von allen Consonanten. Ihm schließen sich an 
Häufigkeit des Auftretens im Anlaut die Wörter mit &ı und ov an, 
danach die mit w, mit «v und mit ov und zuletzt die mit anlauten- 
den ev. 

In Bezug auf die äußere Einrichtung des Handbuchs ist kaum 
noch etwas hinzuzufügen, doch mag noch angeführt sein, daß die 
weiblich-geschlechtigen Wörter, die in der Regel in der auf gedehntes 
& ausgehenden attischen Form aufgestellt zu werden pflegen, im Hand- 
buch fast alle mit dem Auslaut 7 angegeben werden, nicht etwa, 
weil so die altertümlichere Form anzusehen wäre, sondern weil wir 
sie so im Homer, dem thatsächlich ältesten griechischen Sprachdenk- 
mal, antreffen. 

Es mag erlaubt sein, nun noch ein paar Bemerkungen anzı- 
knüpfen, die sich auf eine Beurtheilung des ersten Bandes des Hand 
buches beziehen, die mir zufällig unter die Augen gerathen ist und 
wieder den Beweis liefert, wie unendlich viel weniger man von Re 
censionsfabrikanten gewöhnlicherer Art lernt, als durch eigene Arbeit 
und eigenes Nachdenken. 

So wird getadelt, daß von Brugmanns >schl 
von éxasovrego-s, die sich im Rheinischen Mus 
bis 633) findet, nichts gesagt sei. Sie versucht 







Leo Meyer, Handbuch der griechischen Etymologie. Dritter Band. 899 


Adjectiv aus En-ava-sevesdaı — einer Verbalzusammensetzung, die 
übrigens nirgends begegnet — zu deuten. Das ist vielmehr gar 
keine Erklärung, sondern nur ein ganz und gar mißrathener Er- 
klärungsversuch, der keiner weiteren Erwägung werth ist. 

In Bezug auf dre&o ist von einer unberücksichtigten >richti- 
geren Auffassung< die Rede, für die auf Brugmanns Grundriß (1°, 
493) verwiesen wird. Da findet sich unter der Ueberschrift »Der 
Vocalablaut (Vocalabstufung)« zusammengestellt »ai. öjas, Kraft, 
Starke<, gr. at&m »ich mehre, steigere<, alb. aguma »Morgenrothe, 
Morgen<, lat. augeo, auxilium ... gr. d[flé&o >ich mehrec, goth. 
wahsjac . .., was alles doch zu wenig geordnet ist, als daß etymo- 
logische Fragen dadurch gefördert oder gelöst werden könnten. Wie soll 
überhaupt der Zusammenhang von altind. öjas mit «bEsıv gedacht sein? 
Statt des letzteren wäre, wo sich’s um Etymologie handelt, vielmehr 
das mediale &retssd«ı mit der älteren Bedeutung »wachsen, zu- 
nehmen< zu nennen gewesen. 

Die Deutung von ddvd« (die Betonung &Zavd« kann nicht ohne 
Weiteres als unrichtig bezeichnet werden) aus einem alten avoavia 
kann nur als eine ganz und gar unsichere bezeichnet werden, wie wir 
deren überhaupt in überaus großer Fülle unerwähnt gelassen haben. 

Die Erklärung von dxovev aus einem zusammengesetzten dx- 
-ovg- »ein scharfes Ohr auf etwas habend<, auf die hingewiesen 
wird, ist so ganz und gar absurd, daß sie keiner weiteren Erwägung 
werth ist. 

Bezüglich des Comparativs dusivov wird auf eine Bemerkung 
Brugmanns (Griech. Gramm. Seite 200) hingewiesen, die da lautet 
»Auch ausivov, yspsiov, wAgov hatten wohl [!] kein eigentliches 
Comparativsuffix. dusivov hatte echten Diphthong & ... es lag 
ein Stamm dusı-vo zu Grundec. Die Aufstellung dieser letzten 
Form hängt völlig in der Luft und kann dadurch ohne weitere Er- 
läuterung die Frage nach der Etymologie von dusivov nicht als ge- 
fördert gelten. 

Die Zusammenstellung von ddev- (bei Brugmann Griech. Gramm. 
Seite 115) mit lat. ingven und schwedisch ink »Blutgeschwiir< hat 
jedenfalls sehr viel Ansprechendes, aber was hat das zu schaffen 
mit meiner Bemerkung zu dem Wort »dunkler Herkunft«. Ist die 
zu Grunde liegende Verbalform nebst ihrer Bedeutung etwa nicht 
dunkel ? 

In Bezug auf das Wort &viavrds wird auf Brugmanns Gram- 
matik, Seite 170, verwiesen. Da heißt es »Auf Grund derselben 
Verbindungen erwuchsen die Adjectiva wie xgoc¢éonegos (xoéoxsgos) 
nach xgd¢ éoxsgoy.... eviavrög (»Jahrestag«) auf Grund von IV} avrg 

59 * 


$06 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


nach der ansprechenden Deutung<. Vielmehr kann diese Deutung 
auch unbesehen als ganz werthlos bezeichnet werden. 

Ganz gewiß wird mein Handbuch der Griechischen Etymologie 
gar manches Besserungsfähige und auch wohl ganz Verfehlte ent- 
halten — wie sollte das auch anders sein bei seinem großen Umfang 
und den unendlich viel schwierigen Fragen, die es in sich schließt 
—, aber gegen so leichtsinnig hingeworfene Nörgeleien, wie die ar 
geführten, wird es noch immer Stand halten und denen reiche Beleb- 
rung bieten, die wirklich belehrt sein wollen. Herr Fr. Stolz, vo 
dem die obigen Ausstellungen herrühren, sitzt auf sehr hohem Pferd, 
aber er versteht doch nur sehr schlecht zu reiten; ihm gelingt es noch 
nicht, Balance zu halten und bei jeder Volte liegt er im Sande. 


Göttingen, November 1901. Leo Meyer. 





Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 
Texte und Untersuchungen. Herausgegeben von Baeumker und Freib. res 
Hertling. 

Bd. III. Heft I. Domanski, B., Die Psychologie des Nemesiu 
XX, 168. Preis 6,00 Mk. 

Bd. II. Heft IV. Worms, M., Die Lehre von der Anfangslosig 
keit der Welt bei den arabischen Philosophen des Orient 
und ihre Bekämpfung durch die arabischen Theologen. (Mt 
takallimün.) VIII, 71. Preis 2,50 Mk. 


Münster 1900. Druck und Verlag der Aschendorfischen Buchhandlung. 

Die Besprechung der beiden neuen Stücke der unter bewährte 
Leitung sicher fortschreitenden Sammlung sei mit dem kleinere 
Werk begonnen. Den Verfasser machten seine Studien über di 
mittelalterliche Philosophie auf eine handschriftliche Abhandlung de 
Averroes aufmerksam, welche den Nachweis zu liefern sucht, daß 
die Ansichten der muhammedanischen Peripatetiker und der strexg- 
gläubigen Theologen über die Entstehung der Welt im Princip ni 
einander übereinstimmen. Es reizte ihn diese Abhandlung herauss- 
geben, doch schien es notwendig, zuvor die betreffenden (der Ver- 
fasser verwendet leider das entsetzliche »diesbezüglichen>) Lehren de 
arabischen Philosophen und Theologen selbst vorzuführen. So bildet 
dies hier die Hauptarbeit; der Text jener Abhandlung hingegen 
wird, unter Voranschickung einer Inhaltsangabe, einfach veröffent- 
licht. Bei der Erörterung der Stellung der Philosophen und Theo 
logen zu jenem Problem hat aber Dr. Worms zugleich die allge- 
meine Bedeutung der einzelnen Persönlichkeiten für die Geschichte 
der Philosophie darzulegen gesucht. Es rechtfertigt sich das durch die 


Beiträge sur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. III 1. 4. 901 


Thatsache, daß die Frage der Anfangslosigkeit. der Welt bei den 
Arabern nicht nur die Philosophen, sondern alle Gebildeten be- 
schäftigte, und daß ihre Lösung den Hauptunterschied zwischen den 
Philosophen und den Theologen bildete. Es wird aber diese Unter- 
suchung mit so sicherem Ueberblick und so eindringender Klarheit 
geführt, daß man ihr mit aufrichtigem Vergnügen und zu mannigfacher 
Belehrung folgt. 

Der erste Abschnitt handelt von Aristoteles und seinem Einfluß 
auf die arabische Philosophie. Von größter Bedeutung für die Ge- 
staltung dieses Einflusses war der Irrtum der Araber, die sog. 
»Theologie des Aristoteles«e (ein Excerpt aus Plotins Enneade IV 
bis VI) für echt aristotelisch zu halten und mit seinen Lehren aufs 
Engste zu verweben. Was immer das eigene System des Aristoteles 
bei den Fragen der Ewigkeit der Welt und des Verhältnisses Gottes 
zur Welt an Lücken und Schwierigkeiten enthielt, das suchten sie 
vermittelst der jene Schrift beherrschenden Emanationslehre mit 
ihrer Einschiebung verschiedener Mittelwesen zwischen Gott und 
Welt zu überwinden. Am wenigsten Raum hat Averroes dieser 
Emanationslehre verstattet, wie er überhaupt die aristotelische Phi- 
losophie von allen am besten verstanden und am treuesten interpretiert 
hat. Wenn sich somit im allgemeinen die arabische Philosophie als 
eine Verschmelzung des Aristotelismus mit dem Neuplatonismus aus- 
nimmt, wobei auch die Grundanschauungen des Koran nicht ohne 
Einfluß geblieben sind, so ist das nicht so zu verstehen, als ob jene 
Philosophie lediglich an das gegebene Material gebunden bleibe und 
gar nichts an Eignem leiste. Denn in Wahrheit hat sie, haben 
namentlich Avicenna und Averroés in wichtigen Punkten aristotelische 
Gedanken mit größerer Konsequenz weiter ausgedacht und damit 
in die Bewegung der Philosophie thätig eingegriffen. 

Der zweite Abschnitt behandelt die arabischen Philosophen des 
Orients. Von Al-Kindi läßt sich nur vermutungsweise annehmen, 
daß er sich zum Problem der Anfangslosigkeit der Welt ähnlich 
stellte wie Aristoteles, wie überhaupt seine Philosophie noch zu sehr 
das Gepräge eines bloßen Anfangs trägt und in die einzelnen Pro- 
bleme noch nicht tief eindringt. Zum System erhoben ist der ara- 
bische Aristotelismus erst durch Al-Färäbi. So vertritt er auch mit 
voller Entschiedenheit die Lehre, >daß die Himmel ewig und nur 
das innerhalb derselben Befindliche entstanden und vergänglich seic; 
er stimmt hier nicht nur in ‘der Behauptung, sondern auch in den 
Beweisen im wesentlichen mit Aristoteles überein; kein Wunder, 
daß er sich seitens der Orthodoxen den Vorwurf eines Ungläubigen 
und Ketzers zuzog. Er hat zugleich als der erste unter den ara- 


902 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


bischen Philosophen eine vollständige Emanationslehre, die ihn 
zwischen Gott und der Materie der sublunarischen Welt nicht weniger 
als sechs Mittelursachen annehmen läßt. 

Avicenna (Ibn-Sind) schließt sich gegenüber solcher Emanations- 
lehre enger an Aristoteles an. Das Hauptverdienst dieses bis zur 
Gegenwart sehr verschieden beurteilten Denkers liegt in der syste- 
matischen Ordnung und strengen Verknüpfung, mit der er alle 
Teile der peripatetischen Philosophie zu einem Ganzen verband und 
in jene klare und übersichtliche Form brachte, in der sie auf die 
Folgezeit überging. Eben darum haben Jahrhunderte aus seiner 
Darstellung der Philosophie ebenso gern Belehrung geschöpft, wie 
man sich aus seinem Kanon der Medicin Rat zur Heilung von 
Krankheiten holte. Wenn er auch die aristotelische Lehre von der 
Anfangslosigkeit der Welt teilt, so erscheint bei den Beweisen zum 
ersten Mal in der arabischen Philosophie eine energische Weiter- 
bildung und zugleich präcisere Formulierung aristotelischer Lehren. 
Er hat im besonderen den Begriff der Privation hypostasiert und zu 
einem selbständigen Princip gemacht; ferner hat er die Materie 
zu einem gleichwertigen und gleich ewigen Princip neben Gott er- 
hoben, damit aber den aristotelischen Dualismus von Gott und Welt, 
von Geist und Stoff auf die Spitze getrieben. Mit Al-Färäbi stimmt 
er darin zusammen, die Möglichkeit des Entstehens dem wirklichen 
Entstehen nicht blos begrifflich, wie Aristoteles lehrte, sondern auch 
zeitlich vorangehen, sowie nicht Gott selbst, sondern eine von ihm 
emanierte erste Intelligenz die oberste Himmelssphäre bewegen zu 
lassen. 

Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit den arabischen Theo- 
logen, den muhammedanischen Scholastikern. Es handelt sich hier um 
die orthodoxe Schule der Mutakallimün (über den Wortsinn dieses Aus- 
drucks waren schon bei den Arabern die Meinungen geteilt), welche 
zunächst die freisinnigen Theologen, die Mutaziliten, bekämpfte und 
allmählich verdrängte, später aber sich hauptsächlich gegen die ara- 
bischen Aristoteliker wandte und ihnen gegenüber mit den eigenen 
Waffen der philosophischen Dialektik die ‘orthodoxen Dogmen ver- 
focht. Das hatte schließlich einen solchen Erfolg, daß die Philosophie 
beim Volke gänzlich in Mißkredit geriet und die Philosophen im 
Vortrag ihrer Lehren zu größter Vorsicht gezwungen wurden. Diesen 
Orthodoxen galt selbstverständlich die Lehre des Koran von der 
Weltschöpfung als ausgemachte Wahrheit, die aber sowohl durch 
Widerlegung der entgegengesetzten Lehre als durch positive Be- 
gründung rechtfertigt werden sollte. Die Methode, die Glaubens- 
sätze durch philosophische Argumentation zu beweisen, wurde hier 


Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. III 1.4. 908 


zu einem System ausgebildet, ganz ähnlich wie das später in der 
jüdischen und in der christlichen Scholastik geschah. Die Polemik 
der arabischen Scholastiker hat die schwachen Stellen der Gegner 
geschickt erspäht und nachdrücklich angegriffen ; es war namentlich 
die Hypostasierung abstrakter Begriffe, wie der der Möglichkeit und 
des Nichtseins, dieser übrigens schon in Aristoteles selbst angelegte 
Grundfehler der Scholastik, welcher mit Recht gerügt und energisch 
abgewiesen wurde. Diese Bewegung war freilich in den Anfängen 
dürftig genug, sie konnte die überlegene Stellung der Gegner nicht 
erschüttern, bis ihr ein hervorragender Vertreter in al-Gazäli (Algazel) 
erstand, einem höchst eigentümlichen Mann, den Renan den »origi- 
nellsten Geist der arabischen Schule« genannt hat. Eine zusammen- 
hängende philosophische Ueberzeugung läßt sich seinen Schriften 
nicht entnehmen, und es bleibt unsicher, wie weit er eine solche 
überhaupt gehabt hat, da er, philosophisch angesehen, durchaus 
Skeptiker ist; in der Art aber, wie er seine Skepsis verfochten hat, 
liegt seine Eigentümlichkeit und seine Bedeutung. Er richtet u.a. 
eine scharfe Kritik gegen das Kausalitätsprincip, indem er nur eine 
zeitliche Folge, nicht eine ursächliche Verknüpfung der Thatsachen 
gelten lassen will; jene Folge der Erscheinungen aber begründet 
sich ihm nicht in einem Naturgesetz, sondern in dem Willen Gottes, 
der ganz wohl auch die Gewohnheit durchbrechen und eine andere 
Folge herbeiführen kann. So wird bis zu einem gewissen Grade 
schon der Gedankengang Humes vorausgenommen. Auch die her- 
kömmlichen Lehren von der Materie, der Bewegung, der Zeit wer- 
den hart angegriffen, immer mit dem Bestreben, die subjektiv 
menschliche Vorstellungsweise gegen die innere Notwendigkeit der 
Dinge scharf abzugrenzen. Algazels Polemik gegen die Philosophie 
hat thatsächlich eine so starke Wirkung geübt, daß nach ihm kein 
namhafter Philosoph mehr im Orient aufgetreten ist; er selbst aber 
hat sich schließlich dem mystischen Sufismus in die Arme geworfen, 
um hier die Befriedigung zu finden, die ihm offenbar weder die 
Philosophie noch die Theologie zu geben vermochte. 

Der Anhang bringt die in hebräischer Uebersetzung vorliegende 
Abhandlung des Averroés (nebst Inhaltsangabe), welche den Aus- 
gangspunkt der Schrift von Dr. Worms bildete. Averroés sucht 
eine Versöhnung zwischen den widerstreitenden Ansichten zu stiften 
durch den Nachweis, daß im Grunde beide einig seien, und daß die 
Ursache der Controverse lediglich die Anwendung eines homonymen 
Ausdrucks für zwei von den Philosophen und den Theologen ver- 
schieden aufgefaßte Begriffe seien. Beide seien einig, daß die Welt 
weder aus etwas, noch in der Zeit, noch nach einem Nichtsein ent- 





904 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


standen ist, sondern ihr Dasein allein einem ewigen Schöpfer ver- 
dankt. Die Philosophen aber verstehen unter >geschaffen< solches, 
das aus etwas, nach einem Nichtsein, ferner in Raum und Zeit und 
durch einen Schöpfer hervorgebracht sei; da ihnen ein solcher Ge- 
danke anstößig ist, so ziehen sie für die Welt die Bezeichnung 
‚anfangslos« vor; die Theologen dagegen denken an eine Schöpfung 
aus nichts, der weder ein Nichtsein, noch Raum und Zeit voran- 
gingen. — So sollte, wie oft in der Geschichte der Philosophie, 
durch begriffliche und sprachliche Distinction ein Gegensatz über- 
wunden werden, der in Wahrheit unversöhnlich ist. 

Von der Arbeit des Dr. Worms, die uns mit sicherer Hand und 
überschauendem Blick durch ferne Welten und Zeiten führt, können 
wir nicht scheiden, ohne dem Wunsch nach einer Weiterführung zu 
den abendländischen arabischen Philosophen und der späteren jüdi- 
schen Scholastik Ausdruck zu geben. Hat doch ein solcher Ver- 
such, an einem einzelnen Centralproblem die Bewegung der Zeiten 
aufzuweisen, einen eigentümlichen Reiz und Wert. 


Nicht so völlig zustimmend können wir uns zu dem Werk von 
Prof. Domanski verhalten, obschon wir auch in ihm eine schätzbare 
Leistung begrüßen und im besondern den Fleiß wie die Gelehrsam- 
keit bereitwillig anerkennen. Eine nähere Erörterung der Psycho- 
logie des Nemesius ist sicher ein dankenswertes Unternehmen. Denn 
wenn auch nach der vortrefflichen Behandlung des Gegenstandes in 
Siebecks Geschichte der Psychologie jene Psychologie nicht wohl 
mit Domanski »ein bisher unbebautes Feld« heißen kann, so fehlt in 
Wahrheit eine selbständige Untersuchung , welche doch in verschie- 
dener Beziehung ein wissenschaftliches Interesse hat. Hier erhalten 
wir das erste System der Psychologie auf christlichem Boden; der 
Bau konnte nicht anders als mit dem aus dem Altertum überkom- 
menen Material ausgeführt werden; es ist nun anziehend zu ver- 
folgen, woher dies entnommen und wie es zusammengefügt ist, zu 
ermitteln, wie weit die christliche Denkart ihre Eigentümlichkeit 
gegenüber der antiken zur Geltung bringt, wie weit sie im Gegen- 
teil von dieser fortgerissen wird, auch wie weit sich hier der Ge- 
sichtskreis des Psychologen ausdehnt und was ihm als Hauptsache 
gilt. Zur Lösung dieser Aufgabe bedurfte es ebenso einer höchst 
sorgfältigen Forschung wie überschauender Erwägungen. Das Erstere 
hat der Verfasser vortrefflich geleistet, er zeigt die gleiche Kunde 
der alten Autoren wie ihrer neueren Erklärer, er ist auf's Gewis- 
senhafteste bemüht, die Quellen der einzelnen Lehren im Einzelnen 
zu eruieren und in ihrem Zusammenfließen zu verfolgen. In dieser 


Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. III 1.4. 908 


Hinsicht hätten wir nur noch einen genaueren Aufweis der Be- 
ziehungen des Nemesius zu seinen christlichen Vorgängern, nament- 
lich zu Origenes und seiner Schule gewünscht. Was aber die prin- 
zipielle Seite anbelangt, so wären schon der Form nach mehr über- 
blickende und zusammenfassende Erwägungen von Vorteil gewesen. 
In der Sache aber wird deshalb nicht die volle Schärfe erreicht, 
weil der Verfasser, darin freilich in Uebereinstimmung mit dem 
Hauptzuge der Scholastik, den Gegensatz und die Spannung zwi- 
schen dem Christentum und dem Altertum unterschätzt und daher 
das Charakteristische des Christentums zu wenig herausarbeitet. So 
empfindet er nicht so stark wie wir das Problem, wie eine in ihrer 
seelischen Tiefe wesentlich neue Lebensgestaltung mit der Psycho- 
logie eben der Welt auskam, gegen welche sie ihre Selbständigkeit 
durchzusetzen hatte. — Ferner erscheint in der Würdigung des 
Nemesius und seiner Leistung insofern ein Schwanken, als der Ver- 
fasser in seinem wissenschaftlichen Urteil die Grenzen und Schwä- 
chen jener Leistung keineswegs verkennt, er zugleich aber die 
Schätzung, welche Nemesius als christlicher Denker bei ihm genießt, 
auch auf sein Werk ausdehnt und es damit höher stellen läßt, als 
es nach seiner eignen Charakteristik verdient. Daß dadurch ein 
merkwürdiges Schwanken der Beurteilung entsteht, mögen einige 
Stellen darthun. S. XVIII wird die Thatsache anerkannt, daß in 
dem nemesianischen Werk bald dieses, bald jenes System vorherrscht, 
und daß »bei einem so stark ausgebildeten Synkretismus« >hin und 
wieder Unklarheiten oder gar Widersprüche sich in dem Werke vor- 
finden<. S. XVII aber heißt es: >So leitet ihm denn bei der Zeich- 
nung des Bildes der Menschennatur die göttliche, geoffenbarte Lehre 
gleichsam die Hand, ohne daß die Treue des Bildes darunter irgend- 
wie leidet. Die christliche Religion giebt so für die ganze Darstel- 
lung den Hintergrund ab, sie vermittelt gleichsam zwischen den 
allerwärts hergeholten Lehrsatzen, bringt so Ordnung, Harmonie, 
eine wohlthätige Ruhe und Sicherheit in deren Gewirre!< Sollte es 
wirklich möglich sein aus »allerwärts hergeholten Lehrsatzen< eine 
Harmonie herzustellen, versetzt ein Sichgenügenlassen mit einer der- 
artigen Einigung nicht in die mittelalterliche Scholastik zurück , de- 
ren Einheitsstreben befriedigt war, wenn nur kein direkter Wider- 
spruch empfunden wurde? Wenn ferner Domanski das Werk als 
ein geschickt abgefaßtes, nicht ganz vollendetes Kompendium be- 
zeichnet, dem vornehmlich die Zeitlage mit ihrer Verwebung christ- 
licher Ueberzeugungen und philosophischer Lehren eine Bedeutung 
gebe, wie kann er dann in das vollténende Lob ausbrechen: »So 


906 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


rankt sich denn die erste Anthropologie am grünen Stamme des 
Christentums zur strahlenden Sonne der Wahrheit empor< (S. XVII)? 

Können wir insofern die Denkweise des Verfassers nicht theilen, 
die übrigens keineswegs eine Sache des bloßen Individuums ist, so 
haben wir bereitwillig anzuerkennen, daß jenes Problematische in 
das Specielle der Untersuchung kaum irgend störend eingreift, und 
daß der historische Thatbestand mit großer Umsicht und Sorgfalt 
dargelegt wird. Es gliedert sich aber die Arbeit in zehn Kapitel, 
die das psychologische System des Nemesius unter fortlaufender Er- 
örterung der Quellen vorführen. Bei dieser Quellenforschung ent- 
stehen öfter recht complicierte Probleme, bei denen aber nur eine 
eingehendere Erörterung etwas nützen könnte als uns hier möglich 
ist. So begnügen wir uns mit einem raschen Ueberblick über das 
Ganze und gestatten uns nur hier und da eine kleine Anmerkung. 

Alle prinzipiellen Lehren vom Wesen und der Stellung der 
Seele zeigen den vorherrschenden Einfluß Platos, in der näheren 
Ausführung aber erhalten öfter andere Systeme das Uebergewicht. 
Jener Einfluß geht so weit, daß Nemesius ausdrücklich und mit mo- 
tivierter Abweisung entgegenstehender Lehren die Präexistenz der 
Seele verficht. Ob er auch eine Seelenwanderung lehre, ist bei dem 
Fehlen einer deutlichen Aussprache darüber Gegenstand des Streites. 
Sehr entschieden hat Nemesius die Wanderung von Menschenseelen 
in Thierleiber abgewiesen. Domanski glaubt ihm die Seelenwande- 
rung überhaupt absprechen zu dürfen, kann dafür aber nicht aus- 
drückliche Angaben, sondern nur Folgerungen vorbringen , die nicht 
einwandsfrei sind. Uns scheint die große Energie, mit der Neme- 
sius die Ausdehnung der Seelenwanderung auf die Thiere bekämpft, 
vielmehr für ein Festhalten des allgemeinen Gedankens der Seelen- 
wanderung zu sprechen. Man giebt sich nicht so viel Mühe eine 
besondere Nüance zurückzuweisen, wenn man das Ganze verwirft. 
Daß Nemesius aber sich nicht offen zur Lehre von der Seelenwan- 
derung bekennt, erklärt sich einfach durch die Rücksicht auf seine 
Umgebung; daß der fromme Bischof nicht der starke Held war, 
um Zeitströmungen offen entgegenzutreten, das zeigt sein Verhalten 
zu Aristoteles, den er (s. S. XVI) ausdrücklich erwähnt, wo er ihn 
bekämpft, während er seinen Namen fast immer verschweigt, wo er 
ihm ganze Abschnitte entnimmt; weshalb anders wohl als aus Rück- 
sicht auf die Stimmung seiner Zeit, welche die Lehren des Arius 
und Eunomius mit einer Hinneigung zu Aristoteles in Beziehung 
setzte ? 

Indem wir weiter die einzelnen Abschnitte durchlaufen, tritt in 
lebendiger Anschaulichkeit das bunte Durcheinander der von Neme- 


Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. III 1. 4. 907 


sius benutzten Autoritäten hervor. Die Fassung des Zusammenseins 
von Seele und Körper steht unter neuplatonischem Einfluß; bei der 
Einteilung der Seelenvermögen wirken die verschiedensten Systeme ; 
nach der physiologischen Seite hin überwiegt Galen, neben dem aber 
auch Aristoteles stark benutzt wird. Bei der Lehre von den Affek- 
ten spielen wieder die verschiedenen Schulen durcheinander, wenn 
auch die Stoiker am meisten gewirkt haben dürften; auf sie dürfte 
auch die für die höchste Stufe von Nemesius geforderte »Apathie< 
zurückgehen. Diesen Begriff hätten wir gern zu den älteren Vätern 
zurückverfolgt und zugleich seine gewaltige Macht über das Ganze 
jener Zeit geschildert gesehen. — N.s Lehre vom Willen und von 
der Willensfreiheit hat den engsten Anschluß an Aristoteles, nur ist 
sie mit leiser Wendung nach der Seite der Wahlfreiheit verschoben, 
wie denn die stoische Lehre vom Fatum mit besonderer Schärfe ab- 
gewiesen wird. Vielleicht wäre für dies Problem eine genauere Be- 
achtung des Alexander von Aphrodisias vorteilhaft gewesen. 

Das Buch schließt mit einem Hinweis auf die bedeutende Stel- 
lung, welche der Mensch in der Gedankenwelt des Nemesius ein- 
nimmt. Augenscheinlich ist solche Erhöhung der Schätzung in er- 
ster Linie eine Wirkung des Christentums und fließt aus dem neuen 
Verhältnis zu Gott, aber auch eine Nachwirkung des Altertums ist 
bei Nemesius unverkennbar, indem neben jenem Verhältnis auch die 
geistige Kraft des Menschen in Wissenschaft, Kunst, Weltunter- 
werfung begeistert gepriesen wird. So erweist jener bis zum Schluß 
sein eifriges Streben zur Ausgleichung der beiden Welten. 

Wir mußten zu Beginn verschiedene Bedenken gegen das Buch 
erheben; um so mehr möchten wir zum Schluß die Solidität seiner 
Forschung und die Fruchtbarkeit seines Fleißes ausdrücklich aner- 
kennen. 


Jena. | Rudolf Eucken. 


Schlitter, H., Die Regierung Josefs II. in den österreichischen 
Niederlanden. 1. Theil. Vom Regierungsantritt Josefs II. bis zur Ab- 
berufung des Grafen Murray. Wien, 1900, Adolf Holzhausen. XI 297 8. 


Die österreichische Historiographie hatte sich in der Zeit vor 
ungefähr einem halben Jahrhundert mit einer gewissen Vorliebe der 
Geschichte der Kaiserin Maria Theresia und ihrer Familie zugewendet. 


908 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


Es war dies die Zeit, wo noch der Streit über die Frage, ob die 
künftige Gestaltung Deutschlands in groß- oder kleindeutschem Sinne 
erfolgen solle, Kopf und Herz Aller gefangen nahm; je mehr man 
sich dazumal innerhalb der schwarzgelben Grenzpfähle für die grof- 
deutsche Lösung der Frage entschied, um so lieber trat man an die 
Geschichte jener bedeutenden Herrschergestalten heran, die, eine 
jede in ihrer Weise, den Versuch gemacht haben, das vielsprachige 
Oesterreich und seine verschiedenartigen Ländermassen unter ein 
einheitliches deutsches Regiment zu bringen. Dazu kam noch, daß 
eine Persönlichkeit wie die Josephs II. allen deutschen Kreisen 
Oesterreichs — die streng klerikalen ausgeschlossen — in hohem 
Grade sympathisch war, und Schriften über ihn immerhin auf eine 
liebevolle Aufnahme in den Leserkreisen rechnen durften. In wis- 
senschaftlicher Weise wurde freilich die Geschichte der Kaiserin 
Maria Theresia mehr bearbeitet als die ihres Sohnes. Hieher ge- 
hören die heute noch brauchbaren Arbeiten von Gelehrten wie Adam 
Wolf, Alfred v. Arneth, G. Th. v. Karajan, Joseph Feil, Hock, Bi- 
dermann u.a. Dagegen treten die Arbeiten über Kaiser Joseph 
stark in den Hintergrund; was über seine Geschichte erschien, war 
meist populär gehalten und schloß sich ganz an jene legendare Auf- 
fassung von dem volksthümlichen und deutschfreundlichen Kaiser an, 
wie sie sich durch die Arbeiten eines Pezzl, Cornova u. a. gebildet 
hatte. Am beliebtesten war noch das kleine Handbuch von Grob- 
Hoffinger. In wissenschaftlichem Geiste wurde die Geschichte Jo- 
sephs II. nicht behandelt. Es wäre verlockend, der Frage nachzu- 
gehen, warum dies nicht geschah. Wir dürfen hier nur bemerken, 
daß in gleicher Weise heute die Geschichte der Gegenreformation in 
Oesterreich das Stiefkind für Forschung und Darstellung ist, dem 
die Mehrzahl der Historiker scheu aus dem Wege geht. Es traute 
sich aber auch die Gegnerschaft gegen die legendare Auffassung der 
Geschichte Josephs, eine Auffassung, die sich in den Zeiten der 
Reaktion unter Franz I. und Ferdinand I. immer mehr verdichtet 
hatte, nicht an das Tageslicht, und die Arbeiten Beidtels, so weit 
sie damals schon vorhanden sein mochten, sind erst nahezu 40 Jahre 
nach seinem Tode ans Tageslicht getreten. Der erste, der dieser 
. legendaren Gestaltung der Geschichte Josephs II. in den Weg trat, 
war Ottokar Lorenz, der 1862 sein Buch »Kaiser Joseph II. und die 
belgische Revolution nach den Papieren des Grafen Murray< er- 
scheinen ließ, eine Schrift, die damals wegen der eindringlichen 
Kritik und scharfen Verurtheilung der Josephinischen Politik großes 
Aufsehen erregte. Wenn man damals in den Kreisen der zünftigen 
Historiker auch den Grundgedanken dieser Schrift, »daß Institutionen 


Schlitter, Die Regierung Josefa Il. in den österreichischen Niederlanden. 1. 909 


und Gesetze nur dann Aussicht auf Dauer und Erfolg haben, wenn 
sie aus dem Volke selbst hervorgegangen sind<, als richtig aner- 
kannte, es fehlte doch viel, daß die Historiographie dem Verf. auf 
diesem Wege gefolgt wäre. Zum Theil lag ja das auch darin be- 
gründet, daß die großdeutsche Idee kurz nachher ihre große Nieder- 
lage erlitt und die historische Forschung in Oesterreich an anderen 
Stellen einzusetzen begann. Nur die Tage des sogenannten liberalen 
Aufschwungs in Oesterreich, die Jahre 1867 und 1868, als die liberale 
Gesetzgebung des österreichischen Parlaments, über die man irr- 
thümlicher Weise heute nicht gering genug denken kann, mit dem 
Wuste der Reaktion aufzuräumen begann, ließen die Erinnerung an 
die Zeiten Josephs II. wieder lebendig werden, und ein Minister 
hielt es sogar für angezeigt, an der Stelle im mährischen Flachlande, 
wo Joseph II. einstens mit eigener Hand den heute noch im Brünner 
Museum aufbewahrten Pflug geführt hatte, eine hochbedeutsame 
Rede zu halten. In der Literatur machte sich freilich zunächst nur 
jene Richtung bemerkbar, die, den Tendenzen der Josephinischen 
Zeit durchaus abhold, dessen MaGregeln nach allen Seiten bekämpfte. 
Hierher gehören die verschiedenen Arbeiten eines Sebastian Brunner, 
Albert Jäger u. a. Werke wissenschaftlichen Gehaltes über den 
Josephinismus hat auch die große Jubelfeier des Jahres 1880 nicht 
gezeitigt ; die Schriften, die damals dem Andenken des Kaisers ge- 
widmet wurden, sind entweder nur ein sehr schwacher Auszug aus 
älteren Werken mit ihrer tendenziösen Auffassung oder behandeln 
endlich nur eine der vielen Seiten der Regierungszeit Josephs IL., 
wie z.B. die Arbeiten eines G. Frank, F. Kopetzky, Wilibald Müller, 
Gerson Wolf, Lustkandl u.a. Ein richtigeres Bild über die Politik 
des Kaisers hatte indes schon drei Jahre früher die akademische 
Rede Alfons Hubers »die Politik Josephs II. beurtheilt von seinem 
Bruder Leopold von Toscana<, gewährt, eine Arbeit, die schon als 
einer der ersten Vorläufer der Jubiläumsarbeiten gelten konnte und 
in gewissem Sinne eine Ergänzung fand in einer zweiten akademi- 
schen Rede Hubers »Geschichte der österreichischen Verwaltungs- 
organisation bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts (Innsbruck 1884). 
Erst die Beidtelsche »Geschichte der österreichischen Staatsverwal- 
tung unter der Regierung Josephs II. (1780 —1790)< bedeutet, aller- 
dings nur im Zusammenhang mit den zahlreichen Berichtigungen, die 
Huber der Beidtelschen Darstellung hinzugefügt hat, einen Fort- 
schritt auf dem Wege unserer Erkenntnis dieser wichtigen Periode. 
Freilich war es weder die Absicht dieses Buches, noch hatte sie auch 
den Erfolg, etwa wie seiner Zeit O. Lorenz gewünscht hatte, an die 
Stelle einer gänzlich mythischen Geschichtsüberlieferung die Grund- 


910 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


lage eines wahrhaft historischen Bildes von der Regierung Josephs Il. 
zu setzen. Vielleicht aber haben wir in dem Verfasser des vor- 
liegenden Buches den künftigen Geschichtschreiber Josephs IL zu 
sehen, der uns ein wahrhaft historisches Bild dieses Kaisers zu 
zeichnen im Stande ist. Schlitter hat schon durch seine frühe- 
ren Arbeiten seine Vertrautheit mit diesem Arbeitsstoff erwiesen. 
Es darf hier an seine Ausgabe der Briefe der Erzherzogin Marie 
Christine (1896), die ja vielfach auch noch in die eigentliche jose- 
phinische Zeit zurückreichen, mehr noch an seine Werke über die 
Reise des Papstes Pius VI. nach Wien und seinen Aufenthalt da- 
selbst (Wien 1892) und Pius VI. und Joseph I. von der Rückkehr 
des Papstes nach Rom bis zum Abschluß des Concordates (Wien 
1894), an seine Arbeit über die Beziehungen Oesterreichs zu Amerika 
in dieser Zeit, oder an die zugleich mit dem vorliegenden Buch er- 
schienenen Briefe und Denkschriften zur Vorgeschichte der belgi- 
schen Revolution (Wien 1900) erinnert werden. Auch seine Ar- 
beit »Kaunitz, Philipp Kobenzl und Spielmann« (Wien 1899) fallt 
noch zum Theil in dieses Gebiet. Dem Verf. stehen zudem als Be- 
amten des ersten Archivs im österreichischen Kaiserstaat Quellen 
erster Hand über diese Periode zur unbeschränkten Verfügung: so 
darf man erwarten, daß der vorliegenden Arbeit, die ein kleineres 
Gebiet aus der Geschichte dieser Periode behandelt, bald eine um- 
fassendere folgen werde, für die auch vielleicht die größere Selbst- 
beschränkung, die sich der Verf. bereits in der vorliegenden Schrift 
auferlegt hat, gute Hoffnungen erweckt. Diese schildert uns Josephs 
Regierung in den Niederlanden bis zur Abberufung des Grafen 
Murray. Die letzten Zeiten der österreichischen Herrschaft in Belgien 
hatten ja auch schon bisher in den Kreisen österreichischer Historiker 
eine liebevolle Behandlung erfahren, und neben Borgnet, Gachard, 
Delplace und Eugene Hubert muß H. v. Zeißberg genannt werden, 
der auf diesem Gebiete Hervorragendes geleistet hat, und zwar sowol 
in seinen Vorstudien zur Geschichte des Erzherzogs Karl als in seinen 
Arbeiten über die deutsche Kaiserpolitik Oesterreichs, vornehmlich 
in den beiden großangelegten akademischen Arbeiten »Zwei Jahre 
belgischer Geschichte 1791—1792<. Auch Arneth hatte im letzten 
Bande seiner Geschichte Maria Theresias (X, S. 198—234) den 
Niederlanden noch eine eingehende Betrachtung gewidmet. Diese 
reicht aber doch über das Jahr 1780 nicht hinaus. Jetzt erörtert 
Schlitter in sieben umfangreichen Abschnitten die Verfassung und 
Verwaltung der belgischen Provinzen beim Regierungsantritt 
Josephs II, das Entstehen seiner Reformpläne, seine kirchlichen 


Schlitter, Die Regierung Josepbs II. in den österreichischen Niederlanden. 1. 911 


Reformen und die auf dem Gebiete der Verwaltung und Justiz, 
die ersten Regungen und den Sieg der Opposition und die »Pré- 
alables indispensables<. Gleich der erste Abschnitt gewährt eine 
sehr lehrreiche, freilich nicht in allen Theilen gänzlich einwands- 
freie Darstellung jener Zustände, die Joseph im Jahre 1780 vor- 
fand; wir finden hier eine genaue Erörterung über die Befug- 
nisse der Statthalter, des Ministeriums, des Staats- und Kriegs- 
sekretariates, des Staatsrathes und (seit dessen Sinken) des geheimen 
und des Finanzrathes, eine gute Darstellung über die Verfassung 
und Verwaltung der einzelnen Provinzen, die Macht der Stände und 
ihre Zusammensetzung, die Bedeutung von Adel und Klerus, endlich 
über die Schäden der Verfassung, die vorzugsweise darin lagen, 
daß die Stände veraltete Gebräuche und Institutionen in Schutz 
nahmen, die Zusammensetzung der Tribunale den Bedürfnissen der 
Gegenwart wenig entsprach und die Rechtssprechung im grellen 
Gegensatz zu der aufgeklärten Richtung stand, die sich bald nach 
1748 allgemein Bahn brach. Wie in den österreichischen Erbländern 
sind es auch hier die Regierenden mehr als die Regierten, welche 
die Lehren der französischen Encyklopädisten in sich aufnahmen. 
Die Schwierigkeiten auf belgischem Boden Reformen durchzuführen, 
waren nahezu unüberwindlich, da hier mehr wie in Oesterreich alle 
Klassen der Bevölkerung ihr ganzes Heil in der Aufrechterhaltung 
und der Unverletzlichkeit ihrer Privilegien erblickten. Die Lage 
dieser Regierten hätte eingehend geschildert, ihre materiellen und 
geistigen Zustände mehr hervorgehoben werden sollen, dann erst wäre 
die Aktion der Regierung in die richtige Beleuchtung gerückt worden. 
Die ruhige Art des Vorgehens der Kaiserin bei der Ein- und Durch- 
führung der Reformen wird schon hier der nervösen überhasteten 
Methode ihres Nachfolgers gegenübergestellt.e Die Reformen auf 
dem Gebiete der Kirche, in der Verwaltung und Justiz sind ja be- 
kannt: interessant ist immer die sachgemäße Art der Darstellung, 
wie sie in Belgien aufgenommen wurden. Scharfe Streiflichter fallen 
auch hier auf die Beziehungen Josephs zu Maria Christina und 
ihrem Gemahl. Den kirchlichen Reformen lag die Absicht zu Grunde, 
‚die katholische Kirche in seinen Staaten nach dem Muster der 
gallikanischen umzuformen und sie der Vormundschaft des Staates 
zu unterwerfen. Daß die Vorbedingungen zu einem derartigen 
Vorgehen in Belgien weniger als im eigentlichen Oesterreich ge- 
geben waren, liegt auf der Hand; wie dort, erregten auch hier 
nicht die Reformen im größeren Stil wie das Toleranzedikt, die wider 
die Exemption des Regularklerus u. s. w. sondern die kleinlichen 
in Dinge des Cultus eingreifenden Maßregeln den meisten Wider- 


912 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 


spruch. Mit Recht wird betont, daß sich Joseph und seine Rath- 
geber nicht so sehr von ethischen als von wirthschaftlichen Rück- 
sichten leiten ließen. Erstaunt hatte er bei seinem Aufenthalt sich 
über die Vielgestaltung der Administration und den schwerfälligen 
Gang der Rechtspflege ausgesprochen; auch hier sind seine Reformen 
nicht minder durchgreifend als in den Erbländern: sie entsprangen 
auch hier der Tendenz, daß die verschiedenen Provinzen somit auch 
Belgien ohne Rücksicht auf ihre historische Individualität dem Ein- 
heitsstaate angepaßt werden müssen. Die einzelnen Reformen werden 
von Schlitter nach ihrer Genesis und ihrer Aufnahme im Lande ge- 
würdigt und die Stadien der Opposition sowol gegen die Einführung 
der politischen als auch gegen die kirchlichen Reformen bis zum 
Sieg der Opposition betrachtet. Die Stellung, die Fürst Kaunitz zu 
der Reformbewegung einnahm, tritt in der Darstellung Schlitters 
mit aller Deutlichkeit hervor (S. 110). 

Die stilistische Seite der Schlitter’schen Darstellung bietet 
manchen Grund zu Bemängelungen, es fehlt nicht an ungewöhnlichen 
Satzbildungen und vereinzelt auch an unnützen Wiederholungen. 
Dadurch daß die Noten in den Anhang verwiesen wurden (was aber 
doch für den Leser, der auch auf diese Rückscht nimmt, unbequem 
genug ist) und dadurch, daß diese Noten meist sehr umfangreich 
sind, konnte die eigentliche Darstellung von dem kritischen Apparat 
einigermaßen entlastet werden. Zu loben ist endlich, daß das wirk- 
lich Unbedeutende ausgeschieden ist. Im Anhang findet sich ein 
Verzeichnis der benutzten gedruckten Literatur, das vielleicht noch 
durch die eine und die andere Nummer zu ergänzen wäre. 


Graz, im März 1901. J. Loserth. 


Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen. 


December 1901. No. (2. 


Kunze, J., Glaubensregel, Heilige Schrift. und Taufbekenntnis. 
Untersuchungen über die dogmatische Autorität, ihr Werden und ihre Geschichte, 
vornehmlich in der alten Kirche. Leipzig, Dérffling u. Franke. 1899. XII 


560 S. Ladenpreis 15 Mk. 
(Schluß.) 


Hilarius hat sich nun ferner auch von dem Gefühl nicht frei machen 
können, daß im grunde die Berufung auf die Schrift zweifelhaften 
Wert habe (ad Const. II 9 cf. Kunze 264). So preist er denn auch 
(cf. Kunze 265) die gallischen Bischöfe glücklich, welche den voll- 
kommenen und apostolischen Glauben im Bekenntnis ihres Bewußt- 
seins bewahrten. Conscriptas fides huc usque nescitis (de synod 63; 
cf. ad. Const. I 8). Dann wird man auch de syn. 7 unter der doctrina 
apostolica, an welcher die fides zu bemessen seien, das alte Symbol 
verstehen miissen. Derselben Berufung auf das Symbol, wenn es die 
Wahrheit festzustellen gilt, begegnen wir in der Schrift de trin., u. 
besonders in der schon erwähnten zweiten Epistel ad Const. Nicht 
nur, daß Hilarius in der zuerst genannten Schrift immer wieder auf 
das »Bekenntnis« zu sprechen kommt, welches man abgelegt habe, er 
läßt auch sein großes Werk ausmünden in einen Hinweis auf das 
Symbol: ut quod in regenerationis meae symbolo, baptizatus 
in patre et filto et spiritu sancto, professus sum, semper obtineam 
(cf. XII § 56). Kunze denkt hier (264 A. 2) nur an den Taufbefehl. 
Hil. hat nun freilich in einer anderen auch von Kunze notierten - 
Stelle de trin. II 5 seinen Ausgangspunkt von der Spendeformel ge- 
nommen. Aber das berechtigt noch nicht zu dem Verfahren, Tauf- 
formel und Schrift zusammenzustellen und auf grund dieser Zu- 
sammenstellung zu behaupten, daß die eigentliche Norm für Hilarius 
die heil. Schrift sei. Dann müßte man freilich, wenn man nicht an- 
nehmen will, daß Hilarius am Schluß seines Werkes dem am Anfang 
entwickelten Standpunkt widerspricht, mit Kunze unter dem symbo- 
lum nicht das Symbol, sondern den Taufbefehl verstehen. Zu dieser 
Deutung wäre man aber nur berechtigt, wenn die nächstliegende 
nicht zu halten ware. Was wir bisher von Hil. kennen lernten, 
widerspricht nicht diesem nächsten Verständnis des Begriffes symbo- 
lum. Es wäre aber selbst mit jener Deutung nicht viel gewonnen. 

Gött. gel. Ans. 1901. Nr. 12. 60 


914 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


Denn Symbol und Taufbekenntnis gehören ja zusammen. Dann aber 
widerspricht der Schluß des Werkes nicht der zu Beginn des zweiten 
Buches befolgten Methode. Man kann demnach auch nicht auf grund 
der Schrift de trin. bestreiten, daß Hilarius Symboltheolog gewesen 
sei. Gegenüber den im Orient auftauchenden Bekenntnissen wurde ihm 
auch das alte Taufbekenntnis noch besonders wertvoll. Namentlich 
aber zeigt ad Const. II den Hilarius uns als Symboltheologen. Das giebt 
auch Kunze unumwunden zu (265). Aus allem erhellt, daß als re- 
gula für Hilarius noch das Symbol in Betracht kommt. Damit ist nicht 
gesagt, daß er verlangt, daß jeder auf das Symbol sich stützen soll. 
Hilarius sucht ja grade auch den Gebrauch von N. zu rechtfertigen, und 
er weiß ja auch, daß man im Orient das alte Symbol nicht als reg. 
fid. verwertet. Aber er wenigstens will die apostolicae doctrinae in- 
demutabilis constitutio seinen Ausführungen zu grunde legen. Man 
wird demnach nicht mit Kunze Hilarius als Uebergangstheologen be- 
trachten dürfen. Er ist Symboltheolog. Er kann entweder nur eine 
alte abendländische Tradition fortführen, oder eine neue Verwendung 
des Symbols (Ku. 265) schon vollständig durchgeführt haben. Die 
Art, wie Hilarius zu den gallischen Bischöfen redet und überhaupt die 
Autorität des Symbols geltend macht, läßt nun allerdings nicht ver- 
muten, daß er sich bewußt ist, ein novum zu vertreten. Man darf 
eher geneigt sein zu der Annahme, daß er trotz der Methode, die 
er im Orient kennen lernte, eine altabendländische fortführte. Das 
würde es dann erforderlich machen, die vorhergegangene Entwicklung 
ins Auge zu fassen. 

Man gewinnt aber schon aus Zeugen des vierten Jahrhunderts 
selbst eine völlig andere Schätzung des Symbols als man nach Kunzes 
Darstellung erwarten dürfte. Ich denke, um von anderen zu schwei- 
gen (cf. die exhortatio ad neophytos) an Priscillian, den Kuuze eben- 
falls für die vorliegende Frage nicht berücksichtigt. Wenn ich recht 
sehe, gedenkt Kunze nur einmal Priscillians, im Anschluß an Hahn 
§ 53 (Ku. 269 A. 1). p. 286 A. 2, wo Kunze sich auf die gegen Ende 
des fünften Jahrhunderts findende regelmäßige Bezeichnung der Schrift 
als canon oder libri canonicı einläßt, werden wohl Rufin, Hieronymus, 
Augustin u. a. genannt, aber nicht Priscillian, dessen tr. III fast auf 
jeder Seite diese Bezeichnung bietet. Er hat die Sage von der Ab- 
fassung des Symbols durch die Apostel nicht geteilt (tr. III 49; cf. 
Zahn, R. E,* Art. »Glaubensregel«e p. 685,58 Kattenbusch II, 22). 
Es konnte also diese Sage Pr. nicht veranlassen, dem Symbol hö- 
heren Wert beizulegen. Trotzdem ist er vollkommen Symboltheolog. 
Das zu erfahren ist um so interessanter, als er sein Symbol durch 
Bibelsprüche illustriert und den Titel canon den scripturae beilegt. 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 915 


Die Thatsache der Benutzung der apocrypha neben den scripturae 
zeigt, daß der canon nicht als Lehrquelle gelten kann. Tr. III! be- 
weist denn auch, daß es sich um die kirchliche Lesung handelt, (p. 44. 
46. 47. 49. 51. 52. 56), um das plus legisse, nicht um die Frage der 
dogmatischen Autorität. Im tr. II wird aber die fides catholica dem 
Kanon gegenübergestellt (p. 42). Wenn aber canon und scripturae 
zusammengehören, bedeutet die fides catholica das Symbol. Dies be- 
stätigt der Anfang des Traktats (p. 34. 36) und p. 37 wird die Hä- 
resie gradezu am Symbol orientiert (cf. tr. ID). Die Annahme einer 
Anbequemung an römischen Standpunkt schließt tr. I aus (p. 31). 
Als Spanier wird aber Priscillian altabendländische Tradition vertreten 
(cf. Bachiarius und die exhortatio ad neophytos). Es muß demzu- 
folge beanstandet werden, wenn K. sagt (277 cf. 281), daß erst mit 
Augustin und Leo I. die bei Tertullian bereits angelegte, aber noch 
nicht rein durchgeführte Gleichung : Taufsymbol = regula fidei, wirk- 
lich erreicht sei. Diese Gleichung ist schon im vierten Jahrhundert 
vorhanden gewesen. 

Es läßt sich diese Behauptung auch noch aus der Stellung der 
Pelagianer und aus gelegentlichen Aeußerungen des Vincenz v. Lerinum 
erhärten. Die Pelagianer, deren dogmengeschichtliche Stellung über- 
haupt am Zutreffendsten charakterisiert wird, wenn man sie als Ver- 
_treter der altabendländischen Theologie betrachtet, haben im Wider- 
spruch mit der Entwicklung seit 350, Symbol und Schrift, d. h. re- 
gula fidei und scripturae von einander getrennt (cf. das Glaubensbe- 
kenntnis des Coelestius Hahn ® § 210, Augustin de pecc. or. 5, das 
Glaubensbekenntnis des Julian v. Eclanum M. P. L. 48, sıo secundum 
regulam fidei et auctoritatem scripturarum). Thre eigene Theorie, die sich 
mit der Schriftlehre nicht in Einklang bringen ließ, wollten sie wie 
diejenige Augustins als eine Privatmeinung beurteilt wissen, über die 
sich disputieren ließe, die aber nicht als häretisch gestempelt werden 
dürfe (cf. das Glaubensbekenntnis des Pelagius Hahn, 292). Denn 
sie werde durch das Symbol nicht verurteilt. Dann steht aber Pe- 
lagius nicht am Anfang einer neuen Entwicklung (Ku. 280), sondern 
noch innerhalb einer alten. 

Auch Vincenz behandelt den Begriff regula Ade: als einen alt- 
bekannten: tradita et recepta semel antiquitus credendi regula (Comm. 
21,26 Ku. 290 Katt. II, 399). Dies Wort richtet sich gegen die 
»Neuerer». An einer anderen Stelle wird die regula eingeführt als 
die Größe, die man eben kennt (28,39 cf. Ku. 290. Katt. II 398). 
Nun gehört allerdings Vincenz selbst nicht mehr in die oben be- 

1) Vielleicht charakterisiert dieser Traktat überhaupt den Priszillianismus cf. 


v. Schubert, Lehrb. d. KG. 
60* 


916 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


sprochene Entwicklung hinein. Es ist nicht korrekt, wenn Kunze 
die verschiedenen Titel, die sich bei Vincenz finden, zusammenfabt 
unter den einen Begriff der regula, der die Schrift unterstellt werde. 
Denn Vincenz unterstellt auch das Symbol einer regula, wie er denn 
überhaupt deshalb lieber von regulae spricht. Daß die alte regula 
fidei auch dieser neuen regula unterstellt wird, das bringt Kunze nicht 
deutlich genug zum Bewußtsein, wenn er auch bemerkt, daß V. den 
Begriff der regula fidei nicht so eng mit dem Symbol verknüpfe, 
als die römischen Bischöfe seiner Zeit (291), und darauf hinweist, 
daß sein Commonitorium als Vorspiel des Tridentinum gewürdigt 
werden müsse, damit zugleich einen neuen Maßstab andeutend, den 
Vincenz geltend macht. Es hätte ausdrücklich darauf aufmerksam 
gemacht werden müssen, daß er dem Symbol überhaupt kein rechtes 
Interesse mehr entgegenbringt, daß er vielmehr im grunde nur die 
Schrift im Auge hat, also auf dieneue im Abendlande aufgekommene 
Methode eingegangen ist, diese nun freilich für unsicher erklärt und 
in seinem bekannten Satze einen neuen Maßstab zur Interpretation 
der Schrift (aber auch des Symbols) findet. Mit diesem Satz ist 
aber ein neues Princip formuliert. Besonders instruktiv für diese 
Entwicklung ist Isidor Hispalensis, der, was Kunze nicht beachtet 
(306), ausdrücklich Symbol und regula fides unterscheidet und diese 
bestimmt als: haec est post symbolum apostolorum certissima fides, 
quam doctores nostri tradiderunt (de eccl. offic. II. c. 24). An diesen 
großen Schulmeister des Mittelalters lehnt sich Hraban direkt an. 
(cf. Studien zur Gesch. d. Theol. u. Kirche, Bd. IV Heft 2. Wiegand, 
die Stellung des apostolischen Symbols im kirchlichen Leben des 
M. A. I. 286.) 

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die abend- 
landische Entwicklung nicht genügend berücksichtigt ist. Das gilt 
auch hinsichtlich Augustins, der nach Kunze einen zwiespältigen Ab- 
schluß in der Entwicklung der regula herbeiführt (287), sofern er 
mit der Kanonizität der Schrift wirklich Ernst gemacht habe, an- 
dererseits aber auch der geistige Urheber des Athanasianums sei und 
das Symbol über die Schrift, als von ihr unabhängig, stelle (288). 
Die Ausführungen Kunzes über Augustin geben weder ein klares, 
noch richtiges und erschöpfendes Bild. Das ist freilich auch keine 
leichte Aufgabe. Es genügt nicht, einige Sätze Augustins aus einigen 
Hauptschriften nebeneinander zu stellen. Man muß sich vielmehr 
in die Eigenart seines geistigen Lebens, seines ganzen Denkens und 
Empfindens versenken und zugleich seine Entwicklung im Auge be- 
halten. Daß Kunzes Ausführungen über Augustin nicht befriedigen 
können, ersieht man daraus, daß er im Zusammenhang der Stellung 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 917 


Augustins zum Symbol und zur Schrift des Enchiridion mit keinem 
Worte gedenkt. Später wird (304) eine für unsere Frage belang- 
lose Notiz aus dem Enchiridion zitiert. Man muß nun allerdings Vorsicht 
walten lassen, wenn man das Ench. zu grunde legen will, um die re- 
ligiöse Gedankenwelt Augustins zu charakterisieren. Es ist eben nur 
ein Enchiridion, mag es es auch nach Augustins Empfinden zum vo- 
lumen angewachsen sein. Es bringt aber doch Verschiedenes nicht, 
was Augustin persönlich wertvoll war. Es ist nur die confessio fides, 
quae carnaliter cogitata lac parvulorum est (Ench. 30), ausreichend 
dargelegt (cf. de trin. XI,2 M. P. L. VIH,967 und überhaupt diese 
ganze Schrift; den Anfang von de fide et symbolo; enarr. in Ps. X 3, 
M. P.L.IV, 60). Es wird freilich gesagt, daß eben dieselbe spiritaliter 
consideruta atque tractata cibus est fortium (ib). Aber der Fortschritt 
vom credere zum intelligere wird doch nur angedeutet, nicht ent- 
wickelt. Von den letzten Augustin treibenden Gedanken empfangt 
man aus dem Enchiridion doch nur eine unzureichende Vorstellung. 
Diese Vorsicht hinsichtlich der Benutzung des Ench. ist aber doch 
nur zu beobachten, wenn die Gesamtanschauung Augustins zu ent- 
wickeln ist. Einfacher stellt sich die Sachlage dar, wenn man nach 
den methodischen Grundlagen Augustins fragt. Da läßt sich das 
Ench. wohl verwerten, wenn auch das Verhältnis des Symbols zur 
Schrift nicht ausdrücklich dargelegt wird. Von einer Entwicklung 
Augustins in dieser Frage kann man, wenn man absieht natürlich 
von der manichäischen Periode Augustins, nicht reden. Das wird 
dem nicht befremdlich erscheinen, der den Entwicklungsgang Au- 
gustins sich vor Augen hält, sowie seine persönliche Eigenart und 
die Zeitverhältnisse, in welchen er lebte. | 
Kunze meint nun, schon der Sprachgebrauch Augustins ent- 
spreche der Gleichung: Taufsymbol = regula fidei (277). Wenn 
Augustin sodann sage: accipite . . regulam fidei, quod symbolum dici- 
tur (de symb. ad. catech. I, 1), so sei dies eine Neuerung, die nicht 
Nachfolge gefunden habe; denn fiir den liturgischen Gebrauch bleibe 
der Name symbolum herrschend (ib). Das ist hier die einzige Notiz über 
den Sprachgebrauch Augustins. Im vierten Kap. hat Kunze dasselbe 
Zitat aus de symbolo gebracht und daran die Bemerkung ange- 
schlossen, daß für Augustin der eigentliche Name des Bekenntnisses 
symbolum oder confessio sei (72). Trotz de symbolo I, 1 dürfe man 
aber nicht sagen, daß regula fidet und symbolum sich völlig decken. 
Denn wenn Aug. das Symbol eine kurz gefaßte Glaubensregel nenne 
(serm. 213), so sei es eben nicht die einzig mögliche Formulierung 
derselben (73). Auf p. 289 wird noch die bekannte Stelle de doctr. chr. 
Il] 2,2 zitiert. Das sind, so viel ich sehe, die einzigen belangreichen 


918 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


Notizen, die Kunze über den Begriff regula fidei bei Augustin giebt, 
der also mit dem der Schrift übergeordneten Symbol verknüpft ist. 

Eine eingehendere Untersuchung zeitigt aber ein anderes Re- 
sultat. Es finden sich bei Augustin zweifellos Aeußerungen, die re- 
gula und symbolum zu einander in Beziehung setzen. Augustin hat 
noch bis zuletzt mit seinen abendländischen Vorgängern und Zeit- 
genossen dem Symbol den Titel regula beigelegt (Retr. II, 3). Diese 
Thatsache kann man nicht durch den Hinweis darauf abschwächen 
(Ku. 72), daß Augustin in der Schrift de agone chr., auf die sich 
Retr. II, 3 bezieht, diese Bezeichnung nicht gebraucht. Das ist ganz be- 
langlos. Augustin hätte sonst nicht in Retr. II,3 ohne jeden Kom- 
mentar durch den Begriff regula fidei wiedergegeben, was er in der 
Schrift de ag. chr. als fides catholica (symbolum) anführt (cf. Pris- 
cillian). Es muß ihm der Titel regula für das Symbol ganz geläufig 
gewesen sein. Die Belege für diesen Sprachgebrauch Augustins 
lassen sich leicht vermehren. 

Damit ist aber noch nicht viel gewonnen. Denn wenn Augustin 
auch das Symbol regula fidei nennt, so thut er dies, weil er es als 
Kompendium der Schrift betrachtet, weil es von ihr sein Licht em- 
pfängt und mit ihr den Titel regula teilt. Daß Augustin die genuin 
abendländische Auffassung vom Symbol nicht vertritt, zeigt seine 
Auseinandersetzung mit den Pelagianern. Augustin argumentiert 
selten vom Symbol aus. Zuweilen macht er das Symbolglied in 
remissionem peccatorum geltend. Augustin hält überhaupt das Be- 
kenntnis zum bloßen Symbol für bedeutungslos (Op. impf. IV, 7). 
Seine Autorität ist die Schrift. Das ist sie gewesen, seitdem er vom 
Manichäismus sich lossagte und die Anstöße, welche die Schrift 
seinem Denken bot, durch die griechische Allegorese und den Neu- 
platonismus zu überwinden gelernt hatte. Mit welchem Ernst er die 
Schriftautorität anerkannte, zeigt die unmittelbar auf den Bruch mit 
dem Manichäismus folgende Periode seines Lebens. Daß die Schrift 
die Autorität in Glaubenssachen sein müsse, ist ihm fortan nicht 
mehr zweifelhaft gewesen. Man versteht es dann auch, daß Augustin das 
Symbol als Schriftsumme beurteilt (de symb. ad. cat.: tsta verba... per 
divinas scripturas sparsa sunt, sed inde collecta et ad unum redacta). 
Ob Augustin diese Schätzung von sich aus gewonnen, oder, was 
nicht unwahrscheinlich ist (cf. Katt. I111), aus der explanatio des 
Nicetas, mag auf sich beruhen. Augustin hat auch die Schrift selbst 
regula fidei oder veritatis genannt und also neben dem abendländi- 
schen Sprachgebrauch auch den morgenländischen sich angeeignet. 

Man darf aber darum noch nicht von einem zwiespältigen Ab- 
schluß reden (Ku. 287). Denn das Symbol ist von Augustin in die 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 919 


Schrift hineingestellt. Es ist kein äußerliches Nebeneinander von 
Symbol und Schrift, das wo möglich noch zu Ungunsten der Schrift 
entschieden würde. Augustin hat vielmehr in seiner Gnadenanschau- 
ung das einigende Band gefunden. Er kann darum auch das Sym- 
bol urgieren und seinen Darstellungen der fides zu grunde legen. 
In dieser Beziehung ist grade das Enchiridion, welches mehrfach das 
Symbol als regula bezeichnet, instruktiv. Die Gnadenlehre, welche 
Augustin in der Schrift gefunden hatte, ist auch im Symbol ent- 
halten. Die ganze Anlage des Ench. verrät diesen Gedanken. Besonders 
charakteristisch ist die Behandlung des dritten Artikels (der heilige 
Geist ein donum dei); cf. auch de gr. Chr. et pecc. or. II, 34. So 
treten die nach der Gnadenerfahrung einheitlich verstandenen Schriften 
und das Symbol als regula fide in Kraft. Das ist eine innerliche, 
große und freie Betrachtung, die nicht am Buchstaben sich an- 
klammert und nicht in formalistischer Weise dem Gegner die ein- 
zelnen Glieder des Symbols als ebenso viele, in ihrem Wortgefüge 
geheiligte Gesetzesparagraphen vorhält. Eine lebendige und tief re- 
ligiöse, aus der Schrift geschöpfte Grundanschauung macht wieder- 
um das Symbol für die praktische Frömmigkeit lebendig und lehrt 
es als ein Ganzes von erbaulichem Wert verstehen. 

Nun hat allerdings Kunze die bekannte Stelle de doctr. chr. 
III, 2,2 angeführt, um zu beweisen, daß die Schrift nach dem Inhalt 
des von ihr unabhängigen Symbols zu bemessen sei. Augustin be- 
spricht hier Joh. 1,1, einen Vers, der verschieden interpungiert und 
darum auch verschieden interpretiert wurde. Ein richtiges Ver- 
ständnis sei aber doch möglich. Denn wenn jemand nicht wisse, 
quomodo distinguendum aut quomodo pronuntiandum sit, consulat regu- 
lam fida, quam de scripturarum plenioribus locis et 
auctoritate ecclesiae percepit, Aber gerade aus diesem 
Relativsatz hätte Kunze erkennen können, daß Augustin dem Symbol 
nicht jene Stellung zuweist. Der Satz besagt nichts anderes, als was 
wir schon de symb. ad cat. über den Ursprung und das Verhältnis 
des Symbols zur Schrift erfuhren. 

Es ist aber in diesem Satz ein Moment enthalten, das noch 
nicht berücksichtigt wurde und welches nicht unerwähnt bleiben darf. 
Augustin weist hin auf die Autorität der Kirche. An einer anderen 
sehr bekannten Stelle (c. epist. Man... . Fundamenti 6) hat er 
geäußert, er würde dem Evangelium nicht glauben, wenn ihn nicht 
die Autorität der Kirche dazu bewegte So scheint doch letztlich 
die Kirche die regula zu sein, und man könnte hier an Vincenz von 
Lerin. denken. Augustin hat auch sonst auf die Tradition und den 
Väterbeweis Gewicht gelegt. Das bekunden wiederum seine anti- 


920 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


pelagianischen Schriften. Man könnte also versucht sein, hier einen 
Einfluß jener zweiten großen Gedankenreihe zu konstatieren, die im 
vierten Jahrhundert siegreich vordrang, und auch gerade von Augustin 
her frisches Leben erhielt. Aber Augustin hält doch nicht, wie Vin- 
cenz, einen deutlichen und selbständigen Schriftbeweis für unmög- 
lich. Und man darf den eben erwähnten Gedanken nicht verwerten, 
wenn das Verhältnis von Symbol und Schrift bei Augustin entwickelt 
werden soll. Wohl aber muß man auf diesen Gedanken aufmerksam 
machen, wenn man Augustins persönliche Stimmung und Empfindung 
charakterisieren will. Es ist Augustins Haltung doch nicht so frei 
und innerlich, wie es nach dem oben Gesagten scheinen könnte. 
Durch diesen Rekurs auf die Autorität der empirischen Kirche taucht 
wieder ein Moment der Gebundenheit und äußeren Abhängigkeit bei 
Augustin auf. Das ist ja grade das Interessante und Anziehende an 
der Person und Entwicklung Augustins, daß man einen innerlich be- 
gründeten Fortschritt bei ihm wahrnehmen kann, und daß trotzdem 
ein äußerlich gefaßter Autoritätsgedanke ihn beherrscht, daß man 
einer immer mehr sich vertiefenden christlichen Erkenntnis inne wird, 
und daß er doch nicht die Fesseln abstreifen kann, die ihn mit seiner 
Vergangenheit verknüpfen, daß mehrere, einander schließlich wider- 
sprechende Gedankenreihen in seiner Person zusammengehalten wer- 
den. Ihm imponierte die ganze ihm entgegentretende katholische 
Kirche. Sich ihr anzuschließen, verbot ihm sein Wahrheitssinn, bis 
der Neuplatonismus ihn gewonnen hatte. Nun hatte er beides, die 
ratio und die auctoritas. Dann wurde er durch die Lektüre Pauli 
der Gnadenlehre gewiß. Aber er vermochte sie nicht mehr rein 
christlich auszuprägen, und das innere Erleben war nicht so stark, 
daß es sich mit einer alles umgestaltenden und umbildenden Kraft 
durchsetzen konnte. Darum erleidet auch der Autoritätsgedanke 
keine Wandlung ; es bleibt die äußere Autorität so, wie sie einmal 
gefaßt war, in Geltung, um so mehr, je mehr die neue Erfahrung 
und Erkenntnis von einer dem Christentum fremdartigen Gedanken- 
welt beeinflußt war. So steht hinter Augustins Anschauung von der 
regula der Gedanke von der Autorität der Kirche, der seinem Em- 
pfinden und seiner Stimmung die bestimmte Färbung verleiht. Mehr 
darf man aber auch kaum behaupten. Man darf diesem Gedanken 
kaum Einfluß gewähren auf die Definition dessen, was sich Augustin 
unter regula vorgestellt hat. Man würde dann wiederum den In- 
tentionen Augustins nicht gerecht. Die mit der Vorstellung von der 
auctoritas der Kirche auftauchende Gefahr einer rein formalistischen 
Verwendung der regula’) und einer sklavischen Abhängigkeit von 

1) Vielleicht muß hier auch Augustins mehr weibliche, zu Sophistereiea 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 921 


ihr hat Augustin aber vermieden einmal dadurch, daß er sie unter 
die Beleuchtung der großen religiösen Idee rückte, welche seine 
Gnadenlehre zum Ausdruck bringt, sodann dadurch, daß sein brennend 
ungestümer Erkenntnistrieb und seine Abhängigkeit vom Neuplato- 
nismus ihm ein »geistliches< Verständnis neben dem »fleischlichen« 
ermöglichte, ein Fortschreiten vom credere zu dem doch mit einem 
relativen Maß geistiger Freiheit verbundenen intelligere. 

Das Gesagte wird begründen, warum ich Kunzes Darstellung, 
soweit die behandelte Periode in Betracht kommt, nicht für zutreffend 
halten kann. Wie ist nun aber über die vorhergegangene Entwicklung 
zu urteilen? Es gilt hier über die Stellung des Irenäus und Ter- 
tullian Klarheit zu gewinnen. Kunze geht davon aus, daß die herr- 
schende Meinung dahin gehe, die regula fidei sei entweder das Tauf- 
bekenntnis (Zahn) oder das interpretierte Symbol (Harnack, cf. Ku. 
p. 15). In der Hauptsache urteile Kattenbusch ebenso. Man kann 
aber doch nicht so unbedingt von einer herrschenden Meinung 
sprechen. Schon Hase macht in seinem Handbuch der Polemik 
(p. 78) auf einen Unterschied in der Stellung des Irenaeus und Ter- 
tullian aufmerksam, wenn er die bekannten, von unsern protestanti- 
schen Polemikern so oft schon gegen Rom zitierten Worte adv. haer. 
DI, 1,1 als im Gegensatz zur Vorstellung Tertullians befindlich an- 
führt. Auch Zahns Formulierung dessen, was regula fides in der 
alten Kirche gewesen sei, ist elastischer, als Kunze oben zu erkennen 
giebt. Freilich sagt Zahn (RE°a.a.O. 684,55ff), daß zunächst das 
Taufbekenntnis Glaubensregel genannt würde. Dies »zunächst« deutet 
schon auf eine noch folgende Korrektur hin. Wir erfahren denn 
auch (p. 686, 33ff), daß dem Begriff Glaubensregel eine gewisse Ela- 
stizität eignete, daß gelegentlich Irenaeus mit regula veritatis die 
»weitschichtigeren Begriffe« praedicatio, fides, apostolorum traditio, 
praeconium veritatis u. ähnl. ohne scharfe Unterscheidung abwechseln 
lasse. Auch Tertullian habe den Begriff nicht scharf gegen die ge- 
samte Predigt Christi und der Apostel abgegrenzt. Aber neben 
dieser weiteren Anwendung komme immer wieder die engere und 
nächste Bedeutung des Wortes zum Vorschein (686, 54). Vollends 
Kattenbusch kann, sofern seine Stellung zu Irenaeus ventiliert wird, 
nicht zu den Vertretern der »herrschenden Meinung< gerechnet 
werden. Kunze deutet dies selbst an, freilich nur ganz im allge- 
meinen und ohne dem Leser einen klaren Begriff von der wirklichen 
Stellung Kattenbuschs zu geben (p. 15). Später (p. 100), wo Kunze 


geneigte und einen gewissen Fanatismus begünstigende Naturanlage berücksichtigt 
werden. 


922 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


im besonderen die Stellung des Irenaeus untersucht, giebt er in einer 
Anmerkung zu, daß sich jetzt »richtigeres< bei Kattenbusch finde 
(II 26). Diese Anerkennung wird aber gleich durch die Notiz abge- 
schwächt, daß Kattenbusch »grade für diese Stelle< die Gleichung 
Taufsymbol = Wahrheitsregel festhalte. Kunze hätte aber doch voll- 
ständiger die seinen eigenen Ergebnissen sich nähernde Position 
Kattenbuschs würdigen können. Kattenbusch konstatiert ausdrück- 
lich, daß, während im Morgenland der Titel Glaubensregel zunächst 
auf die heil. Schrift gehe, im Abendland nur auf das Symbol, Ire- 
naeus dagegen eine mittlere Haltung repräsentiere, da er beide 
Maßstäbe kenne und sie z. T. in individueller Weise kombiniere 
(II, 963). Dies Urteil konnte freilich Kunze noch nicht kennen; aber 
die ihm bekannten Partieen des Buches von Katttenbusch besagen 
doch dasselbe. Kattenbusch weist deutlich darauf hin, daß Irenaeus 
unter dem Titel regula veritatis an zwei Stellen nur die Schrift ge- 
meint habe (II.32). Ja, Kattenbusch nähert sich Kunze noch mehr. 
Nicht bloß, daß er die Autorität der Schriften für Irenaeus unein- 
geschränkt behauptet, und adv. haer. III, 15', mit derselben Tendenz 
einführt (II, 40) wie Kunze (106 A, 3); er meint auch, daß Irenaeus 
das Symbol formal doch als »erflossen< aus der Schrift beurteilt 
haben könnte (II, 34). An einer anderen Stelle heißt es: »da die 
Schriften die Wahrheit sind, so wäre also das Symbol als regula 
oder xavwy sachlich angesehen zugleich die Summe der prinzipiellen 
Gedanken der Wahrheit« (II 38). Auf der vorhergehenden Seite 
will Kattenbusch, indem er II 40: mit III 117 kombiniert, »zuge- 
stehen, daß Irenaeus wahrscheinlich das Syınbol als die Summe des- 
sen, was die Schriften sine ambiguo lehren, betrachtet habe< (II 37; 
cf. auch p. 36. p. 44). Wenn auch Kattenbusch kein endgültiges 
Urteil abzugeben wagt, so bedeuten seine Ausführungen doch eine 
große Annäherung an Kunze, der p. 120 behauptet, das Irenaeus 
das Symbol als »summarischen Ausdruck der Schriftwahrheit< ge- 
würdigt habe. Kunze hätte darum wohl auf diese Verwandschaft 
seiner Ausführungen mit denen Kattenbuschs aufmerksam machen 
können und nicht nötig gehabt, in einer Anmerkung, die dem Leser 
in keiner Weise ein richtiges Bild von Kattenbuschs Untersuchungen 
über die regula bei Irenaeus zu geben vermag, Kattenbusch ab- 
zufinden. | 

Aber ich sehe jetzt ab von dem Verfahren Kunzes gegen Kat- 
tenbusch, um der Frage nachzugehen, wie es sich mit den Einzel- 
ausführungen verhält. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, 
daß Kunze selbst seine eigentliche These nur mühsam durchzuführen 
vermocht hat. Nur indem er die verschiedensten Aeußerungen, die 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 923 


sich bei Irenaeus finden, zusammenfaßt und systematisierend kom- 
biniert, wird es ihm möglich, jenen Begriff von der regula heraus- 
zuarbeiten, den er seinen Untersuchungen als vorläufiges Ergebnis 
vorangestellt hat. Im grunde hebt er diese These selbst auf. Frei- 
lich will er das nicht Wort haben. Denn nachdem er des Irenaeus 
Stellung zu den yeegai dargelegt hat, meint er, daß das gefundene 
Resultat jenes frühere nicht aufhebe, wonach in der regula veritatis 
das Taufbekenntnis zu erkennen sei (120). Wenige Zeilen später 
aber lesen wir schon die Bemerkung, daß, wenn man dem Irenaeus 
Konsequenzen ziehen wollte, man fast sagen könnte, die heiligen 
Schriften seien für ihn der eigentliche »Kanon«. Das zeige sich 
wenigstens dann, wenn einmal das gegenwärtige x/oevyu« der Kirche 
dem Inhalt der Schrift gegenübergestellt werde (p. 120). Damit 
ist aber ein Riß in das Gefüge der ursprünglichen These gekommen. 

Gehen wir aber auf die Gedanken des Irenaeus im einzelnen ein. 
Es ist nicht leicht, hier mit wenig Worten zu Irenaeus Stellung zu 
nehmen. Will man ein umfassendes Bild von der regula des Ire- 
naeus gewinnen, muß man mehr Gedanken berücksichtigen, als sei- 
tens Kunze geschehen ist. So gründlich auch gerade Irenaeus von 
Kunze befragt ist, so sind doch nicht alle Momente in Betracht ge- 
zogen. Die systematische Kraft des Verfassers scheint stärker zu 
sein, als die Fähigkeiten, ein allen Momenten gerecht werdendes, 
historisch-psychologisches Bild zu geben. So hat Kunze dem Ra- 
tionalisten Irenaeus keine Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist aber 
der Rationalismus des Irenaeus keineswegs belanglos. Er ist ja im- 
stande, eine veränderte Stimmung gegen die regula zu erzeugen. 
Wer der Meinung ist, daß christliche und vernünftige Weltanschauung 
Wechselbegriffe sind, daß das Symbol die vernünftigen Gedanken 
überhaupt summarisch darstellt, daß auch die Schriften selbst lo- 
gisch sind, dessen persönliches Empfinden wird nicht ganz von der 
regula bestimmt sein. Es bleibt im Empfindungsleben wenigstens 
eine Unterströmung, die gelegentlich sich über die regula hinweg- 
setzen, oder das Gefühl der Unabhängigkeit von ihr wach halten 
kann. Ist man Theologe, wird man zugleich es versuchen, diese 
persönliche Stimmung wissenschaftlich zu rechtfertigen. Das be- 
deutet natürlich keine geringe Gefahr. Andererseits kann nun auch 
eine solche persönliche Haltung den Wert der regula erhöhen, wenn 
entsprechende Umstände eintreten. Denn der Apologet wird um so 
lieber auf die regula verweisen, je mehr er von ihrer Vernünftigkeit 
überzeugt ist. So wird sein geistiges Leben sich mit den Gedanken 
der regula fest verbinden. Das löst natürlich rückwirkend ent- 
sprechende Gefühle aus und bewirkt eine besondere Schätzung der 


924 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


empirischen regula. So kann der Rationalismus beides, Freiheit und 
Gebundenheit, in einer Person zeitigen. Es erwächst aus diesem 
psychologischen Prozeß eine eigenartige Pietät gegen die regula. 
Diese Pietät wird durch eine andere gestützt, die andersartig 
begründet ist und selbst, nicht auf eine einheitliche Wurzel sich 
zurückführen läßt. Kunze hat den Begriff der zapddocıs bei Ire 
naeus nicht ausreichend gewürdigt. Er hat ihn nicht unberücksich- 
tigt gelassen. Aber er sucht doch den Begriff möglichst abzu- 
schwächen und gewährt ihm keinen Einfluß auf die Bestimmung der 
reguia. Indem er darauf hinweist, daß Irenaeus nur durch seine 
Gegner dazu veranlaßt sei, Schriften und Tradition auseinander zu 
halten (121), meint er, diese in »Hyperbeln< sich bewegende Er- 
örterung nur unter dem Gesichtspunkt der Entkräftung der gegneri- 
schen Instanz betrachten zu dürfen (122). Aber selbst dann be- 
deutet doch die rd£ıs nagaddceng eine bedeutsame Beeinträchtigung 
des Schriftprinzips. Ja, wenn Kunze sogar meint, in der Ueber- 
lieferung hätte der ungebildete Christ das, was die Gebildeten 
in und an der Schrift hätten (123), so läßt dies nicht bloß der Ver- 
mutung Raum, daß Irenaeus den Schriftbeweis führt, weil die Gno- 
stiker zuerst die Schriften für sich geltend machten, sondern Irenaeus 
glaubt auch zweifellos, der Schriften entraten zu können, weil eben 
die Ueberlieferung das Nötige bietet, also wenigstens für die Unge- 
bildeten regula ist. Man darf dies nicht dahin wenden, daß nun eo 
ipso die Schriften sich dieser Ueberlieferung beugen müssen. Es 
kann sich zunächst nur um zwei parallele Glieder handeln. Dies 
Absehen von der Schrift wird aber gefördert durch die Thatsache: 
daß die Schrift selbst der rechten Auslegung bedarf (cf. Kunze p. 124), 
daß darum der gewöhnliche Christ sich an die Kirche, an die Pres- 
byter und Bischöfe halten muß (Ku. 125). Irenaeus denkt ganz ge- 
wiß noch nicht römisch, und man mag mit Kunze dies zunächst nur 
als einen »seelsorgerlichen Rat« ansehen (126). Damit ist aber die 
Sache noch nicht abgethan. Denn wenn Irenaeus diesen Rat mit 
innerer Wahrhaftigkeit geben sollte, konnte er es nur unter der 
Voraussetzung, daß man auch anderswo den Wahrheitsmaßstab fin- 
den konnte. Es ist aber doch mehr als ein bloß seelsorgerlicher 
Rat. Denn Irenaeus fühlt sich und die großen, kirchlichen Zen- 
tren noch in lebendigem Zusammenhang mit der Apostelkirche. 
Man muß demnach wenigstens mit Unterströmungen bei Irenaeus 
rechnen und kann zum mindesten nicht seine Anschauung in einer 
glatten These zum Ausdruck bringen. Der Rationalist Irenaeus so- 
wie der auf die große Masse der Ungebildeten sehende und im Zu- 
sammenhang der historischen Tradition stehende Irenaeys kann die 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 925 


Schrift zuriickstellen. Es treten Gedanken an den Tag, die ein 
Schrifttheologe nicht teilen kann. Wird dies alles auf die Bestim- 
mung dessen, was regula sei, Einfluß haben? 

Man wird das schwerlich leugnen können. Kunze hat zwar 
vollkommen Recht, daß die nackte Gleichung : Taufsymbol = regula 
veritatis den Sinn der irenäischen Anschauung, oder, wie man 
richtiger sagt, die ganze Anschauung des Irenaeus nicht wiedergiebt. 
Es sind zweifelsohne Stellen bei Irenaeus nachweisbar, in welchen 
unter regula veritatis an die Schrift gedacht ist. Kunze verweist 
mit Recht auf III 15! (p.106, Marcus Eremita p. 184 A 2; cf. Kattenb. 
II 32), oder auf die noch klarere Stelle IV 574 (p. 103 Katt. II 32), 
wo die sermones dei, d. h. die Schrift, als regula veritatis bezeichnet 
werden. Diese Stelle würde aber für sich betrachtet einen Sprachge- 
brauch des Begriffs regula veritatis ergeben, der zur These Kunzes 
nicht paßt. Aber bleiben wir im obigen Zusammenhang! Ist Irenaeus 
so weit gegangen, jene Tradition, oder doch ein Stück der Tradition 
unter dem Titel regula veritatis zu betrachten? Es ist nicht un- 
wahrscheinlich, daß Irenaeus gelegentlich die zapadocıs überhaupt, die 
über die Schriften hinausgeht (dagegen Kunze p. 118f), als regula 
beurteilt hat, und es läßt sich mit zweifelloser Sicherheit behaupten, 
daß Irenaeus das Taufsymbol, einen Teil der ¢raditio, als regula an- 
gesehen hat. 

Kunze hat die Worte des Irenaeus III 2ı (regulam veritatis de- 
pravans) im unmittelbaren Anschluß an die jeden Zweifel über ihren 
Sinn ausschließende, schon zitierte Stelle IV 574 behandelt (p. 103), 
ist aber doch so vorsichtig, nur zu behaupten, daß die regula veri- 
tatis mit den Schriften im innigsten Zusammenhang stehe. Nun 
läßt aber der im folgenden auftretende Zusammenhang erkennen, 
daß die Beziehung auf die Schrift allein den Begriff regula hier nicht 
erschöpft. Man könnte zu der Annahme sich veranlaßt fühlen, daß 
die von Irenaeus uns hier gebotenen Ausführungen gradezu die 
These Kunzes erweisen. Irenaeus verweist ja im folgenden »Exkurs« 
(Ku. p. 120) die Gnostiker auf die von den Aposteln herrührende 
und durch die successio der Presbyter in den Kirchen bewahrte Tra- 
dition. Diese Tradition ist nun inhaltlich scheinbar so charakteri- 
siert, daß man an das Symbol denken könnte. Irenaeus schließt auch 
diese Entwicklung über die Zraditio mit einem Hinweis auf das Sym- 
bol, den ordo traditionis, den die Apostel der Kirche anvertrauten 
und der sine charta vel atramento geschrieben, in den Herzen fest- 
gehalten wird. Dann dächte also Irenaeus an Symbol und Schriften, 
wenn er sich den Begriff regula vorstellt. Aber sie wären doch nicht 
in der von Kunze vorausgesetzten Einheit und gegenseitigen Be- 
ziehung auf einander regula. Es würde sich doch nur um Parallel 


926 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12 


glieder handeln. Nun aber ist es höchst unwahrscheinlich, dab 
Irenaeus hier bloß an das apostolische Symbol gedacht hat. Der 
Brief des Clemens gehört ja mit zur trad:tio und III 4') spricht 
Irenaeus davon, daß die Apostel in die Kirche gleichsam wie in 
eine reichhaltige Vorratskammer alle Wahrheit in größter Fülle nie 
dergelegt hätten. Dächte Irenaeus nur an das Symbol, hätte er 
sich doch sehr plerophorisch ausgedrückt. Erst zum Schluß, wo er 
von den ältesten Kirchen, die in ununterbrochenem Zusammenhang 
mit den Aposteln stehen und eben deswegen auch unbedeutende 
Fragen entscheiden können, absieht und auf die gläubig gewordenen 
Barbaren den Blick richtet, gedenkt er ausdrücklich des Symbols, 
das allen gemeinsam ist und völlig ausreicht, um gegen jede Ketzerei 
zu immunisieren und die Häresie als solche zu erkennen. So denkt 
also Irenaeus hier, wo er von der regula veritatis ausging, nicht blob 
an die Schriften, sondern ebensowohl an die Tradition und das Syn- 
bol. Dann muß man aber einen Sprachgebrauch und Gedankengang 
konstatieren, der sich der These Kunzes nicht einfügen läßt. 
Andere Stellen lassen auch nicht die These Kunzes als richtig 
erscheinen. Ich denke besonders an I 120 (Mass I %). Die Stelle 
ist zu bekannt, als daß ich sie hier auszuschreiben nötig hätte. 
Kunze entnimmt aus dieser Stelle das Ergebnis, daß die heil. Schrif- 
ten ganz wesentlich unter den Begriff der Wahrheitsregel fallen, 
ohne daß doch ausgeschlossen sein solle, daß derselbe auch zugleich 
das Taufbekenntnis meine (103; cf. p. 75). Das Deminutiv ompe- 
cov erklärt er daraus, daß Irenaeus nur an die hellen Hauptstellen 
der Schrift als regula denke (120). Von diesem Deminutiv aus hat 
man aber andererseits (Wohlenberg, Th. L. Bl. 1900 Nr. 3) gegen 
Kunzes Auffassung Einspruch erhoben und lediglich an das Taufbe- 
kenntnis gedacht. Aber weder Kunze noch sein Rezensent sind be- 
rechtigt, aus der Wahl des Wortes owucrıov bestimmte Schlüsse zu 
ziehen. Kattenbusch weist (II 30 A. 7) unwiderleglich darauf hin, 
daß mit dem Begriff ooudrıov die deminutive Bedeutung nicht ver- 
bunden zu sein brauche. Das ist nichts befremdliches. Dem Philo- 
logen ist es eine bekannte Thatsache, daß im späteren Griechisch 
und Lateinisch die Deminutivendungen ihre ursprüngliche Bedeutung 
verloren haben. Ich verweise nur auf die Entwicklung liber, libellus, 
libellulus. Man muß also vom Begriff owuarıov absehen. Dagegen 
ermöglicht der Nebensatz dy did tod Paxtiopnerog elAngey ein rich- 
tiges Verständnis des Begriffs xavov rijg dAndeius. Man kann nur 
an das Tautbekenntnis denken. Kunze meint allerdings auf den 
späteren Gebrauch, den Täuflingen die Schriften zu nennen, auf- 
merksam machen zu müssen. Aber zunächst beweist er doch nicht, 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 997 


daß bereits zur Zeit des Irenaeus jener Brauch üblich gewesen sei. 
Er meint vielmehr aus dieser Bemerkung des Irenaeus erschließen 
zu dürfen, daß man auch zu seiner Zeit dies Verfahren kannte. Und 
jetzt wird wiederum die Bemerkung des Irenaeus eine Stütze für 
die These Kunzes. Sodann fand doch nur eine traditio evangeliorum 
statt. Mehr vermag auch Kunze p. 208 nicht festzustellen. Katten- 
busch weist ferner überzeugend nach (II 27), daß Irenaeus unter dem 
xevov tig dAndeiag hier kein Buch, sondern eine Lehrsumme meint. 
Irenaeus hätte sich doch auch recht ungeschickt ausgedrückt, wenn 
er den Gedanken, daß dem Täufling die Schriften genannt wür- 
den (Kunze a. a. O.) in die Worte kleidet : dca Bantiouarog elAnger. 
Aber Kunze behauptet (102), daß Irenaeus »zum Ueberfluß« es 
selbst noch sage, daß er an die Schriften denke: td piv é& tay 
yeapay Övöuara ... Erıyvooera. Aber auch diese Auslegung scheint 
mir nicht das Richtige zu treffen. Es wird vielmehr von einem 
xavey gesprochen, der dem Besitzer es möglich macht, ein rechtes 
Verständnis der Schriften zu gewinnen. Auf Grund dieses xavdyv 
kann man die Schriftlehre der Gnostiker als schriftwidrig erkennen. 
Wenn Irenaeus in diesem Zusammenhang die yeagal als xavay ris 
dAmdeiug hingestellt hätte, hätte er ja keinen Maßstab gegeben. 
Denn um das Verständnis der Schriften dreht sich ja hier grade der 
Streit, um den wahren Sachverhalt. Darauf führt ja auch der von 
Irenaeus gegebene Vergleich. Auf p. 75 steht auch Kunze sehr 
stark unter dem Eindruck, daß Irenaeus hier an das Symbol gedacht 
habe. Es werde gewiß, daß für Irenaeus »die Wahrheitsregel we- 
sentlich im Taufbekenntnis gegeben war; denn von ihm gilt vor 
allem, daß es der Christ dvd roü Bantiouarog elAnpevc. Man kann 
also hier nicht an die Schriften denken, sondern nur an das Symbol. 
Begrifflich ist die Schrift nicht in den Titel der regula eingeschlossen. 
Dann ist aber der xavay ng dAnfstag ein Maßstab für die Wahr- 
heit, nicht eine Richtschnur, welche die Wahrheit giebt (Kunze 
p. 8). Bedenkt man nun noch, daß Irenaeus das Symbol als den 
ordo traditionis in seiner Unabhängigkeit von den Schriften 
betrachten konnte (ob wir die betreffenden Partien seines Werkes 
als Exkurs anzusehen haben oder nicht, ist irrelevant), so läßt sich 
Kunzes These in ihrer ganzen Schärfe nicht durchführen. Natürlich 
ist damit nicht gesagt, daß das Symbol- und Schriftprinzip einander 
wirklich gegenüberstehen. Das ist ausgeschlossen. Sie laufen einander 
aber doch wenigstens parallel. Irenaeus kann, da er auch die Schrift 
als xavov tig aAndeieg beurteilt, natürlich wieder Beziehungen 
zwischen Schrift und Symbol herstellen, Beziehungen, die, wenn auch 
nicht auf eine klare Formel gebracht, doch seine Empfindungen leb- 


928 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


haft bestimmen. Andererseits hat er aber Symbol und Schriften von 
einander unabhängig machen, ja sogar das Symbol als eine regula 
hinstellen können, welche den wahren Sinn der Schrift eröffnet. 
Daß der Genitiv im Wortgefiige xav&v ns dAndelxg mit Richt- 
schnur für die Wahrheit übersetzt werden darf, läßt sich auch sonst 
aus Irenaeus belegen. 

Man kann demnach die Anschauung des Irenaeus von der regula 
nicht auf eine einheitliche Formel bringen. Man möchte am ehesten 
vermuten, daß Irenaeus über das gegenseitige Verhältnis von Schrift 
und Symbol nicht sonderlich reflektiert hat, überhaupt eine große 
Freiheit hinsichtlich der regula hat walten lassen. Es kreüzen sich 
in seiner Person verschiedene Gedanken und Stimmungen, die s0- 
wohl das durch die in der Kirche vorhandene Hochschätzung der 
Schriften und durch ihre Verwertung seitens der Gnostiker vorbe- 
reitete Bibelprinzip fördern konnten, als auch grade eine Betonung 
des Symbols und eine damit verbundene Isolierung desselben als 
regula einzuleiten imstande waren. Man darf gewiß, um dies zu 
verstehen, auch daran erinnern, daß Irenaeus sowohl von Asien wie 
von Rom gelernt hat, daß also neben der ganz persönlichen, indivi- 
duell-psychologischen Haltung noch ganz bestimmte, historische Ein- 
fliisse sich geltend gemacht haben. So hat Irenaeus die Schriften 
als regula bezeichnen können, aber auch das Symbol, und man kann 
bemerken, daß das Symbolprinzip, welches wieder ins Traditions- 
prinzip übergeht, nicht im Hintergrunde steht. Sein Rationalismus, 
seine apologetischen Interessen, sein Traditionsgedanke, sein Ueber- 
zeugtsein von der Schwierigkeit des Schriftsinns, sein auch die un- 
gebildeten Christen umspannender und auf die von den Zentren der 
apostolischen Mutterkirchen entfernt wohnenden, gläubig gewordenen 
Barbaren sich richtender Blick, alles dies mußte ihm das Taufbe- 
kerntnis als zur regula besonders geeignet erscheinen lassen. Es 
konnte von Irenaeus aus eine biblische Strömung im Abendland sich 
verbreiten; es konnte aber auch von demselben Irenaeus aus eine 
Entwicklung gefördert werden, welche mit rücksichtsloser Konsequenz 
als regula das Symbol betrachtet. Daß die Glaubensregel bei Ire- 
naeus auch als Erweiterung des Symbols erscheint, kann nicht gegen 
diese zweite, bei Irenaeus konstatierte Gedankenreihe geltend ge- 
macht werden. Denn Irenaeus hat ja unbedingt das Taufsymbol 
schon regula genannt (I Is). Man kann hieraus, worauf Zahn mit 
Recht aufmerksam macht, nur folgern, daß dem Begriff der Glaubens- 
regel eine gewisse Elastizität anhaften konnte (die freilich für die 
spätere Entwicklung nicht bedeutungslos ist), daß aber neben dieser 
weiteren Verwendung immer wieder die engere und nächste Be 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 929 


ziehung des Wortes zum Vorschein komme (RE? a. a.O. 686 s«. ss). 
Das Bekenntnis, die Formel ist die Grundlage der regula. Es ist ja 
auch selbstverständlich, daß das für das innere Leben der Kirche 
so wichtige Symbol auch gegen die Häretiker als regula gebraucht 
wurde (cf. Kunze 314). Wenn Kunze meint, daß die Elastizität der 
Glaubensregel daher stamme, daß der Schriftenkanon noch nicht ab- 
geschlossen sei, so hat er dafür den Beweis nicht erbracht. Man 
kann nirgends ein bestimmtes Verhältnis zwischen den erweiter- 
ten, und zwar bei demselben Autor verschieden erweiterten Glau- 
bensregeln und einem grade auf die vorliegende Erweiterung be- 
züglichen Schriftenkanon nachweisen. 

Daß das Symbol, und nicht die Schrift, oder Symbol und Schrift, 
regula ist, gilt vollends von Tertullian. Kunze sagt (p. 169), daß 
auf den ersten Blick seine Ausführungen, zumal in de praescr. haer. 
kein anderes Verständnis zu gestatten scheinen, als das hergebrachte. 
Aber dies Verfahren, ohne die Schriften gegen die Häretiker vor- 
zugehen, sei eine Neuerung (169), veranlaßs grade durch Hoch- 
schätzung der Schrift und praktische Motive (170). Tertullian habe 
darum auch die Schriften nicht aus dem Begriff der regula ausge- 
schieden (173. 174). Den Hauptbeweis findet Kunze in de pr. c. 36. 

Mich hat die Beweisführung Kunzes nicht zu überzeugen ver- 
mocht. Es soll von vorn herein zugegeben werden, daß Tertullian 
die Schriften nicht hat geringschätzen wollen. Aber das entscheidet 
noch nicht die Frage, ob Tertullian die Schriften als tauglich, regula 
fidei zu sein, angesehen hat. Es hat Kunze zweifellos Recht, wenn 
er von einer Neuerung bei Tertullian redet (cf. Marc. Erem. 184 A 2). 
Man kann nicht Irenaeus und Tertullian neben einander stellen. Daß 
hier Differenzen sind, hat schon Kattenbusch ausführlich zu zeigen ver- 
sucht (II 76). Ich kann die Neuerung aber nicht mit Kunze darin er- 
blicken, daß Tertullian das Bekenntnis und die Schriften von einander 
getrennt hat, — das ist ja schon auf grund des bei Irenaeus Ge- 
sagten unmöglich — ; das Neue liegt vielmehr darin, daß Tertullian 
einen schon von Irenaeus geübten Brauch prinzipiell begründet (cf. 
Katt. 1177; vielleicht auch Harnack DG° I 328/29, 331). Nicht die 
Trennung von Schrift und Symbol überhaupt ist das Neue, sondern 
die ausschließliche Geltendmachung des Symbols als regula fides und 
die damit zusammenhängende Reservierung der Schriften allein für 
die kirchlichen Christen. Tertullian will thatsächlich das Symbol 
als regula fidet verwendet sehen. Aus de spect. 4 (in aquam in- 
gressi christianam fidem in legis suae verba profitemur) erkennt man, 
daß der Wortlaut des Symbols die regula ist. Glaubensregel und 
Taufbekenntnis sind wirklich identisch (cf. de pr. 13. 21. mart. 3 

Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 61 


930 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


pud. 18 u. 6.). Es ist dies kein ungenauer Sprachgebrauch de 
Tertullian, sondern seine wirkliche Meinung. Der Hinweis auf die 
mannigfachen Erweiterungen der regula (Kunze p. 173) ist belanglos. 
Denn derselbe Tertullian, welcher die regula fidei an verschiedenen 
Stellen in verschiedener Form dem Leser vorführt, sagt doch, daß 
die regula fider una omnino est, sola immobilis et irreformabilıs (de 
virg. vel. c. 1). Er hat also auch dort, wo die erweiterte regula 
fide: auftaucht, an die feste Formel gedacht. Um beides zu ver- 
stehen, muß man sich den Juristen Tertullian und den temperament- 
vollen, leidenschaftlichen Afrikaner und Schüler des Irenaeus ver- 
gegenwärtigen. Die Identität beider Größen erhellt auch daraus, 
daß Tertullian das sacramentum fidei, d.h. das Symbol, als regula 
fides hinstellt (de pud. 18 u. 6.). 

Kunze hält es aber (p. 218) für einen methodischen Fehler, 
wenn man, wie bisher durchgängig geschehen sei, den formalen Be 
griff regula identifiziere mit dem besonderen Inhalt. So habe man 
sich zu der Meinung verleiten lassen, daß die regula wenigstens eine 
Lehrformel sei. Aber Kunze hat selbst (p. 15) gesagt, daß man 
sich »irgend eine Lehrsumme« unter diesem Begriff vorgestellt habe. 
Und wenn sich bei Tertullian die Gleichung: Symbol = regula vor- 
findet, muß man davon auch für die Definition der regula Gebrauch 
machen. Es ist nur die Frage gestattet, ob Tertullian etwa das 
Symbol in dem Sinne wie Augustin regula genannt habe. Das ist 
aber nicht der Fall. Denn daß die Schrift nicht in den Begriff 
regula eingeschlossen ist, kann man aus de praescr. ersehen. Mit c. 15 
hebt an, was man als die Neuerung Tertullians bezeichnen kanı. 
Es hat T. aber schon vorher mit wünschenswertester Deutlichkeit 
seiner Ueberzeugung Ausdruck verliehen. In c. 14 tritt das Symbel 
vor die Schrift. Tertullian möchte überhaupt die eingehende Be- 
schäftigung mit der Schrift vermieden sehen. Denn die ezercitatw 
scripturarum wurzelt im Grübelgeist und in der Ruhmsucht. Fide 
tua te salvum fecit, non exercitatio scripturarum. Von dieser fide 
aber heißt es: in regula posita est, habet legem et salutem de obse- 
vatione legis. Kunze hat, soviel ich sehe, diese wichtige Partie hier 
nicht berücksichtigt. Man kann aus diesen Sätzen, die ja noch nicht 
direkt gegen die Häretiker gerichtet sind, eine recht lebhafte Em- 
pfindung von Tertullians Stellung zur Schrift und zum Symbol ge 
winnen. Alles Forschen, welches über die regula hinausgeht (und 
Tertullian denkt vornehmlich an die Schriftforschung), ist ctwriositas 
und gloria. Tertullian bliebe am liebsten bei der einfachen regula: 
er kann doch nicht alles Forschen verbieten. Dann gilt aber der 
Grundsatz, daß die »egula, d. h. das Symbol, nicht verletzt werden 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 931 


dürfe. Wenn man die c. 14 sich findende Wertung des Symbols er- 
wägt, kann man nur annehmen, daß Tertullian überhaupt auf die 
Schriften als regula sich nicht einlassen kann, daß das Forschen in 
und nach der Schrift ihm persönlich unbequem ist. Seine religiösen 
und wissenschaftlichen Interessen haften am Symbol, das ihm als 
sacramentum fidei gilt. Es ist dann nur natürlich, daß auch gegen 
die Häretiker das Symbol ins Feld geführt wird, daß es regula fidei 
wird (pud. 18). Grade diese Wertung des Symbols als sacramentum 
fides und als regulu fidei scheint mir eine wichtige Instanz gegen 
Kunzes Auffassung zu sein. Es konnte aber dieser Gebrauch des 
Symbols um so leichter eintreten, je intensiver Tertullian von der 
Unzuverlässigkeit der Schriften im Kampfe gegen die Häresie über- 
zeugt war. Wer die Worte sprechen kann: ergo non ad scripturas 
provocundum est, nec in his constituendum certamen, in quibus aut 
nulla victoriaaut incerta aut parum certa (de praescr. 19), 
für den kann die Schrift als regula nicht in Betracht kommen. So 
schreibt man nicht aus einer augenblicklichen Stimmung heraus oder 
bloß im Hinblick auf einen speziellen Fall. So kann Tertullian nur 
schreiben, wenn er wirklich völlig durchdrungen ist von der Unmög- 
lichkeit, auf grund der Schrift die Häretiker zurückzuweisen. Es 
wäre darum höchst auffallend, wenn Tertullian trotzdem die Schrift 
in die regula eingeschlossen hätte. Er hätte dann sowohl seine 
eigene Position wieder unsicher gemacht, als auch seinen juristischen 
Sinn und seine primär am Symbol haftende Frömmigkeit (cf. seine 
Ausführungen über das Gebet des »Christen«e und »Nichtchristen<) 
verleugnet. 

Kunze meint nun des weiteren, daß Tertullian diese regula fidei, 
d.h. eine feste Formel, gar nicht von Christus überliefert sein lasse, 
wie es den Anschein haben könnte (de pr. 9. 13. apol. 47 de pr. 37). 
Denn Tertullian denke nur an den trinitarischen Taufbefehl. Er 
sage ja auch de cor. 6: dehinc ter mergitamur amplius aliquid 
respondentes, quam dominus in evangelio determinavit. So rücken 
also Schrift und regula einander bereits nahe (173). Aber mußte 
denn die ganze Formel von Christus wörtlich mitgeteilt sein, wenn 
die Gleichung regula = Taufbekenntnis Gültigkeit besitzen soll? 
Das ist nicht Tertullians Meinung gewesen. Das von Kunze aus 
apol. 47 zitierte Wort spricht gegen Kunze. Denn es heißt: die 
regula veritatis komme von Christus, ¢ransmissa per comites ejus. Es 
genügt Tertullian ferner, daß die regula ab initio evangelii decucurisse 
(adv. Pr. 2). Es hat auch Christus neben der institutio im Taufbe- 
fehl einen anderen Weg der Mitteilung eingeschlagen. Er hat z.B. 
seine Jungfrauengeburt »gezeigt<: natum me ostenderam ex vir- 

61* 


982 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


gine (de pr.44). So kann Tertullian die Formel auf Christus zurück 
führen, ohne doch die wörtliche Mitteilung der Formel dure 
Christus behaupten oder das amplius aliquid respondentes ein 
schränken zu müssen. Eine Annäherung der Schrift an die regul 
findet nicht statt. 

Ich kann nun nicht hier alle von Kunze behandelten Stelle 
beleuchten. Ich beschränke mich auf die Hauptbeweisstelle de pr. 3 
Kunze stützt sich vornehmlich darauf, daß der Begriff der hier aut 
tretenden institutio dieselbe Sache meine, die sonst der Titel regul 
wiedergebe, und daß die Worte: legem et prophetas cum evangelict 
et apostolicis litteris miscet. Inde potat idem, eam aqua signat et 
die Schrift mit in die regula einrechnen (177). Man kann Kunz 
hier insofern entgegenkommen, als die hier sich befindenden Wort 
Tertullians die frühere Gleichung: regula = Taufbekenntnis wenig 
stens verschleiern. Aber Tertullian scheint doch zunächst nur a 
die Formel zu denken. Anders kann man das Wort: contesserar 
nicht verstehen. Die Kirche Roms hat, was sie gelernt und gelehr 
hat, mit der afrikanischen Kirche unter eine tessera gebracht, db 
unter eine Marke. Der Ausdruck fordert die Beziehung auf ein 
Formel. Man findet auch mehrfach bei Tertullian die Vorstellung 
daß grade das Symbol das Einheitsband ist, mögen auch kurz vor 
her ethisch-praktische Größen genannt sein. De pr. 20 beruht di 
rechtsgültige apostolische Einheit auf der ¢raditzo des Symbols. Aehn 
lich heißt es adv. Marc. 1Vs: apud universas (sc. ecclesias) quae .. 
de societate sacramenti confoederantur. Wir dürfen darum auc 
de pr. 36 an das Symbol denken, zumal dasselbe unmittelbar darau 
kurz angedeutet wird. Aber T. bleibt ja dabei nicht stehen. Mi 
den Worten legem et prophetas etc. geht er ja über die bekannte 
Grenzen der regula hinaus. Es wäre jedoch höchst auffallend, went 
Tertullian auch die Pflicht des Martyriums unter dem Titel de 
regula fidei eingeführt hatte. Wohl aber versteht man, wie ic 
durch Kattenbusch es bestätigt gefunden habe, den Hinweis au 
diese Pflicht, wenn von der regula disciplinae die Rede ist (cf 
Kunze 452). Dann erkennt man als die Absicht Tertullians, gegeı 
die Häretiker in möglichst umfassender Weise Stellung zu nehmen 
Nicht erst die regula fide, schon die regula disciplinae ist aus 
reichend, um das Verwerfungsurteil über die Häretiker auszusprechen 
Denn die Häretiker entziehen sich dem Martyrium. De genere con 
versationis, heißt es ja in derselben Schrift, qualitas fAdei aestimar 
potest. Doctrinae index disciplina est (de pr. 43). Aber die dis 
ciplina gehört doch nicht mit zur fides (cf. Kunze 459/460). Apol. 2 
wird Beides neben einander gestellt. Dann darf man auch an unse 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 988 


rer Stelle nicht schlechthin von der regula sprechen. Man muß die 
regula fide: und disciplinae auseinanderhalten. Wenn aber Tertullian 
in unserem Zusammenhang auch der regula disciplinae gedenkt, wird 
man annehmen müssen, daß die regula disciplinae dort einsetzt, wo 
die Gedanken aufhören, die wir sonst bei Tertullian als zur re- 
gula fidei gehörig kennen lernten. Dann gehören aber die Schriften 
zur regula disciplinae Während die Häretiker — und Tertullian 
wird besonders an Marcion denken, cf. c. 37 — das A. und N.T. 
auseinander reißen, ist das nicht in Rom geschehen. Die folgenden 
Notizen zeigen, daß Tertullian vornehmlich Liturgisches im Auge 
hat. Er wird also hier an die Lesung alt- und neutestamentlicher 
Perikopen im Gottesdienste gedacht haben. Dann hat aber Ter- 
tullian durch den im folgenden auftretenden Begriff institutio gar 
nicht dieselbe Sache bezeichnen wollen, die er sonst regula nennt 
(Ku. 176). Tertullian zählt hier alle Momente auf, die die Häre- 
tiker zu richten geeignet sind. Die Häretiker verstoßen gegen die 
regula fide und regula disciplinae Wenn Tertullian nun sagt: inde 
potat fidem, und dabei gewiß an die Schriften denkt (andere Aus- 
legungen erscheinen mir gezwungen), so ist deswegen noch nicht 
die Schrift zur regula fide erhoben oder der regula fidei zugerech- 
net. Es zeigt dieser Zusatz nur die auch sonst zu konstatierende 
Verehrung, die Tertullian für die Schrift hegte; man versteht 
diesen Zusatz um so leichter, als allem Anscheine nach Tertullian 
an den erbaulichen Charakter der Schriften sich erinnert hat. 
Eine andere Frage ist es, ob die Schrift als regula fide: zu gelten 
habe. Das folgt weder aus diesen Worten noch aus dem ganzen 
Zusammenhang. Die übrigen Ausführungen dieser Schrift Tertullians 
(cf. bes. c. 14) verwehren diese Annahme. Man wird darum bei 
der hergebrachten Meinung von der regwla Tertullians bleiben müssen, 
die Ku. noch in seinem Aufsatz NKZ 97 p. 565 zu teilen scheint. 

So giebt also die These Kunzes kein zutreffendes Bild von der 
vornicänischen Entwicklung im Abendland. Es ließe sich dies noch 
durch weitere Belege bestätigen. Es könnte auch auf Novatian hin- 
gewiesen werden, der Tertullian näher steht, als Kunze meint. Ich 
muß mich aber mit dem Gesagten begnügen und kann nur noch 
kurz einige weitere Punkte besprechen. 

Nach der Begründung der eigentlichen These wendet sich Kunze 
der Frage nach dem Ursprung der Glaubensregel zu. Auch hier 
scheint mir Kunze seine Position gegenüber Kattenbusch und Harnack 
unnötig zu verschärfen. Wir sind auf das lange und interessante 
achte Kapitel angewiesen. 

Kunze spricht gleich zu Beginn seinen starken Gegensatz gegen 


984 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


die »neuere Theologie< aus (313). Der Begriff regula fides sei neu, 
in der Kirche als nachgnostisch, weil antignostisch zu betrachten. 
Die Kirche habe aber nicht das N.T. und das Bekenntnis geschaffen, 
als sie sich der Gnostiker erwehren mufte. Die neuere Theologie 
meine, die Kirche habe notgedrungen sich zu diesen Neuschöpfungen 
entschlossen, um »>mit einem Schlage< dem Streite ein Ende zu 
machen (313). Kunze bringt den Satz, den er bekämpfen will, auf 
die Formel: der neutestamentliche Schriftenkanon und das Bekennt- 
nis sind Schöpfungen der katholischen, insbesondere der römischen 
Kirche (313/14). Das sei »auch« der Grundgedanke der Dogmen- 
geschichte Harnacks (314). Nach Kunze sind aber N.T. und Be- 
kenntnis da gewesen, »ehe man sie zum Kanon erklärte« (315). 
Man könne diese Norm »mehr unreflektiert<« besessen haben (316), 
aber ein unerprobtes novum seien sie nicht gewesen. Daß solches 
Nachaußen-Kehren der Norm natürlich eine gewisse materiale Ver- 
änderung mit sich im Gefolge habe, ändere daran nichts. Auch aus 
der gnostischen Litteratur erkenne man die Haltlosigkeit der mo- 
dernen Anschauung (316/17 cf. die Anmerkung über Harnack 317; 
ferner 384, 414, 436). Falsch sei es auch, wenn man sage, die 
Kirche sei in der Aufstellung der regula fidei nur dem Gnostizismus 
nachgefolgt (318). 

Im folgenden (cf. die Inhaltsübersicht) begründet Kunze diese 
Gedanken. Es ist zu bedauern, daß Kunze seinen, wie ich von vorn 
herein betonen will, wertvollen Untersuchungen, die auch einen ge- 
wissen natürlichen Blick für das wirkliche oder vermutliche Ge- 
schehen bekunden und auch die Mängel der Zahnschen Auffassung 
zu vermeiden suchen, eine so scharfe polemische Zuspitzung gegen 
eine sogenannte »neuere Theologie« gegeben hat, die schon durch 
diese Bezeichnung zensuriert wird. Denn diese Bezeichnung ent- 
hält schon ein dogmatisches, absprechendes Urteil über die Gesamt- 
haltung des Gegners. Diese Verurteilung wird verschärft durch die 
letzten Ausführungen über die »neuprotestantische Position<. So 
hat Kunze den Gegensatz, der zunächst eine rein historische Frage 
betrifft, auf das dogmatische Gebiet hinübergespielt und im Leser 
sofort ein ungünstiges Vorurteil wider die gegnerischen Resultate 
erweckt. Aber ich will von dieser Zensur absehen und damit rech- 
nen, daß Kunze seine und Zahns historischen Forschungen nicht zur 
‚neueren Theologie« zählt. Selbst dann ist die Bezeichnung zu be- 
anstanden. Kunze läßt den Leser im Unklaren darüber, wer denn 
zu dieser neueren Theologie gehört. Zunächst verweist er auf Har- 
nack, der »>auch« in Betracht komme. Später wird Jülicher ge- 
nannt (420), mit dem zusammen ein anderes Mal Krüger erwähnt 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 985 


wird. Daß auch Kattenbusch derselben Kategorie zugezählt wird, 
kann man nur aus des Verfassers allgemeiner Haltung erschließen. 
Ausdrücklich gesagt wird es hier nicht. Nun ist es aber durchaus 
unangebracht, diese Forscher unter einen derartig umfassenden, ab- 
sprechenden Gesamttitel zu bringen. Es sind nicht unerhebliche Diffe- 
renzen vorhanden. Das bestätigt Kunze indirekt wenigstens dadurch, 
daß er sich eigentlich nur mit Harnack, und nicht mit der neueren 
Theologie auseinandersetzt. Kunze hätte verschiedentlich auf Jüli- 
cher verweisen können, ohne seine eigene Position aufzugeben. Das 
geschieht aber nicht. Mit sehr viel größerem Rechte hätte Kunze 
sich gegen Hilgenfeld wenden können, der aber mit keiner Silbe er- 
wähnt wird. 

Was nun Kunze in diesem Kapitel über das Bekenntnis sagt, 
deckt sich weithin mit dem, was Kattenbusch behauptet, freilich in 
zerstreuten Notizen, aber doch in Notizen, die Kunze bereits vor- 
lagen. Sie sind ihm entgangen; er verweist wenigstens, soviel ich 
sehe, nirgends darauf. Ich konstatiere aber gern diese nahe Be- 
rührung Kunzes mit der »neueren Theologiee. Kattenbusch meint 
nämlich ), der Gnostizismus und Marcionitismus hätten den Anlaß 
geboten, das Symbol zur regula zu erheben (II 82). Das Symbol 
ist also vor dem Gnostizismus schon in der Großkirche gewesen. 
Kunze seinerseits meint, daß nur der Begriff regula neu sei (313, 
388). An einem anderen Orte sagt Kattenbusch, es müsse, als die 
Häresie gefährlich geworden sei, die Schätzung der Symbolformel 
in der Gemeinde so groß gewesen sein, daß niemand mehr es habe 
versuchen können, ihr blos negativ gegenüber zu treten, wenn er 
nicht sich seines Einflusses auf die Gemeinden habe begeben wollen. 
So nur begreife man es, daß ein Marcion und Valentin sich mit ihr 
glaubten abfinden, sie anerkennen oder nachbilden zu müs- 
sen, wenn sie die Konkurrenz mit der katholischen Kirche aufnehmen 
wollten (II 328). Kurz vorher hat Kattenbusch die Vermutung aus- 
gesprochen, daß die Valentinianer, wohl klüger als ihr Meister, 
irgendwie R pro forma in Gebrauch genommen hätten (II 326 cf. 
II 58 A. 5). Neben Tertullians bekanntem Satz: communem fidem 
affırmant, glaubt Kattenbusch auch Irenaeus III 15: zum Beweise 
heranziehen zu dürfen (II 27), Von »Neuschöpfungen« gegenüber 
der Gnosis kann also in keiner Weise die Rede sein. Was Kunze 
in längerer Auseinandersetzung zu beweisen sucht, hat Kattenbusch 

1) Von der Hauptdifferenz in der Bestimmung der regula Ades muß ich hier 
natürlich absehen und auf meine obigen Ausführungen verweisen. Kunze be- 
bandelt auch in diesem Kapitel Schrift und Symbol gesondert, ohne deswegen 
seine Hauptthese aufgeben zu wollen. 


936 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


hier schon angedeutet. Damit soll nicht gesagt sein, daß Kunze nur 
ausführlich begründet, was Kattenbusch hier streift. Eine Differenz 
zwischen Kattenbusch und Kunze bleibt bestehen. Denn Kattenbusch 
ist geneigt anzunehmen, daß die Gnostiker neben dem kirchlichen 
Symbol noch ein eigenes besessen und gebraucht hätten. Katten- 
busch meint, daß Valentin selbst in seiner Weise als regula 
eine Formel aufgestellt habe, ein Gedanke, den Kattenbusch na- 
türlich nicht so ausbeutet, als sei dem Valentin die Großkirche 
ihrerseits in der Aufstellung eines Bekenntnisses gefolgt. Er er- 
kennt vielmehr an, daß Valentin durch die Großkirche zu einer 
eigenen Bildung veranlaßt sei. Hinsichtlich der Valentinianer aber 
meint Kattenbusch, daß sie auch das großkirchliche Symbol irgend 
wie hätten gelten lassen und es vielleicht pro forma rezipiert hät- 
ten, so jedoch, daß die Möglichkeit, ein eigenes Symbol zu besitzen, 
nicht ausgeschlossen sei (II 58 A. 5). 

Die in fortwährender Auseinandersetzung mit Harnacks An- 
schauung von den regulae der Gnostiker verlaufende Untersuchung 
Kunzes hat nun das Problem wesentlich geklärt. Kunze weist nicht 
ganz mit Unrecht darauf hin, daß die an verschiedenen Orten sich 
findenden Ausführungen Harnacks über das Symbol klarer hätten 
sein können. (p. 317 A. 1 heißt es recht scharf: »ich sehe mich 
außer stande, diese widersprechenden Ansätze zu vereinigen«). Frei- 
lich scheint Kunze anzunehmen (318 A. 1, 320, 321), Harnack sei 
der Meinung, die Gnostiker hätten überhaupt zuerst ein Symbol 
aufgestellt. Das ist ein Mißverständnis. Harnack sagt nur, es 
trete uns bei den Gnostikern zuerst der überlieferte Komplex des 
christlichen xrovyu@ als Lehrbekenntnis (regula fidet) ent- 
gegen (DG I 243 A. 1). Kunze selbst kann auch keine direkte 
Aussage Harnacks für die ihm zugeschobene Ansicht anführen (Kunze 
321). Was Harnack DG I 321, 324 A. 1, 326 schreibt, widerlegt 
diese Ansicht. Immerhin sind aber von Harnack Sätze formuliert, 
die seine wirkliche Anschauung zunächst nicht deutlich erkennen 
lassen. Doch scheint mir die Bemerkung RE? Bd. I 7526s seine 
wirkliche Ansicht zu verraten; die »Widersprüche« in seinen Aus- 
führungen sind demnach, zumal wenn man das obige Mißverständnis 
Kunzes berücksichtigt, nicht so groß, wie Kunze sie hinstellt. Da- 
gegen hat Kunze mit guten Gründen die These von den regulue 
der Gnostiker widerlegt und den Beweis erbracht, daß schon die 
Gnostiker das kirchliche Taufbekenntnis gehabt haben. In dieser 
Richtung sind auch die Aufstellungen Kattenbuschs zu korrigieren, 
die ja ohnehin schon sich mit denjenigen Kunzes sehr nahe be- 
rühren. 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 937 


Ich muß aber doch noch auf die Ausführungen Kunzes zurück- 
kommen. Kunze hatte den Satz Harnacks beanstandet, daß die 
Gnostiker zuerst ein Lehrbekenntnis aufgestellt hätten. Wie 
dieser Satz zu verstehen sei, hatte ich schon angedeutet. Sind nun 
aber die Entwickelungen Kunzes so sehr verschieden von dem, was 
als das richtige Verständnis jenes Satzes Harnacks gelten muß? 
Kunze kommt an einer anderen Stelle (360) auf diesen Satz Har- 
nacks zurück, nachdem er bewiesen hat, daß das Lehrbekenntnis 
der Gnostiker mit dem gemeinen Taufbekenntnis identisch war. 
Kunze weist hier den Satz Harnacks in jeder Beziehung zurück. 
Es müsse, sagt er, noch schließlich hervorgehoben werden, daß die 
Gnostiker nie dies Bekenntnis oder überhaupt eine feste Formel als 
Lehrautorität für sich oder gegen ihre Bestreiter angerufen hät- 
ten‘). Sie hätten sich damit gedeckt, aber nicht ihre Lehre davon 
abgeleitet. Die Autorität, aus der sie argumentierten, sei die Schrift 
gewesen. Später aber äußert sich Kunze anders (382). Er 
meint, der Irrtum, als ob die Gnostiker ein apostolisches Bekenntnis 
und N.T. geschaffen hätten, habe doch einen gewissen Schein der Be- 
rechtigung. Zunächst nämlich sei es richtig, daß wirklich die 
Gnostiker sich als erste auf die kirchliche Lehrüberlieferung, ins- 
besondere auf das Taufbekenntnis berufen und an ihm ihre 
Lehre zu legitimieren versucht hätten. Im ganzen trete dies zurück 
gegen das andere, daß in der That bei den Gnostikern zuerst ein 
überlieferter neutestamentlicher Schriftbeweis vorliege. Mit Recht 
habe Harnack darauf hingewiesen. Mit dieser Aeußerung stimmt 
überein, was Kunze am Anfang des Kapitels (313 ; cf. 388) über die 
regula fidei in der Kirche sagt. Der Irrtum also, den Kunze hier 
bekämpft, ist nicht der p. 360 behauptete. Er sagt vielmehr das- 
selbe, was er p. 360 gegen Harnack bestritten hatte. p. 360 heißt 
es, die Gnostiker hätten nie das Bekenntnis gegen ihre Bestreiter 
angerufen. Hier lesen wir, die Gnostiker hätten sich als erste 
insbesondere auf das Bekenntnis berufen. Und Kunze weist sogar 
auf Harnack hin. Denn der Hinweis auf Harnack kann sich dem 
ganzen Zusammenhange nach nicht bloß auf die Stellung der Gno- 
stiker zur Schrift beziehen. Kunze will ja den Schein der Berech- 
tigung des ganzen Irrtums aufdecken, der auch die falsche An- 
sicht vom Bekenntnis der Gnostiker enthält. Was Kunze hier ab- 
lehnt, ist die Meinung, als hätten die Gnostiker das Bekenntnis ge- 
schaffen. Das ist aber weder von Harnack noch von Kattenbusch 
behauptet worden. Es reduziert sich also die Differenz zwischen 


1) Die Sperrungen stammen von mir, 


988 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


Kunze und der »neueren Theologie« hinsichtlich des Taufbekennt- 
nisses und seiner Geltung bei den Gnostikern auf ein Minimum. 

Was nun den neutestamentlichen Kanon betrifft, so bekämpft Kunze, 
verschiedentlich auf Heinrici verweisend, die These, daß er eine 
Schöpfung der altkatholischen Kirche sei. Die antignostische Kirche 
habe weder diesen Kanon geschaffen, noch pseudoapostolische Schrif- 
ten fabriziert, oder ältere Schriften zum Zwecke der Kanonisierung 
dazu umgestempelt (385, 389, 313). Die strenge Abgeschlossenheit 
des Kanons, die man zuerst bei Marcion finde, gehöre nicht zum 
Wesen des Kanons (404). Das Plus des kirchlichen Kanons an 
apostolischen Schriften gegenüber dem marcionitischen sei nicht 
einem antimarcionitischen Interesse entsprungen (405). Das N. T. 
sei also eine vorgnostische Größe, eine positive Bildung des Christen- 
tums (427). 

Es hat dies aber m. E. auch Niemand unter den von Kunze 
bekämpften Forschern geleugnet. Kunzes scharfe Antithese gegen 
die »neuere Theologie« rührt hier z.T. nur daher, daß er die hier 
entwickelte Geschichtskonstruktion (denn mehr als eine solche kann 
man hinsichtlich der Entstehungsgeschichte des Kanons ebensowenig 
geben wie hinsichtlich derjenigen des Symbols) sich nicht in ihrem 
vollen Umfang vergegenwärtigt hat. Besonders Jülichers Darstel- 
lung der Geschichte des Kanons, die ja schon die ' Kontroverse 
Harnack-Zahn voraussetzt, hätte Kunze weit mehr berücksichtigen 
können, als geschehen ist; er hätte namentlich gegen Jülicher sich 
viel entgegenkommenderer verhalten können. Denn die Differenzen 
zwischen Kunzes und Jülichers Position sind nicht so groß, wie sie 
Kunze erscheinen läßt. Ich brauche ja nur an Jülichers bekannte 
These von der Bedeutung des Gnostizismus und Montanismus für 
die Kanonbildung zu erinnern. Die Kirche hat nach Jülicher un- 
bewußt, nicht nach Grundsätzen gehandelt. Von einem großen Aus- 
scheidungsprozeß könne so wenig die Rede sein, daß vielmehr großer 
Konservatismus geherrscht habe. Man habe sich an das Altherge- 
brachte gehalten und nur fallen gelassen, was absolut nicht gehalten 
werden konnte. Nach 200 habe man lediglich die im Vergleich zu 
der früheren geringfügige Aufgabe gehabt, die Verschiedenheiten in 
der Zählung auszugleichen und das Apostolische vollständig zu er- 
halten (312. 314. 316. 317; cf. v. Schubert, Lehrb. d. K. G. Bd. I 
p. 214). Dies letzte behauptet auch Kunze (430), dessen Ueber- 
zeugung, daß die Zeit der Schöpfungen so wie er sie eben ver- 
steht, vor 150 liege, dem nahe kommt, was Jülicher p. 316 ent- 
wickelt (cf. auch Holtzmann, Einleitung? p. 119. 122). 

Aber Kunze setzt sich ja wesentlich mit Harnack auseinander. 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 939 


Wie ist seine Differenz mit Harnack zu beurteilen? Es wäre auf- 
fallend, wenn Harnack die Entwicklung vor 150 gar nicht, oder 
höchst unzureichend gewürdigt hätte. Dieser Schein kann nur da- 
durch entstehen, daß Harnack besonders die Tischendorf-Zahnsche 
Anschauung zurückweist, und daß er, was Kunze unbeachtet läßt, in 
seiner Dogmengeschichte keine Entstehungsgeschichte des neutesta- 
mentlichen Kanons geben, sondern nur einige Gesichtspunkte heraus- 
heben will (I 337 A. 2). Er verweist ja ausdrücklich auf die Ein- 
leitungen von Holtzmann und B. Weiß (ib.). Harnack läßt es trotz- 
dem nicht an Andeutungen fehlen, welche in der Richtung der von 
Kunze vertretenen Gedanken liegen. Nicht nur, daß er von vorn 
herein darauf aufmerksam macht, daß die Vorstellung von der voll- 
kommenen Identität dessen, was die Gemeinden als christliche Ge- 
meinden besaßen, mit der Lehre und den Anordnungen der Zwölf- 
apostel bereits in der ältesten heidenchristlichen Litteratur nach- 
weisbar sei (I 320, cf. I 150 ff.); wir lesen auch, daß der Umfang 
der Leseschriften, der sich für Polycarp feststellen lasse, dem spä- 
teren Homologumenonkanon sehr nahe komme (I 341 A.). Die 
Kirche schloß sich an die Leseschriften, welche in gottesdienstlichem 
Gebrauch waren, an und nahm nur auf, was sie auf grund der 
Ueberlieferung für authentisch apostolisch hielt (I 345). Die Samm- 
lung apostolisch-kirchlicher Schriften unterschied sich ihrem Umfang 
nach nicht so auffällig von der Zahl der schon seit mehr als einem 
Menschenalter in den Gemeinden bevorzugten und am meisten ge- 
lesenen Schriften. Darin liege es gewiß begründet, daß man die 
Neuerung kaum empfunden habe. Man schloß sich an die alt- 
hergebrachten Leseschriften an. Das Neue war, daß die noch 
nicht abgegrenzte Gruppe von Leseschriften auf eine geschlossene 
Sammlung reduziert worden war (I 348 und ib. A. 1; cf. 342 über 
das »geschlossene« N. T. des Irenaeus und Tertullian; cf. auch Harnack 
d. N. T. um 200 p. 111 p. 50). Daß Harnack auch nicht geneigt 
ist, die Bedeutung der gnostischen Krisis fiir die Kanonsbildung zu 
überschätzen, und also der These Jülichers sich nähert, daß er 
andererseits die Bedeutung der gottesdienstlichen Vorlesung fiir kri- 
tische Ausscheidung, Abgeschlossenheit und Stabilität in einer zu- 
sammenhängenden Darstellung der Bildung des N. T.s wohl hervor- 
heben würde, darf man aus dem p. 337 Gesagten erschließen, sowie 
aus dem Umstande, daß er Bousset, die Evangelienzitate Justins, 
heranzieht. Vielleicht hätte Harnack diese Momente stärker betonen 
können, da ja, wie Kunzes Verfahren zeigt, Mißverständnisse mög- 
lich sind, die auch Wohlenberg in seiner Rezension des Kunzeschen 


940 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


Werkes zu teilen scheint. Nötig ist es freilich nicht. Der Zahn- 
Harnacksche Streit zeigt ja deutlich genug, worauf es ankommt. 
Andererseits finden sich bei Kunze Aeußerungen, die in der 
Richtung dessen liegen, was die »neuere Theologie« über die Be- 
deutung des antihäretischen Kampfes für die Geschichte des Kanons 
entwickelt. Trotzdem bleibt bei Kunze eine nicht unerheb- 
liche Differenz bestehen, die ihn wiederum trotz Anerkennung des 
Neuen, das der gnostische und antimarcionitische Kampf gebracht, 
der Tischendorf-Zahn’schen Auffassung nähert, dadurch freilich auch 
den Gegenstand seiner Polemik verschleiert und den Eindruck des 
Widerspruchsvollen erweckt. Die irreführende Polemik Kunzes gegen 
die neuere Theologie wird man daraus erklären müssen, daß Kunze 
verschiedentlich nicht scharf zu unterscheiden scheint zwischen den 
neutestamentlichen Schriften als dem aus christlichen Schriften be- 
stehenden Lesegut der Gemeinden zur Erbauung und der Erhebung 
dieser Schriften zu einem dem A. T. gleichgestellten, für die ganze 
Kirche geltenden Kanon, d. h. eben N.T., dessen Inhalt darum auch 
natürlich scharf abgegrenzt wird gegen alle sonstigen Aeußerungen 
des christlichen Geistes. Doch vergißt Kunze ja das Neue in der 
Position der antignostischen Väter nicht (427 ff). Hatte er p. 313 
(cf. 315) die Ansicht zurückgewiesen, als habe sich die Kirche not- 
gedrungen zu den Neuschöpfungen entschlossen, um »mit einem 
Schlage< dem Streite ein Ende zu machen, so giebt er p. 340 doch 
soviel zu, daß »mit einem Schlage« durch die Abgrenzung und Ver- 
festigung der apostolischen Litteratur sich die Lage geändert habe. 
Was man früher unreflektiert besessen habe, werde jetzt nach außen 
gekehrt, aus der Sichel ein Spieß geschmiedet. Das N. T. sei nicht 
als »Kanon« geschaffen. Es sei ursprünglich das heilige Gotteswort, 
das sich die Gemeinde zum Zweck der Erbauung zu Gehör ge 
bracht habe (437). Die Bildung und Sammlung des N.T. sei eine 
zunächst kultische gewesen (412) und falle vor das Aufkommen der 
Häresie, gegen die man nicht ein unerprobtes novum, sondern das 
Altbewährte als Norm aufgestellt habe (316). Das Neue der anti- 
gnostischen Väter bestehe also darin, daß man das apostolische 
Christentum bewußt von dem eigenen unterscheide (383, 427, 428, 
438) und daß mit der Verwendung des N.T. als Kanon eine ge 
wisse Verfestigung seines Bestandes gegen früher notwendig sich 
eingestellt habe (429). Was den ersten Punkt betreffe, so sei die 
Kirche hierin den Gnostikern und Marcion »notgedrungen nachge- 
folgt«. Kunze giebt auch die Richtigkeit des Harnackschen Satzes 
zu, daß die Gnostiker die ersten gewesen seien, welche einen ausge- 
führten neutestamentlichen Schriftbeweis gegeben hätten (382). Es 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 941 


muß also doch Kunze zwischen dem N. T. als kultischer Größe und als 
Kanon unterscheiden. Wenn aber erst die antignostischen Väter das 
N.T. als Kanon verwerteten (429), dann ist der neutestamentliche Ka- 
non nicht eine Schöpfung der vorgnostischen Kirche, um so weniger, als 
Kunze selbst zugiebt, daß die gnostische Krisis eine materiale Neue- 
rung im Gefolge hatte. Daß es jedoch vor dem Kanon neutesta- 
mentliche Schriften gegeben, welche kultische Bedeutung hatten, 
hohes Ansehen genossen, und an Umfang fast dem späteren Kanon 
gleich kamen, bestreiten die Gegner Kunzes keineswegs (cf. Harn. 
I, 348 u. Kunze 315/16 ; 430). Man könnte auch den Umstand für 
belanglos halten, daß Kunze nicht von neutestamentlichen Schriften, 
sondern vom N.T. redet, welches vor dem Kanon dagewesen sei 
(313). Denn Kunze giebt ja zu, daß bei den das N.T. als Kanon 
verwertenden antignostischen Vätern eine sowohl formale als mate- 
riale Neuerung nachweisbar sei. Daß ihr N. T. überall ganz fest ab- 
gegrenzt gewesen sei, behauptet auch niemand. Harnack meint ja 
auch, daß dieser Prozeß in den verschiedenen Gebieten der Kirche 
in verschiedenem Tempo sich vollzogen habe (I. 357). Darnach 
würde sich der Gegensatz Kunzes und seiner Gegner als verschwin- 
dend klein darstellen. Wir kämen zu demselben Resultat, wie schon 
oben, als wir Kunzes Stellung zum Taufbekenntnis besprachen; zu 
dem Ergebnis nämlich, daß die eigentliche These Kunzes gar nicht 
kontrovers sei. 

Man hat aber doch die Empfindung, daß eine Differenz vorhan- 
den sein muß, wenn Kunze immer wieder von dem N.T. redet, 
welches vor dem Kanon dagewesen sei. Daß dem so ist, erfährt man 
deutlich am Schluß des Kapitels. Denn hier wendet sich Kunze 
wider die gegenwärtig herrschende Ansicht von der Bildung des 
N.Ts., nach welcher zunächst nur Herrenworte mit Ausschluß der 
apostolischen Worte als Instanz neben das A.T. getreten seien (440. 
431). Diese Differenz wird freilich von Kunze wiederum vergrößert 
(440 A, 1). Denn sowohl Harnack als Jülicher erkennen an, daß der 
>Kanon< der beiden Paulus nachfolgenden Generationen größer ge- 
wesen sei als der des Paulus. Man habe neben der Schrift und den 
Herrenworten in den Aposteln eine dritte Autorität besessen, den 
idealen Kanon der Apostel (Jül. 283; Harn. 1,150, 153 Al, 156 A, 
349 u. 6.). Kunze begründet nun seine Stellung nicht näher, sondern 
betrachtet sie lediglich als eine Folgerung aus der These, daß das N.T. 
bis an die Grenze des von ihm behandelten Zeitraumes als apostolische 
Schriftensammlung gegolten habe. Aber Kunze giebt doch selbst 
in abstracto die Möglichkeit zu, daß auch andere Motive maßgebend 
gewesen sein können (p. 112 A. 2), und es ist von vornherein nicht 


942 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


richtig, wenn Kunze von einer Verhältnisbestimmung der beiden Be- 
griffe Kanon und N.T. ausgeht, der zufolge der Kanon das gegen 
die Häretiker gewendete N.T. ist, sodaß also das N.T. da war, ehe 
man es zum »Kanon< erklärte. Denn kanonische Schriften sind solche, 
die keine édgcora, sondern wpıoueve sind. Es kann dafür wiederum auf 
Priscillian verwiesen werden, der vom numerus canonicorum librorum 
spricht (ed. Schepss p. 51). Das kultische Bedürfnis schon verlangt den 
»Kanon«. Andere Faktoren kamen fördernd hinzu. Wenn nun aber 
Kunze verlangt, man müsse von der gegenwärtig herrschenden An- 
sicht aus zu zeigen haben, wann und wodurch veranlaßt man in vor- 
gnostischer Zeit dazu gekommen sei, jene angeblich frühere Position 
zu verlassen, so wäre dies ja zunächst nicht nötig. Es könnte ja 
vorläufig genügen, zu zeigen, daß wirklich jene Position vorhanden 
ist. Man hat aber doch hinreichend sich bemüht, die Gründe aufzu- 
decken, die eine Wandlung verursachten. Daß wirklich der neu- 
testamentliche Kanon, der ja auch nach Kunze nicht bloß der Kultus- 
geschichte angehört (437 A. 2), stufenförmig entstanden ist, darüber 
lassen die auf uns gekommenen Zeugnisse keinen Zweifel aufkommen. 
Für diese Annahme treten auch die Ergebnisse der vergleichenden 
Religionswissenschaft ein, auf die ich hinweisen darf, da Kunze selbst 
einmal, freilich in anderem Zusammenhang, religionsgeschichtliche 
Analogieen heranzuziehen nicht verschmäht (378 A.1). Ich kann na- 
türlich nicht die Instanzen auch nur annähernd anführen, die Kunzes 
Anschauung als irrig erweisen. Wenn Kunze aber meint, daraus, 
daß man die neutestamentlichen Aussagen nicht gegen die eigenen 
abgrenzte, sondern mit ihnen verflocht, folge nicht, daß man ein 
N.T. noch nicht besessen habe, so heißt das doch die eigentliche 
Streitfrage umgehen. Denn es gilt ja grade darüber Klarheit zu ge- 
winnen, wann die Kirche eine dem A.T. gleichwertige neue Schrift 
besessen habe. Daß in der von Kunze vorausgesetzten Zeit Unter- 
schiede vorhanden sind, beweist die verschiedene Stellung zu den 
Herrenworten und denjenigen der Apostel. Auf eine aus verschie- 
denen Gründen so unsichere Quelle wie Polyc. ad Phil. 12: sich zu 
stützen (p. 439. cf. dagegen Polyc. ib. 3, 2), ist um so bedenklicher, als 
Kunze selbst einräumen muß, daß Polycarp sich mit dem Glauben 
der sbayysiuodusvor tic axdotodo: eins wußte (438). Mehr alsge- 
legentliche Ansätze und Vorstufen zum >Kanon« wagt auch Kunze 
nicht zu behaupten. Damit geht er aber schon auf die Frage- 
stellung seiner Gegner ein. Was Kunze p.419 über Justins Stellung 
zu den Briefen bietet, ist weniger ein stringenter historischer Be- 
weis, als vielmehr eine Reflexion über den von Zahn geschilderten 
Thatbestand, deren Richtigkeit erst zu erweisen wäre. Kunzes Er- 


Kunze, Glaubeusregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 943 


örterungen können nicht die Annahme modifizieren, daß für Justin 
die Briefe etwas anderes bedeuten, als die Evangelien, oder richtiger, 
der Inhalt der Evangelien. -Wenn Kunze aber überhaupt Justin nur 
einen alttestamentlichen Kanon haben läßt, so berücksichtigt er die 
Thatache nicht, daß für Justin die Adyıa xvedov dieselbe Autorität 
besitzen, wie das A.T., daß Justin von der Verlesung der Evangelien 
(nicht der Briefe) im Gottesdienste ausdrücklich berichtet, daß er 
Jesu Wort schon als ein geschriebenes zitiert und daß das von 
Kunze entwertete yeypantaı (in dial. 49), welches Mtth. 17,13 ein- 
führt, nicht ein Herrenwort, sondern eine historische Notiz zum In- 
halt hat. Es werden formell auch nur die Evangelien zitiert; auch 
die Zitationsformel : &v td evayyedim zeigt, daß für Justin die Evan- 
gelien bereits eine für sich bestehende feste Größe ausmachen. 
Vollends sind die Acta scilit. mart., die Kunze hier ebenso wenig 
beriicksichtigt, wie die Schrift de aleatoribus, ferner Tatian, Serapion, 
die Bezeichnung drdaroAog für den Briefteil des N.T., Theophilus, 
‘die apostolischen Constitutionen, Dionys v. Corinth und selbst der 
Heide Celsus u. a. m., Instanzen, deren Bedeutung erst vollständig 
entwertet werden müßte, ehe man Kunzes Anschauung auch nur für 
wahrscheinlich halten könnte. 

Die Schlüsse, die Kunze sodann aus der Stellung der Gnostiker 
und Marcions zum N.T. zieht, und welche namentlich gegen Harnacks 
Annahme sich richten, daß die Kirche besonders die Apostelgeschichte 
ihrem Kanon eingefügt habe, sind m. E. unzutreffend. Besonders 
hier möchte man fragen, was denn eigentlich das N.T. sei. Kunze 
scheint hier wieder Zabns Auffassung zu teilen, während er doch 
sonst den Kampf gegen die Gnosis als einen die Entwicklung för- 
dernden Faktor mit in Betracht zieht, und nicht lediglich durch das 
Herkommen und die Gewohnheit das N.T. entstanden sein läßt. 
Kunze hatte ja ausdrücklich die Bildung des N.T. nicht lediglich 
der Kultusgeschichte zuweisen wollen. Daß aber die acta schon 
früher zum N.T. gehört haben, in dem Sinne, wie Harnack diesen 
Begriff versteht, hat Kunze nicht bewiesen. Daß die acta als solche 
eine alte und zum größten Teil zuverlässige Schrift sind, leugnet 
Harnack ja nicht (I. 348A). Es handelt sich aber um ihre kano- 
nische Schätzung, die erst am Ende des zweiten Jahrhunderts nachzu- 
weisen ist. Dies widerlegt Kunze aber nicht. Es giebt doch auch 
zu denken, daß die Apostelgeschichte in der heiligen Sammlung keine 
Vorstufe hat. Kunze fruktifiziert zu sehr die Aeußerung Harnacks 
über das antimarcionitische Buch im Kanon, wenn er meint (410), 
es habe sich für die Kirche gar nicht darum gehandelt, sich pauli- 
nischer Gedanken zu erwehren. Denn Harnack hebt vornehmlich 


944 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


den apostolischen Traditionsgedanken hervor, der an der Apostelge- 
schichte seine Stütze finde. Dies Prinzip, und zugleich die Gedanken 
über das Bischofsamt darf man nicht übersehen. Die Apostelgeschichte 
sicherte die historischen Zusammenhänge mit der urchristlichen Zeit, 
die Marcion radikal beseitigt hatte. Die Gründung der Kirche über- 
haupt — und dies Moment, von Tertullian geltend gemacht, von 
Kunze selbst angeführt (410), muß gegenüber der Kirchengründung 
Marcions beachtet werden — und der apostolischen Gemeinden und 
damit die Theorie von der successio war grade in einer Zeit, wo die 
persönlichen lebendigen Beziehungen zu der apostolischen Zeit zu 
schwinden begannen, die Apostelgeschichte zu beweisen geeignet, die 
zugleich Paulus und die Urapostel, zu denen emporzuschauen man ge- 
wohnt war, in Frieden mit einander zeigte, entgegen Marcions Be- 
hauptung. So lassen sich an Tertullian wohl die Motive für die erst 
jetzt nachweisliche kanonische Schätzung der acta erkennen. Sehr 
beachtenswert ist doch auch die Bemerkung des can. Mur. Wenn 
Kunze meint, die von Harnack zitierten Stellen Tertullians adv. 
Marc. I, 20, IV, 2—5 nähmen überhaupt nicht Rücksicht auf die 
Apostelgeschichte, so geben sie doch ein Bild von den herrschenden 
Ideen jener Zeit; adv. M.V 2, de pr. 22 muß aber auch Kunze be- 
rücksichtigen. Hier wird aber grade die Apostelgeschichte gegen 
Marcion ausgespielt. Kunzes eigene Worte (410) zeigen, wie wichtig 
die Apostelgeschichte Tertullian im Kampfe gegen die Häretiker, be- 
sonders Marcion war. Denn wenn es sich auch nur um die Recht- 
fertigung des Apostolats Pauli handelt, wie Kunze annimmt, so will 
doch Tertullian seinen Geger Marcion nötigen, die Apostelgeschichte 
anzuerkennen, um Paulus anerkennen zu können. Dann wäre aber 
Marcion überwunden. Kunzes Exegese ist darum nicht imstande, 
die Worte Harnacks >nur wer die Apostelgeschichte anerkennt, hat 
ein Recht, Paulus anzuerkennen«, zu widerlegen oder abzuschwächen. 

Doch ich breche ab. Es ist unmöglich, auf alles Detail einzu- 
gehen. Kunzes Ausführungen über den Ursprung des N.T. haben 
mich wenig befriedigt. Sie sind zu summarisch gehalten, um alle 
Bedenken, die gegen seine Anschauung auftauchen, verscheuchen zu 
können. Sie geben ein zu unvollständiges Bild von der Position der 
Gegner; die Arbeiten von Weiß und Holtzmann sind ebenso wenig 
genannt, wie diejenigen Hilgenfelds. Es wäre auch zu wünschen ge- 
wesen, daß Kunze seine Position gegen Zahn klar abgegrenzt hätte, 
von dem er sich doch nicht bloß in Einzelheiten unterscheidet. Die 
eigentliche Frage, auf die es ankommt, hat Kunze nicht scharf for- 
muliert. Wenn Kunze die formale und materiale Neuerung, welche 
die Auseinandersetzung mit den Häretikern zur Folge hatte, hervor- 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 945 


hebt, damit also die Zahn’sche Anschauung verlassend, die den 
Gnostizismus und Montanismus ausdrücklich ausscheidet als die Ent- 
_ wicklung fördernde oder bedingende Faktoren (G.K. I. 435), und 
doch behauptet, daß das N.T. eine vorkatholische, positive Bildung 
auf dem Boden des Christentums sei, so sind hier Zahnsche Gedanken 
mit solchen, die in der von Harnack vertretenen Richtung liegen, 
derartig mit einander verknüpft, daß es zu keiner rechten Klarheit 
gekommen ist und Widersprüche nicht ausgeschlossen sind. Geht 
doch Kunze einmal auf die Problemstellung seiner Gegner ein! Für 
Harnack spitzt sich die ganze Frage über die Geschichte des neu- 
testamentlichen Kanons zu in die Frage nach der Wandlung, welche 
das Interesse der Kirche an den von früh an ihr gehörenden neu- 
testamentlichen Schriften erfuhr. Es handelt sich also um die Frage, 
wann und wodurch veranlaßt die Kirche ein dem A.T. an Dignität 
gleiches N. T. erhielt. Nur so versteht Harnack den Begriff N.T.; 
daß Sammlungen heiliger Schriften zum Zwecke der Erbauung der 
Gemeinde von frühester Zeit an bestanden, behauptet er mit Zahn. 
Darum wird er so wenig wie irgend ein anderer Vertreter der 
»neueren Theologie« sich von den Ausführungen Kunzes getroffen 
fühlen, oder auf grund seiner Ausführungen seine Position aufzugeben 
sich genötigt sehen. 

Ich habe in dem bisher Gesagten fast nur meinem Widerspruch 
gegen Kunze Worte verliehen. Ich könnte auch noch auf Kunzes 
Darlegung der Stellung Luthers zur Schrift mich einlassen, die mir 
ebenfalls von Kunze nicht richtig und umfassend genug gewürdigt zu 
sein scheint. Ich beschränke mich aber auf das Gesagte. Die Vor- 
ziige der Kunzeschen Arbeit habe ich am Anfang meiner Bespre- 
chung hervorgehoben. Worin ich aber Kunze beipflichte, brauche 
ich nicht eingehend zu entwickeln. Man darf es schon für verdienst- 
lich halten, daß Kunze seine eigentliche These überhaupt vorgelegt 
und durchzuführen versucht hat. Denn sie kann doch lebhaft die 
Ueberzeugung erwecken, daß der Begriff regula fidei ein Problem 
stellt, das durch Zahns und Harnacks Formulierung nicht erschöpfend 
gelöst wird. Kunze hat aber auch besonders in seinen dem Ursprung 
des Taufbekenntnisses und dessen Stellung bei den Gnostikern ge- 
widmeten Ausführungen stichhaltige Ergebnisse gebracht und die 
Sachlage geklärt. Ich zweifle nicht, daß diese Erkenntnis sich durch- 
setzen wird. Durch Kunzes Arbeit hat auch die Annahme, daß man 
im Orient schon früh ein nicht bloß trinitarisches Taufbekenntnis 
besessen hat, eine neue und sorgfältige Begründung erfahren; Kunzes 
Arbeit könnte ein neuer Beweis dafür sein, daß die Frage nach dem 

Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 62 


946 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


Ursprung des Taufbekenntnisses doch wohl in der Richtung gelöst 
werden muß, die Caspari angebahnt hat. Die Erörterungen Kunze 
können aber doch noch nicht als abschließende betrachtet werden, 
zumal Kattenbusch selbst in den letzten Partieen seines Buches Zu- 
geständnisse gemacht hat, welche die weitere Diskussion wünschens- 
wert machen. Das kann hier nicht geschehen; Kunze selbst hat ja 
auch die Frage nach dem Ursprung des Taufbekenntnisses nicht 
ausdrücklich zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht. Man 
wird sich vornehmlich der Frage nach dem Vorhandensein eines 
Symbols in Syrien und Aegypten annehmen müssen. Hier liegt ein 
noch nicht befriedigend gelöstes Problem vor. Das Symbol des 
Marcus Eremita, das Kunze als neuen Zeugen fiir das altkirchliche 
Taufbekenntnis betrachtet, ist von geringerer Bedeutung als eine 
eingehende, speziell die Symbolfrage beriicksichtigende Untersuchung 
der aig. KO und des durch diese KO gestellten litterarkritischea 
Problems. Kunze ist auf diesen Punkt in seinem Buch nur ber 
läufig eingegangen, ohne selbständige Untersuchungen zu bieten. 
Auch dem Unternehmen Zahns, aus der Didascalia ein Symbol 
wiederherzustellen (NKZ 1896 p. 26), wagt Kunze nicht unbe 
dingt beizupflichten (68), wenn er auch dazu geneigt ist (68. 242). 
Viel wäre gewonnen, wenn das von Rahmani edierte Testamentum 
Domini wirklich aus der Zeit stammte, in die es der Herausgeber 
versetzt, oder wenn wenigstens die Canones Hippolyti echt wären. 
Daß Rahmani Recht hätte, wird aber kaum jemand behaupten wol- 
len. Das verbietet unter vielem anderen auch die Anschauung vom 
descensus, die an Cyrill Cat. 14 erinnert. Eine eingehende Unter- 
suchung des TD, die Funk in der theologischen Quartalschrift 1900 
in Aussicht stellte, ist jetzt in den Forschungen zur christlichen 
Litteratur und Dogmengeschichte erschienen. Auf grund der ver- 
schiedenen Vorarbeiten von Funk, Kattenbusch, Achelis, Zahn, Har- 
nack, Kunze (cf. auch seinen Aufsatz in NKZ 1897: Ein neues Symbol 
aus Aegypten) könnten darum jetzt die speziellen Fragen nach dem 
Symbol in Aegypten und Syrien, resp. Palästina und Vorderasien 
mit Aussicht auf Erfolg erörtert und bestimmte Ansätze Katten- 
buschs weiter verfolgt werden. Ist er doch der Ueberzeugung, dab 
der Kirche Vorderasiens, soweit sie unter dem Einfluß von Ephesus 
und Smyrna gestanden, am Ende des zweiten Jahrh. sehr wahrschein- 
lich ein Symbol besessen (II 185), und daß es vor dem Nicänum ein 
Symbol wie R in Palästina gegeben habe (II 192). Er ist »jetzt 
mehr geneigt zu glauben<, daß er »die Spuren, die auf ein nicht 
bloß trinitarisches Taufbekenntnis in Kappadocien führen, unter- 
schätzt habe« (II 738). Es sei möglich, daß man in Antiochien ein 


Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 947 


Symbol nur antisamosatenisch redigiert (U 737) und daß man in 
Aegypten dies nicht mitgemacht habe. Die Didascalia purior werde 
ein Symbol wie R oder Ant. voraussetzen, und Kattenbusch meint, 
er hätte die Doxologie AK VlIso, die wirklich beweiskräftig sei für 
die Annahme, daß der Verf. ein Symbol gekannt habe, brauchen 
können, um den Nachweis zu stützen, daß formell R auch den orien- 
talischen Symbolen zu grunde liege (II 207). Wenn Kattenbusch 
hier aber immer noch auf R reflektiert, so lesen wir II 618, daß 
das Maß von Uebereinstimmung zwischen Ignatius und R auffallend 
sei, und er erkennt in dieser Uebereinstimmung einen Beweis für 
die Einheitlichkeit der religiösen Stimmung in der Kirche überhaupt. 
Und während er I 370 betont hatte, daß man es R nicht absehen 
könne, woher es stamme, meint er II 959 A. 2, er sei, falls seine 
Hypothese, daß R die Mutterform aller Symbole sei, leichter sich 
durchführen lasse, wenn man an Antiochia denke, immer noch für 
diese Hypothese zu haben, und er wünscht, daß diese Antiochia- 
hypothese einmal aufgegriffen und gründlich bearbeitet werden 
möchte. Kunze hat doch nur Clemens und Origenes eingehender 
behandelt und auch hier nicht alle Instanzen und Eventualitäten 
berücksichtigt. Es wäre eine lohnende Aufgabe, hier noch einmal 
einzusetzen und die Lücke auszufüllen, die Kunzes immer verdienst- 
liche Arbeit hier noch übrig gelassen hat. Es müßte sich dann 
wohl herausstellen, ob bei dem heutigen Quellenstande ein ent- 
scheidendes Urteil gewagt werden könnte. Kunzes Arbeit hat in 
mir immer mehr die Ueberzeugung gefestigt, daß man, wenn über- 
haupt die Frage nach einem bestimmten Ursprungsgebiet des Sym- 
bols gestellt werden darf, an den Orient zu denken genötigt ist. 
Freilich müßte man dann die Annahme des besonderen, von Katten- 
busch vorausgesetzten kunstvollen Aufbaus des Symbols fallen lassen. 
Diese Annahme wird aber nicht bloß durch morgenländische Zeug- 
nisse unsicher gemacht, sondern auch durch abendländische (cf. Ter- 
tullian de cor. 3; de bapt. 6). Eine andere Frage ist diejenige nach 
der Geltung und Bedeutung des Symbols. Auch Kunzes Stellung- 
nahme gegen Harnack in der das Athanasianum betreffenden litterar- 
kritischen Frage halte ich für berechtigt. 

Aber ich schließe. Ich bin dessen gewiß, daß man Kunze für 
seine Arbeit, wenn auch manche Ergebnisse zu sicher vorgetragen 
werden und sogar die Hauptthese zu beanstanden ist, doch danken 
wird. Er hat mit sicherem Blick ein Problem als solches erkannt, 
und seine auf das morgenländische Gebiet und die Gnostiker sich 
erstreckenden Untersuchungen haben eine vorhandene Lücke ausgefüllt 
und über unsichere Punkte Gewißheit verschafft. Vielleicht wird 

62* 


948 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


auch Kunzes Arbeit den Anlaß zu weiteren Monographieen geben, 
und so dem Verfasser reichen Dank eintragen für seine mühsamen 
Untersuchungen. 


Kiel. Otto Scheel. 





Wrede, W., Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein 
Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums. Göttingen, Vandenhoeck u. 
Ruprecht, 1901. XIII u. 291 S. Preis 8,00 Mk. 


Unter allen Umständen ein verdienstliches Buch und ein tapferes 
Buch! Jenes, weil es die Forschung auf einer Station, die für Viele 
schon zu einer Endstation geworden schien, nicht ausruhen läßt; 
dieses, weil es erfreulichste Selbständigkeit des Urteils verrät und 
weder der traditionellen noch der kritischen Richtung unserer heu- 
tigen Theologie zu Gefallen geschrieben ist, wohl aber mit dem be- 
stimmten Bewußtsein, darum zunächst allseitig als ein Stein des An- 
stoßes erfunden zu werden. Auch der Unterzeichnete, als Vertreter 
der gleich im ersten Kapitel (»Vorläufiges über das Gesamtbild der 
messianischen Geschichte Jesu« S. 9—22) angegriffenen kritischen Po- 
sition, hat es kein Hehl, daß er zwar belehrt, aber keineswegs be- 
kehrt worden ist. Um so dankbarer ist er für die gebotene An- 
regung zur Revision seiner Annahme, die er im Allgemeinen wohl 
als bekannt voraussetzen darf; sie ist mit der S. 9f. 109. 122 skiz- 
zierten wesentlich identisch. 

Es würde zu weit führen, wenn diese Anzeige den methodisch 
correct mit am Detail gemachten Beobachtungen anhebenden und 
erst am Schlusse, im Rückblick auf sorgsamst angesammelte Resul- 
tate synthetisch verfahrenden Gang der Untersuchung befolgen 
wollte. Der Wiener Feine hat im »Theologischen Literaturblatt« 
(S. 505—510. 521—524) ein ausführliches Referat gegeben, verbun- 
den mit einer Kritik, welcher ich widersprechen muß, wo sie dem 
Verf. zustimmt, dagegen meist zustimmen, wo sie ihm widerspricht. 
Hier begnüge ich mich mit einer knapp umrissenen Skizze des Bil- 
des, wie es sich unter den Händen des Verfassers gestaltet hat, und 
mit Hervorhebung derjenigen Züge darin, welche an seiner Einheit- 
lichkeit und Haltbarkeit Zweifel zu erwecken geeignet sind. Dinge, 
welche der Verf. nicht berührt hat, lasse ich bei Seite liegen, eben- 
so aber auch die im Hintergrunde schwebende Anschauung von der 
negativen Stellung Jesu zum Messiasgedanken (S. 207. 221f. 226. 
229. 235). Darüber ließe sich in der hier gebotenen Kürze kaum 
etwas Verständliches sagen. Außerdem ist auf diesen Punkt bereits 


Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. 949 


Oscar Holtzmann, der in seinem »Leben Jesu< (1901, S. 50—55) 
eine nach meinem Dafürhalten wesentlich richtige Auffassung der 
»Wendepunkte< vertritt, zu sprechen gekommen in seiner Beleuch- 
tung des Wredeschen Buches in der »Zeitschrift für neutestament- 
liche Wissenschaft« (S. 265—274). 

Den ältesten Evangelientext, den wir kennen, bietet nach un- 
serm Verf. Marcus (S. 5f.). Schon die Akoluthie der einzelnen Pe- 
rikopen, im Vergleich mit den Seitenreferenten betrachtet, beweist 
es (S. 148f.). Aber derselbe Vergleich mit Matthäus und Lucas 
oder gar mit Johannes zeigt auch zur Genüge, wie viele und wie 
tiefgreifende Aenderungen in der Zeichnung des Lebensbildes Jesu 
nachher noch stattgefunden haben. Es besteht lediglich kein Grund 
zu der Annahme, daß es vorher anders gewesen sei (S. VI. 89. 208. 
274); ja der Inhalt desjenigen Evangeliums, welches für uns Heu- 
tige die früheste Gestalt der Niederschrift darstellt, läßt gar keine 
Zweifel an einer ihr schon vorangegangenen Entwicklung der Ueber- 
lieferung übrig. Man denke nur an gruppenweise Zusammenstellungen 
nach einer gewissen Sachordnung wie 2, 1—3,6 und Anderes (S. 16 f. 
120 f. 123) oder an offenbare Dubletten, welche gleichwohl als ver- 
schiedene Ereignisse gelten wollen (S. 7). Wer solches geschrieben 
hat, kann zwar im Besitz einer ganzen Reihe von geschichtlichen 
Vorstellungen, schwerlich aber eines lückenlos zusammenhängenden 
Wissens, einer durchaus klaren Anschauung vom geschichtlichen Auf- 
treten Jesu und eines innerhalb desselben stattfindenden Fortschrittes 
gewesen sein (S. 12f. 21. 122f. 129 f. 148). 

Von diesen Voraussetzungen, die mir nur in ihren letzten Sätzen 
einer Modification bedürftig erscheinen, macht nun der Verfasser 
Gebrauch, um gewisse auffällige und mehr oder weniger rätselhafte 
Erscheinungen in der Berichterstattung des Marcus, sofern sie 
darauf angelegt scheinen, Jesu ganzes Auftreten in einen Schleier 
des Geheimnisses zu hüllen, zu verstehen und zu erklären. Die 
betreffenden Beobachtungen sind unter dem Titel »Die Selbstver- 
hüllung des Messias« (S. 22—81) zusammengefaßt. Es handelt sich 
dabei hauptsächlich um das den Dämonen zugeschriebene Witterungs- 
vermögen, kraft dessen sie in Jesus erstmalig den Messias be- 
grüßen (S. 22f.), um das ihnen mit einer gewissen Consequenz 
entgegentretende Verbot, dieses ihr Wissen in die Oeffentlich- 
keit zu bringen (S. 33 f.), ferner um die Darstellung der Parabel- 
rede als einer exoterischen Belehrung, die den Zweck habe, einen 
esoterischen Bestand, das »Geheimnis des Gottesreiches< , welches 
doch nur in der Messianität selbst bestanden haben soll, dem Volke 
unzugänglich zu erhalten (S. 42f. 54f.), und noch besonders um 


950 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


den beim Abstieg von dem Berg der Verklärung den Jüngern ge- 
gebenen Befehl 9,9, »Niemanden zu erzählen, was sie gesehen, 
außer wenn der Sohn des Menschen von den Toten erstanden wäre« 
(S. 40f. 68f.). Es gibt — darin besteht das Resultat dieser Unter- 
suchung — keine in sich verständliche, vor Allem keine einheit- 
liche Erklärung dieser Erscheinungen außer der Annahme einer für 
die gesammte Berichterstattung maßgebenden theologischen Vor- 
stellung, wornach Jesu Messianität während seines Erdenlebens über- 
haupt Geheimnis bleiben, die Entschleierung aber erst mit der Auf- 
erstehung erfolgen sollte (S. 66 f. 79 f.). Dies also der dogmatische 
Einschlag, von welchem der Aufzug einer sehr dürftigen Vorstellung 
vom wirklichen Leben Jesu bei Marcus durchzogen erscheint (S. 130). 

Die unentratsame Ergänzung zu dem gewonnenen Ergebnis lie- 
fert eine Abhandlung, welche unter der Ueberschrift »Die Verbor- 
genheit trotz der Offenbarung< (S. 81—114) die Stellung der Jünger 
zunächst zu den Leidens- und Auferstehungsweissagungen, dann aber 
auch überhaupt zu dem Messiasgeheimnis beleuchtet. Hier besteht 
das Schematische in der Darstellung des Marcus und zugleich das 
geschichtlich Unbegreifliche darin, daß jenen gegenüber im Gegen- 
satze zum Volk Jesus sich fortwährend offenbart, aber mit diesen 
seinen Offenbarungen, so deutlich und unmißverständlich sie immer 
gegeben sein mögen, den Seinen auch stets gleich verborgen bleibt 
»vermége einer inhärenten Unfähigkeit zu verstehen und zu glau- 
ben« (S. 171). Die große innere Verschiedenheit der 9 zu diesem 
Zweck verwendeten Stellen hat übrigens Oscar Holtzmann mit Recht 
betont (S. 272f.), wie er auch die directe Beziehbarkeit der Stelle 
3, 27 auf die Messianität bestreitet (S. 267). Hauptsache bleibt, daß, wie 
ein »Riickblick auf Marcus< (S. 115—149) zeigt, selbst das Petrus- 
bekenntnis eine Epoche im Leben Jesu, wie die heutige Kritik sie 
mit wenigen Ausnahmen (über die beiden Weiß vgl. S. 12. 252.) 
hier findet, nicht bedeutet, also auch kein »Richtmaaß« liefert, mit 
welchem sich Ordnung im Leben Jesu schaffen ließe (S. 21). Das 
Bekenntnis ist im Gegensatze nicht zu einem früheren Erkenntnis- 
mangel der Jünger, sondern zum Nichterkennen Anderer zu ver- 
stehen (S. 118). Marcus kann für die Frage, wann Jesus den Jün- 
gern als Messias bekannt geworden ist, gar kein Interesse gehabt 
haben (S. 115). Denn ihm zufolge ist das Geheimnis während des 
ganzen Lebens Jesu stets das gleiche, und auch die Jünger stehen 
ihm immer gleich gegenüber (S. 120). 

Nachdem ein erster Abschnitt in der angedeuteten Richtung das 
Marcus-Evangelium zurechtgelegt hat, behandelt ein zweiter (S. 150 


Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. 951 


—206) die spätern Evangelien, wobei sich herausstellt, daß die An- 
schauung des Marcus sich bei Lucas und besonders bei Johannes 
(S. 179f. 232 f., was ich hier, wo es sich um Marcus handelt, uner- 
örtert lasse) noch deutlicher erhalten hat, als bei Matthäus, der na- 
mentlich zuweilen höhere Begriffe vom Jüngerverständnis an den 
Tag legt (S. 157f. 242 f.). 

Ein dritter Abschnitt betitelt sich: »Geschichtliche Beleuchtung< 
(S. 206—251). Die mit besonderer Deutlichkeit in der Apostelge- 
schichte 2, 36 und im Römerbrief 1,4 erhaltene Anschauung des Ur- 
christentums, wornach Jesus während seines irdischen Lebens der 
Messias gar nicht war, sondern es erst mit und seit der Auferstehung 
geworden ist (der >futurische< Sinn des Messiastitels S. 227), so 
daß nicht sowohl seine Wiederkunft, als vielmehr seine zukünftige 
Ankunft (xegovoia) als Messias das Ziel der Hoffnung bildet (S. 214f.), 
zog, da Jesus doch um diese seine Bestimmung wissen zu müssen 
schien, die weitere Anschauung nach sich, daß er es während seines 
irdischen Lebens wenigstens in geheimer Weise gewesen sei (S. 217 f.). 
So ist die geheime Messianität aus der künftigen hervorgegangen 
(S. 227. 241). Demgemäß wird, da Jesus, wenn er sich als Messias 
wußte, dies doch auch zeigen und offenbaren mußte (S. 242), für 
die Evangelisten schon das Erdenleben Jesu zu einem messianischen, 
mit beweiskräftigen Wundern und erfüllten Weissagungen ausge- 
statteten. Es entsteht ein neuer, ein spezifisch christlicher Messias- 
begriff (S. 218), woraus sich als unabweisbare Folgerung die Unge- 
schichtlichkeit aller damit zusammenhängenden Züge ihrer Darstellung 
von selbst ergibt. Zu diesen frei erfundenen Zügen (S. 234) gehören 
vorweg die Messiasrufe der Dämonen (S. 31f.) und die ihnen gel- 
tenden Verbote (S. 47 f. 123), ebenso die ganze Parabeltheorie 
Marc. 4, 10—13 (S. 60f. 65), die Weissagungen vom Leiden, Sterben 
und Auferstehen (S. 84—90. 99f. 263—274) und Wiederkommen 
(S. 219f.) und die ihnen geltende Schwerhörigkeit der Jünger (S. 95. 
104), weiterhin aber gerade auch das Petrusbekenntnis (S. 217. 
238 f. 267). Von Anderem, was Marcus mitteilt, steht das ohnehin 
fest. >Was er von der Taufe Jesu, von der Auferweckung der 
Jairustochter, von den wunderbaren Speisungen, von dem Meer- 
wandeln Jesu, von seiner Verklärung, von der Unterhaltung des 
Engels mit den Frauen am Grabe berichtet, und manches Andere 
sonst, glaubt ihm kein Theologe, so wie er es berichtet« (S. 7, vgl. 
auch S. 71f. 90f. 106. 111 f.). 

Den Schluß bilden einige Excurse (S. 252—286), deren letzter 
den wenigen »Vorgängern« gilt, welche der Verf. für seine Grund- 
anschauung nachträglich aufzutreiben vermocht hat. Zu ihnen hätte 


952 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12 


er auch den Züricher Kreyenbühl rechnen können, sofern dieser 
theologisierende Philosoph in seinem Buche »Das Evangelium der 
Wahrheit< I, 1900, S. 195 f. eine Ansicht vertritt, welche in dem- 
selben Zürich erstmalig ein Theologe begründet hatte, den unser 
Verf. ganz besonders schätzt und hervorhebt : Volkmar. Wenn die 
sem gleichwohl eine zusammenhängende Ausführung über das Mes- 
siasgeheimnis, um dessen Herkunft er sich nicht bekümmert habe 
(S. 284), abgesprochen wird, so läßt sich ein solches Urteil im Hin- 
blick auf das hier allein berücksichtigte Werk von 1870, bzw. 1576, 
rechtfertigen, während das spätere, 1882 erschienene Buch »Jesus 
Nazarenus und die erste christliche Zeit<« doch in der Hauptsache 
dem gründlicheren Nachweis gewidmet ist, »daß Jesus erst nach sei- 
nem Kreuz als der Christus gefeiert worden ist, niemals in seinem 
irdischen Leben« (S. 150, vgl. S. 153f.), speziell auch nicht von 
Petrus (vgl. auch das frühere Werk S. 448. 736 f. und dazu Wrede 
S. 238f.). Nur beiläufig will.ich hier übrigens bemerken, daß mir, 
wenn Jesus vor seinem Tode seinen Jüngern weder als Messias ge- 
golten, noch Hoffnungen auf glänzende Restitution erweckt hat, die 
Entstehung des Glaubens an seine Auferstehung, die so rasche Ueber- 
windung der Furcht, die Sammlung der Jünger nach der Flucht 
um so rätselhafter werden. 

Im Unterschied von unserm Verf. kann Volkmar, wenn auch 
zögernd, nicht umhin, wenigstens als letztes, vom Hohepriester pro- 
vociertes Wort Jesu gelten zu lassen, was Marc. 14, 62 berichtet 
wird, während unser Verf. dieses Bekenntnis (S. 221), sowie den 
messianischen Einzug in Jerusalem (S. 40. 44) nur zu den Beweisen 
dafür zählt, daß es eine Tradition mit öffentlicher Messianität Jesu 
schon vor der Entstehung des Marcus gegeben habe (S. 237). Spe- 
ziell soll die Frage des Hohepriesters 14, 61 beweisen, daß schon 
Marcus den >Sohn Gottes<« und ebendamit auch den Messias meta- 
physisch und supernatural gedacht habe, weil nur dann in ihrer Be- 
jahung durch Jesus eine Gotteslästerung gefunden werden konnte 
(S. 74f. 77). Bezeuge doch auch Dalman >in seinem so belehren- 
den und tüchtigen, nur freilich einer geschichtlichen Anschauung von 
der evangelischen Ueberlieferung allzusehr ermangelnden Buche« 
die Unmöglichkeit einer Anklage auf Gotteslästerung blos wegen Ih- 
anspruchnahme des Messiastitels (S. 75).. Aber was Dalman (Worte 
Jesu I, S. 257f.) beibringt, beweist in Wirklichkeit vielmehr, daß 
auf Grund des rabbinischen Rechtes Jesus wegen Lästerung über- 
haupt nicht hätte verurteilt werden können. Vollends der von dem 
Leipziger Theologen selbst für sagenhaft gehaltenen Geschichte von 
dem Verhalten der Rabbinen gegenüber dem Bar Kozima ist keinerlei 


Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. 953 


Tragweite beizumessen bezüglich dessen, was hundert Jahre zuvor 
in Wirklichkeit geschehen konnte, wenn es sich darum handelte, einen 
verhaßten Feind zur Ehre Gottes so rasch als möglich aus dem 
Wege zu räumen. Die Probe, auf welche hin man den Bar Kozima 
wegen mangelnder Kriterien der Messianität verurteilt haben soll, 
war ja im Falle Jesu schon gemacht und zu seinen Ungunsten aus- 
gefallen, wie der Augenschein darthat: der von den Seinen Ver- 
lassene, gefangen, hülflos dem Tod entgegen Sehende brauchte nicht 
mehr erst durch ein weiteres Verfahren als Pseudomessias entlarvt 
zu werden. Im Uebrigen darf ich jetzt auf das verweisen, was ich 
zur Erledigung des Falles anderswo beigebracht habe (Hand-Com- 
mentar zum N.T. I, 1. 3. Aufl. 1901, S. 101f.). Dalman arbeitet 
eben hier ziemlich erkennbar in apologetischem Interesse, wie auch 
die gewaltsame Art beweist, womit alle Spuren eines theokratischen 
Sinnes des Titels »Gottessohn« im Neuen Testament ausgetilgt werden 
(S. 224f.). Auf der apologetischen Fährte geht er ferner zweifellos 
da einher, z.B. wo die Unzuverlässigkeit der beiden überlieferten 
Genealogien nichts gegen die Thatsächlichkeit der Davidischen Ab- 
kunft Josephs beweisen (S. 263), oder wo die Ablehnung des Titels 
»Guter Meister« keineswegs so gemeint gewesen sein soll, als ob 
nach der Aussage Jesu nur Gott gut im absoluten Sinn heißen dürfe 
(S. 277) — eine Machenschaft, deren Wert und Motive Wernle 
(Die synoptische Frage S. 142f. 146) im voraus treffend beur- 
teilt hat. 

Erstens also steht für mich wenigstens fest, daß die Verurteilung 
Jesu nur auf Grund messianischer Ansprüche erfolgen konnte (vgl. 
S. 68), welchen man vor dem römischen Statthalter die nahe liegende 
politische Wendung zu geben wußte. Anders ist der Prozeß Jesu 
und das damit gegebene Allergewisseste, der Tod am Kreuze, nicht 
zu begreifen. Selbst wenn das entscheidende Wort vor dem hohen 
Rat mit der etwa zu erweisenden Ungeschichtlichkeit des ganzen 
Auftritts hinfällig würde, würde doch schon der demonstrative Ein- 
zug in Jerusalem genügt haben, um die Anklage wirksam zu ma- 
chen. Die wenigen angeführten sind übrigens die einzigen Stellen 
des vorliegenden Werkes, welche auf diesen für mich entscheiden- 
den Punkt Bezug nehmen. 

Ebenfalls nur an den anzuführenden wenigen Stellen gelegentlich 
berührt oder höchstens gestreift ist die Bitte der Zebedäussöhne 
und ihre Verbescheidung seitens Jesu (S. 46. 93. 106. 158f.). Hier 
nämlich dürfte (trotz S. 272f.) Weinel wesentlich im Recht sein, 
während ich nicht einsehe, wie man die Worte über den Leidens- 
weg, welche die Pointe des Ganzen darstellen, für erfunden erklären 


954 Gott. gel. Anz, 1901. Nr. 12. 


kann, ohne damit zugleich die Geschichtlichkeit der ganzen Perikope 
10,35—45 in Frage zu stellen (S. 274). Anlaß zu Zweifeln gibt 
höchstens die Schlußwendung zum Lösegeld 10,45 (S. 83). Sollte 
der geschichtliche Kern aber auch nur in der Bitte der Jünger um 
die Ehrenplätze im Reiche bestehen, so ist solche doch nur von der 
sichern Voraussetzung aus zu begreifen, daß sie in ihrem Meister, 
zu dessen Rechten und Linken sie sitzen wollen, den messianischen 
König vor sich haben. Dann aber kann auch nicht mehr gegen die 
herkömliche Auffassung des Petrusbekenntnisses geltend gemacht 
werden, >daß Petrus an dieser Stelle eine Erkenntnis zeigt, die er 
oder seinesgleichen sonst nicht verraten< — ein »Widerspruch«, der 
‚aus dem Evangelium in keinem Falle fortzuschaffen« sei; nur 
»direct« habe Marcus von den Jüngern niemals gesagt: »sie wußten 
nicht, daß er der Messias sei« (S. 119); ihre Unfähigkeit, den Mei- 
ster zu begreifen, sei nach dem Petrusbekenntnis nicht geringer als 
vorher, und dieses bleibe somit bei Marcus ohne jede Folge (S. 116). 
Aber mehr noch! Es muß nun auch dem Marcus mindestens eine 
gewisse Fühlung mit dem wirklichen Hergang in so weit zugestanden 
werden, daß er die in Frage stehende Perikope keineswegs an je- 
dem beliebigen Ort, also eventuell auch vor dem Petrusbekenntnis, 
hätte anbringen können. Dafür glaube ich auf ziemlich allgemeine 
Zustimmung rechnen zu dürfen und sehe darin nicht etwa blos ein 
richtig weisendes Geschmacks- oder Gefühlsurteil, sondern Wirkung 
eines Gesamteindrucks, welchen die Marcusdarstellung auch da hinter- 
läßt, wo man sich gegen das, von unserm Verf. oft und mit Recht 
hervorgehoben, Irrationelle, Vieldeutige und Widerspruchsvolle der 
Einzelheiten durchaus nicht verschließt. Was bedeutet gegenüber 
dem unmittelbar an das Petrusbekenntnis angeschlossenen xat Fe&aro 
(auf welchen Ausdruck an sich allerdings kein Gewicht zu legen ist, 
vgl. S. 20 f. 92 und Dalman S. 21f.) didaoxeıv avdrods bre det tov 
vlov Tod dvdonnov woAAd nadelv 8,31 und den Wiederholungen 
dieser Stelle (sie stehen S. 123 »naturgemäß« nahe vor dem Ende), 
gegenüber den dem Jakobus und Johannes, sowie dem Weib in Betha- 
nien gemachten Eröffnungen bezüglich des Todesgeschickes dann noch 
das vor jenem Bekenntnis ganz vereinzelt stehende Wort vom schei- 
denden Bräutigam, mit welchem unser Verf. die entgegenstehende 
Auffassung aus dem Felde zu schlagen gedenkt (S. 19 f. 83. 120)? 
Mag nun aber auch dem späteren zepensie 8, 32 nicht gerade not- 
wendig eine Beziehung auf frühere dunklere Leidensworte zukommen 
(S. 20. 100), so nimmt doch die Schlußpointe xal tréte vnoTevoovov 
Ev éxelvy tf hucoe 2,20 ähnlich dem Spruche vom Kreuztragen den 
Standpunkt jenseits des Kreuzes und weist möglicher Weise auf die 


Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. 955 


schon sehr früh (Sıdayy 7,8) aufgekommene Stite des Fastens am 
Kreuzesfreitag hin, an welchem »der Bräutigam weggenommen 
wurde<. So gerade der vom Verf. (S. 283f.) einer unverdienten 
Zurücksetzung entrissene Commentar von Volkmar (S. 182), aber 
auch Holsten (Die synoptischen Evangelien 1885, S. 18) und mit 
prophetischer Wendung Swete (The gospel according to St. Mark 
1898, S. 43), während B. und J. Weiß diese Lösung zwar verwerfen, 
dafür aber, da auf die Frage der Pharisäer 2,18 schon 2,19 eine 
vollständig genügende Antwort erteilt, die 2, 10 unmotiviert darüber 
hinauslangende Beziehung auf den Tod Jesu durch allegorisierende 
Parabeldeutung eingetragen sein lassen; vgl. auch Jülicher, Die 
Gleichnisreden Jesu II, 1899, S. 186f. und besonders Hollmann, 
Die Bedeutung des Todes Jesu, 1901, S. 16f., welcher diesen Punkt 
vollständig erledigt. Ich sollte fast glauben, daß auch unser Verf., 
wenn er von einer andern Seite her auf das Wort vom scheidenden 
Bräutigam und dadurch motivierten Fastenbrauch gestoßen wäre, Kein 
Bedenken getragen hätte, die Geschichtlichkeit seiner Form minde- 
stens in der zurückhaltenden Art Weizsäckers (Untersuchungen über 
die evangelische Geschichte 1864, S. 475) in Frage zu stellen. Und 
überdies »Niemand weiß, wann Jesus Mc. 2, 19f. gesprochen hat« 
(Jülicher S. 186). Keim wenigstens verlegt es in die spätere Zeit 
(Geschichte Jesu von Nazara II, S. 364. 561). 

Und nun endlich die Stelle 8, 29 selbst, die unser Verf. ledig- 
lich als Parallele zu den besprochenen Dämonengeschichten verstehen 
will (S. 118). Gewiß ist sie so schmucklos als nur möglich hinge- 
stellt (S. 78), aber doch immerhin so, daß sie in Gegensatz zu den 
8,28 aufgeführten Urteilen der Menge tritt: Du bist uns mehr, als 
den Anderen, also kein Täufer, kein Elias, kein gewöhnlicher Prophet; 
es bleibt nur der Messias selbst übrig. Und eben dies ist er bei 
Marcus bisher für keinen Jünger gewesen. Wir haben also doch 
eine Epoche< (S. 115), »eine Entscheidung des Petrus« vor uns: 
diesem Befund ist darum, daß von keiner Freude oder Ueberraschung 
Jesu berichtet wird (S. 117), nichts abzudingen. Unser Verf. steht 
bei dem, was er hier über Marcus urteilt, zu sehr unter einem 
ihm erst von Matthäus her zugewachsenen Eindruck. Nur ganz 
richtig ist es zwar, wenn er in Matth. 16, 17—19 lediglich einen 
Zusatz des ersten Evangelisten erblicken will (S. 161). Zugleich 
aber (S. 117) findet er es bemerkenswert und zieht Schlüsse daraus, 
daß »der Bericht des Marcus von dem Makarismus Jesu schweigt«. 
‚Würde er schweigen wenn es darauf ankäme, das Bekenntnis als 
eine große That des Jüngers zu feiern ?« Auch sonst spielt die ar- 
gumentatio e silentio eine große Rolle; so gleich S. 14: »Marcus 


956 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


schweigt«. Aber von einem bedeutsamen Verschweigen dessen, was 
Matthäus bietet, kann doch nur etwa vom Standpunkte Hilgenfelds 
und Holstens die Rede sein, welche den Marcus zum Nachtreter des 
Matthäus machen. Dagegen bedeutet es für unsern Verf. einen fal- 
schen Gesichtswinkel, wenn er die schlichte Darstellung des Marens, 
deren geschichtliche Wertung überdies 8,27 schon durch »ein geo- 
graphisches Datum von bemerkenswerter Eigentiimlichkeit< (S. 239) 
nahe gelegt wird, darnach bemißt, daß hier etwas nicht steht, was 
doch erst Matthäus hinzugesetzt, Marcus also auf keinen Fall mit Be- 
dacht ausgelassen hat. 

Möglich wäre es nun, daß Marcus, wie das bei Matthäus gewiß 
ist, den Auftritt schildert, ohne seine Bedeutung völlig erkannt und 
durchdacht zu haben (S. 116). Unser Verf. aber geht in Verfol- 
gung dieser Möglichkeit im Einzelnen viel zu weit. Denn ganz von 
ungefähr kann die Ordnung der Marcus-Darstellung nicht entstanden 
sein (S. 13). »Er hat die Consequenz seiner Darstellung nicht ge- 
zogen. Deshalb folgt nicht, daß er überhaupt keine Vorstellung 
von der fraglichen Entwicklung hatte< (S. 16). Vielmehr wußte er 
zweifellos, was er that, wenn er die Gleichnisse 4, 1—34 in früheren, 
das Gleichnis 12, 1—12 in späteren Zusammenhang brachte; und 
nicht minder, wenn er Wunderheilungen in größerer Menge nur in 
der ersten Hälfte seines Buches, dagegen nach dem Aufbruch 10.1 
nur noch eine einzige, die vor Jericho geschehene, gleichsam als 
letztes Auflammen der Kraft, anbrachte ; wenn er Zukunftsweissagur- 
gen gegen Ende sich häufen und in der großen eschatalogischen 
Rede gipfeln ließ. Unzulässig also erscheint mir die Behauptung, 
Marcus stelle überhaupt nur Stücke nebeneinander ; es sei darum 
nicht angängig, zwei Stücke, die bei ihm aufeinander folgen, in eine 
innere Verbindung unter sich zu bringen (S. 132); sein Gedanke 
würde es erlauben, das Petrusbekenntnis statt im 8. Cap. auch vorher 
im 2. oder nachher im 12. zu bringen (S. 120), und dergleichen. Viel- 
mehr hat B. Weiß ganz Recht, wenn er die Nachricht 6,14, daß 
Jesu Name am Hofe des Herodes bekannt wurde, mit der zuvor 6,7 
berichteten Aussendung der Jünger in die benachbarten Ortschaften 
Galiläas in Verbindung bringt. Marcus hat das »mit keiner Silbe 
angedeutet« (S. 132); er hat beide Stücke insofern >nicht erkennbar 
verbunden« (S. 42). Aber er hat ebensowenig ein Wort über die 
Zusammenhänge verloren, die obwalten zwischen jener Aussendung 
und der '6, 30 berichteten Rückkehr, oder zwischen der Thatsache. 
daß Jesus 1,16 den Simon und Andreas berufen und 1, 29. 36, 2,1. 
3,20 ständiges Quartier in ihrem Hause genommen hat, oder daß 
seine Verwandten 3, 21 ihren eigenen Wghnort verlassen und 3,31 


Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. 957 


vor dem Hause Jesu angetroffen werden, oder daß er 7,6—13 mit den 
Führern des Volkes bricht, 7,24 sich in das Heidenland begiebt und 
9,30 nur noch incognito in Galiläa verweilt (solches gehört nach 
S. 34f. 37f. 80f. 111. 134 f. freilich nur wieder in das Kapitel vom 
verborgenen Messias ; ich denke darüber wie Oscar Holtzmann S. 271, 
Leben Jesu S. 58. 273), daß er 11, 15—18 zum Aerger der Tempel- 
wächter Messiasrecht am heiligen Ort übt und 11, 27.28 von diesen 
zur Rede gestellt wird, kraft welcher Vollmacht er solches thue. Da 
zwischen beide Auftritte außer einem Tageswechsel auch der Befund 
des verdorrten Feigenbaumes und verschiedene Reden Jesu über die 
Macht des Glaubens und Gebetes und über die Pflicht der Vergebung 
und Versöhnlichkeit fallen, hätte wohl bei dem raeür« 11, 28 ein aus- 
drücklicher Hinweis auf die schon weiter zurückliegende Tempelthat 
erfolgen müssen, ehe die in unserem Werke geübte rigorose Methode 
uns berechtigen sollte, eine Combination zu bilden, die sich im Uebrigen 
doch Jedem geradezu aufdrängt, der es sich als Historiker gestattet, 
vereinzelten Notizen einen Pragmatismus des Geschehens zu entlocken. 

Wir lesen: »Jesus macht zwar seinen Jüngern gegenüber aus 
seinem Leiden und Auferstehen kein Geheimnis, aber es bleibt ihnen 
ein Geheimnis». Die Lösung der Antinomie liege in dem Gedanken: 
»Nachher, von der Auferstehung an fällt’s ihnen wie Schuppen von 
den Augen«. Solches sei freilich nur »stillschweigend hinzugedacht« 
(S. 95). Marcus hat diese Gedanken in seinem Evangelium nicht 
wirklich ausgesprochen« (S. 113). Mit Recht findet diese letzte Bemer- 
kung Feine (S. 522) auffallend bei einem Verf., welcher gleich an- 
fangs gegen jede Methode protestiert, die den Evangelisten Gedanken 
und Leitmotive subintelligiert, wozu sie selbst sich nicht bekennen 
(S. 2f.). Indessen erkennt ja unser Verf. z. B. eine psychologische 
Divination als zulässig an, wo sie »zwischen festen Punkten die not- 
wendige Verbindung herstellt« (S. 3). In der Hauptsache sind seine 
Gegner doch wohl gerade auf diesem Wege zu finden gewesen. Mag 
es darum auch dem Evangelisten kaum je darum zu thun sein, psy- 
chologische Motive und Eindrücke zu fixieren (S. 27), so kann man 
einem historischen Verfahren, welches gleichwohl solche Zusammen- 
hänge annimmt und damit experimentiert, darum allein noch nicht 
die Diagnose stellen, es kranke an »psychologischer Vermutung« (S. 3, 
vgl. S. 29f.). 

Ein Beispiel! Mag im Marcusevangelium noch so viel Unsicher- 
heit herrschen bezüglich der breiten Mitte des öffentlichen Wirkens 
Jesu, so stehen sich doch als Niederschläge fester Erinnerungen ge- 
genüber die letzten, in Jerusalem zugebrachten Tage (7. oder 10. 
bis 15. Nisan) und der Anfang, der 1,21—38 mit unanfechtbarer 


958 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


Anschaulichkeit geschilderte Sabbat, an welchem Jesus erstmalig 
öffentlich auftritt. Dadurch, daß seine Rede in der Synagoge durch 
den Aufschrei eines Besessenen unterbrochen worden, dieser aber so- 
fort der Ueberlegenheit des ihm sieghaft entgegentretenden Redners 
weichend zur Ruhe gebracht war, erwacht in Jesus ein Bewußtsen 
um diese seine persönliche Macht über gebundene und _ gestört 
Seelenzustände ; in seiner Umgebung aber lodert sofort mächtig der 
Glaube an übernatürliche Erlebnisse auf, und kaum ist der Sabbat 
vorüber, so belagert man schon den unvermutet gefundenen Pro- 
pheten mit Ansprüchen und Zumutungen. Eine solche Rolle ent- 
sprach nun aber dem ursprünglichen Sinne der Mission, mit der sich 
Jesus betraut wußte, wenig. Erbebend vor den Zumutungen, welche 
die von der Wundersucht lebende Menge an ihre Führer und Helden 
stellt, verläßt er mitternächtlicher Weile das Haus seines Jüngers 
und flieht in die Einsamkeit. Petrus aber wird das gewahr, »ver- 
folgt ihn< und holt ihn ein. Die jetzt noch folgenden Heilthaten, 
bei welchen, soweit sie geschichtlichen Untergrund erkennen lassen, 
der Glaube der Geheilten das Beste zum Gelingen that (ausdrücklich 
notiert 5, 34. 6, 5. 10, 52), charakterisieren sich als einem im Grunde 
widerstrebenden Programm (8, 12) abgerungene Siege des sich nie 
versagenden, wohl aber überall zu Hülfe, Rettung und Dienstleistung 
drängenden Mitleidstriebes (6, 34), dem übrigens keineswegs immer 
auch ein Erfolg lohnte (6,6). Darf ein solcher Befund als Kern der 
evangelischen Wundersage angenommen werden, so fällt jede Ver- 
anlassung zu der Annahme weg, diese Heilungen seien »messianisch 
gemeint«, und eine Beweiskette mit dem Satze zu schließen: »Hat 
nun Jesus seine Wunder als Kennzeichen seiner Messianität gedacht, 
so kann er an dem Schlusse, er sei der Messias, keinen Anstoß ge- 
nommen haben; d.h. die Verbote bei einzelnen Wundern werden un- 
begreiflich< (S. 47). 

Endlich aber fragt man sich doch wohl auch, ob und wie eine 
Quellenschrift zu Stande gekommen sein sollte, deren ganzer Gehalt, 
Zweck und Charakter nichts als eine fortgesetzte complexio opposi- 
torum wäre. »Marcus muß seinen Christus sich verbergen lassen, 
und doch muß er überall nachweisen, wie er sich als solcher offen- 
bart; denn sonst hätte er wenig zu erzählen gehabt« (S. 192). Ist 
ein solches Verfahren überhaupt zu begreifen ? Was ist von einem 
Christus zu halten, der sich fortwährend ebenso geflissentlich offen- 
bart, wie sorgsamst verhiillt? Zur Beschwichtigung unserer Zweifel 
werden wir auf eine Uebergangszeit verwiesen, wo der Trieb, das 
irdische Leben Jesu zu einem messianischen zu machen, schon mäch- 
tig wirksam war, derjenige aber, welcher es in solcher Richtung be- 


Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. 959 


schrieb, für seine Person noch unter dem mindestens gleich mächti- 
gen Bann und Zwang einer älteren Anschauung stand, die jenen Trieb 
hemnte (S. 145. 228). Dem Evangelium haften somit in dauernder 
Weise die Mängel seiner Geburtsstunde an; es ist dann das, wir 
dürfen wohl sagen: unglückselige, Produkt einer Zwangslage, die an 
sich unerträglich, nur für einen Moment andauern konnte (S. 242). 
Eine solche Anschauung bringt allerdings den Vorteil ein, daß der 
Verf. sich zur unentwegten Durchführung einheitlicher Leitmotive 
schon bei Marcus, und darum auch bei den von ihm abhängigen 
Späteren, keineswegs verpflichtet weiß (S. 15. 124—129. 152f. 159. 
162f. 168. 177. 179. 191f. 201f. 238). »Wirkliche Consequenz war 
hier nicht möglich« (S. 126). Auf Schritt und Tritt zeigt es sich, 
»daß die Anschauung nicht überall zur Herrschaft gekommen ist. 
Bei ihrer Künstlichkeit ist das ganz natürlich« (S. 109). Der Verf. 
hat aber als Gelehrter zu viel Achtung vor allem Thatsächlichen, 
als daß ihm eine gewisse Unsicherheit, die dadurch seiner ganzen Be- 
urteilung des Problems zuwächst, entgehen könnte. Er giebt auch 
diesem Gefühl mehr als einmal offenen Ausdruck. Dann darf er 
aber auch der entgegenstehenden Beurtheilung der Marcus-Erzählung 
nicht zumuten, daß sie ein auf jeden Einzelfall anwendbares Schema 
darzubieten, ein dem Erzähler auf allen Stationen seines Berichtes 
mit gleichmäßiger Bestimmtheit vorschwebendes Programm nachzu- 
weisen im Stande sei (vgl. S. 46). Marcus kann von vorzeitigen 
Messiasproclamationen auf Seiten der Dämonischen, von lang beob- 
achteter Zurückhaltung auf Seiten Jesu als von feststehenden That- 
sachen gewußt haben, ohne darum in der freien, durch keine Ueber- 
lieferung an die Hand gegebenen (S. 146) Darstellung einzelner Fälle 
den wirklichen Thatbestand zu trefien. Trotz der Ablehnung, welche 
der Verf. für den fraglichen Gedanken bereit hat (S. 30), könnte das 
1,34. 3,11.12 angebrachte Verbot möglicher Weise Nachwirkung 
der geschichtlichen Thatsache 1, 23—27 sein (Oscar Holtzmann S. 269). 
Und wenn er für das bis zum Auftritt vor Cäsarea Philippi gewahrte 
Incognito des Messias keinen Grund namhaft macht, so folgt daraus 
nicht einmal, daß er sich der Ursache einer solchen Erscheinung 
nicht bewußt gewesen sei, auf keinen Fall aber, daß dem daraus zu 
erkennenden Pragmatismus des Lebens Jesu keine objective Realität 
beizumessen sei (S. 115f. 148). Die beiden vielbesprochenen Aus- 
nahmen 2,10. 28 zeigen nur, daß hier entweder Antecipationen statt 
haben oder »daß Marcus den Titel & vildc rod dv@emxov eigentlich 
nicht mehr als messianischen Namen empfindet« (S. 17f). Freilich 
darf man an diese »Titel« heutzutage nur erinnern, um sich zu dem 
Geständnisse gezwungen zu sehen, daß das »Leben Jesu« für uns 


960 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


mehr als je zuvor Problem geworden ist. Auch unser Verf. will 
darum >nur Fragen aussprechen« (S. 53) und weiß sehr wohl, daß 
viele davon mit Sicherheit nie zu beantworten sein werden (S.32). 
»Man betrachte diese Erörterungen als einen Versuch« (S. 229). 
Aber auch unter diesem Gesichtspunkte aufgefaßt, werden sie sicher- 
lich noch weitere und hoffentlich fruchtbare Verhandlungen hervor- 
rufen. 


Straßburg i. E. H. Holtzmann. 


Poetae Lyrici Graeci collegit Theodorus Bergk editionis quintae 
part. I vol. I, Pindari earmina recensuit Otto Schroeder. Leipzig 1900, 
8°, VI, 514 S. mit einer Lichtdrucktafel M. 14. 

Aeußerlich erscheint diese Ausgabe als Teil einer Neuauflage 
der poetae lyrici graeci Theodor Bergks, aber sehr mit Recht ist 
bei dem Spezialtitel Bergks Name fortgelassen worden, denn was 
uns Schroeder bietet, ist keine Umarbeitung des bekannten Bergk- 
schen Pindar, sondern ein von Grund aus neuerrichtetes, selbständiges 
Werk. In schöner Pietät hat Schroeder aus der Arbeit seines Vor- 
gängers grade den Teil wörtlich abgedruckt, der seinerzeit am 
meisten Widerspruch gefunden hat und nun durch die Entdeckungen 
der letzten Jahre so glänzend bestätigt ist, die Auseinandersetzung 
über die Pytliadenrechnung, sonst ist beiden Ausgaben fast gar 
nichts gemein als eine Aeußerlichkeit und zwar eine bedauerliche, 
nämlich die unübersichtliche Verbindung der kritischen Anmerkungen 
mit den exegetischen. 

Durchaus verschieden von Bergk ist zunächst Schroeders im 
ersten Teil der Prolegomena begründete Stellung zur handschrift- 
lichen Ueberlieferung. Hatte jener sich mit einem bequemen Eklek- 
ticismus begnügt, so hat Schroeder die Mühe nicht gescheut, fast alle 
besseren Handschriften neu zu collationieren, eine Mühe, die reiche 
Frucht getragen hat. Die von ihm schon Philol. LVI. S. 78ff. mit- 
geteilte Erkenntnis, daß A nicht der einzige Vertreter der ambrosi- 
anischen Klasse ist, sondern daß ihr vor allem auch die Parisini C 
und V angehören, ist der weitaus wichtigste Gewinn, den die Kritik 
der Pindarhandschriften seit Tycho Mommsen erzielt hat. Auch in 
dieser Richtung bezeichnen die Ausgaben von Boeckh — Mommsen 
— Schroeder die drei Hauptetappen der Pindarforschung im 19 ten 
Jahrhundert, alle andern Pindarausgaben, auch die Bergks, stehen 
hinter diesen Leistungen zurück. Ein glänzendes Zeugnis für die 


Pindari carmina rec. Otto Schroeder. 961 


Tiefe und Weite von Schroeders Wissen legt der zweite, beschei- 
den »observatiunculae grammaticae< genannte Teil der Prolego- 
mena ab. In 100 Paragraphen werden die verschiedensten gramma- 
tischen Fragen, besonders solche des Dialekts und der Orthographie 
mit ebenso viel Gelehrsamkeit als Scharfsinn behandelt. In diesen 
grammatischen und den, seltsamerweise als Appendix gegebenen, 
metrischen Untersuchungen tritt der aus Bakchylides fiir Pindar zu 
ziehende Gewinn besonders stark hervor. Es war ja ein Gliicksfall, 
der Schroeder von vornherein einen beträchtlichen Vorsprung vor 
seinem letzten Vorgänger sicherte, daß er den neugefundenen Rivalen 
Pindars voll ausnutzen konnte, während Christ seine Arbeit wenige 
Monate vor der Entdeckung des Papyrus abgeschlossen hatte, aber 
man muß doch sagen, daß hier das Glück den rechten Mann be- 
günstigt hat. Trotz aller Bereitwilligkeit umzulernen, von der seine 
letzte Erklärung über die Pythiadenrechnung (Hermes XXXVI, 107) 
ein schönes Zeugnis ablegt, würde der Nestor der deutschen Pindar- 
forscher doch kaum mehr den neuen Besitz für seine Ausgabe voll 
verwertet haben. 

Neben Bakchylides sind vor allem die Inschriften und die an 
sie anknüpfende moderne :Litteratur in weitestem Umfange für die 
grammatischen Untersuchungen ausgenutzt. Als Dank für vielfältige 
Belehrung möchte ich anmerken, daß $ 57 unter den Zeugen für 
die richtige Form KiAvreıunorex die einzige Inschrift auf Stein, die 
Theaterurkunde aus Magnesia A.M. XIX. S. 97 = Kern, Inschriften 
von Magnesia No. 88c einen Platz verdient hätte. In der Uebertra- 
gung orthographischer oder grammatischer Besonderheiten aus den 
Inschriften in den Pindartext scheint mir Schroeder mitunter zu weit 
zu gehen, er verleugnet da gelegentlich den conservativen Zug, der 
seiner Textbehandlung sonst eigen ist. Ob es z. B. geraten ist, 
gegen die Handschriften zd4ı P. XII, 26 und dxpordAı O. VII, 49 zu 
schreiben, bezweifle ich, und noch weniger berechtigt scheinen mir 
die Formen fjgoe P.III,7, feoes P. IV 58, fr. 133, 5, Yeoag P. I, 53, 
neoiaıg N. VU,46;, die Handschriften schwanken an keiner Stelle '), 
die Formen mit © sind nicht fortzuleugnen (few. O. VI, 33, foma 
O.11,2, N.IX, 10), da liegt es doch viel näher, die metrische Ver- 
kürzung des » als eine der epischen Sprache entlehnte Freiheit an- 
zusehen, die graphisch nicht zum Ausdruck kommt, zumal auch das 
von Schroeder angeführte aus guter Zeit stammende Epigramm von 
Priene (Kaibel 774,4) das  wahrt. 


1) Auch fr. 133,5 = Plat. Men. 81,C ist fomeg überliefert, was Schroeder 
anzumerken versäumt hat. 


Gots, gel. Ans, 1901. Hr. 18, 63 


962 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12, 


Nach einem kurzen dritten Kapitel de fastis Panhellenicis, das 
unter anderem Bergks Pythiadenberechnung enthält, folgt als vierter 
Abschnitt der Prolegomena der wichtige index carminum. Im An- 
schluß an die überlieferten Ueberschriften der einzelnen Gedichte 
werden vor allem die chronologischen Fragen knapp, aber doch ein- 
gehender als in Bergks entsprechender Liste erörtert. Daß Schroeder 
hier die ars nesciendi mit feinem Takte übt, manches Datum nur 
mit Fragezeichen giebt und bei den meisten nemeischen und isth- 
mischen Gedichten auf Jahreszahlen ganz verzichtet, das wird ihm 
jeder Dank wissen, der den täuschenden Glanz von Gaspars chrono- 
logischen Luftschlössern als eitel Blendwerk erkannt hat. Schroeder 
hat die Siegerliste von Oxyrynchos erst in den Nachträgen ver- 
werten können, und es ist ein gutes Zeichen für die Solidität seiner 
Arbeit, daß der neue Fund nur wenige Berichtigungen nötig machte. 
Wohl die überraschendste Belehrung, die der Papyrus brachte, ist 
die Bestätigung des ambrosianischen Ansatzes vonO X, XI auf 476, 
während Schroeder wie fast alle Neueren*) den Sieg des Agesidamos 
mit den Vaticani auf 484 datiert hatte. Es scheint fast, als sei 
Pindar Ol. 76 (476) zum ersten Male -bei den olympischen Spielen 
anwesend gewesen, wenigstens läßt sich kein olympisches Gedicht 
mit Bestimmtheit der früheren Zeit zuweisen. Roberts (Hermes 
XXXV, 183) vorsichtig ausgesprochenen, von Schroeder gebilligten 
Vorschlag *), das durch die Siegerliste aus seiner scheinbar sicheren 
Stelle (Ol. 76) verdrängte vierzehnte olympische Gedicht Ol. 73 (488) 
anzusetzen, kann ich trotz der für ihn sprechenden palaeographischen 
Gründe nicht für gesichert halten; meinem subjektiven, freilich un- 
maßgeblichen Gefühle nach fände das entzückende Gedicht Ol. 79 
(464) einen angemesseneren Platz. 

Nicht genügend berücksichtigt hat Schroeder m. E. die Angabe 
der Siegerliste über den Wagensieg des Psaumis. Nach wie vor hält 
er im Anschluß an Boeckh daran fest, daß O.IV und V beide denselben 
Sieg mit dem Maultiergespann feiern, den er 456 anzusetzen geneigt ist. 
Boeckhs ganze Beweisführung stützte sich auf die Annahme, daß die 
Scholiasten den Sieg mit dem Maultiergespann in den Listen ver- 
zeichnet gefunden und aus falscher Interpretation von O V,6 die 


1) Christ entscheidet sich in seiner großen Ausgabe für 476, aber in der 
kleinen steht bei O. X und XI 484 ohne Vorbehalt, während die anhangsweise 
aus der großen abgedruckten fasti Pindarici angeben 484 »aut potius 476«. 

2) Mit Entschiedenheit hat Gaspar Essai de chronologie Pindarique S. 50 
sich für Roberts Ansatz erklärt, zurückhaltender äußert sich Lipsius in dem über- 
aus lehrreichen Aufsatz Berichte der sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 
1900 8. 8. 


Pindari carmina rec. Otto Schroeder. 963 


Siege rede/nno und xEAntı hinzugefügt hätten. Seit wir bestimmt 
wissen, daß die Sieger der dxıivn in den Olympioniken - Listen 
fehlten, ist Boeckhs Hypothese diese Stütze entzogen, wer seine Fol- 
gerungen nicht aufgeben will, muß mit Schroeder annehmen, daß die 
Scholiasten irrtümlich ein undatierbares Lied für einen Maultiersieg 
(0. IV) auf den unter Ol. 82 verzeichneten Pferdesieg bezogen hätten. 
Die Angaben der Scholien werden aber im Allgemeinen durch die 
neue Liste so gut bestätigt, daß wir ihnen ein so starkes Versehen 
nicht ohne schwerwiegende Gründe zutrauen dürfen. Einen solchen 
Grund sieht Schroeder nach Boeckhs Vorgang in dem Gebrauch des 
Wortes öye« IV, 10, das für den Maultierwagen charakteristisch sein 
soll, aber dagegen führt Gaspar sehr richtig (S. 157) P. IX, 11 ins Feld, 
denn die #sdduare« dbyea des Apollon hat sich Pindar zweifellos mit 
Rossen, nicht mit Maultieren bespannt gedacht. Ich halte es dem- 
nach fiir sicher, daß O.1V auf den Wagensieg des Psaumis von 452 
geht, ob der in O.V gefeierte Maultiersieg mit Grenfell-Hunt und 
Lipsius in die vorangehende oder mit Robert und Gaspar in die 
folgende Olympiade zu setzen ist, bleibt unsicher, doch scheint mir 
für Roberts Ansatz außer den von ihm (S. 182) angeführten Gründen 
der V,21 vorgetragene Wunsch zu sprechen, Psaumis möge Iloosı- 
Öavinıoıv Innos Enitspndusvov YEpev yeas ev Pumor Es Teisv- 
tov, vidv, Pavuı, nwopıorausvov; Psaumis war schon grau, als er 
seinen Wagensieg errang (O. IV 24), vier Jahre später ist er ein Greis. 
Ueber die Echtheit oder Unechtheit des &v rofg édagéorg fehlenden, 
aber doch schon von Aristarch (schol. 1,20 und 54) commentierten 
Gedichtes äußert sich Schroeder zurückhaltend »carmen non id est, 
quod ab omni suspicione facile se exsolvat«; durch die Scheidung 
der beiden Siege des Psaumis ist ein Hauptgrund zu seiner Ver- 
dammung beseitigt '), und ich möchte doch fast glauben, daß wir ein 
echtes, wenn auch unbedeutendes Werk Pindars vor uns haben. 
Bedenken erregen die für Pindar auffallend glatten Rhythmen, aber 
in Sprache und Stil haben auch seine Verurteiler nichts Unpindari- 
sches nachweisen können, und bei einem Vergleich mit Bakchylides 
scheint mir jetzt sein Pindarischer Charakter noch deutlicher hervor- 
zutreten. Gottfried Hermanns Verteidigung (Opusc. VIII,99 ff) halte 
ich im Wesentlichen für zutreffend. Das andere einen Maultiersieg 
feiernde Lied O. VI setzt Schroeder mit Bergk 472 an, während die 
meisten Neueren, wie Wilamowitz, Christ, Lipsius, Gaspar sich mit 
Boeckh für 468 erklären. Am entschiedensten spricht meines Er- 


1) Jurenkas eingehende Analyse beider Gedichte (Wiener Studien XVII1 ff.) 
arbeitet beständig mit der Voraussetzung, daß beide Lieder einen Sieg angehen, 


63* 


964 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12, 


achtens für den früheren Ansatz der von Schroeder nicht hervorge- 
hobene Umstand, daß Hieron 468 das Epinikion für den lange 
ersehnten Wagensieg in Olympia nicht Pindar, sondern Bakchylides 
übertragen hat. Es erscheint mir kaum denkbar, daß der stolze 
Aigeide in eben dem Augenblick von Hieron rühmen sollte V. 96 
advAoyoı O& wv Aveal uoAnal re yıraoxovrı, wo der Herrscher seine 
süßtönenden Lieder verschmähte und den verachteten Nebenbuhler 
vorzog. Die Einsicht, daß die Tyrannenherrlichkeit der Deinomeniden 
in Syrakus nicht allzu sicher begründet, und das Bürgerrecht in 
Orchomenos ein nützlicher Rückhalt für den Notfall sei, konnte der 
kluge Seher auch schon 472 haben, denn schon damals krankte 
Hieron an unheilbarem Leiden und schon damals wird die Unfähig- 
keit seines praesumtiven Nachfolgers Eingeweihten kein Geheimnis 
gewesen sein. 

In der Datierung der beiden Schmerzenskinder der Pindarfor- 
schung P. II und UI folgt Schroeder mit gutem Grunde Bergk, wenn 
er auch den Jahreszahlen 475 und 474 ein vorsichtiges Fragezeichen 
beifügt. In der Erörterung des Eingangsscholion zu P. HI macht er 
aber eine Anmerkung, deren Tragweite eine Besprechung erheischt. 
Zu den Worten Kaddiuayog dt Neusaxdv fügt er in Klammer hinzu 
unde conicias tam Callimachum odas quasdam inter xexwpıouevas 
rettultsse. Wenn Kallimachos dies Gedicht an den Schluß des Buches 
der Nemeoniken stellte, weil er es auf keines der großen Festspiele 
beziehen mochte, dann hat er bereits die Arbeit geleistet, die jetzt 
allgemein dem Aristophanes von Byzanz zugeschrieben wird, die 
Ordnung des gesammten Pindarischen Nachlasses nach bestimmten 
Kategorien. Ich halte es für sehr bedenklich, durch diese Hinter- 
thür das Gespenst der doppelten Pindarausgabe wieder einzulassen, 
das seit Hillers Entlarvung des Suidas-Index (Hermes XXI, 357) und 
Wilamowitz’ schönen Ausführungen über Aristophanes’ Thätigkeit 
(Herakles' I, 138 ff.) aus der Wissenschaft beseitigt schien. Bei der 
Zähigkeit, mit der die antike Grammatik das einmal Geleistete fest- 
hält, ist es höchst unwahrscheinlich, daß eine Kallimacheische Pindar- 
ausgabe von Aristophanes durch eine andere wesentlich nach den- 
selben Gesichtspunkten angeordnete ersetzt worden wäre; hätte 
Kallimachos eine systematische Einteilung der pindarischen Gedichte 
gegeben, so würden wir das zweite pythische Gedicht noch heute da 
finden, wo er es einordnete, unter den nemeischen. Ich meine, wir 
müssen uns dabei beruhigen, daß Kallimachos das Gedicht wirklich 
für ein nemeisches gehalten hat, seine Gründe können wir nicht er- 
raten, und da sein Urteil zweifellos falsch ist, soist es auch von ge- 
ringem Interesse, sie zu kennen. 


Pindari carmina rec. Otto Schroeder. 965 


Dem fünften und letzten Abschnitt der Prolegomena, den ganz 
knappen fasti Pindarici sähe man gern die fünf vitae Pindari oder 
wenigstens die drei wichtigeren, die Christ in seiner kleinen Ausgabe 
abdruckt, beigefügt. 

Der Text des Dichters erfüllt sodann durchaus die hohen Er- 
wartungen, mit denen wohl jeder, der die Prolegomena durchge- 
arbeitet hat, an ihn herangeht. Schroeder bewährt alle jene Eigen- 
schaften, welche die schwierige Aufgabe von dem Herausgeber ver- 
langt, sicheres Sprachgefühl, feines rhythmisches Empfinden, innige, 
durch langjährige Arbeit erworbene Vertrautheit mit des Dichters 
spröder Eigenart, Kenntnis der ausgedehnten einschlägigen Litteratur 
und vor allen jenen schwer zu lehrenden kritischen Takt, der die 
Ueberlieferung stets achtet und doch niemals Sklave des Buch- 
stabens wird. Ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich behaupte, 
daß gegenwärtig niemand, weder in Deutschland noch im Ausland, 
eine bessere Ausgabe des Dichters hätte machen können, lange Jahre 
wird sie die sichere Grundlage aller künftigen Pindarforschung bilden. 
Der wichtigste principielle Fortschritt ist wohl die durch Bakchy- 
lides vermittelte Erkenntnis, daß die Freiheit der Responsion auch 
bei Pindar viel größer ist als man früher glaubte. Es galt, wie 
Schroeder selbst in seinem schönen Vortrag auf der Bremer Philo- 
logen-Versammlung sagte, den Text »vorsichtig abzukorrigieren«, 
da zeigte es sich denn, daß an zahlreichen Stellen der Text ganz in 
Ordnung ist, wo man seit der Zeit der Byzantiner durch Conjec- 
turen den Sinn schädigte, um das Metrum zu retten. Ein sehr 
charakteristisches Beispiel ist O VI 100: warég’ edurjdoco Arcade’ 
"Agxadiag geben alle Handschriften, die Paraphrase lautet xaradv- 
xévta thy Zrdupniov ndAıv, es kann auch kein Zweifel sein, daß 
der Sinn das Participium aoristi verlangt, aber dennoch ist die Con- 
jectur der Byzantiner Asizovr’ allgemein angenommen), Boeckh er- 
wähnt sogar die Lesart der guten Handschriften gar nicht, nur weil 
man die Vertretung des Epitrits durch den Choriambus für unzu- 
lässig hielt. Es ist interessant zu beobachten, wie Schroeder in dem 
Principe, die durch sichere Beispiele belegbaren metrischen Frei- 
heiten überall da anzuerkennen, wo keine inhaltlichen oder sprach- 
lichen Gründe zu einer Textänderung nötigen, im Verlaufe seiner 
Arbeit fester geworden ist: P. XII 24 lautet in den Handschriften 
suxA da Anoccdayv pvacriig’ dyavav die Formen evxdéa und dya- 
xA&a mit kurzem a sind bei Pindar noch an 8 Stellen nachzuweisen 

1) Nur Bergk, so viel ich sehe, hat mit seinem feinen Sprachgefühl das An- 
stößige des Praesens empfunden, aber dann nach seiner Weise den Teufel durch 
den Beelzebub austreiben wollen. 


966 . Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


(vgl. Schoene de dialecto Bacchylidea S. 273), dennoch hat man hier 
seit dem alten Erasmus Schmid stets dem Metrum zu Liebe eval 
geschrieben. Schroeder schlägt in den Prolegomena S. 25 zweifelnd 
evxdeéa vor, im Text aber giebt er das überlieferte edxAd«, das ist 
methodisch richtig und von Bedeutung, statt eine bei Pindar sonst 
unbelegbare Form eines vielgebrauchten Wortes gegen die Hand- 
schriften einzuführen, muß man die metrisch zulässige Vertretung 
des Epitrits durch den Choriambus gelten lassen. 

In der Aufnahme von Conjecturen ist Schroeder zurückhaltend, 
und zwar gegen seine eigenen noch mehr als gegen fremde, wenige 
Herausgeber würden es sich z.B. versagt haben N. I, 66 die schöne 
Vermutung élormeey in den Text zu setzen. Auch in dem Apparat 
wird aus der gewaltigen Conjecturenfülle, die das letzte Jahrhundert 
gezeitigt hat, nur eine bescheidene Auswahl mitgeteilt, daß von 
Bergk besonders viele, auch ganz verfehlte, angeführt werden, it 
eine berechtigte Pietät gegen den Vorgänger. Bei der verhältnis 
mäßig starken Berücksichtigung, die Hartungs oft willkürlichen Eir- 
fälle gefunden haben, ist es mir auffallend, daß Schroeder einen sei- 
ner Vorschläge nicht erwähnt, der durch die Scholien gestützt wird 
und meines Erachtens eine sichere Verbesserung bedeutet: N. 1,63 
heißt es, wenn die Götter mit den Giganten kämpfen, dann, so sagte 
Teiresias, BeAeov Und dızalaı xelvov gadipay yale xepuiposcta 
xduav das pflegt man zu übersetzen, unter dem Schwirren seiner 
Pfeile werde ihr (der Giganten) glänzendes Haar von Erde besudelt 
werden, und seit Dissen (bei Boeckh) ist öfter auf Hor. c. I, 15, 19 
serus adulteros crinis pulvere conlines als Parallele hingewiesen wor- 
den. Die alte Paraphrase versteht den Vers anders xal ry xdunr 
adbrig mv gadiuny ovupvonoesda. ti IG Ovußnicera, und dem 
Paraphrasten folgend will Hartung Taée schreiben. Das scheint mir 
unbedingt geboten, denn die Berührung mit der Mutter Erde be 
sudelt nicht, am allerwenigsten ihre Kinder die Giganten, hätte Pin- 
dar den von den Neueren gesuchten Gedanken ausdrücken wollen, 
so hätte er statt yai« ein Wort wie xövıg gebraucht, was die angeb- 
liche Parallelstelle des Horaz ja auch bietet. Die zunächst befremd- 
liche Wendung, daß im Gigantenkampfe der Mutter Erde ihr glän- 
zendes Haar besudelt werden wird, nämlich vom Blute ihrer Kinder. 
versteht man leicht aus der bildlichen Tradition. Das ergreifende 
Bild der zwischen den kämpfenden, blutenden Leibern ihrer Söhne 
flehend auftauchenden Gaia ist uns jetzt besonders durch den per- 
gamenischen Gigantenfries vertraut, aber das Motiv ist weit älter, 
die früheste mir bekannte Darstellung auf der herrlichen Schale des 
Aristophanes (Wiener Vorlegeblätter I, 5) wird nach Graefs Uater- 


Pindari carmina rec. Otto Schroeder. 967 


suchungen (Arch. Jahrb. XII S. 65 ff.) noch zu Pindars Lebzeiten 
entstanden sein. 

Im Ganzen gewinnt man auch aus Schroeders Ausgabe den Ein- 
druck, daß Pindar für die Conjecturalkritik kein günstiger Boden 
ist, die leichteren Fehler der Ueberlieferung sind durch die Arbeit 
vieler Generationen von Moschopulos bis Wilamowitz meist geheilt 
und den wirklich schweren, schon in die voralexandrinische Zeit 
zurückreichenden Schäden gegenüber versagen unsere Heilmittel nur 
zu oft. An 17 Stellen, wenn ich recht gezählt habe, zeigt das omi- 
nöse Kreuz an, daß auch Schroeder an der Herstellung oder Er- 
klärung verzweifelt, nicht wenigen für hoffnungslos gehaltenen Ver- 
sen hat er durch feinsinnige Auslegung geholfen. Seine Erklärungen 
sind in ihrer Knappheit oft schwer zu verstehen, aber stets scharf 
durchdacht und eigenartig. Nicht selten teilt er seine Auffassung 
einer schwierigen Stelle auch in der Form der griechischen Para- 
phrase mit, die dann immer in Gedanken und Wendungen echt 
Pindarisch anmutet, aber mitunter doch, wie mir scheint, von der 
Erbsünde moderner Pindarforschung, der Hyperexegese, nicht frei ist. 
Was Pindar eventuell sagen könnte und anderswo auch wirklich ge- 
sagt hat, wird den paraphrasierten Versen bisweilen etwas gewalt- 
sam abgepreßt. Es sei mir gestattet ein Beispiel mitzuteilen. Die 
vielbehandelten Verse P. II 52 ff. 

| éut Ob 10E0v 
pevysıv Odxos adivoy xaxayoorav. 
sldov yüg éxdg Ev ta 6A Ev duayavia 
55 poyeodv "AgylAogov Bagvidyoıs Eydesıv 
rıaıvdöusvov‘ to nAovrelv Ot ody TÜrg adtpoV Goplas KQLOTOY. 
tv ÖL odgpa wv Eysıs Ehevdioa goevl nenagelv, 
novtav,. Ups axoddav uly svoregavay dyviav xal otgatod. 
ef O€ tig 
Nön ucekrecot ve xal negl ripe Adve 
60 Eregdv uv dv’ ‘EdAdda tev ndpoıds yevéodar bxégregor, 
xavva woanide madapovel xeved. 
paraphrasiert Schroeder folgendermaGen: &u& Ysvyeıv yor} iv tov 
xaxnyogray éxydoay sogiay, un Ev dungavig (dumydvodı xdeor 
Archil. 66, 1 B*, wevdag auaydvov Bacch. I, 33) dıayav Bapvidyoıg 
EyGeor aAovriio (xtiBdyddy rıva nAoürov maivoyr cl. dors un pddvm 
xvotveroe Bacch. II, 68)° 1d 6% scopats dvdsiv xganiow xdtpov 
nagaddytog (cf. etiam O. IX") 28, P. 1 41) ägıordg gore xdodrog 


1) gedruckt steht X; die sonst so sorgfältige Ausgabe ist nicht ganz frei 
von Druckfehlern. | 


968 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


(xeax(dov xlobrog Emped. 300 St... ot dd, & Pasıleo, ro zier 
relv ooplas vapas éevdsitas Eysıs Eievdsademı (ef. P. V 121. 
Sollte Pindar wirklich seine Gedanken so künstlich verhüllen? Vom 
ersten bis zum letzten Satz hat Schroeder überall den Begriff sogie 
eingeschoben, der doch nur einmal V. 56, und da wie ich fürchte, 
in ziemlich niedrigem Sinne, vorkommt. Sicher scheint mir vor 
allem, daß von Hieron nicht die Bethätigung eines xAdtros 6ogia; 
verlangt wird, sondern ganz ausschließlich von seinen äußeren Glücks- 
gütern die Rede ist. An Ehren und Besitz übertrifft er alle Hel- 
lenen, die je gelebt haben, darum kann und soll er seinen Reichtum 
freigebigen Sinnes bethätigen. Auch bei Archilochos handelt es sich 
einzig um materielle Fragen. Seine Tadelsucht hat ihn in Darftig- 
keit gebracht — so faßt es ja auch Schroeder auf — und er mästete 
sich, wie Pindar mit nicht ganz edlem Hohne auf den ihm gewiß 
wenig sympathischen großen lonier sagt, nur mit seinen bitten 
Zankworten. Da Anfang und Schluß des ganzen Abschnittes sich 
nicht mit geistigem, sondern mit äußerem Besitz beschäftigen, darf 
man meines Erachtens auch dem xdovrety des Zwischengliedes kei- 
nen ideellen Sinn unterschieben, wie es schon die antiken Gramma- 
tiker zum Teil versucht haben und Schroeders grade hier außer- 
ordentlich freie Paraphrase es wiederum will. Ich verstehe »reich 
zu werden aber, mit des Schicksals günstiger Fügung ist der Weis 
heit bestes Teile. Wenn ein solcher Gedanke des Dichters unwür- 
dig genannt wird, so will ich nicht widersprechen, aber daß nur 
diese Auffassung zugleich den Worten gerecht wird und für den gan- 
zen Abschnitt einen klaren Gedankenfortschritt ergiebt, halte ich für 
sicher. >Von Schmähreden muß ich mich fern halten, denn dem 
Archilochos hat seine scharfe Zunge nur Armut gebracht, ich aber 
weiß den Wert des Wohlstandes zu schätzen; du, o Hieron, kannst 
ihn am leichtesten gewähren — schon darum mag ich es mit Dir 
nicht verderben«. Das klingt in dieser Form allerdings cynisch — 
wohlweislich spricht auch der Dichter die letzte Folgerung nicht aus — 
aber es ist wenigstens logisch. So sehr Pindar grade in diesem Gedicht 
seinen Freimut bewährt, so wenig kann man doch leugnen, daß der 
Dichter auf äußeren Wohlstand einen sehr großen Wert legt; 
Reichtum, Schönheit, Siegesruhm sind ihm N XI 13 ff. die drei 
Dinge, die des Sterblichen höchstes Glück ausmachen, und ähnliche 
Gedanken kehren oft wieder. Weil uns Modernen diese Hoch- 
schätzung des Reichtums im Munde eines Dichters befremdet, will 
man sie auch bei Pindar nicht recht dulden. Hat es doch auch nicht 
an Versuchen gefehlt, die ganz offene Ermahnung Hierons zur Frei- 
gebigkeit am Schluß des ersten pythischen Gedichtes durch künst- 


Pindari carmina rec. Otto Schroeder. 969 


liche Auslegung abzuschwächen. Ein Satz dieser Mabnung scheint 
mir auch bei Schroeder nicht ganz in Ordnung zu sein. Auf die 
klaren Verse 89 ff. 

evavdel Ö’ Ev Öpy& xaguevav 

einep te Yılsls dxody ddslav atsl xAvsıv, un aduvs Alav da- 

RAVES ° 
ele. 6’ homeg xvBegvdrag dvijo 

loriov dveudsv. 
folgt unmittelbar eine Warnung, die bei Schroeder lautet un doAo- 
dis, b plas, xéodeory surednioıs!). Das übersetzte Boekh ne capiaris, 
o amice, facetis astutiis und so viel ich sehe, haben alle ihm darin 
zugestimmt, daß Hieron hier. vor gewandten, habgierigen Höflingen 
gewarnt werde, die ihn dem Dichter zu entfremden suchten ; aus 
dem letzten Teile von P. II sind diese Leute ja bekannt. Eine ganz 
andere Auffassung vertritt die alte Paraphrase u} dodmOyjs, & mopos- 
gılgorare ‘Idgmv, ti Eydpordın prdoxegdeca, und es scheint mir ein- 
leuchtend, daß sich eine Warnung vor der eigenen Gewinnsucht, die 
Hieron treibt, den Beutel geschlossen zn halten, viel natürlicher in 
den Zusammenhang einfügt als die Hereinziehung der Hofleute. 
Dann muß man freilich nicht evredéxAocg schreiben, sondern was der 
Paraphrast offenbar gelesen hat, &vrodrioıs. Thatsächlich ist évrec- 
r£Aoıs die Lesart erster Hand des Parisinus C, der im ersten py- 
thischen Gedicht so oft allein das Richtige bewahrt hat. Das Ad- 
jectivum &vroaneiog ist noch an einer andern Stelle bei Pindar 
überliefert. P. IV 105, wo alle guten Handschriften es geben und 
Mommsen es mit Recht in den Text aufgenommen hat; in den 
Scholien, die daneben die von den Herausgebern meist bevorzugte 
Lesart &xredneAov kennen, wird es erläutert 6 &v to Evroaneln. 
Diese Bedeutung paßt meines Erachtens vortrefllich in den Zusam- 
menhang des ersten pythischen Gedichtes, es wäre ein Gewinn, des- 
sen sich Hieron zu schämen hätte, wenn er es vorzöge 'moAbv éy 
ueydom nAodrov xaraxevparg Eysıv, statt die Dichter reichlich zu be- 
denken, deren Lied ihm die Unsterblichkeit sichert. 

Die eben besprochene Stelle giebt mir Anlaß, noch auf eine 
Eigentümlichkeit der Schroederschen Ausgabe einzugehen, die ich 
nicht gut heißen möchte, auf die allzu große Wortkargheit. Im kri- 
tischen Apparat lesen wir zu V. 92 »& gids xégdeow sürpamekoıg 
vett (vie. C* all)<, das ist in diesem Falle zu wenig. Abgesehen 


1) sörgdreloıg für das metrisch unmögliche évreawélorg hat Buecheler bei 
Boehmer vorgeschlagen, früher suchte man durch Umstellung und gewagte Eli- 
sionen zu helfen, 


ogo. . Gdtt. gel. Ans. 1901. He. 18. © 


davon, daß die Trennung der ersten Hand von C von den veteres 
befremdet — denn grade in diesem Gedicht steht doch C neben D 
unter den veteres voran —, wäre eine genauere Angabe über die 
alii sehr am Platze. Nach Christs Ausgaben muß man nämlich an- 
nehmen, daß auch in D von erster Hand évyrgaxédorg geschrieben ist, 
bei ihm lautet die adnotatio critica »® pide xégdeory Evrpaxktloıs 
(evrg. corr. man. rec.) CD«e. Vermutlich hat Schroeder bei der 
Collation festgestellt, daß in D niemals évtgaxdiorg gestanden hat’), 
aber dann hätte er das doch grade im Hinblick auf den letzten Vor- 
ginger deutlicher ausdrücken können, etwa in der Form © gie xzp- 
dsouv evroanédorg C® DE, &vre. C* FJM. Es scheint fast, als habe 
der Verleger auf möglichste Raumersparnis gedrängt, auch die er- 
klärenden Anmerkungen sind oft von wahrhaft lakonischer Kürze 
und durch ungewöhnlich kühne Wortabkürzungen auf den engsten 
Raum zusammengedrängt. Diese allzu große Knappheit ist des- 
wegen zu beklagen, weil sie Anfängern die Benutzung der Ausgabe 
so sehr erschwert. Ich habe es bei der Vorlesung dieses Sommer: 
beobachtet, wie ratlos oft befahigte und fleißige junge Studenten den 
Schroederschen Anmerkungen gegenüberstanden. 

Auffallend ausführlich sind gegenüber der sonstigen Knapphei 
die Anmerkungen zu manchen Fragmenten, die zu fr. 72—74 beige 
brachte mythographische Gelehrsamkeit z.B. ist ja gewiß an sich 
wertvoll, aber sie hängt doch mit Pindar nur locker zusammen 
Daß die versprengten Reste der übrigen Dichtungen mit derselbe: 
Liebe und Sorgfalt behandelt sind wie die Epinikien, brauche ic 
kaum zu betonen. Erfreulich ist es, daß Schroeder endlich mit de 
Durchführung der Aristophanischen Ordnung Ernst gemacht un 
deshalb die voraristophanische Benennung oxdd:a, die Christ nocl 
beibehielt, unterdrückt hat. Zu einer andern weniger glückliche 
Neuerung haben Bakchylides’ Gedichte den Anstoß gegeben. Wei 
dessen Dithyramben in dem Papyrus Titel tragen wie ’4vrnwogid« 
N ‘Eddvys dnelınaıs, ’Hidsoı 9 Oncevs u.s.w. hat Schroeder auch fü 
einige Gedichte Pindars, Titel erfunden, NidBng y&uoı heißt bei ihn 
ein Paian, Orion und Semele zwei Dithyramben. Diese Willkiir schein 
mir bedenklich, denn erstens stammen doch die Bakchylideische 
Titel gewiß nicht vom Dichter, sondern von den alexandrinische 
Grammatikern, und dann sind die entsprechenden Namen, die etw 
Pindars Gedichte von den Gelehrten erhalten haben, aus den Frag 
menten wirklich nicht mehr zu erraten. Grade der Titel, den Schroe 


1) Schon Mommsen war dieser Pankt zweifelhaft, er schreibt x. évroasdle 
CDs? FJM. 


Pindari carmina rec. Otto Schroeder. 971 


der ohne Klammer oder Fragezeichen giebt NidBng Yduoı, beruht nur 
auf dem Satze des Plut. de mus. 15 IIivdagog 6° év xotow En} 
tots NidBys yauoıs yet Avdıov kpuoviav modroy didaydivar. Ein 
anderes Fragment zeigt, daß in demselben Paian die Zahl der Nio- 
biden auf 20 angegeben war, aber aus diesen 2 Einzelheiten ist doch 
über den Hauptinhalt oder gar über den Titel des Gedichts nichts 
zu ermitteln. 

Kurz fassen kann ich mich über die Appendix de metro dacty- 
loepitritico, die wohl besser ihren Platz in den Prolegomena ge- 
funden hätte. Ihren wesentlichen Inhalt hat Schroeder schon auf 
der Bremer Philologenversammlung mitgeteilt und damals allseitige 
Zustimmung gefunden (vgl. Verhandlungen der 4östen Philol. 
Vers. S. 52 ff.). Die besonders von Blass längst verfochtene durch 
Bakchylides bestätigte These, daß die sogenannten Daktyloepitriten 
nichts sind als eine Abart »jenes erstaunlich elastischen im Schema 
viersilbigen und sechszeiligen Metrons< wird durch die sorgfältige 
Zusammenstellung aller vorkommenden Formen und aller Frei- 
heiten der Responsion in ihnen zur Evidenz gebracht. Auch die 
widerspänstigste Reihe, in der scheinbar der daktylische Charakter 
so klar hervortritt _w_w_w_ _, muß sich der jonischen Mes- 
sung —w — | w— |w__ fügen, weil ihr einmal J. V,41 der in- 
haltlich unantastbare Vers Méuvova yadxotgay’ tig yao éodov (TY- 
Aepov redeev) —w — | w— | _u_ —!") entspricht. Wie weit auf 
die Bildung dieser Pseudodaktylen echte daktylische Verse einge- 
wirkt haben, ist schwer zu entscheiden, auch ist es mir sehr zweifel- 
haft, ob ihre grundsätzliche Verschiedenheit noch im Bewußtsein der 
attischen Tragiker lebendig war. Wenn Sophokles die Parodos des 
Aias beginnt 172ff. "H od oe Tavgondia Ards “Agremis, © ueydin 
pers, & pateg aloydvag euic, so hat er den ersten Vers doch 
wohl sicher daktylisch gemessen. Nicht ganz glücklich scheint es 
mir, daß Schroeder der Kürze halber die Epitrite in seinen Schemata 
einfach als retardierte Ioniker bezeichnet. Gewiß hat ein retardier- 
ter steigender Ioniker dieselbe Form wie der Epitrit _ v — —, aber 
wenn dieser Form nun wieder entspricht wu __ (P. 117 Kıllkıov 
»oe&pev), dann ist es doch klar, daß die erste Silbe nicht als retar- 
dierte Kürze, sondern als echte Länge aufgefaßt werden muß. 

Ich kann die Besprechung nicht schließen ohne an den Heraus- 
geber eine Bitte zu richten: Daß Schroeder den Pindar so gut ver- 
steht wie nur ganz wenige unter den Lebenden, das zeigt seine Aus- 
gabe, möchte er nun dies Verständnis auch weiteren Kreisen zu- 


1) Genau dieselbe Form als regulärer Vers P. IX str. 7. 


972 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


gänglich machen g/Jog éagxémv. Eine von ihm herausgegebene 
Auswahl der wichtigsten Gedichte mit möglichst ausführlichem Com- 
mentar in der Art von Kaibels Elektra oder Heinzes Lucrez II 
wäre eine höchst willkommene Gabe für alle, die dem großen Aigéiden 
nahe gekommen sind oder ihm nahe zu kommen wünschen. 


Greifswald. A. Körte. 





Herrmann, M., Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. Entstehung 
und Bühnengeschichte. Nebst einer kritischen Ausgabe des Spiels und unge- 
druckten Versen Goethes sowie Bildern und Notenbeilagen. Berlin, Weid- 
mannsche Buchhandlung 1900. VI, 293 S. Preis 8 Mk. 


Wir haben zu viel Fortschritte in der Erfassung künstlerischen 
Schaffens im allgemeinen, der Arbeitsweise des jungen Goethe im 
besonderen gemacht, als daß wir noch, um nur ja recht viel äußer- 
lich Biographisches anzubringen, dem Litterarisch-Aesthetischen gar 
zu wenig gerecht werden möchten«. Mit wahrer Freude habe ich 
diesen Satz gelesen, den Herrmann (S. 4) am Eingange seiner Stu- 
die niederschreibt, mag er auch zur Thatsache machen, was heute 
doch noch selten mehr als frommer Wunsch ist. Allein er deutet 
auf eine unleugbare Wandlung, die sich im Betrieb der Litteratur- 
geschichte während der letzten Jahrzehnte vollzogen hat. War man 
früher, und nicht nur in Sachen des jungen Goethe, bemüht, Er: 
lebtes und Modelle um jeden Preis nachzuweisen, heute wird man 
sich mehr und mehr bewußt, daß solche »Biographenphilologie< nicht 
ausreicht, ein Kunstwerk und seinen Künstler zu erfassen. Wir 
wollen jetzt ergründen, wie eine Form im Bewußtsein ihres Schöpfers 
zustande gekommen ist; wir schneiden drum nicht das Band entzwei, 
das des Dichters Leben und seine Dichtung verbindet; wir treiben 
nicht einseitig technische Studien. Aber uns fesselt heute mehr die 
Frage, was der Dichter aus dem Ueberkommenen (sei’s Stoff oder 
Form) gemacht, als die Erkundung der stofllichen Vorlage, die ja 
immer als Vorbedingung bestehen bleibt, nicht mehr indes zum 
Selbstzweck sich erheben darf. 

Den Gegensatz ‘von Einst und Jetzt auf diesem methodologi- 
schen Felde klarzustellen, dürfte nicht leicht ein besseres Paradigma 
zu finden sein, als Goethes »Jahrmarktsfest von Plundersweilern«. 
Vor etwa zwanzig Jahren hat die »Biographenphilologie« einen Berg 
von Studien um die Dichtung aufgehiuft. Mit großem Scharfsinn 
sind Wilmanns, Scherer, R. M. Werner u.a. der Frage nachgegangen, 


Herrmann, Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. 973 


welche Persönlichkeiten den einzelnen Figuren der Dichtung zu- 
grundeliegen. Ein heutiger Betrachter kann sich dem Eindruck nicht 
entziehen, daß all diese Deutungen, oder fast alle, näherer Prüfung 
nicht standhalten, und daß über all diese Deutungen das Kunst- 
werkchen selbst verloren geht oder, besser gesagt, der künstlerische 
‘Gesichtspunkt seiner Bewertung. »Wir brauchen uns heute<, sagt 
Herrmann, >nur zu vergegenwärtigen, wie Goethe gearbeitet haben 
müßte, wenn jene Art des Kommentierens zu Recht bestehen sollte; 
er müßte eine große Anzahl meist recht salzloser Porträtepigramme 
und an den Haaren herbeigeholter litterarischer und persönlicher 
Anspielungen in mühsamer Verstandesarbeit an einen Faden gereiht 
haben, der an sich nicht die geringste künstlerische Bedeutung hat«. 

Die künstlerische Bedeutung des Stückes will Herrmann er- 
forschen. Die Aufgabe zu lösen, muß er weit ausgreifen; drum ist 
seine Studie so umfangreich geworden. Ob ihm während der Unter- 
suchung nicht doch das leicht hingetuschte Werkchen Goethes zu 
viel Gewicht gewonnen hat? Fast möchte es scheinen. Geistreich 
gewiß ist es, wie er (S. 1) >Jahrmarktsfest< und »Faust« zusammen- 
stellt. Naives Empfinden wird jedoch stets gegen solche Bindungen 
sich wehren, ebenso gegen ein Buch von dem Umfange des vor- 
liegenden, wenn es einer so kurzatmigen Dichtung gewidmet ist. 
Ein Körnchen Wahrheit wird, hier wie immer, in dem Ausspruch 
des gesunden Menschenverstandes sein. Und wäre es nur das Eine, 
daß Herrmann mit geringen Zusätzen seine Studie der Erhellung 
aller Farcen des jungen Goethe hätte dienstbar machen können. 

Der Gelehrte freilich darf nie und nimmer einer wissenschaft- 
lichen Arbeit ihren allzugroßen Umfang vorwerfen. War ja doch 
hier auch noch einiger Schutt wegzuräumen. — 

Nicht Biographenphilologie, sondern Erforschung der künstleri- 
schen Bedeutung ist Herrmanns Ziel. Was von den Aufstellungen 
seiner Vorgänger bestehen bleibt, faßt er am Schlusse des ersten 
Kapitels — das Buch bietet noch ein zweites — zusammen.: 

Der letzte Abschnitt des ersten Kapitels, »Kleine Geheimnisse< 
(S. 145—161) betitelt, tritt, nachdem zur Erläuterung der Form des 
»Jahrmarktsfestes« alles Erreichbare gethan ist, an die Frage heran, 
die den bisherigen Interpreten so viel zu schaffen gemacht, und die 
so viel unnützen Verbrauch kritischen Scharfsinns bedingt hat: 
»Steckt im »Jahrmarktsfest«< außer dem Allgemein-Symbolischen und 
dem Typisch-Charakteristischen auch noch greifbare Charakteristik 
individueller Natur?< »Enthält das Stück epigrammatische Anspie- 
lungen auf einzelne Persönlichkeiten ?« 

Unzweifelhaft wird angespielt auf den »Teutschen Merkur« und 


974 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


auf Schlossers »Katechismus für das Landvolk« (S. 146). Dann lehrt 
uns Caroline Flachsland (S. 151), daß in Mardochai »Leuchsenrings 
Person aufgefiihrt< ist. Im Uebrigen scheidet Herrmann strenge 
zwischen dem »Jahrmarktsfest< einerseits und Dichtungen in der Art 
des »Concerto dramatico< und des »Neuesten von Plundersweilern< an- 
dererseits. Hier findet sich nirgends schlichtes Abbild der Wirklich- 
keit, sondern groteske Satire; dort herrscht typisierender Natura- 
lismus. Diese Typen des »Jahrmarktsfestes< hat ferner nicht Goethe 
geschaffen : Herrmann hat ihre Geschichte auf den vorhergehenden 
Seiten seines Buches geschrieben. Diesen Typen hat Goethe vielleicht 
zu einer Art Privatspaß etwa die Lieblingsredensart eines Freundes 
in den Mund gelegt, vielleicht hat er gelegentlich witzig auf ein Er- 
lebnis eines Gesellschaftsgenossen angespielt. Von den bisherigen 
Deutungen aber könnte zur Not nur die Beziehung -des Milchmäd- 
chens auf Caroline Flachsland einleuchten. Weiter vorzudringen, 
Weiteres zu lüften, das Goethe vielleicht hineingeheimnißt hat, fehlt 
uns heute jedes Mittel. Wir verfallen auf diesem Wege nur in den 
Fehler Friedrich Nicolais, der in seiner Recension des Stückes den 
Schattenspieler für Herder erklärt. Schon R. M. Werner hat 
überzeugend nachgewiesen, daß diese Deutung chronologisch un- 
haltbar ist. 

So Herrmann! Goethe selbst sagt freilich im 13. Buch von 
Dichtung und Wahrheit« von dem »Jahrmarktsfest« : Unter allen 
dort auftretenden Masken sind wirkliche, in jener (Frankfurter) So- 
sietät lebende Glieder oder ihr wenigstens verbundene und einiger- 
maßen bekannte Personen gemeint. Herrmann nimmt hier einen Ge- 
dächtnisirrtum des alten Goethe an (S. 6ff); und mehrfach im Ver- 
laufe seines Buches sucht er die Annahme zu begründen, daß 
Goethes Zeugnis völlig wertlos sei. Allein verfällt er hier nicht 
ebenso — freilich im entgegengesetzten Sinne — einem Versehen, 
wie die Biographenphilologen ? Liegt hier nicht auch eine Einseitig- 
keit vor? 

Für die Forschung stellt sich das Problem — wie mir scheint 
— lediglich so: sind wir in der Lage, die Masken zu deuten oder 
‚nicht ? Ich stimme Herrmann vollständig zu, daß eine peinlich ge- 
wissenhafte Prüfung nicht mehr Deutungen ergiebt, als jene oben an- 
geführten; wenigstens mit unseren heutigen Mitteln. Allein die 
Möglichkeit, daß da oder dort noch eine Anspielung versteckt ist, 
muß zugegeben werden. Und thut das Herrmann nicht wirklich ? 
Nur dürfen wir uns bei der litterarhistorischen Untersuchung des 
Werkchens nicht auf den Deutungsversuch beschränken, dessen 
Schwierigkeit schon aus Goethes eignen Worten erhellt: Der Sinn 


Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 975 


des Räthsels blieb den Meisten verborgen, Alle lachten, und Wenige 
wußten, daß ihnen ihre eigensten Eigenheiten eum Scherse dienten. 
Ich gebe Herrmann vollkommen Recht, wenn er mit der Hypothesen- 
lust seiner Vorgänger aufräumt, die nicht sahen, daß wir hier nichts 
wissen können. Ebendeshalb aber behaupte ich die Möglichkeit, 
weiterer >kleiner Geheimnisse<; sie zu leugnen, hieße wiederum Be- 
stimmtheit auf einem Gebiete suchen, auf dem wir zur Bestimmtbeit 
nicht gelangen können. Diese Möglichkeit läßt Herrmanns Bemühen, 
die künstlerische Bedeutung des Werkchens zu ergründen, völlig un- 
angetastet. Im Gegentheil sehe ich in solchem Bemühen die eigent- 
liche Aufgabe der Forschung ; und auch die lösbare. 

Denn daß das »Jahrmarktsfest«e noch etwas mehr ist, als eine 
Sammlung von Epigrammen, diese Thatsache geht unzweideutig aus 
Goethes Worten hervor. Bezeugen sie doch, daß auch ohne Kenntnis 
der hineingeheimnißten Spitzen ein künstlerischer Genuß schon bei 
seinem ersten Auftreten möglich war. Soll dieser künstlerische Ge- 
nuß lediglich auf der erheiternden Vorführung ulkiger Jahrmarkts- 
typen beruhen ? Den tieferen Sinn der Dichtung hat schon Tieck, 
freilich dunkel genug, angedeutet, als er 1828 in seiner umfang- 
reichen Confession »Goethe und seine Zeit< bemerkte : »Wie meister- 
haft ist das Jahrmarktsfest, ohne in diese Absicht [ein eigentliches 
Drama zu sein] auch nur einzugehen. Hier fügt sich Episode an 
Episode, um so ein humoristisches, possenhaftes Wesen durchzu- 
führen, das eben weil es so menschlich und in der innern 
Absicht so edel und weder bitter noch gemein ist, 
durch eine poetische Magie trefflich in eine geistige Einheit zu- 
sammentritte (Kritische Schriften II, 208). Klingt es nicht wie eine 
Interpretation dieser von Herrmann allerdings nicht benutzten Stelle, 
wenn er (S. 145) sagt: »Die Abschilderung des bunten Markt- 
treibens ist nicht etwa in erster Reihe Selbstzweck, wie das auf dem 
Theater bei der Behandlung dieses Stoffes der Fall ist, der zu kleinen 
Späßen, muntern Intriguen, überraschenden Effekten für Aug und 
Ohr genug Gelegenheit bietet; die rasche Folge der Erscheinungen 
auf dem Jahrmarkt ..., das bunte Durcheinander der Käufer und 
Verkäufer, das sich dem Dichter aus Anregungen der Wirklichkeit 
und der Kunst ergeben hat, ist vielmehr das Symbol für das 
Ab und Auf des Lebens geworden«. | 

Also ein humoristisches Weltbild im kleinsten Formate! Gewiß 
hat, wer dieses Resultat wiedererobert, einen mächtigen Schritt über 
die »Biographenphilologie« hinaus gethan. Merkwürdig aber, wie 
Herrmann, sobald er an den Nachweis dieser Beobachtung geht, 


976 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


sofort die gleiche Hypothesenlust sich gestattet, die er den Biogra- 
phenphilologen mit Recht verweist. 

Der erste Abschnitt des ersten Kapitels, »Schöne Raritäten« 
(S. 11—44) hebt mit der Behauptung an, daß die Dichtung nicht 
einheitlich sei. Er scheidet die beiden Acte des eingelegten Esther- 
dramas, die zwischen beiden Acten liegenden Verse und das die 
Dichtung eröffnende Gespräch zwischen Doktor und Marktschreier 
aus. Diese Partieen sind in vierhebigen Reimpaaren geschrieben, im 
Gegensatz zu den übrigen Jahrmarktscenen, die im Wesentlichen 
dreihebig gehalten sind. Bei diesen findet Herrmann »zarte Filigran- 
arbeit<, in jener eine >derbe, massige Manier«. »Dort ein leichtes 
Andeuten, ein rasches Vorüberhuschen ; hier scharfe und kräftige 
Striche und ein behaglicheres Verweilen<. Und sofort schließt er 
weiter: »Auch hier ist es schon klar, welcher von beiden Bestand- 
teilen der ältere sein muß: die derben Partieen sind zum größerem 
Teile entbehrliche Zugaben, die zarten dagegen ergeben für sich 
schon ein fast lückenloses Bild des Jahrmarktsfestes«. 

Ist das nicht wieder einmal eine »Eilfahrt ins Land des All- 
wissenkonnens< ? Mich erinnert wenigstens solche kühne, auf me- 
trischen Eigenheiten rasch fortconstruirende Art an bedenkliche Wag- 
nisse der Faustphilologie. Ich frage: hat Herrmann auch nur den 
Schatten eines Beweises erbracht, daß die von ihm getrennten Teile 
aus verschiedener Zeit stammen? Ich kann nicht einmal die stili- 
stische Antithese zugeben: ich finde da wie dort derbe Manier, da wie 
dort bald scharfe kräftige Striche, bald behagliches Verweilen. Doch 
selbst, wenn wir die stilistische Antithese zugäben, genügt sie, eine 
chronologische Hypothese zu begründen ? Gewiß nicht. Und eben- 
sowenig Herrmanns Beobachtung, daß nur das Eingangsgespräch und 
der Anfang der Esther Personenüberschrift haben (Doktor Medikus. 
Marktschreyer. — Kaiser Ahasverus. Haman). Gewiß stehen diese 
Ueberschriften am Anfang der beiden Teile der sogenannten jüngeren 
Partie; aber warum stehen sie nicht auch am Anfang des zweiten 
Actes der Esther oder am Anfang der zwischen den beiden Acten 
der Einlage sich abspielenden Scene? Ich kann hier nur Inconse- 
quenz und Flüchtigkeit Goethes sehen, unmöglich aber in solchen 
Argumenten einen Beweis der Hypothese erblicken. 

Hermann freilich sucht alsbald von der hypothetischen älteren 
Partie zu ihrer Conceptionsstelle einzudringen. Und weiter begegnen 
wir kühnsten Combinationen. Um das folgende zu verstehen, muß 
man festhalten, daß der Dichter von Anfang an ein Weltbild geben 
wollte. 

Das »Ursymbol der Dichtung, das hinter all den später ausge- 


Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 977 


stalteten Einzelheiten sich birgt«, findet Herrmann in einem Guck- 
kasten oder Raritätenkasten (S. 13). Von der Partie, die Herrmann 
zur älteren macht, sagt er, sie »gleicht einer einzigen Jahrmarkts- 
sehenswürdigkeit ; es ist wie einGuckkasten, in dem die Figuren 
lebendig geworden sind und in raschem Vorüberziehen Zeit gefunden 
haben, an Stelle des eintönig erklärenden Guckkastenmannes sich 
selbst jede mit einem kurzen Sprüchlein vorzustellen«. 

Raritätenkasten, erklärt das von Herrmann (S. 16) herange- 
zogene Zedlersche Universallexikon (XXX Sp. 91), ss¢ ein Kasten, 
in welchem diese oder jene alte oder neue Geschichte im Kleinen und 
durch dazu verfertigtes Puppenwerk, so gezogen werden kann, vorge- 
stellt wird. Es pflegen gemeine Leute, so mehrenthetls Italiäner von 
Geburth, mit solchen Kasten die Messen in Deutschland eu besuchen, 
auf den Gassen herum zu lauffen und durch ein erbärmliches Geschrey : 
schöne Rarität! Schöne Spielwerck! Liebhaber an sich eu locken, die 
vors Geld hineinsehen. 

Auf den ersten Blick sieht man, daß die Form, die nach Herr- 
mann Goethes Spiel ursprünglich haben sollte, in diesen Rahmen 
gar nicht mehr passt. Das sei denn gleich aus einer Verwertung des 
Guckkastenmotivs erwiesen, deren Herrmann nicht gedenkt. Im 
41. Litteraturbrief bespricht Lessing die »Schilderungen aus dem 
Reiche der Natur und der Sittenlehre< von Dusch. In der »Fort- 
setzung< dieses Briefes vom 31. Mai 1759 (Hempel IX, 155 f.) heißt 
es: Der Genius kömmt endlich mit dem Herrn Dusch in den Tempel 
selbst. Und nun machen Sie Sich fertig, ...in den seltsamsten 
Raritätenkasten zu gucken! »Zwei mächtige Flügel eröffneten 
den Eingang durch ein langes Gewölbe, das auf beiden Seiten auf 
marmornen Säulen ruhte. Zwischen diesen standen in ihren Fächern 
die Bildsäulen der größten Philosophen, die durch ihre Bemühungen 
die wichtigsten Wahrheiten aufgeheitert hatten. Einige in der Tracht 
der Chaldder« etc. Ist das nicht lustig? Hier ftehen_die Bildsäulen 
der Philosophen, die draußen in dem Vorhofe lebendig herumliefen. 
Lessing durchwandert an Duschens Hand den Tempel; er fährt dann 
fort: Aber ist das schon die ganze Natur, die uns der Dichter hier 
im Kleinen vorstellen will? O nein! Er zieht daher auch weis- 
Lich in seinem Kasten ein neues Fach. »Indem eröffneten 
sween mächtige Flügel eine weite Aussicht aus dem Tempel in ein un- 
absehbares Feld. Merke auf, sagte mein Führer eu mir, und betrachte !« 
— Der natürliche Savoyard: Vous alles voir ce que 
vous alles voir! Hiha! — Was giebt es denn nun eu be- 
trachten?, Da repräsentiret sich: »eniblößte Hügel, die ihr Inneres 
aufdecken: Erdarten, Mineralien, Steine, Metalle< etc. Und abermals 

Goes. gel. Ans. 1901. Hr. 18. 64 


578 dött. gel. Anz, 1901. Nr. 12. 


repräsentiret sich: »die schönste Gegend, ein ebenes Thal, mit m- 
zähligen Kräutern und Blumen aus allen Himmelsgegenden geschnrückt«. 
Und abermals repräsentiret sich ... Noch einmal und noch ein 
zweites Mal wirft Lessing die Anapher dem Recensierten entgegen, 
dann bricht er ab: O verzweifelt! Ich wollte meinen Herren noch 
das ganze Thierreich repräsentiren; aber Sie sehen, das Licht 
gehtmirindem Kasten aus... Nicht ein Haar besser läßt 
Herr Dusch seinen Genius in allem Ernste abbrechen, weil »eine 
Priesterin, in weißen Atlas gekleidet, an den Altar tritt und neuen 
Weihrauch in die helleren Flammen gießi«. — Der Guckkasten 
wirdnun su einem Marionettenspiele. — Es kömmt 
noch eine Gestalt dazu... Und noch eine dritte... Und 
eine vierte... Diese Drei warfen sich vor die Stufen des Altars 
auf ihr Antlite, indem die Priesterin mit sum Himmel gefalteten Han- 
den niederkniete. 

Ich finde die Stelle für uns hier sehr interessant, nicht nur wegen 
der litterarischen Verwertung des Guckkastenmotives. Vielmehr 
spielt sich bei Lessing dieselbe Verwandlung von einem Guckkasten 
in ein Spiel ab, die Herrmann für Goethe beanspruchen möchte. 
Aber wie wenig genügt einem Lessing, um diese Wandlung anz- 
nehmen! Sobald die Figuren zur Action übergehen, ist für Lessing 
kein Guckkasten mehr da. Ich frage: welche Form müßte die Ur- 
conception des »Jahrmarktsfestes< gehabt haben, um in den Rahmen 
eines Guckkastens zu passen? Nicht nur die von den vorgeführten 
Gestalten gesprochenen Worte, nein, die geringfügigste Action hätte 
den Guckkasteneindruck zerstört. Schon von diesem Gesichtspunkte 
aus ergiebt sich, daß Herrmann für die Urconception etwas Unmög- 
liches verlangt: Raritätenkastenfiguren, die eigentlich Marionetten 
sind. Ein Guckkasten aber, der zum Marionettenspiele wird, ist kein 
Guckkasten mehr, sondern ein Marionettenspiel. Keine der von 
Herrmann mit großem Finderglücke zusammengetragenen Guckkasten- 
dichtungen hat eine dramatische Form. 

Herrmann indeß wendet viel Fleiß und viel Scharfsinn auf, seine 
These zu erweisen. Nach meiner Ansicht leider vergebens. 

Im »Prolog« zum » Neueröffneten moralisch-politischeu Puppenspiel« 
(W.A.XV1 3,57) heißt es: Ach schau sie, guck sie, komm herbei De 
Papst und Kaiser und Klerisei. Diesen Prolog möchte Herrmann (S. 14) 
— kühn genug — weniger auf das ganze »Puppenspiel«, als auf sei- 
nen ersten Teil, das »Jahrmarktsfest« beziehen ; die citierten Worte 
würden die angekündigte Dichtung in die Nähe des Guckkastens 
rücken. Denn sie sind nichts anderes wie eine Lieblingswendung 
der ihre Raritäten anpreisenden Guckkastenleute. Freilich vermissen 


Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 979 


wir sie in den von Herrmann aufgefundenen Guckkastendichtungen. 
Allein am 10. September 1770 schreibt Goethe an Engelbach: Jeder 
hat doch seine Reihe in der Welt, wie im Schönerraritätenkasten. Ist der 
Kayser, mit der Armee vorübergezogen. Schau sie, Guck sie, da kommt 
sich die Pabst mit seine Klerisey. Augenscheinlich waren also Goethe 
die Worte im gedachten Sinne geläufig. Allein ich kann mich nicht 
überreden lassen, daß eine Dichtung, in deren Prolog (wenn er wirk- 
lich als solcher und nicht als Prolog des ganzen »Puppenspiels< 
gelten soll) beiläufig die Wendung eines, seine Raritäten anpreisen- 
den Guckkastenmannes mit unterläuft, ursprünglich als Raritäten- 
kastendichtung gedacht sein müsse. 

Freilich bringt Goethe einen Raritätenkastenmann nicht auf die 
Bühne. Es ließe sich also annehmen (wenn wir in Herrmanns Ge- 
dankengang uns versetzen), Goethe habe ihn absichtlich verbannt, 
um nicht einen Raritätenkastenmann in einer Raritätenkastendichtung 
auftreten zu lassen. Solche Witzchen lägen der Romantik näher als 
dem jungen Goethe. Allein Herrmann selbst belehrt uns, daß der 
Schattenspielmann den Guckkastenmann in unserem Stückchen ver- 
trete (S. 40f.). Seine Produktion ist auf der Bühne leichter darzu- 
stellen, als die des Genossen vom Guckkasten. Daß nämlich beide 
Künste von Einem gelegentlich ausgeübt worden sind, belegt Herr- 
mann aus einer Dichtung von 1798, die den Refrain des Goetheschen 
Schattenspielmanns Orgelum, Orgelei, Dudeldum, Dudeldei (Goethe: Or- 
gelum orgeley dudeldumdey) bietet, in der ferner Goethes Worte 
Lichter weg! mein Lämpchen nur anklingen. Auch radebricht Goethes 
Schattenspielmann wie ein Guckkastenmann. Wenn nur die ange- 
zogene Dichtung von 1798 nicht selbst von Goethe abhängig ist! 
Herrmann macht allerdings wahrscheinlich, daß es nicht der Fall ist. 
Immerhin bliebe die Thatsache, daß statt eines Guckkastenmannes ein 
Schattenspieler bei Goethe erscheint, noch kein ausreichender Beweis 
für die Hypothese. 

Ich fasse zusammen: 1) Herrmanns Vermutung, Goethe habe 
ursprünglich eine Art dramatisierter Guckkastendichtung geplant, 
widerspricht der Thatsache, daß. Guckkastendichtungen (wenigstens 
soweit Herrmann uns mit ihnen bekannt macht) niemals dramati- 
sche Form haben, ja durch den Uebergang zur dramatischen Form 
ohne Zwischenstufe zu Marionettenspielen würden. 2) Die Verse des 
»Prologes« geben keinen zwingenden Beweis. 3) Der Schattenspiel- 
mann, der den Guckkastenmann in Goethes Spiel ersetzt, scheint 
nicht durch die ursprüngliche Absicht einer Guckkastendichtung be- 
dingt zu sein. 

Herrmann sucht indeß nach ‚weiteren Stützen für seine Hypo- 

64 * 


980 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


these ; auch sie erweisen sich bei näherer Prüfung als unhaltbar. 
Er vermutet, daß Goethe zur Zeit, da er die Wendung von über- 
lebter Gespreiztheit zur Andacht für das Unbedeutende durchmachte, 
nicht nur Puppenspiel und Volkslied, sondern auch den Guckkasten 
und sein Lied ernst zu nehmen beginnt (S. 16 ff). Er liest insbe- 
sondere aus den oben citierten Worten an Engelbach heraus, daß 
dem jungen Goethe »zum ernst erfaßten Symbol des unaufhaltsamen 
Flusses im Weltenlauf und im Schicksal des Einzelnen< ward, >was 
den andern »Gebildeten< der Zeit ein Sinnbild der Lächerlichkeit 
ist<. Wie im Volkslied Misachtetes, wird ihm im Puppenspiel und 
Guckkasten Ver achtetes lieb und wert. Ohne Zweifel — das ist 
vom Verf. hinreichend belegt (S. 35f) — hat das aufgeklärte 18. 
Jahrhundert für den Guckkasten nur ein Lächeln der Verachtung 
übrig und nennt in diesem Sinne Dinge, die man herunter und lächer- 
lich machen wolle, Schöne Raritäten, schöne Spielwerke (Zedler a. a. 0.), 
Allein ich sehe in den von Herrmann angeführten Aeußerungen 
Goethes keine Verklärung des Begriffes Raritätenkasten : der Brief 
an Engelbach ist — wie mir scheint — durchaus humoristisch ge- 
halten und verwertet das Wort im ironischen Sinne ; ebenso wie, noch 
in der Zeit überlebter Gespreiztheit, die Verse, die Goethe in das 
Stammbuch von Friedrich Maximilian Moors am 28. August 1765 ge- 
schrieben hat (Der junge Goethe I 85), oder wie das Gedicht von 
Johann Benjamin Michaelis, das kurz nach Goethes Abgang in Leipzig 
(24. November 1768) erschien. Und endlich Herrmanns Hauptstiitze; 
die oft citierte Stelle des Aufsatzes »Zum Shakespeares Tag«: Shake- 
speares Theater ist ein schöner Rarstäten Kasten, in dem die Geschichte 
der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaaren Faden der Zei 
vorbeywallt. Hier scheint ja wirklich die symbolische Verwertung des 
Raritätenkastens durchaus ernst und respektvoll zu sein. Herrmann 
selbst gesteht zu (S. 43): »Eine so übererhabene Stellung freilich hat 
das Motiv nicht lange behaupten können«, und er stellt den Brief 
Goethes an Betty Jacobi (W. A. IV 2, S. 118f.) daneben, in dem es 
wieder ganz ironisch heißt : Unterdessen guckt man in einen Schöne- 
raritätenkasten, wenn man keine Oper haben kann. Allein ist in dem 
Aufsatze »Zum Shakespeares Tag< das Symbol wirklich so erhaben 
gefaßt? Ich glaube nicht; wenn ich näher zusehe, bleibt nur die eine 
Thatsache bestehen, daß Shakespeare, der schwärmerisch geliebte, mit 
einem Raritätenkasten in einem Atem genannt ist ; dies aber nicht ge- 
rade, um Shakespeare ein besonderes Compliment zu drechseln, und von 
einem Jüngling, der sich nicht scheut wie Lawrence Sterne Erhabenstes 
und Niedrigstes zu verbinden. Den citierten Worten (Shakespeares 
Theater ist ein schöner Raritätenkasten ..) folgt der Satz: Seine Plane 


Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 981 


sind, nach dem gemeinen Stil su reden, keine Plane, aber seine Stücke 
drehen sich alle um den geheimen Punckt, (den noch kein Philosoph 
gesehen und bestimmt hat) in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die 
prätendierte Freyheit unseres Willens, mit dem nothwendigen Gang 
des Ganzen zusammenstösst. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich an- 
nehme : man hat bisher in diesen Worten allgemein das Bekenntnis 
gesehen, daß Goethe damals den Künstler Shakespeare unter- 
schätzt hat. Er giebt den dramatischen Techniker Shakespeare 
preis, wie es theoretisch vor ihm Gerstenberg, praktisch er selbst im 
»Gottfried von Berlichingen«, theoretisch und praktisch nach ihm 
Lenz gethan hat. Gegen die Theorie, Shakespeares Dramen seien 
nur ein schöner Raritätenkasten, sendet Herder 1773 in den Blättern 
»Von deutscher Art und Kunst< seinen Shakespeareaufsatz in die Welt 
und macht den Briten zum Bruder des Sophokles (vgl. R. Haym, Herder 
nach seinem Leben und Wirken I 435 ff). Goethe aber — so darf, 
was er sagt, aus der Rhetorik des Sturmes und Dranges füglich in 
Prosa umgesetzt werden — Goethe behauptet: »Shakespeares Theater 
ist zwar nur ein schöner Raritätenkasten; aber ein Raritätenkasten, 
in dem nicht Puppen an dem sichtbaren Faden des Guckkasten- 
mannes, sondern die Geschichte der Welt an dem unsichtbaren Faden 
der Zeit vorbeiwallt<; d. h. vom Standpunkt künstlerischer Form 
steht es nicht höher als ein Raritätenkasten, aber sein Gehalt ist 
weit tiefer. Und mit gleicher Einschränkung geht es weiter: »Seine 
Plane sind zwar keine Plane, aber seine Stücke drehen sich ... .< 
Ich sehe hier nur dies: ein junger Sturm- und Drangkerl, der mit 
Sterneschem Humor Höchstes und Niedrigstes zusammenwirft, greift, 
seine Bewunderung für Shakespeares Ideengehalt auszudrücken, zu 
scharfen Contrasten: hie Raritätenkasten, dort Geschichte der Welt; 
hie Planlosigkeit, dort der »geheime Punct<. Eine besondere Wert- 
schätzung des Raritätenkastens kann ich aus diesen übertreibenden 
Antithesen, die mehr preisgeben, als nötig ist, nicht herauslesen ?). 

Also auch vom Standpunkte einer neuen künstlerischen Bewer- 
tung des Guckkastens scheint mir Herrmanns Beweis nicht erbracht. 
Der Umweg aber, den nach seiner Ansicht die Entstehung des Jahr- 
marktsfestes gemacht haben soll, ist umsoweniger glaublich, als — 
wie er (S. 111ff.) selbst ausführlichst darthut — Dramen, die einen 
Jahrmarkt zum Gegenstand haben, längst und in reichster Auswahl 
vor Goethe geschrieben worden sind. Und wenn Herrmann, um die 


1) 8. 283, in den Nachträgen, meint Herrmann, Minor habe (Studien zur 
Goethephilologie. Wien 1880 S. 8ff.) die ernste Erfassung des Raritätenkastens 
durch Goethe hervorgehoben. Ich kann nicht erkennen, welche Worte Minors 
hier gemeint sein sollen. 


983 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


Wandlung von einer Guckkastendichtung zu einem Drama begreiflich 
zu machen, sich (S. 43) auf Schönborns Wort beruft, daß Goethen da- 
mals sich alles gleich ins Dramatische verwandelt habe, so sehe ich 
nicht ein, warum sich der Stoff des »Jahrmarktsfestes« nicht sofort ins 
Dramatische verwandelt und den Umweg durch eine problematische 
Guckkastenconception genommen haben soll’). 

Neben all den Argumenten, die Herrmann vorbringt, bleiben 
mir nur zwei Sätze bestehen : 1) Goethe liebt es damals, in Sternes 
humoristischer, Höchstes und Niedrigstes verbindender Weise den 
Weltlauf mit einem Raritätenkasten zu vergleichen. 2) Goethe will 
im »Jahrmarktsfest< den Weltlauf symbolisch darstellen. — Einen 
zwingenden Schluß kann ich aus diesen Praemissen nicht ziehen. 
Sehr begreiflich, daß Goethe im »Prolog<, eingedenk seiner Absicht 
ein Weltbild zu geben, wieder einmal die Wendung des Raritäten- 
kastenmannes zur Ankündigung verwendet. Liegt ja, was er anzu- 
kündigen hat, eine Jahrmarktsdichtung, dem Milieu des Raritäten- 
mannes nicht so fern. Als typische Erscheinung wird dieser zwar 
nicht im »Jahrmarktsfest< auftreten, aber wenigstens der ihm ver- 
wandte Schattenspielmann, der dramatisch besser verwertbar ist. 
Das ist jedenfalls viel einfacher und natürlicher, als daß ein Schatten- 
spielmann in einer Guckkastendichtung vorkommen soll. Ja über- 
haupt, welche Züge einer Guckkastendichtung blieben denn der 
sogenannten älteren Partie noch anhaften? Kaiser, Papst und 
Klerisei stecken doch bestenfalls nur im Estherdrama, das Herrmann 
der jüngeren Partie zuschreibt; der älteren verbleiben nur die Jahr- 
marktsgestalten Tyroler, Bauer, Nürnberger, Wagenschmeermann 
u. 8s. w. Und da soll der Fortschritt von der ersten Conception zu 
der späteren Fassung in dem Hinzutreten des Jahrmarktsmotivs 
liegen ? Nach Herrmanns eigner Scheidung gerechnet, enthält aber 
grade die ältere sog. Guckkastenpartie die Jahrmarktsleute, die 
jüngere, auf der Jahrmarktsform aufbauende aber so etwas, wie 
Kaiser, Papst und Klerisei. 

Ich kann also nur annehmen, daß Goethe von Anfang an eine 
dramatische Jahrmarktsdichtung geplant habe. Was für Herrmann 
zweite Phase der Entstehung des Stückes ist, ‘die Conception eines 
Jahrmarktsdramas, das stellt sich in meinen Augen als Urconception 
der ganzen Dichtung dar. Sehe ich indes von jener Hypothese ab, 


1) Ganz unverständlich bleibt mir Herrmanns Bemerkung (S. 15). »Da (in 
dem Briefe an Engelbach) also haben wir die gesuchten Worte, so lange klingt 
das Guckkastenmotiv schon im Dichter, bis nach Straßburg zurück haben wir 
den ersten Keim des späteren »Jahrmarktsfestes« zurückzuverlegen«e. Aber Goethe 
hat doch schon weit früher Raritätenkasten und Leben verglichen! 


Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 988 


so kann ich fast allem Folgenden bestens zustimmen. Sobald wir, im 
zweiten Abschnitt des ersten Capitels, »Jahrmarkt und Messe< 
(S. 45—59), das Gebiet jener Hypothese Herrmanns verlassen, stehen 
wir sofort auf sicherem Boden, die Gelehrsamkeit des Verf.s kann 
sich ruhig entfalten. Vielleicht sucht Herrmann allzu ängstlich nach 
dem Jahrmarkt, der unserer Dichtung zugrunde liegt, um ihn zu- 
letzt (S. 49) in Darmstadt und für den 30. November 1772 festzu- 
legen. Waren nicht vielmehr die verwerteten Jahrmarktstypen dem 
Dichter von Kindesbeinen an geläufig? Um so vorsichtiger und 
kritischer stellt er sich gegen die Verwertung der Briefstelle an 
Kestner vom 14. April 1773 (W. A. IV 2 8.79): Wir haben einen 
Teufels Reiter hier, und Comödien und Schatten und Puppenspiel, das 
könnt ihr Lotte sagen; hätt’ ich ihr all gewiesen wenn sie kommen 
wäre, nun aber — wärs auch gut — Schattenspiel Puppenspiel. Mit 
Recht weist Herrmann die »an äußere Uebereinstimmung sich hal- 
tende Biographenphilologie< ab, die in diesen Worten, vielleicht 
einer Reminiscenz an Wetzlarer Jahrmarktsfreuden, die Quelle zu 
Deutungen fände, wie: Plundersweilern ist Wetzlar, der Amtmann 
ist Vater Buff u.s.w. Ebenso vorsichtig wird die Identität des 
Wagenschmeermanns und des Gießener Schmid abgelehnt, trotzdem 
jener sich ankündigt: Ya! ya! Ich und mein Esel sind auch da, 
während von diesem Goethe an Kestner schreibt (W. A. IV 2 S.51): 
Als ein wahrer Esel frißt er die Disteln ... und schreit dann sein 
Critisches I! a! ob er nicht etwa dem Herrn in seiner Laube bedeuten 
möchte: ich binn auch da. An dieser Stelle bekennt der Verf. sich ent- 
schieden gegen die Parallelstellenphilologie und betont, daß mehr oder 
minder wörtliche Uebereinstimmung zweier Stellen in verschiedenen 
Goetheschen Werken noch lange nicht ihre gleichzeitige Entstehung 
beweist, daß wir vielmehr zunächst einmal über eine systematische 
Behandlung dieses Gesamtproblems verfügen müssen, ehe wir in 
Einzelfällen urteilen. Die obencitierte Parallele möchte allerdings auch 
er zu chronologischen Zwecken henutzen, ebenso die Anspielung des 
>Jahrmarktsfestes< (V. 336 ff.) auf den — wie Herrmann meint — 
angekündigten, aber noch nicht veröffentlichten »Teutschen Merkur«. 
Kühner scheint es mir, wenn Herrmann die Uebertragung des Be- 
grifis eines Jahrmarkts aufs litterarische Gebiet im Kreise Goethes 
und Mercks chronologisch, und zwar auf den Herbst 1772 festlegen 
und auch auf diesem Wege ein Mittel der Datierung gewinnen 
will, während er gleichzeitig sehr vorsichtig die mit verwandter 
Terminologie arbeitende Recension der Frankfurter Gelehrten An- 
zeigen vom 20. October 1772 (DLD 7/8 S. 556 f.), die Scherer für 
Goethe beansprucht hatte, mit triftigen Gründen Goethe abspricht, 


984 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


Im dritten Abschnitt des ersten Capitels, »der Einfluß des Hans 
Sachs« (S. 60—110), konnte Herrmann sein bestes Können zeigen. Ich 
sehe von seiner (auf jener mir unglaubhaften Zweiteilung des Stückes 
ruhenden) Vermutung ab, daß die »zarten, kurz andeutenden Stellen 
der eigentliche Kern des Spielse dem December 1772 und Januar 
1773, »die deutlich hanssachsmäßigen Scenen< dem Februar und 
März angehören (S. 63). 

Herrmann scheidet innerhalb der eigentlichen Jahrmarktsdar- 
stellung »Zentrumscenen< und »Peripheriescenen<, die stetig ab- 
wechseln und vergleicht diese Technik dem »zweiten Revuetypus< des 
Hans Sachs, der sich nicht mehr (wie die ältesten Fastnachtsspiele 
Nürnbergs) mit bloßer Aneinanderreihung unverbundener Monologe 
begniigt. Er constatiert einen Einfluß von Hans Sachsens »Schönbart- 
spruch« vom 27. Januar 1548 auf den Untertitel (»Schönbartspiel«) 
des >Jahrmarktsfestes<, auf das Streben, einzelnen Erscheinungen 
der Revue einen verborgenen Sinn zu leihen, endlich auf die 
dreihebigen Verse des Stückes; ferner, daß Goethes Hans Sachs- 
studien in Darmstadt beginnen, und daß er dort die spätere Nürn- 
berger Folioausgabe und den Kemptner Quartdruck von 1612 ff. be- 
nutzt hat. Dagegen machen Herrmanns Untersuchungen wahrschein- 
lich, daß Goethe zu dem eingelegten Estherdrama nicht durch die 
Bearbeitungen des Nürnbergers gekommen ist, sondern wohl durch 
ein auf die englischen Comödianten zurückzuführendes Stück, das 
Goethe vielleicht einmal auf einem Jahrmarkt spielen sah. Hans 
Sachs hat wohl nur zur Ausgestaltung beigetragen, vor allem in der 
Scenenführung, wenigstens des ersten Actes; dann in der Costüm- 
losigkeit, mit der Goethes Mardochai von Herrenhut und Herren- 
hag redet. 

Von Hans Sachs ab führt auch die Untersuchung des Goethe- 
schen Knittelverses (S. 86 fl... Ohne auf das Detail der statisti- 
schen Studie einzugehen — ich verweise auf Köster, der diesen 
metrischen Beobachtungen nicht zustimmen kann (vgl. DLZ. 1901 
Sp. 283) — bemerke ich nur, daß Herrmann aus metrischen Gründen 
zu der Annahme kommt, Gryphius sei mit der Einlage seines »Peter 
Squentz< formal und stofflich Goethes Vorbild. Da wäre einerseits 
Minors Behauptung, der moderne Knittelvers sei gar nicht auf Hans 
Sachs, sondern auf Gryphius zurückzuführen, glänzend bestätigt 
(S. 97), andrerseits festgestellt, wie Goethe zu dem Drama im Drama 
kommt. Ueber diese Rahmenform hätte ich gern Ausführlicheres ver- 
nommen. Nahe lag es ja sicherlich, einem Jahrmarktstücke ein zwei- 
tes Drama einzufügen. Denn dramatische Aufführungen gehören zu 
den stehenden Nummern der Jahrmarktbelustigung. Unter den äl- 


Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 985 


teren Jahrmarktdramen, die Herrmann später anführt, findet sich 
etwa (S. 117f.) ein Stück von Ferdinand Felix Ellensonn, das — 
wenn anders ich den Titel richtig interpretiere — eine »Comoedie 
in der Comoedie< enthält. Immerhin hat Goethe hier sein erstes 
Drama im Drama geliefert. Und auch ohne den Nachweis, daß 
Gryphius mit seinem »Peter Squentz«< eingewirkt hat, müßte da 
an den »Sommernachtstraum< erinnert werden. Die Shakespeare- 
sche Art, Stücke ins Stück zu versetzen, das Schauspielwesen auf 
die Bühne zu bringen, hat bekanntlich der Romantik besondere 
Freude gemacht. Und so begreifen wir die große Vorliebe der Ro- 
mantiker für Goethes »Jahrmarktsfest«, das sie freilich fast aus- 
schließlich in seiner späteren Form nur kannten. Oben konnte schon 
ein Wort Tiecks citiert werden, das seine Vorliebe für das Stück 
bezeugt; Haym (»Die romantische Schule« S. 97) vergißt nicht, den 
Einfluß zu bemerken, den das »Jahrmarktsfest« auf den jungen 
Dichter geübt hat. Anderes sei später erwähnt. Herrmann hat 
dieser Nachwirkung des Stückes sein Augenmerk nicht geschenkt ; 
er erwähnt nur einmal beiläufig Chamisso (S. 170), dessen »For- 
tunat« an einer Stelle von der späteren Gestalt des Stückes ab- 
hängig ist. Ich habe (Euphorion IV 144) gezeigt, wie dieses Ab- 
hängigkeitsverhältnis durch die romantische »Sprachlehre<« von 
Tiecks Schwager Bernhardi (1803) bedingt ist, der seinerseits nicht 
versäumt, ein Wort zur Empfehlung des »Jahrmarktsfestes< zu 
sagen. 

Den metrischen Vergleich fortsetzend (S. 99) möchte Herrmann 
erhärten, daß auch, was das Verhältnis der metrischen Accente 
innerhalb des Verses zu den prosaischen Satzaccenten der gleichen 
Wortgruppe betrifft, Goethe in Manchem Gryphius näher stehe als 
Hans Sachs, während die Verwertung des Enjambements das umge- 
kehrte Verhältnis zeigt. 

Auf sprachstilistischem Gebiet (S. 164) erinnert an Hans Sach- 
sens Brauch die Unterdrückung des Personalpronomens ; im Einzel- 
nen weist sich da allerdings ein anderes Bild. Obendrein hat Goethe 
sie schon längst geübt. Mit Recht sucht Herrmann die Quelle des 
Goetheschen Brauches nicht in der Juristensprache. Allein auch 
Luther, die Schriftsteller des 16. Jahrhunderts überhaupt und das 
Volkslied scheinen mir nicht die eigentlichen Muster. Vielmehr 
dürfte schon der Frankfurter Dialekt und das Streben des Stür- 
mers und Drängers, seine Sprache dialektisch zu färben, hier am 
stärksten gewirkt haben. Auch Köster hat (a.a.0.) auf das Sach- 
senhäuser Deutsch hingewiesen. Wiegerne läßt ferner Frau Aja das 
Personalpronomen fallen. Diese Eigenheit des »böotischen Dialekts« 


986 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


haben Lichtenberg und Nicolai in ihren Parodien des Goetheschen 
Stiles nicht vergessen (vgl. Erich Schmidt, Richardson, Rousseau 
und Goethe S. 276 ff.). 

Juristendeutsch hingegen und wiederum nicht Hans Sachsisches 
erblickt Herrmann in der Vorliebe für Verba auf -ieren (S. 109). 
Ich meine, die Frage ist zu compliciert, um sie so rasch zu beant- 
worten. Sicher gehört die Vorliebe für diese Verba zu den charak- 
teristischen Eigenheiten von Goethes Stil, auch auf seiner Höhe. 
Schon 1808 hat Fr. Schlegel in der großen Recension der ersten vier 
Bände von Goethes Werken (Heidelbergische Jahrbücher S. 145 ff. 
= Kürschners Deutsche National-Litteratur CXXXXII 369 ff.; insbe- 
sondere S. 402 ff.) unter den Fremdworten der »Lehrjahre< eine 
Menge solcher Verben festgestellt. Und doch dürften sie im »Jahr- 
marktsfest< und im »Meister<« kaum auf eine Quelle zurückgehen ; 
jedenfalls ist dort eber an Hans Sachs zu denken, als hier. Sie ge- 
hören auch nicht zu den Programmpunkten der Sturm- und Drang- 
sprache, wie etwa die Auslassung des Personalpronomens. Lenzens 
Aufsatz »Ueber die Bearbeitung der deutschen Sprache im Elsaß, 
Breisgau und den benachbarten Gegenden« (in Tiecks Ausgabe II 
321) möchte sie allmählich durch nationale Wörter ersetzt wissen ; 
ja er fragt, sicher ohne an Hans Sachs zu denken : »Sollten unsere 
alten Schriftsteller... für ähnliche Umstände keinen Namen gehabt 
haben ?< 

Im Einzelnen habe ich zu diesem Abschnitte noch zu bemerken: 

S. 62 citiert Herrmann die Briefstelle an Kestner vom 11. Fe- 
bruar 1773: Ehstertage schick ich euch wieder ein ganz abenteuerlich 
novum. (W. A. IV 2, S. 64). Er weiß sie auf etwas anderes als 
das >Jahrmarktsfest< nicht zu deuten. Scherer (QF. XXXIV 15) 
hat die Stelle auf das »Concerto dramatico< bezogen; andere — 
so weit ich mich erinnere — auf den Götz. 

S. 79 wirft Herrmann die Frage auf, ob das eingelegte Esther- 
spiel als Puppenkomödie gedacht war, um sie in längerer Erörte- 
rung zu verneinen. Sein Hauptargument ist — soviel ich sehe —, 
daß der Gesamttitel des »Neueröfneten moralisch-politischen Puppen- 
spiels« nicht stichhaltig sei: »Sollte man sich thatsächlich das ganze 
Jahrmarktsfest als eine Vorstellung auf dem Puppentheater vor- 
stellen, dann würde damit der besondere Marionettencharakter des 
Estherspiels so gut wie ausgeschlossen sein — denn Puppenspiel im 
Puppenspiel wäre ein Ding der Unmöglichkeit, würde von nieman- 
dem mehr richtig: eben als Puppenspiel begriffen werden; der eine 
Spaß würde den andern aufheben<. Ich sehe nicht ein, warum nicht 
Rahmen- und Estherspiel beide mit Marionetten gespielt werden 


Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 987 


könnten; das wäre dann eine Uebertragung von menschlichen Schau- 
spielern auf Puppen, hier wie dort. S. 99 holt sich Herrmann einen 
weiteren Beweis aus »Peter Squentz<, der natürlich nichts mit Ma- 
rionetten zu thun hat. Thatsächlich wurde einerseits das Stück in 
seiner späteren Gestalt zu Ettersburg durchaus von Menschen dar- 
gestellt, während andrerseits der Gesamttitel des »Neuerdfneten ... 
Puppenspiels< die Möglichkeit zuläßt, Rahmen- und Estherspiel von 
Puppen spielen zu lassen. Freilich dürften dann die Puppen des 
Rahmenspiels nicht zu glauben scheinen, daß sie ein Puppenspiel 
vor sich hätten. Das Ganze wäre in die Puppenwelt versetzt. 

Der vierte Abschnitt des ersten Kapitels »Theater und bildende 
Kunst« (S. 111—144) bringt endlich die litterarischen Voraussetzungen 
der Form des Jahrmarktspieles. Da ich nicht glaube, daß Goethes 
Conception von einer Guckkastendichtung zu einem Drama sich ent- 
wickelt habe, vielmehr annehme, daß sich auch hier dem jungen 
Dichter gleich Alles ins Dramatische verwandelte, sähe ich gerne 
diese Dinge an etwas früherer Stelle des Buches behandelt. Doch 
freuen wir uns lieber der Fülle des Gebotenen! Weiterbauend auf 
einem von Minor zuerst betretenen Boden (ADA. XIII 174 f.; vgl. 
Herrmann S. 113 Note 1) bringt der Verf. für die Zeit von 1618 
bis 1798 nicht weniger als 32 Jahrmarktdramen zustande, italieni- 
sche, Jesuitenstücke, französische, deutsche (insbesondere aus Ham- 
burg und Wien); freilich kann er nicht für alle auch den Druck 
nachweisen, so nicht für einen »Jahrmarkt von Rumpelsdorf<, der 
etwa 1769 gespielt worden sein dürfte (S. 113 f. 119. 132), und der 
vielleicht manches Licht auf Goethes Dichtung werfen könnte. 

Es liegt mir fern, hier Nachträge bieten zu wollen. Hinweisen 
will ich aber auf ein »Ballet pantomime«, betitelt »Die Tyrolische 
Kirchweihe«, das Kurz-Bernardon am 31. Juli 1766 zu Nürnberg 
aufgeführt hat (vgl. Ferdinand Raab, Johann Joseph Felix von Kurz 
genannt Bernardon. Frankfurt a. M. 1899 S. 156). Es mag wohl 
unserem Stoffkreise angehören. Ferner macht mich A. Baragiola 
auf das beliebte Stück von Alberto Nota (1775—1847), »La fiera«, 
aufmerksam. Es wurde von Karl Blum deutsch bearbeitet als »Der 
Ball von Ellerbrunn< (1835; vgl. Goedeke 3, 936 N. 51); Blums 
Lustspiel, das sich auf dem Titel ausdrücklich auf Notas Dichtung 
bezieht, zeigt allerdings nur mehr äußerst wenig Jahrmarktselemente. 
Es ist in Reclams Universalbibliothek (N. 601) allgemein zugänglich. 

Herrmann gibt in knappster Form eine Analyse und Charakteri- 
stik der Jahrmarktstücke und deutet an, was Goethe von ihnen, die 
ihm wenigstens in ihrer typischen Form geläufig waren, gelernt ha- 
ben kann. In gleichem Sinne verweilt er bei den bildlichen Dar- 


/ 


988 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 12. 


stellungen von Jahrmarktscenen (Hogarth, Chodowiecki u. s. w.), end- 
lich bei der Bilderlitteratur der sogenannten »Ausrufe<; auch hier 
finden sich Typen, die bei Goethe wiederkehren (Bauer mit Besen, 
Milchmädchen). 

An dieser Stelle sei riihmend hervorgehoben, wie sehr einzelne 
von Herrmanns Ausführungen durch die zehn, dem 18. Jahrhundert 
entstammenden Abbildungen an Klarheit gewinnen. Raritätenkasten- 
mann und Schattenspieler, noch mehr der Bauer mit den Besen oder 
die Savoyarden werden uns durch die graphische Darstellung weit 
lebendiger, als durch irgendwelche lange Beschreibung. Deisch, Gabler, 
Drouais und, wie die Zeichner alle heißen, sie haben einem besse- 
ren Verständnis der Dichtung wesentlich vorgearbeitet. 

Für das zweite Kapitel des Buches, »Bühnengeschichte«, be- 
gnüge ich mich mit Andeutungen. Der erste Abschnitt behandelt 
»Goethes Bearbeitung« (S. 165—200); zunächst die Aufführungen, 
die 1778f. zu Ettersburg stattfanden. Eine bequem benutzbare 
Grundlage zu einem Vergleich der verschiedenen Goetheschen Fas- 
sungen bietet Herrmann im »Anhang< (S. 237—266), wo er die 
1774 gedruckte Fassung und im Apparat die Abweichungen der 
Handschriften von 1778 wiedergiebt. »Der junge Goethe< hatte nur 
die Form von 1774 abgedruckt, die Weimarische Ausgabe indes 
war von der Ausgabe letzter Hand ausgegangen; ihr Apparat — 
sagt Herrmann — mit allen seinen Varianten ermöglicht weder 
eine Reconstruction der ältesten gedruckten Form, noch der Hand- 
schriften von 1778. Herrmann benutzt von diesen Handschriften im 
Wesentlichen nur eine (Mi), zieht die beiden anderen Hs und H;, 
die er (vgl. S. 177) auf eine verlorene Handschrift *Hg.s zurück- 
führen möchte, nur gelegentlich heran. Den Nachdrucken der ersten 
Fassung entnimmt Herrmann nur 19 Abweichungen, von denen 13 
mit Hı stimmen; vielleicht hat man also der Weimarer Aufführung 
ein Nachdruckexemplar zugrunde gelegt. Die Textgeschichte nach 
1778 ist nicht berücksichtigt. 

Rasch mustert Herrmann (S. 168 ff.) die Aenderungen von 1778: 
Die etwa 50 Verse, um die das Eingangsgespräch von Doktor und 
Marktschreyer vermehrt wird; Herrmann findet Anklänge an Dide- 
rots naturalistische Bühnenlehre und Anspielungen auf das Gothai- 
sche Hoftheater. Die Streichung der Anspielungen auf den Land- 
katechismus und auf die Flachsland. Die Umwandlung des Esther- 
dramas. Die Satire auf Leuchsenringsche Empfindsamkeit entfällt, 
wohl um nicht nach >Lila« und nach dem »Triumph der Empfind- 
samkeit< ein drittes Mal das gleiche Thema im selben Jahre zu 


Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 989 


bringen. Für zeitgeschichtlich - persönliche tritt rein litterarische 
Satire ein, Parodie der regelmäßigen Alexandrinertragödie, als ob 
solche Dramatik typisch für das Repertoir der niedersten Komö- 
diantenbanden wäre, wie Herrmann einwendet. Er sieht übrigens 
in dem neuen Estherfragment nur eine Parodie der klassizistischen 
Tragödie überhaupt, nicht eine Parodie von Racines Esther. Un- 
bewußt stimmt er da mit einem beachtenswerten Zeugen überein. 
Schon Wilhelm Schlegel sagt (Sämmtliche Werke X 93): »Die Ge- 
schichte der stolzen Vasthi hat wohl nie jemandem im Ernste tra- 
gisch geschienen, außer herrschsüchtigen Frauen oder geplagten 
Männern, weil die wohlmeinende Absicht des Ahasverus wenig Er- 
folg für sie gehabt zu haben scheint. Aber die That der Esther ist 
wirklich einmal als Trauerspiel bearbeitet, um einen andächtigen und 
ausschweifenden Hof zur Abwechselung auch von der Bühne herab 
zu erbauen. Die Piété pries Ludwig den Vierzehnten in einem präch- 
tigen Prolog dazu, und damit die Demoiselles de Saint-Cyr Ge- 
legenheit hätten ihre Geschicklichkeit in geistlichen Liedern anzu- 
bringen, und Madame de Maintenon zugleich unter dem Bilde der 
Esther geschildert werden könnte, mußte diese, der doch Alles auf 
die Geheimhaltung ihrer Geburt ankam, eine ganze Schar junger 
Jüdinnen im Königlichen Pallast in der Religion ihrer Väter er- 
ziehen. Konnte die tragische Muse trotz all ihrer Würde sich ent- 
halten zu lächeln, wenn ihr Racine dergleichen Dinge zumuthete ? 
In der That, mancher Zug seines Trauerspiels würde mit geringer 
Veränderung oder Verstärkung in der Esther, woraus auf dem Jahr- 
markt zu Plundersweilern einige Scenen vorgestellt werden, einen 
ganz schicklichen Platz finden. Wer kennt nicht diese unvergleich- 
liche Posse? Wer muß nicht jedesmal über die herzbrechenden Ge- 
spräche zwischen dem Kaiser Ahasverus und seinem Minister Haman, 
zwischen Esther und ihrem Hofjuden Mardochai, von Neuem lachen ?« 
Wie Herrmann vermißt auch Schlegel augenscheinlich die Verwer. 
tung von »ein paar besonders zum Spott einladenden Scenen Ra- 
cines<. Auch in den Wiener Vorlesungen wird Racines Name von 
Schlegel gelegentlich des »Jahrmarktsfestes« nicht genannt; sie reden 
nur von »Goethes meisterlicher Parodie des französischen Trauer- 
spiels< (a.a.O. VI 415). 

Mit Recht lehnt Herrmann auch ab, daß beim Ahasverus der 
neuen Fassung an Friedrich den Großen zu denken sei. Im Ganzen 
stellt er einen theatralischen Fortschritt fest; der geheime Sinn der 
Dichtung sei indes bedenklich angetastet. 

Weiterforschend kann Herrmann den Beweis erbringen, daß das 
»Jahrmarktsfest«e in der neuen Bearbeitung >fdrmlich eine Oper< 


$90 «Gat. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


geworden ist (S. 183), vielleicht im Wettbewerb mit Gotters komi- 
scher Oper >Der Jahrmarkt«, die seit 1776 auf dem Gothaer Re- 
pertoir stand. Er möchte sogar (S. 184) an einer Stelle Einfluß 
Gotters auf die Bearbeitung von 1778 annehmen. Herangezögen 
wird jetzt (S. 186) die von der Herzogin Anna Amalia herrührende 
Composition des >Jahrmarktsfestes< (eine Probe: S. 268 ff.), und sie 
leitet unsern glücklichen Entdecker zu dem auf dem Titelblatte sei- 
nes Buches angekiindigten ungedruckten Versen Goethes; es sind 
sieben weitere Strophen des Bänkelsängerliedes, freilich recht schwer 
deutbare (S. 191f.; vgl. S. 195). 

Von der weiteren Nachgeschichte der Dichtung erwähnt Herr- 
mann im Wesentlichen nur die Aufnahme in die »Gesammelten 
Schriften< (1789), verweilt einen Augenblick bei dem »Neuesten von 
Plundersweilern< und endlich ausführlicher bei J. D. Falks »Jahr- 
markt zu Plundersweilern« (1800). Gelegentlich der letzten Dich- 
tung bemerkt Herrmann: »Der Umstand, daß ein großer Theil der 
humoristischen Wirkung auf die Benutzung der Goetheschen Worte 
gestellt ist, beweist, daß man damals beim Publikum auf eine Ver- 
trautheit mit dem Wortlaut des Jahrmarktsfestes rechnen durfte, 
die uns heute ganz abhanden gekommen ist<. Ich glaube oben 
ınehrfach belegt zu haben, wie geläufig der Romantik das Stück 
war, aus dem sie gelegentlich auch citiert. Und da wir wieder bei 
der Romantik angelangt sind, sei noch eine Bemerkung gestattet. 
Die von mir angeführten Worte W. Schlegels über Racines Esther 
und das »Jahrmarktsfest«< stehen in der Recension von F. W. Got- 
ters >Schauspielen« (Leipzig 1795) und beziehen sich auf dessen 
»Vasthi, ein Lustspiel in einem Akte« und »Esther, ein Schauspiel in 
sechs Akten<; Schlegel meint Goethes Estherfragment (natürlich 
die zweite Fassung) habe >»unstreitig unseren Dichter zu einer sol- 
chen Bearbeitung dieses Gegenstandes in einem ausgeführten Schau- 
spiele Veranlassung gegeben<. Er verfolgt die Verwandtschaft der 
Dichtungen Goethes und Gotters, nicht ohne einschränkend hinzu- 
zufügen: »Die komischen Farben sind in jenem Bruchstücke einer 
Haupt- und Staatsaktion weit stärker aufgetragen, als in der vor- 
liegenden Tragikomödiec. Immerhin verdient Gotter eine Stelle in 
der Nachgeschichte unseres Stückes. 

Der zweite Abschnitt des zweiten Kapitels mustert die »Moder- 
nen Aufführungen« (S. 201—231). Nicht weniger als zehn Bear- 
beitungen kann Herrmann fiir die Jahre 1866 bis 1899 nachweisen. 
Seine vergleichenden Studien lehren, daß fast alle diese Gestaltungen 
mehr oder minder von der Redaktion Emil Pohls abhängen, die 
1867 in Berlin (Wallnertheater) aufgeführt und ebenda gedruckt 


Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 991 


worden ist. So Bulthaupts Arbeit (S. 216; vgl. S. 221), so die von 
Franz Wallner (S. 219); ja selbst die Berliner Studentenaufführung 
von 1899 konnte sich dem bindenden Muster Pohls nicht entziehen, 
wenn sie auch von der zähen Bühnenüberlieferung sich zu emanci- 
pieren suchte. Diese jüngste Bühnengeschichte des Stückes wirft 
manch interessantes Licht auf deutsche Regiekunst und- Unkunst. 
Merkwürdig, wie da der »Dramaturg der Klassiker<, Bulthaupt, des- 
sen Wesen Herrmann fein und scharf umschreibt, ganz und gar zum 
Werkzeug des Theaters wird, der Goetheschen Urform am fernsten 
rückt und mit auffallendem Atavismus ganz in das Fahrwasser der 
vorgoetheschen Jahrmarktsdramen einlenkt. Solchen Versuchen gegen- 
über, die Goethes Werk im Ausstattungstrubel ersticken, möchte 
Herrmann »bei einer künftigen Goethefeier wagen, die halb scherz- 
haften, halb ernsthaften Geheimnisse der Goetheschen Seele vor 
einem Parkett von Königen der Litteraturgeschichte im modernsten 
Maeterlinkstile schemenhaft vorüberziehen zu lassen< (S. 231). — 
Zum Schlusse darf ich wohl versichern, daß ich trotz einigen 
Einwänden Herrmanns Buch für eine treflliche Bereicherung der 
Goethelitteratur halte. Es hat zur Erklärung und Deutung des 
Stückes, wie zu seiner Geschichte so umfängliches Thatsachenmaterial 
zusammengetragen, daß es unseres besten Dankes wert bleibt. 


Bern, 28. 9. 1901. Oskar Walzel. 


Studia Sinaitica No. IX/X. Select narratives of holy women from the 
Syro-Antiochene or Sinai Palimpsest as written above the old Syriac Gospels 
by John the Stylite, of Beth-Mari Qauün in a. D. 778. Edited by 
Agnes Smith Lewis M.R.A.S. (I) Syriac text. (II) Translation. London 
1900. Sh. 21 und Sh. 7. 6 d. 

Der im J. 1892 von Mrs. Lewis im Sinaikloster entdeckte und 
zwei Jahre später von ihr publicierte syrische Evangeliencodex ist 
bekanntlich ein Palimpsest, dessen oberer, aus der zweiten Hälfte des 
8. Jahrhunderts stammende, Text eine Collection von 14 Legenden 
heiliger Frauen repräsentiert‘). Diese werden nun in den beiden 
vorliegenden Heften der »Stud. Sin.< fast vollständig in Text und 
Uebersetzung mitgeteilt, nämlich die Legenden der Eugenia, Maria, 
Euphrosyne, Onesima, Drusis, Barbara, Maria, Irene, Euphemia, 


1) Vgl. darüber schon die Einleitung zur Ausgabe (»The Four Gospels in 
Syriace etc., 1894) p. VI, und dazu Wellhausen in den Nachr. d. K. G. d. 
Wissensch. zu Göttingen (1895, p. 1 ff.). Auch Lewis’ Catalog der Hss. des Ka- 
tharineuklosters (Stud. Sin. I) p. 43 ff. 


992 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


Sophia; außerdem die Legende von Cyprian und Justa, Fragmente 
aus Ephraems Hymnen über das Paradies, und das Susanna-Apo- 
kryphon. Nur bei den vier übrigen Legenden der Theodosia, Theo- 
dota, Pelagia und Thekla hat sich die Herausgeberin auf die Mit- 
teilung der Varianten zu den bereits vorhandenen Texten Assemanis, 
Gildemeisters und Wrights beschränkt. Die »Apologie des Glau- 
bens« wird übergangen, da sie schon in »The Four Gospels« (p. VIII ff.) 
publiciert worden ist; dafür teilt F. C. Burkitt in zwei Anhängen 
noch einige Stücke des untern, ursprünglichen Textes mit: ein 
Fragment des griechischen Johannesevangeliums und Fragmente der 
syrischen Thomasakten. 

Mrs. Lewis’ Fleiß und augenscheinliche Genauigkeit ist auch in 
dieser Ausgabe unverkennbar, jedoch sind es zwei Umstände, die 
deren Wert einigermaßen in Frage stellen. Daß ungefähr die 
Hälfte der Legenden, darunter gerade die umfänglichen, bereits 
von Bedjan in seinen Acta martyrum et sanct. publiciert ist, erfuhr 
Mrs. L. erst während der Drucklegung ihres Buches, ließ sich aber 
dadurch nicht stören, da sie die Herausgabe der sinaitischen Texte 
einmal versprochen, und da Bedjan >evidently« die Hss. des Brit. 
Mus. zu Grunde gelegt habe, die ja zum größten Teil jünger seien 
als die sinaitische. Ein Blick in Bedjan würde indes gezeigt haben, 
daß jene Hss. vielmehr z. Th. älter, und vor Allem sehr oft weit 
besser sind als die ihrige, und die Herausgeberin hätte bald die 
Notwendigkeit eingesehn, Bedjans Ausgabe, so unkritisch sie ist, 
genau zu berücksichtigen und eventuell auf die Originale, soweit sie 
im Brit. Mus. sind, zuriickzugehn. Das wäre ihrer Arbeit sehr zu 
Gute gekommen ') und würde dem Benutzer die Vergleichung zweier 
unzulänglicher Ausgaben erspart haben, die durch den im Ganzen 
doch recht öden Inhalt der meisten Legenden nicht erleichtert wird. 
Mußte aber einmal der vorhandene Apparat ignoriert werden, so 
hätte dem Sinaiticus doch mit den nötigen Sprachkenntnissen an 
mancher verdorbenen Stelle nachgeholfen werden können, und hiemit 
kommen wir auf den andern Punkt, in dem die Ausgabe nicht be- 
friedigt. Da Mrs. L. nicht Philologin ist, können wir es nicht ta- 
deln, daß sie von allerlei sprachlichen Eigentümlichkeiten der Hs. 
keine Notiz nimmt, und drücken auch bei manchem bedenklichen 
»sic< gern ein Auge zu; aber die ungenügende Vertrautheit mit der 


1) Die Fälle, wo Sin. das Richtige hat, sind nicht selten, so z.B. p. 5, 13 
x) „20 (Bedj. 8/50); 13,5 p ‚ausıyo (Bedj. ‚aun.oyyo); aber viel häufiger ist 
das Umgekehrte (wie z.B. 24,4 v. u. Md: l. mit Bedj. DS). Pag. 88, 15 ist 
der Text unvollständig und wird durch Bedjan 5, 414, 10—18 ergänzt. Auf die 
Einzelheiten einzugehn, ist hier nicht der Ort. 


Studia Sinaitica No.°IX/X. 998 


der Grammatik, die sich auf Schritt und Tritt äußert, überrascht nicht 
wenig '). Man merkt, daß es der verdienten Dame diesmal an dem Bei- 
stand eines gelehrten Semitisten gefehlt hat. Uebrigens hätte eine 
kritische Ausgabe natürlich auch der vorhandenen griechischen Texte 
nicht entraten können. Da solche bereits von Andern namhaft gemacht 
worden sind ?) und über den Inhalt der (z. Ih. eng verwandten) Le- 
genden Ryssel in der »Theol. Ltz.« referieren wird (s. »Dtsche Ltz.< 
1901, col. 774), so beschränke ich mich hier auf einige Einzelbemer- 
kungen. Zur syrischen Barbaralegende stimmt viel besser als die 
Bearbeitung des Symeon Metaphr. (Migne, P. Gr. 116, 301 ff.), die von 
Wirth, Danae (1892) p. 105 ff. edierte Recension; trotz der oft geriig- 
ten Mängel ist sie zur Verbesserung der syrischen Uebersetzung von 
Nutzen (z.B. in den geographischen Namen). Uebrigens sind unser 
syrischer Text und der Bedjans zwei selbständige Uebersetzungen 
des Originals, die sich u. A. dadurch unterscheiden, daß der Sin. 
gern echt aramäisches Sprachgut verwendet, wo der andere griechi- 
sche Wörter verwendet oder aus der Vorlage übernimmt?) — 
Der griechische Text von Irene ist ebenfalls von Wirth, a.a.O. 
p. 116 ff., publiciert *). — Wrights Ausgabe der Thekla-Akten er- 


1) Einige Belege. Defective Schreibweisen wie ‚g2-, ‚0,2 »zeugten, nannten 
miche (p. 222, 1 etc.) sind ihr unbekannt und werden an den Rand verwiesen. 
Desgleichen die ältere Orthographie ams »sie (f.) gingen hinause, QS »gingen 
hineine u.8.w. (89, 16; 90,9 und oft). Nicht einmal die in dieser Hs. über- 
wiegend häufige Zusammenschreibung der enklitischen Formen der Personal- 
pronomina der 1. und 2, p. mit dem Participium besteht vor ihr und wird durch- 
weg durch die andere Schreibung ersetzt (p. 142. 150. 180 u.s.w.). Das KW. 21a 
>du kannst« p. 51,5 ist ihr so unerträglich, daß sie daraus trotz des nun ent- 
stehenden Unsinns Awa) macht. U.s.w. Demnach wundert man sich nicht 
mehr, wenn das doch ziemlich häufige Qe) in OJ geändert wird (&ydv), und 
noch viel weniger, wenn die Form „NS statt des gewöhnlicheren „ASS als Fehler 
- betrachtet wird; Payne Smith verzeichnet sie eben nicht, und was Lagarde, 
G. Hoffmann u. A. darüber mitgeteilt, scheint der Herausgeberin unbekannt ge- 
blieben zu sein. 

2) Von Riedel im »Theol. Literaturblatte 1901, col. 249 f. (und vgl. meine 
Nachweise in den GGA. 1895, p. 665). Dort, wie bei Ryssel in der »Dtsch. Ltz.< 
a.a.Q., findet sich auch das Genauere über die Parallelen bei Bedjan nach Band 
und Seite. 

8) ‘“Hisobwodig gibt Sin. durch Jana du, wieder, bei Bedj. gAasa; fa- 
daveioy in Sin. Km AS (p. 102,8 etc.), Bedj. „AD. 

4) Allerlei Versehen, die eigentlich auch ohne weitere Hilfsmittel hätten ver- 
mieden werden können, wäre durch Benützung dieses griechischen Textes sicher 
vorgebeugt worden. gLo) (Eidains, Var. Ed@disog) und gpa} (Anuüs) figu- 
rieren in der Uebersetzung, die ich übrigens nur ganz selten eingesehen habe, 
als >Eutelese und »Amose, Ampelianos als »Appellianus<. Ferner ja.jao (Kv- 

Gott gel. Ans, 1001. Mz, 18. 66 


994 Gött. gel. Ans. 1901. Mr. 12. 


fährt, wenn man den textkritischen Apparat berücksichtigt, durd 
den Sin. (Appendix II) nur selten eine Verbesserung (z. B. p. 297 
wo für “ans (Wright) “asaao} bzw. „anıaao}); eine kleine Lücke 
159,2 Wr. wird durch Sin. 300, 5 v.u. ergänzt. Für Jsas;| Wr. 
159, 12 hat Sin. 301,6 Je; ; also ist jenes, wie übrigens von vor 
herein zu vermuten war, Diminutiv davon: »die Blättchen«. — Aw 
den im Ganzen sehr unerheblichen Varianten zu Pelagia ed. Gike- 
meister sei das richtige $.) (p. 308, 11) erwähnt : >» Halsbänder, pe- 
vyıdarac, nicht »Giirtel< (les). — Vollends nichtssagend sind die 
»Varianten« zu Theodosia und Theodota; und auch die zu de 
Thomas-Akten. Schade, daß auch hier wieder der gnostische Hymns 
fehlt; er muß durch irgend einen glücklichen Zufall in jene andere 
Hs. gekommen sein, ohne ursprünglich dahin zu gehören. — Ungen 
vermißt man bei den stark verstiimmelten Fragmenten der Ephraem- 
schen Madrasche den Hinweis auf die römische Ausgabe III 578— 
581. — Auf die Legende von der Hure Theodota folgt in der Hs. 
die Susanna geschichte. Diese war zwar der syrischen Kirche 
schon früh bekannt (Ephraem spielt einmal auf sie an), wurde aber 
nicht in den Kanon recipiert; dafür scheint sie sich einer ähnliches 
Wertschätzung erfreut zu haben wie jene christlichen Frauenlegenden, 
in deren Umgebung sie sich auch sonst wol in Hss. findet'). Mrs. 
Lewis hat, als sich die Varianten zum Waltonschen Text allzusehr 
häuften, mit Recht vorgezogen, den Text vollständig zu drucken 
(App. I), aber ohne eine Uebersetzung beizufügen. Es ist eine 
selbständige Uebersetzung des Theodotion, doch hat sich der Ueber- 
Betzer stellenweise an andere syrische Versionen gehalten, wie die 
wörtlichen Uebereinstimmungen mit der von Lagarde edierten zeigen 
(vgl. besonders v. 42fl.). Ob und in welchem Umfange die zabl- 
reichen größeren und kleineren Abweichungen von Theodotion einer-, 
und von den andern syrischen Versionen andererseits auf Ueber- 
lieferung beruhen, oder aber als Freiheiten unseres Uebersetzers zu 
betrachten sind, ist nicht genauer zu bestimmen, ehe einmal das 
hs. Material zu dem Apokryphon vollständig gesammelt ist”). Al 
Ansatz einer Paraphrase sind die Worte in V. 21 »und die ihrer 


grcexs}) als »Curicac. — fj Jans p. 126,2 soll heißen >I shall suffer« (1) lies 
)) aa0 (nlsıcheica). — Pag. 128, 10 ist mit dem Griechen zu lesen GoWsaxn 
ovyxnacBedoos; die Conjectur good) Aad) ist zudem sinnlos. 

1) So in Brit. Mus. Add. 14652. 

2) Für die syrische Ueberlieferung ist schon die junge, aber gute nestoris 
nische Berliner Hs. No. 73, die Bäthgen in ZATW 8, p. 198 ff. beschrieben und 
Bezold für die »Schatzhöhle«e benutzt hat, von Belang. Sie steht im Ganzen in 
der Mitte zwischen Lagardes Text und Walton’, hat aber auch mancher 
'Eigentümliches. 


wu 


Studia Binaitica No. IX/X. 908 


Vernunft Beraubten kannten nicht das Wort Gottes: <Ich lasse den 
Unschuldigen in seiner Unschuld bestehn und den Schuldigen in 
seiner Schuld>« (vgl. Ez. 18,20) zu verstehn, und vielleicht auch 
der Wortlaut in V. 10: »sondern wie die Thiere des Feldes waren 
sie brünstig und schauten beide nach ihr aus<. Daß der Name von 
Susannas Vater Lass geschrieben wird, ist nicht befremdlich. Mit 
Rücksicht darauf, daß in betreff der griechischen Ursprache neuestens 
wieder etwas reserviertere Stimmen verlauten (vgl. schon Lagarde, 
Mitth. 4, 362), mag bemerkt werden, daß die Wiedergabe der Paronoma- 
sieen in V. 54 ff., 58 f. durch unsern Uebersetzer für die Sache selbst 
irrelevant ist. Auffällig ist das sonst dem Syrischen ganz fremde Wort 
Janas xiayıd Piga (V. 18), talm. tate (OSB) die einzige derartige 
Erscheinung in diesem Apokryphon, wogegen sich eine größere Anzahl 
von Formen und namentlich Orthographieen, die im Edessenischen nicht 
oder nur ganz vereinzelt vorkommen und ins Jüdisch- und Christlich- 
Aramäische hineinspielen, sich in den verschiedensten Partieen der 
Handschrift finden'.. So Jwas »Fallstrick«e (85) = syr. us 
(are); al (219, 1) Gr (auch christl.-pal.) = wif. Das Impf. 
‚nos weist nur das edessenische Praefix auf, im Uebrigen ist es 
unedessenisch. Von Orthographicis: „ao »zusammenziehen< (76, 6) = 
TOP as, aber syr. mao; „all! (sic) (96, 12) für mm]; Li; 
(= Los;ass) 108, 14, adpoof (99,6) für agi, -uheol (104, 17) 
für ft; obaion »mit ihren Fingern« (103, 9) u. dgl.m. Ferner 
starke Anwendung der Vocalbuchstaben, wie in uu. >opfere« 
(Imp.) 105,15; oof »führe sie hinein« 86 ult; „oluu} >setzt 
mich ab« (6,19); „Las >du machst« (292), und umgekehrt defec- 
tive Schreibweise wie as3} (215,3; 217,11) = ansi{ »waren auf- 
geregt<. Alles dies, sowie ;aaxMoi} »vierzehn« (152,3; 163, 9 f.), 
Sumlo = o3Lv0 ‚ihr Blick< (212, 5) u. Ae. zeigt, daß dem Schrei- 
ber die edessenische Schulorthographie nicht ganz vertraut war. 
Gern braucht er endlich auch.Formen wie 630} »fessle sie!« (86, 10), 
&oas) >sie umarmt sie« (23,5 v.u.), die ja auch in alten edesse- 
nischen Hss. vorkommen, wogegen solche wie &wuaas »schlägt sie< 
(die Stelle kann ich im Augenblick nicht wiederfinden) hier als 
Schreibfehler zu betrachten wären. Lexikalisch ist die Ausbeute 
ziemlich gering. Neben wspAmeanr (8. Brockelmann) kommt auch 
seme vor (5,5. 6,19f. 7,4. 15,14f. 16,3. Bedjan überall 
); über ßear&pviov vgl. Useners Pelagia p. 54. (kYo0a 
bekanntlich Einmal im Midr. Tanchüma). — eas. >Mantel« (83, 1. 
91,8) ist wol identisch mit !;sa= Jud. 8,27; Bedjan hat dafür das 
1) Aebnliches weist auch schon die untere Schrift des Palimpsestes auf, vgl. 
Wellhausen a.a. 0. 


996 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 


gewöhnliche ass. — Von den beiden Formen *mpmsx und xmems 
»Hammer« war bisher im Syrischen nur die erste belegt; hier findet 
sich 107,16 {Aayjp20. — Nozass »zusammengerollt« (v. der Schlange) 
128, 8; vgl. {xoxo »Ring« bei den Lexicogr.!) — weyojo;8 xedodog 
178,2, vgl. GGA. 1895, p. 689. 


1) Auch im Journ. Asiat. IX, tom. 7 (1896), p. 108,3 v.u. ist Maul) in 
DNS,DL) zu ändern. 


Göttingen, 17. Juni 1901. Friedrich Schulthess. 


Budge, W., The earliest known coptic Psalter. London, Kegan Paul, 
Trench, Trübner & C°, 1898. XIV u. 154 S. Preis 15 Sh. 


Die jüngst erschienene mustergültige Publication der Berliner 
Handschrift des sahidischen Psalters von Alfred Rahlfs!) gemahnt 
mich, eine schon längst übernommene Anzeige der Ausgabe des sa- 
hidischen Psalters von Budge, dem Keeper der ägyptischen und as- 
syrischen Abteilung des British Museum, zum Abdruck bringen zu 
lassen. 

Der englischen Ausgabe liegt eine Papyrushandschrift zu Grunde, 
die zu Anfang des Jahres 1897 von dem Herausgeber in Aegypten 
für das British Museum erworben wurde. Nach den leider unvoll- 
ständigen Mitteilungen über den genauen Fundort wurde der Papyrus 
in den Ruinen eines koptischen Klosters in Ober-Aegypten und zwar 
innerhalb einer Steinkiste , sorgfältig verpackt in grobe Leinewand, 
zusammen mit einer andern wichtigen Handschrift, die 10 vollstän- 
dige Homilien verschiedener Verfasser enthält, von Fellahen gefunden. 
Daraus erklärt sich auch die wundervolle Erhaltung der Papyrus- 
handschrift, denn noch niemals habe ich eine so tadellos erhaltene 
Handschrift gesehen wie diese, so daß man dem Herausgeber für die 
Erwerbung dieses wertvollen Schatzes nur Glück wünschen kann. 
Genau in demselben Zustande, wie einst das Ganze der Erde über- 
geben wurde, ist es uns aufbehalten; noch umschloß der alte Ein- 
band in Leder das Ms. Das Ms. selbst umfaßt 156 Blätter in der 
Größe von 11°/« zu 8'/¢ engl. Zoll, die Blätter sind paginiert und 
stichisch auf einer Columne zu 31—32 Zeilen beschrieben. Schon in 
alter Zeit war der Papyrus am Anfang wie am Ende beschädigt, so 
daß die ersten 11 Blätter und zwei Schlußblätter ersetzt werden 
mußten; andere Blätter wurden restauriert, wie die beiden der Aus- 


1) Abhandlungen der Königl. Gesellschaft d. Wissenschaften z. Göttingen, 
philol.-hist. Klasse, N. F. Bd. IV, Nr. 4. 


Badge, The earliest known coptic Psalter. 997 


gabe beigegebenen Faksimiles deutlich veranschaulichen. Das Ori- 
ginal datiert der Herausgeber auf Anfang des VII. oder Ende des 
VI. Jahrh. 

Nach der Praefatio ging die Absicht des Herausgebers dahin, 
to reproduce correctly the text of this venerable codex as far as 
possible, alle kritischen Untersuchungen dagegen iiber das Verhilt- 
nis des koptischen zum griechischen Text wollte er den Theologen 
tiberlassen. Kann man diese Beschrankung nur lobenswert finden, 
so muß man auf der andern Seite mit lebhaftem Bedauern consta- 
tieren, daß die Publication, was Correctheit des Abdruckes anbe- 
trifft, nicht einmal den bescheidensten Ansprüchen genügt; deshalb 
hat Rahlfs nicht zu viel gesagt, wenn er über diese Publication das 
Urteil fällt, daß sie »mit anerkennenswerter Schnelligkeit, aber oft 
unerlaubt mangelhaftem Verständnis« geschehen sei. Der Heraus- 
geber hat sich sogar davon dispensiert geglaubt, die Septuaginta bei 
manchen Stellen einzusehen, er hat vielmehr die englische Uebersetzung 
des Alten Testamentes zu Rate gezogen, wie Rahlfs S. 28 Anm. 1 
bei der Zählung von Psalm 147 treffend nachgewiesen hat. Sonst 
würde der Herausgeber auch das »sic« bei dem doppelten Noyoesuy sırar 
Ps. 33, 1 vermieden haben, da hier keine Dittographie vorliegt. 

Schlimm steht es insbesondere mit der Worttrennung, die der 
Herausgeber nach dem Vorgange von Peyron, Lagarde und Ciasca 
vorgenommen haben will. Denn die Confusion ist sehr häufig eine 
so große, daß der Text in sinnloser Weise entstellt ist und dem 
Anfänger im Koptischen Schwierigkeiten bereitet. Z. B. trennt der 
Herausgeber regelmäßig falsch den Plural von zazseszrzeey, näm- 
lich Ps. 91,9 menarxe eycenararo, Ps. 105, 42 a neyzıze eyoAıhe, 
Ps. 109, 1 iinensıze eypan. Ferner Ps. 149, 7 noyrbap Ritpeenoc 
st. fioyrka off figeenoc; in der Ueberschrift von Ps. 151 eqsanfoa 
Te mewrepeqauge st. eqgsankoA fivane Mrepeqasme; Ps. 151, 7 
aig iiveqane st. alqit vegane; Ps. 127,4 esc pennTreg nazıcaoy st. 
esc ponnTe quazıcaoy; Ps. 118, 63 YHne oyon st. Yan eoyon; 
Ps. 95,7 anıoy eooy st. ans oyeooy; Ps. 93,8 ficodsd Sanevitony 
st. fico? ds netiont. 

Unzweifelhaft liegen hier wie in den zahllosen andern Fallen 
einfache Druckfehler vor, denn die auf Schritt und Tritt im ganzen - 
Texte vorkommenden Incorrectheiten lassen sich nur auf einen be- 
denklichen Mangel an Akribie zurückführen. Eine Vergleichung mit 
dem Original war mir freilich nicht möglich, m.E. gar nicht nötig, 
denn man kann auch so mit Sicherheit constatieren, daß das ganze 
Ms. von einer peinlich sorgfältigen Hand geschrieben ist, die sich in 
jeder Hinsicht vorteilhaft von dem Schreiber der Berliner Hand- 


998 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 12. 


schrift unterscheidet. Deshalb stellte der Abdruck an den Heraus- 
geber als einzige Aufgabe nur diese, sich einer gleichen Correctheit 
zu befleiZigen. In einigen Fällen hat Budge sogar versucht, den 
Text zu corrigieren, aber ist stets in die Irre gegangen. In Ps. 9, 27 
bietet das Ms. mai epe seygranpo seep, der Herausgeber liest nai 
e[ex]pe Teqzanpo auep. e[er]pe st. ef re]pe ist natürlich ein Druck- 
fehler, aber diese Verbesserung des Textes war unnötig, da auch 
die Berliner Hs. an dieser Stelle ganz correct epe bietet. In Ps. 43, 21 
giebt Budge “ple]nr, indem er dabei vergessen zu haben scheint, 
daß der Buchstabe & für ne steht, so daß die Hinzufügung des ¢ 
sinnlos ist. | 

Zur Illustration der ganzen Arbeitsweise mögen folgende Bei- 
spiele genügen: 

Ps. 2,8 B. arrı Sisody atnan, 1. arıı Gimof Tat nam, 


Ps. 3,2 B. ge, 1. ze. 


Ps. 4,3 B. pi npawg, |. ott nrpaum. 
Ps. 4,8 B. ze, |. ae. 

Ps. 7,11 B. fizegopsn, 1. Aregopen. 
Ps. 7,12 B. agcur%, 1, agcewaT. 

Ps. 7,16 B. negpıc, 1. megsce. 

Ps. 8,4 B. xnanay, 1. Yuanay. 

Ps. 8,5 B. npume, |. npuwarxe. 

Ps. 8,7 B. ama, |. anna. 

Ps. 9,11 B. nneqofinge, |. tineqoinye. 
Ps. 9,16 B. neghsry, 1. nepAnye. 

Ps. 9,22 B. epey, l. epooy. 

Ps. 9,23 B. üregpyen, |. nregpyiKH. 
Ps. 9,31 B. aqn¥ eneqgpo, |. aqnre neqgo. 
Ps. 9, 32 B. iionan, |. filigree. 

Ps. 14,4 B. Sioogq, ]. aiarog. 

Ps. 15,2 B. fiaarason, ]. fitaarason, 
Ps. 16,4 B. ra raps, 1. saranpo. 


Ps. 16,5 B. fireyrım, ]. fineyrıa. 

Ps. 17,14 B. agreney, 1. agqriiney. 

In derselben Weise ist der Text in der Mitte wie am Ende 
durch Druckfehler verunziert. Ich will noch folgende Stellen an- 
führen, um den vollgültigen Beweis zu liefern: 

Ps. 119, 2 B. gencoroy, 1. gencno Toy. 

Ps. 121,3 B. epexe euneroxn, |. epe TecneTogcH. 

Ps. 124,4 B. neranoyg, |. nernanoyg. 

Ps. 125,1 B. Zimeqaooc, |. auneqAacc. 

Ps. 127,1 B. expgoorve, 1. erpgoze. 


Quellenbuch zur Schweizergeschichte. 990 


Ps. 127, 2 B. finengsce, ]. ttrenosce. 

Ps. 128, 5 B. sun, 1. sas. 

Ps. 128,6 B. mati, 1. mas. 

Ps. 131,6 B. anoitirg, |. ancitrg, 

Ps. 131,9 B. foyasrasocyna, |. Hopasmasocyna. 


Ps. 131,12 B. nenagarooc, |. cenagarooc, 

Ps. 131, 14 atoyauc, |. aioyauye etc. etc. 

Angesichts dieser Publication kann ich an den Herausgeber nur 
den Wunsch richten, daß er bei der Veröffentlichung der zweiten 
von ihm erworbenen Handschrift, die zum teil unbekannte Homilien 
enthält und zugleich an das Verständnis des koptischen Textes viel 
größere Anforderungen stellt, mit besonderer Akribie zu Werke 
gehen möge, denn der correcte Abdruck koptischer Texte ist für 
das Studium der Sprache dringend notwendig. 


Berlin, 25. October 1901. Carl Schmidt. 


Quellenbuch zur Schweizergeschichte, für Haus und Schule bearbeitet von 
Dr. Wilhelm Oechsli. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Zürich, 
Schultheß u. Co., 1901. Vil u. 675 S. 8°. 


Das »Quellenbuch« war 1886 ein erstes Mal erschienen, 1893 
ein Ergänzungsband, »mit besonderer Berücksichtigung der Kultur- 
geschichte«, als »neue Folge« hinzugefügt worden. Das Vorwort zu 
dieser zweiten Auflage durfte mit Recht betonen, wie sehr die Noth- 
wendigkeit der neuen Auflage beweise, >daß das Buch eine wirkliche 
Lücke in der schweizergeschichtlichen Litteratur ausfüllt und daß die 
Anlage des Ganzen zweckentsprechend iste. Zwar hatte 1885 die 
Vorrede zur ersten Auflage hervorgehoben, das Werk erhebe nicht 
den Anspruch darauf, wissenschaftlichen Zwecken zu dienen, und es 
verdanke seine Entstehung lediglich pädagogischen Motiven — der 
Verfasser war damals noch Lehrer der Geschichte am Winterthurer 
Gymnasium —, es wolle ein Hülfsmittel für den historischen Unter- 
richt und ein belehrendes und anregendes Haus- und Volksbuch sein. 
Allein die Zusammenstellung und die Auswahl ist eine so geschickte, 
und es ist soviel weiter abliegendes, nicht leicht erreichbares Mate- 
rial herangezogen, daß auch in den Kreisen der Fachwissenschaft 
diese Sammlung beachtet zu werden verdient. 

Diese zweite Auflage unterscheidet sich von der ersten darin, 
daß der Band jetzt mit dem Jahre 1815 schließt, während in der 
ersten Ausgabe die neue Bundesverfassung von 1874 das letzte Stück 
gewesen war. Dagegen ist das Verzeichnis, das jetzt 233 Nummern 
— einige mit zahlreichen Unterabtheilungen (z.B, Nr. 24 Aus dem 


1000 Gott. gel, Anz. 1901. Nr. 12, 


Habsburgischen Urbarbuch, Nr. 113 Ausländische Urteile über die 
Schweizer des 15. und 16. Jahrhunderts, Nr. 161 Der Bauernkrieg 
von 1653) — in sich schließt, um 93 Stücke, in Haupttiteln und 
Unterabtheilungen, bereichert worden. 

Die Anordnung ist die gleiche, wie in der ersten Auflage, streag 
chronologisch, mit Uebertragung fremdsprachlicher Stücke in das 
Deutsche, auch — nach gemachten Erfahrungen bei der praktische 
pädagogischen Verwendung, nicht ohne Widerstreben — der älteren 
deutschen Stücke in moderne Form. Die verschiedenartigsten Ms- 
terialien, Abschnitte aus Geschichtschreibern — die » Vorgeschiehtec 
beginnt mit Herodots Schilderung der den schweizerischen Pfabl- 
bauten analogen Anlagen im See Prasias und mit der Vorführung 
der Gaesaten zum Jahre 225 a. Chr. durch Polybios —, historische 
Lieder, Urkundliches, Verträge, dann besonders die Freiheits- ud 
Bundesbriefe, Gesetze, Proclamationen, Briefe und Reden, noch maa- 
ches Weitere, sind zusammengestellt. 

Die Bereicherungen der neuen Auflage vertheilen sich ziemlich 
gleichmäßig über die vier Abschnitte — Vorgeschichte (bis auf das 
11. Jahrhundert), Bildung der Eidgenossenschaft, Zeit der Glaubeas- 
trennung, die Zeit seit 1798 — und sind wieder, gleich dem Grundstock, 
sehr gut ausgewählt. Einige dieser Beifügungen erscheinen hier über- 
haupt zum ersten Male. So ist Nr. 152, der Vorschlag des Cardinals 
Borromeo von 1570 für die Absendung eines Nuntius nach der Schwe 
und für die Gründung eines Collegiums der Gesellschaft Jesu = 
Luzern, aus einer noch nicht erschienenen Publication übersetst; 
Nr. 159, die Beschlüsse über die Abschließung der regimentsfähiges 
Burgerschaft in Bern, Mitte des 17. Jahrhunderts, Nr. 162, der Be 
richt des Pfarrers Bislig über den Sieg der Katholischen bei Vi 
mergen 1656, sind überhaupt zum ersten Male gedruckt; Nr. 2% 
und 226, Proclamationen von Ende 1813, gab der Herausgeber am 
Flugblättern wieder. U.s. f. 

Durch die erhebliche Erweiterung ist jener schon erwähnte Ab 
schluß für das Jahr 1815 geboten gewesen. Herausgeber und Ver 
leger würden sich ein Verdienst erwerben, wenn sie diesem Bands 
eine ähnlich zusammengesetzte, vielleicht etwas weniger umfangreiche 
Fortsetzung über das jetzt abgeschlossene Jahrhundert folgen lasm 
wollten; besonders für dessen zweite Hälfte fehlt eine solche & 
sammenfassung. 


Zürich, 16. October 1901. G. Meyer von Knonau. 
(Schluß des Jahrgangs 1901.) 


Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Géttiogtt 





Göttingische 


gelehrte Anzeigen 


unter der Aufsicht 


der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften. 


163. Jahrgang. 1901. 


Nr. X. | December. 
Inhalt. 
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. (Schluß.) 

Von O. Scheel. 2 ea ren 913-948 
Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Von H. Holtz- 

7 77) FE 948—960 
Pindari carmina rec. Otto Schroeder. Von A. Korte. . . . . 960—972 
Herrmann, Jabrmarktsfest zu Plundersweilern. Von O. Walzel. . 972—991 
Studia Sinaitica No. IX/X. Von Fr. Schulthess. . . .... 891—996 


Budge, The earliest known koptic Psalter. Von C. Schmidt... . . 996989 
Quellenbuch zur Schweizergeschichte Von @. Meyer 

von Knonau, . 2 2 0 ren 999—1000 
Register. 


Berlin 1901. 


Weidmannsche Buchhandlung. 
SW. ZimmerstraBe 94. 


Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gött. gel. Anz. ist verboten. 


Als selbstverständlich wird betrachtet, daß Jemand, der eine 
Arbeit in den Gött. gel. Anzeigen recensiert, die gleiche Arbeit nicht 
noch an andrem Orte recensiert, auch nicht in kürzrer Form. 


Für die Redaction verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel. 


Recensionsexemplare, die für die Gött. gel. Anz. bestimmt sind, 
wolle man entweder an Prof. Dr. Georg Wentzel, Göttingen, Friedländer 
Weg 17 oder an die Weidmannsche Buchhandlung, Berlin SW. 
Zimmerstr. 94 senden. 


Der Jahrgang erscheint in 12 Heften von je 5—5!/s Bogen 
und kostet 24 Mark. | 





Verlag der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin S.W. 12. 





Soeben erschien: 


GRIECHISCHES LESEBUCH 


VON 


ULRICH von WILAMOWITZ - MOELLENDORFF. 


I. Text. | Il. Erläuterungen. 


Erster Halbband. Erster Halbband. 
gr.8. (XD u. 1808.) Geb. M. 2.60. er. § (IV u 126 8.) Geb. M. 2.—. 


Zweiter Halbband. Zweiter HWalbband. 
gr.8. (1Vu.8.181- -402.) Geb. M. 2.80. gr.8. (IVu.8.127— 270.) Geb. M.2.—. 


Die Verlagshandlung hat die Freude, das auf Veranlassung des Kgl. 
Preufs. Kultusministeriums von U. von Wilamowitz-Moellendorff bearbeitete 
Griechische Lesebuch hiermit der Öffentlichkeit übergeben zu können. Das 


überall mit Spannung erwartete Werk ist durch jede Buchhandlung zu beziehen. 


VORREDE. 


Dieses Buch ist bestimmt in die Hände der Schüler zu kommen, so- 
bald sie von der Sprache so viel gelernt haben, dafs sie ein Buch um des- 
willen lesen können, was darin steht. Es ist vorausgesetzt. dals Homer, die 
Tragödie, das neue Testament und etwas Grofses und Ganzes von Platon im 
Laufe der vier verfügbaren Jahre gelesen wird: auch von Herodot ist nichts 
aufgenommen, weil die Vorzüge dieses grolsen Erzählers nur zur Geltung 


Vorrede. 


kommen, wenn man viel und rasch liest. Im übrigen will es besseren end 
reicheren Lesestoff liefern als bisher den Schülern geboten ward, und es liefert 
ihn in solcher Fülle, dafs die Sachkunde und auch die Neigung des einzensı 
Lehrers auswählen kann, was ihr für die Klassenlektüre geeignet scheint. Ay: 
der Unterricht in ziemlich allen andern Schulfächern wird hier Handhaben zur 
Anknüpfung finden. Schliefslich aber ist nicht das Schlechteste das, was man für 
sich und durch sich lernt, und so wird gehofft, dafs die freie Lust des Schite:. 
und eines jeden. der die elementaren Sprachkenntnisse besitzt, sich suchar 
möge was ihm behagt, und die Erläuterungen wollen ihm liefern, was er in 
der Grammatik und den landläufigen Schulwörterbüchern nicht finden kann. 
Natürlich wird jeder Kenner der griechischen Litteratur dies und das ver- 
missen; nur erkläre er nicht anderes deshalb für entbehrlich, weil es ihn nicht 
interessiert. Denn der Rahmen ist darum so weit gespannt, weil die griechische 
Litteratur so weit reicht, und ihre Weite zu zeigen, darauf kam es eben an. 

Unsere Schüler lernen Griechisch nicht wie sie Französisch und Engiix’ 
lernen. oder wie die Römerknaben Griechisch lernten, die das Schulgespr:!. 
S. 400, bei der Arbeit zeigt. Sie lernen es nicht, um es zu sprechen cder : 


schreiben. Die Sprache lebt ja freilich im Munde ihres Volkes noch hai 
(und die Erläuterungen haben einzeln moderne Wörter und Sitten herangezezn 
aber es geht nicht an, von ihrem gegenwärtigen Stande rückwärts zu schreit. 
während wer dies Lesebuch versteht, ohne Mühe ein neugriechisches wisse- 
schaftliches Buch oder eine Zeitung lesen wird. Wir lernen aber auch ri.l: 
Griechisch, um durch Grammatik und Stilistik unsern Geist zu formen. Gi: 
würde sich das Griechische auch dazu schicken; der Besitz dieser Spra-te 
fördert die allgemeine grammatische Einsicht mehr als der irgend einer aul:ra 
(sind doch unsere grammatischen begriffe und Termini an ihr und fur sie er- 
funden, IX 3+; aber dem Zwecke der formalen Schulung dient hergebrach:::- 
und berechtigtermalsen das Latein. Wir lernen also griechisch ausschlieixxi. 
um griechische Bücher zu lesen. Und zwar darf man sich darüber tic: 
täuschen, dafs zur Zeit die meisten Griechisch nur auf der Schule less 
Vielleicht ändert sich das, wenn es gelingt, dals das Gymnasium jedem or.ieat 
lichen Schüler das mitgiebt, was jeder Römerknabe und jedes Römermädche: 
von einiger Bildung erreichte, die Fähigkeit das Durchschnittsgriechisch z 
verstehen. Jedenfalls aber soll das, was sie lesen, allen die auf Erfahruz: 
begründete Überzeugung mitgeben, dafs Griechisch mehr ist als eine Sprach: 
in der etliche Heroen in einem fernen, schönen Weltenfrühling mit unerre:i 
barem Wohllaute gesungen und geredet haben. Unter diesem Lichte wird da 
alte Hellas selbst zu einem Märchenlande, die Burg Athens kaum minder a 
die Insel der Phäaken, und die griechische Geschichte wird zu einem Herve: 
tum, die Perserkriege nicht minder als der Kampf um Dios. Aber das i 
ein künstliches. falsches Licht, und unsere Knaben haben ein Anrecht auf d 
Wahrheit. Die mufs am Ende doch auch immer köstlicher sein als jed 


Vorrede. 


schöne Wahn, denn den Wahn machen sich die Menschen, die Wahrheit aber 
ist Gottes. 

Blicken wir dagegen nur über die wenigen in diesem Bande vereinigten 
Stücke: aus jedem der Jahrhunderte vom sechsten vor Christus bis zum vierten 
nach Christus ist etwas darin. Sehen wir uns die Herkunft der Verfasser an: 
da ist Strabon aus dem fernen Pontos, Epiktet aus dem inneren Phrygien, 
Poseidonios aus Syrien, Maximus aus Phönikien, Heron aus Ägypten, Diodoros 
aus einer Sikelerstadt, Marcus aus Rom: und alle diese Männer aus allen 
diesen Jahrhunderten schreiben im wesentlichen dieselbe Sprache, selbst der 
dorische Dialekt liegt bei Archimedes nur als ein leichter Schleier darüber, 
unter dem dieselbe Art zu denken und sich auszudrücken dem Leser sofort 
vertraut entgegentritt. Und alle diese zeitlich und räumlich so weit von ein- 
ander getrennten Leute reden innerhalb des gemeinsamen Griechisch individuell 
verschieden, denn es ist ihnen allen so gut wie die Muttersprache, in der sie 
denken. Ein Jahrtausend lang ist diese selbe Sprache die Trägerin jeder höheren 
Bildung gewesen, ihr Besitz also die Vorbedingung für die Teilnahme an 
dieser Bildung. und sind alle grofsen Gedanken, wenn nicht in ihr gedacht. 
so doch in ihr ausgesprochen worden, damit sie wirken konnten. Schon im 
dritten Jahrhundert v. Chr. haben der babylonische Oberpriester Berossos und 
der ägyptische Schriftgelehrte Manethos die alte Geschichte ihrer Völker, denen 
gegenüber die Hellenen Kinder waren, griechisch schreiben müssen, damit sie 
nicht unterginge. Griechisch hat hundert Jahre später der alte Cato gelernt, 
der erbitterte Griechenfeind, denn wo sollte er sonst das hernehmen, was er 
seinen Sohn lehren wollte? Damals gehorchten die Griechen schon der römi- 
schen Herrschaft, und doch hat sich nie daran etwas geändert. dals ihre 
Herren bei ihnen in die Schule gingen, und die Sprache der wirklichen Wissen- 
schaft ist immer ausschiliefslich griechisch geblieben. So hat denn auch das 
Evangelium griechisch gepredigt und geschrieben werden müssen, damit es alle 
Völker lehrte. und selbst Paulus, der Vharisier, hat das alte Testament in 
der griechischen Übersetzung gelesen. Griechisch ist das Organ des Geistes 
einer ganzen Weltperiode. 

Dieses Organes müssen wir uns bemächtigen, wenn wir jene Periode 
verstehen wollen. Es sagen ja freilich manche, zu diesem Verständnis bedürfte 
man der Sprache nicht; das sind aber immer solche, die sie eben nicht können. 
Die Sprache ist ja nicht das Kleid des Gedankens, das man wechseln könnte. 
sondern sein lebendiger Leib. Das Vorurteil der Trägheit wird schon der 
Sekundaner los sein, wenn er die Witze des Äsop versteht und doppelt be- 
acht, weil er sie nicht übersetzen kann. Ernsthaft klar wird es dem Primaner 
werden. sobald er die spielende Leichtigkeit schätzen kann, mit der diese 
Sprache ohne Fremdwörter jedem wissenschaftlichen Gegenstände gewachsen 
ist, und wenn er begriffen hat, wie tief der philosophische Gedanke in der 


Sprache wurzelt, ganz abgesehen davon. dafs der Schmelz der ionischen An- 
% 


Vorrede. 


mut des Hippokrates und die Zauberkraft des Demosthenes und Thukydides 
in viel höherem Grade unübersetzbar sind als jede Poesie. Die Poesie der 
Hellenen hat während der ganzen Zeit, in der ihre Sprache die Welt be- 
herrschte, nichts mehr von ewiger Bedeutung hervorgebracht, gerade weil sie 
an den alten Formen klebte; und von der alten, die schon zu Alexanders Zeit 
klassisch war, besitzt nichts zugleich diese Bedeutung und ist der Schule zu- 
gänglich aufser Homer und der Tragödie — von welcher doch auch nur ein 
oder das andere Stück einem annähernden Verständnis erschlossen werden 
kann, In diesem Buche konnte also etwas Poetisches nur trotz seiner Form 
um des geschichtlich bedeutenden Inhaltes willen Platz finden. 

Griechisch müssen wir also lernen, wenn wir jene Weltperiode verstehen 
wollen. Dafs ihr Verständnis aber erreicht werde, daran hängt die Be- 
rechtigung der Jugendbildung, welche das Gymnasium verleihen will. Es giebt 
andere Wege der Jugendbildung neben ihm, und fern sei es von uns, sie gering 
zu schätzen; aber wenn das Ilauptgewicht auf die Beschäftigung mit den alten 
Sprachen gelegt wird, so ist das nur gerechtfertigt, wenn dadurch die Fähig- 
keit gewonnen wird, geschichtlich zu sehen und das Gegenwärtige aus seinem 
Werden zu begreifen. Gewifs hat sich das Gymnasium im Anschlufs an die 
Jugendbildung der römischen Kaiserzeit entwickelt, auf deren Kultur man seit 
der Renaissance zurückgriff. Damals sollte die Bildung in der Einprägung 
bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten bestehen, die begründet und zusammen- 
gehalten wurden durch die formalen Künste der Grammatik und Rhetorik. 
Aber diese ganze Bildung haben wir Modernen durch die Wissenschaft über- 
wunden: wir haben in dem ewigen Streite, den Platon im Phaidros ausficht 
(IX 1) uns auf seine Seite gestellt, ja wir sind über ihn hinweggeschritten, 
eben weil wir geschichtlich zu sehen gelernt haben. Weil nun unser Anschauen 
und Denken, unser Leben in Staat und Gesellschaft, unser Eigenstes in Kunst 
und Wissenschaft und Religion mit dem Altertume durch tausend Fäden ver- 
bunden ist, so können wir nicht verstehen, was wir sind noch was wir sollen, 
ohne das Erbe des Altertums geschichtlich zu erfassen, und daher bilden 
wir einen Teil unserer Jugend dadurch aus. dafs wir ihnen diese geschichtliche 
Einsicht als eine lebendige Kraft übermitteln. Diese Vorrede wird es nicht 
versuchen, die Zusammenhänge der Lesestücke mit unserer gegenwärtigen 
Kultur aufzuzeigen. und auch die Erläuterungen haben das vermieden (nur 
vereinzelt ist einmal auf etwas Goethisches hingedeutet): gerade das Beste 
soll dem Lehrer nicht durch einen Fremden vorweggenommen werden. Aber 
Auswahl und Anordnung ist allerdings von diesem Gesichtspunkte aus gemacht. 
Daher ist die Anordnung rein stofflich. Es ist mehr ein Zufall, dals der erste 
Abschnitt überwiegend ganz leichte Stücke enthält (was doch auch von Arrian 
II 6. Platons Menon VII I und manchen Briefen gilt) und die Teilung in zwei 
Halbbände ist nur geschehen, um die Mappen der Schüler nicht zu sehr zu 
belasten: das Buch als solches ist eine unteilbare Einheit. 





Vorrede. 


Die Auswahl würde ganz anders ausgefallen sein, wenn sie angehende 
Philologen in das Altertum einführen wollte. So ist z. B. nicht die Schilderung 
einer griechischen Landschaft ausgehoben, sondern der deutsche Knabe, dem 
Tacitus die Urzeit seiner eigenen Vorfahren zeigt, soll sehen, wie Frankreich 
und England in die Weltgeschichte eintreten; und Strabons reichere Schilderung 
der Weltstadt Alexandreia hat hinter Rom zurückstehen müssen. Die Kon- 
struktion des Weltgebäudes, die bis auf Copernicus und Galilei geherrscht hat, 
in ihrer grolsartigen Geschlossenheit würdigen zu können ist ein Hauptstück 
geschichtlich-philosophischer Bildung, und dafs diese grofsen Männer nicht ohne 
Hilfe hellenischer Ahnungen zu einer neuen Konstruktion gelangt sind, ist be- 
sonders beherzigenswert: dem soll die schwungvolle Schilderung IV ] in Ver- 
bindung mit der vornehmen Wissenschaftlichkeit des Archimedes, V 2, dienen. 
Andererseits führt der auf der Physik beruhende Monotheismus von IV 1 hin- 
über zu dem moralischen Monotheismus von VII 5, 6,8 und weiter zu der 
Lehre und dem Glauben der alten Christen. Die Mathematik nimmt auf dem 
Gymnasium eine so hohe Stelle ein und erscheint nicht nur den Knaben so 
oft zu der Beschäftigung mit der Sprache und Geschichte im Gegensatze, dafs 
es angezeigt war, ihre hellenische Wurzel aufzuzeigen (V 1) und zugleich ihre 
unvergleichliche logische Bedeutung (VII 1). Wenn die wissenschaftlich be- 
gründete Gesundheitspflege in unserm Leben immer weiter herrschend wird, 
so hätte aus dem Reichtum der griechischen medizinischen Litteratur vielleicht 
noch mehr ausgehoben werden sollen. Immerhin wird die Schrift von der 
heiligen Krankheit (VI 1), beweisen, nicht nur, dafs die Griechen die Medizin 
auf den festen Grund der empirischen Wissenschaft gestellt haben, sondern 
auch wie sehr die Einsicht in die Gesetzmäfsigkeit der Natur einer reinen 
Frömmigkeit zum Siege über den Aberglauben verhilft. Ein unleugbarer 
Mangel ist es, dafs die Botanik des Theophrastos und die Zoologie des Ari- 
stoteles nicht vertreten sind: das liefs sich zur Zeit nicht ändern. Vielleicht 
kann auch getadelt werden, dafs die Logik und Rhetorik ganz unvertreten ist. 

Wenn so der Stoff die Auswahl bestimmte, so konnte die künstlerische 
Form nicht mafsgebend sein, am wenigsten die von einem ungesunden Purismus 
geleiteten Urteile der antiken Rhetoren. Indessen sind gerade von Demosthenes 
und Thukydides Stücke allerersten Rauges ausgehoben, und selbst der Philologe 
kann an diesem Buche etwas weit wertvolleres übersehen als es eine Sammlung 
stilistischer Muster ware, nämlich die Geschichte der Prosa. Das geht den 
Schüler im ganzen nichts an (einzelne Hinweise werden auch ihm erwünscht 
kommen), aber wohl wird auch er dafür empfänglich sein, wie anders und 
doch immer meisterhaft Aristoteles redet, je nachdem er für das grolse 
Publikum schreibt (II 1) oder seinen Zuhörern vorträgt (III 2. V1I 2). Die 
hochpathetischen Perioden der Schrift eg: xoouov und die nicht immer ge- 
sunden und erfreulichen rhetorischen Künsteleien bei Maximus und Clemens 
heben sich für jeden fühlbar ab von der edlen Schlichtheit altionischer Rede 


Vorrede. 


bei Hippokrates und der gewollten Einfachheit der späteren wissenschaftlichen 
Prosa, neben der wieder Polybios mit seiner Umständlichkeit steht, wo der 
Gedanke in dem Bausche der Worte sich fast verbirgt, während die thukydi- 
deische Erzählung für die Fülle der Gedanken mit den Worten kaum aus- 
kommt. Und wiederum der gemessene Kanzleistil und die überwuchernden 
Formeln des ungebildeten Briefes, und daneben die trotz aller Lässigkeit 
packende Frische der mündlichen Katechese des Epiktet und die ungelenke 
Treuherzigkeit der Apostellehre: wahrlich, auch das deutsche Lesebuch wird 
schwerlich etwas Vergleichbares liefern. Der Schüler aber wird daraus keines- 
weges nur die geschichtliche Billigkeit lernen, die alles versteht und verzeiht: 
im Gegenteil, sein Urteil wird er sich befreien, indem er aus der Vergleichung 
lernt, was echt und was geheuchelt ist, und nur das Echte wird vor seinem 
Urteile bestehen. Erst so wird die griechische Lektüre, die ja in der edelsten 
und echtesten Poesie, in Homer und Platon, ihre Hauptstücke hat, in Harmonie 
mit den grofsen Werken unserer eigenen Litteratur dem Jüngling Verständnis, 
und damit Achtung und Liebe für das Echte und Grofse mitgeben. 

Der Jüngling, der aus der Schule in das Leben tritt, ist berufen ein 
Bürger seines Staates, ein für das Gemeinwohl thätiges Glied der Gesellschaft 
zu werden. Dazu wird ihn jede Schule erziehen, und die nationale Geschichte 
wird sein patriotisches Empfinden vertiefen. Aber was ein Staat ist und sein 
soll, das kann sie nicht zum Gegenstande ihrer Unterweisung machen. Hier 
ist ihm nicht nur eine Beleuchtung des athenischen Staates von verschiedenen 
Seiten (II 1. II 1. 2g) und die beste Würdigung des römischen Gemeinwesens 
in seiner Blüte (III3) geboten, sondern auch die Hauptstücke der aristotelischen 
Staatslehre. Da kann er das Wesen der Dinge und die ewig gleichen Grund- 
bedingungen und Endziele der Gesellschaftsordnung unbeirrt durch die Fülle 
des modernen Lebens und die Schlagworte der modernen Parteimeinungen 
kennen lernen, und an denkwürdigen, leicht und voll übersehbaren Lösungs- 
versuchen sein Urteil bilden und seine Gesinnung befestigen. 

Und endlich das Wichtigste: höher als alles Wissen und Können unserer 
Söhne, höher als dafs sie tüchtige Bürger unseres Vaterlandes werden, steht 
uns doch, dals ihre Seelen für das Reich Gottes gewonnen werden. Giebt es 
da überhaupt etwas Wirksameres als es zu machen wie Clemens, die griechische 
Philosophie neben dem Evangelium und dem Apostel aufzurufen? Epiktet 
und Marcus und Poseidonios und Aristoteles und Platon, sie weisen wohl ver- 
schiedene Wege, aber das Ziel ist dasselbe: sie alle weisen zu Gott. 

Das ist viel; aber dafs die Griechen so viel zu bieten haben, wird niemand 
leugnen, der sie kennt. Schon die Probe, welche dieses Lesebuch giebt, mufs 
so viel zeigen. dafs hier eine lebendige Kraft ist. die Gunst, das Charisma der 
Muse. die Unvergängliches verheifst und gewährt, 

den (rehalt in unserm Busen 
und die Form in unserm Geist. 


Nachwort. 


Sollen unsere Söhne dieses Unvergänglichen teilhaftig werden oder nicht? 
Entscheiden werden das am letzten Ende die Eltern; aber auch sie müssen 
erst kennen, um zu entscheiden. Dafür haben diejenigen zu sorgen, die ihr 
Leben dem Ilellenentume geweiht haben, einerlei ob sie es Studenten oder 
Schülern erschliefsen. Ig Eintracht und in edlem Wetteifer sollen sie daran 
arbeiten: dann wird es gelingen. 

Das Nötigste freilich müfst ihr selbst dazu bringen, liebe Schüler: euren 
redlichen Willen. Ihr seid deutsche Knaben und wollt deutsche Männer werden: 
das bischen Arbeit wird euch doch nicht schrecken. Gesegnete Arbeit ist 
das Köstlichste, was das Erdenleben gewährt; darum fordert Gott Arbeit von 
uns, aber er segnet sie auch. Frei ist der Mensch, darum mufs er das Beste 
für sich selber leisten, 

AR" Or 07EVÖL tig utrog, yo Geog Fulliwera. 


NACHWORT. 


Dies Buch ist in folgender Weise zu stande gekommen. Die Grundlage 
ist meine Denkschrift über den griechischen Unterricht, die nun als Anlage 
der „Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichtes, Berlin 1900“ ver- 
öffentlicht ist. Unmittelbar nach der Konferenz berief der Herr Kultusminister 
eine Kommission in Sachen des Lesebuches, der als sein Vertreter Herr 
Geheimrat Matthias vorsafs. Mitglieder waren aufser mir Geheimrat Diels, 
Direktor C. Bardt, Dircktor Reinhardt (leider an der Teilnahme verhindert), 
Oberlehrer Dr. Wendland und Oberlehrer Dr. E. Bruhn. Die Kommission 
beschlofs, dafs ich das Buch als mein individuelles Werk machen und einen 
besonderen Band Anmerkungen hinzufügen sollte, nahm aber an meiner Skizze 
des Inhaltes sehr wesentliche Verbesserungen vor, und ihre Mitglieder haben 
mich auch sonst mit Rat und That wesentlich gefördert, mehr als ich im 
einzelnen anführen kann. 

Da es mein Buch sein soll, so trage ich natürlich auch für das die 
ganze Verantwortung. was ich freundlicher Beihilfe verdanke, habe auch die 
Entscheidung schliefslich nach eigener Einsicht und eigenem Gewissen getroffen. 
So ist es schon bei der Auswahl und Abgrenzung der Lesestücke nicht ganz 
bei den Festsetzungen der Kommission geblieben. Von dem, was ich in meiner 
vorläufigen Skizze des Inhaltes bezeichnet hatte, sind trotz ihrer Zustimmung 
zwei Stücke fortgefallen. Ich habe kein Martyrium gefunden. das dem Zwecke 


Nachwort. 


wirklich genügte, den es hier erfüllen mülste, den Adel und das Heroentum 
der christlichen Märtyrer zu zeigen; selbst Polykarp, den A. Harnack empfahl, 
steht seinen Verfolgern nicht überlegen genug gegenüber, und der Bericht- 
erstatter mischt bereits Unerfreuliches ein. Was inhaltlich geeignet war, 
Perpetua und die Scillitaner, konnte doch nicht in der griechischen Uber- 
setzung auftreten. Aus einem anderen Grunde habe ich Priscus bei der Aus- 
arbeitung fallen lassen. Seine Sprache ist schliefslich zu unerfreulich, nicht 
weil sie barbarisch wäre, sondern weil der Mann eine tote Sprache zu 
schreiben versucht und das auch nicht ordentlich kann. Solche Stücke sind 
wirklich in der Übersetzung ziemlich ebenso gut zu geniefsen, und diese liegt 
in Freytags Bildern aus der Deutschen Vergangenheit auch den Schülern nahe. 

Die Kommission batte mit Rücksicht auf den Unterricht im Deutschen 
Auszüge aus der Poetik des Aristoteles gewünscht. Das hätte sich, wie 
E. Bruhn bei dem Versuche ihrer Auslösung erkannte, nicht wohl anders 
liefern lassen, als durch die Aufnahme eines grofsen Teiles der Schrift. Ich 
traue mir nicht zu, sie so zu erklären, wie sie es verdient; und dafs was mir 
zu schwer ist cine geeignete Lektüre für Primaner sein könnte, ist mir un- 
wahrscheinlich, zumal diesen doch die Kenntnis der Dramen fehlen mufs, die 
Aristoteles voraussetzt. Auch müfste der Kommentar ehrlicherweise zeigen, 
dafs das Kunsturteil des Aristoteles uns weder binden noch befriedigen kann. 
Endlich hat grade seine Poetik auf das Altertum keinen tiefen Einflufs geübt; 
ibr Wert läfst sich mit dem der Rhetorik nicht vergleichen. Und wir wollen 
nicht vergessen, dafs IIoraz seine wundervolle Ars geschrieben hat: die liefert 
von antiker Poetik dem Schüler genug — wenn er sie zu lesen bekommt. 

Andererseits habe ich über das von der Kommission Fixierte nicht nur 
den Umfang der Ausschnitte zuweilen erweitert (z. B. im sechsten Buche des 
Polybios und bei Epiktet), sondern auch freundlicher Mahnung folgend einige 
Charaktere des Theophrast und die »chöne Ausführung des Aristoteles über 
das Studium der Natur (VII 3) aufgenommen und diese auch festgehalten, als 
die Stücke aus der Tiergeschichte, denen sie präludieren sollte, fortfallen 
mufsten, weil der berufene Bearbeiter erkrankte, den ich zu ersetzen aulser 
Stande war. 

Die Auswahl aus Eukleides und dem Psammites des Archimedes zu 
treffen hat Professor J. Heiberg in Kopenliagen die grofse Freundlichkeit ge- 
habt und auch den Grundstock der Anmerkungen verfafst, die dann durch 
E. Bruhn in Einklang mit dem übrigen Buche gebracht sind. so dafs mir hier 
eigentlich nur die Entscheidung in wenigen zweifelhaften Fällen blieb. Die 
Auswahl aus Heron verdanke ich JIerrn Oberlehrer F. Knauff, dem Verfasser 
eines belehrenden Programmes über die Physik des Heron. In der Text- 
gestaltung mufste der Philologe freilich doch der Überlieferung sich näher an- 
schliefsen, als dem Physiker notwendig schien; dem entspricht es, dafs der 
Kommentar im wesentlichen von mir herrührt. Eine besondere Schwierigkeit 


Nachwort. 


bot der Wegmesser, da er in der neuen Heronausgabe noch nicht vorliegt. 
Da hat mir der künftige Herausgeber, mein Kollege Dr. H. Schöne, freund- 
lichst seinen Text mitgeteilt und mich auch sonst beraten; bis zum Erscheinen 
der Ausgabe, die alles Nähere bringen wird, kann man dies Instrument nur 
hier in verständlichem Texte und zutreffendem Bilde finden. Auch einige 
andere Abbildungen habe ich etwas anders zeichnen lassen, als sie in der 
Ausgabe von W. Schmidt stehen; der Weihwasserautomat ist freilich auch hier 
in der Form des Gefälses unbefriedigend. Die zu der viel, aber falsch 
behandelten Stelle S. 261, 5 angeführten Münzen hat mir Dr. v. Fritze gezeigt. 
Fine ganz neue Textgestalt zeigt auch die Schrift zea: xuouor, wenn auch 
eine provisorische. Sie wird P. Wendland verdankt, der hoffentlich eine 
kritische Ausgabe der auch textkritisch durch die Nebenüberlieferung in 
der lateinischen und armenischen Übersetzung merkwürdigen Schrift machen 
wird, wo sich denn das wenige abheben mag, das ich selbst zum Texte bei- 
gesteuert habe. Der Kommentar und die Vorbemerkung ist zum überwiegenden 
Teile von mir. Ganz dagegen gehört Wendland die Bearbeitung der Apostel- 
lehre an, fast ganz die des Briefes an Diognetos, und auch zu Epiktet hat er 
manches beigesteuert. Die Abschnitte II 7, 8, 9 hat, nachdem ich den Text 
konstituiert hatte, C. Bardt erläutert und auch die Vorbemerkung zu Tiberius 
Gracchus im wesentlichen geschrieben. Ich habe die gröfsere Gelehrsamkeit 
und wissenschaftlichere Haltung seiner Erläuterungen nicht verwischen mögen, 
aber allerdings einiges gekürzt, da ich namentlich im Polybios die sprachliche 
Erklärung erweitern oder doch meiner Weise angleichen mufste. So kann 
nur das Sachliche im ganzen auf Bardts Rechnung gehn. 

Der Text ist natürlich überall auf Grund der erreichbaren Überlieferung 
zunächst philologisch konstituiert. Dabei ergab sich, wie zu erwarten, oft die 
Unzulänglichkeit des bisher erschlossenen Materiales. Für Lukian hat Eduard 
Schwartz die bereits gesichtete Überlieferung zur Verfügung gestellt (der u. a. 
der Titel «2,07 diyruara statt des üblichen «Aydeis iozopiaı entstammt); 
derselbe machte für Plutarchs Caesar, dessen Handschriften sehr sparsam sind, 
auf den Parisinus 1678 aufmerksam, der älter als das Corpus der Vitae ist, 
von dem er das eine Paar, Alexander und Caesar, enthält. Eine Vergleichung 
der ausgehobenen Partie, die Herr Dr. Lietzmann aus Bonn anzustellen die 
Freundlichkeit hatte, hat leider gezeigt, dafs die Handschrift uns wenigstens 
hier über die Überlieferung des Corpus der Vitae, die schon bei Sintenis 
steht, nicht hinaushilft. Offenbar ist dieses Paar der Vitae nur in einem 
Exemplar den Byzantinern zugänglich gewesen, als das Interesse für Plutarch 
wieder erwachte. Anders steht es mit der Sammlung 'H&ıx«, aus der ich die 
Schrift zeoı derardctpoviag xat aOecrytos (dies der richtige Titel) aufgenommen 
habe. Obwohl mir leider kein neues handschriftliches Material zu Gebote 
stand, hat sich das Verhältnis der beiden Redaktionen genau so herausgestellt, 
wie ich es an der Hand von Patons Ausgabe der Schrift zee: gulozkorzias 


Nachwort. 


dargelegt habe (Götting. gel. Anzeigen 1896). Der Text ist danach nicht un- 
wesentlich verbessert, aber doch nur provisorisch. Ungedrucktes Material 
habe ich auch für die beiden hippokratischen Bücher nicht gehabt; wenn 
namentlich zegi ioe vorouv hier so ganz anders aussiebt als bei Littre, so 
habe ich in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie 1900 davon Rechen- 
schaft gegeben. Auch die beiden Stücke aus Oribasius mulsten, überwiegend 
durch Konjektur, aus dem Rohen gearbeitet werden; daran hat auch die Aus- 
gabe des Diokles von Wellmann, die ich noch benutzen konnte, nichts ge- 
ändert. Dagegen hat mir für Clemens sein künftiger Herausgeber, Herr 
Dr. Stähelin in Nürnberg, freundlichst alles zur Verfügung gestellt, was er 
gesammelt hatte. 

Positiver Gewinn für den Text ist nur bei wenigen Stücken nicht ab- 
gefallen; ich denke das Wichtigste davon im Hermes zur Kenntnis der Fach- 
genossen zu bringen, die es sich hier nicht heraussuchen können. Allein die 
Emendation war hier ja in keiner Weise das Ziel. Hier mulste mit allen 
Mitteln ein lesbarer Text erreicht werden, und so ist denn nicht nur manch- 
mal etwas Mögliches eingesetzt, auch wenn ungewifs war, ob der Autor so 
geschrieben hätte, oder auch gewifs, dafs er es nicht gethan hätte: es ist 
manchmal eine sinngemäfse Ergänzung als Text gegeben oder etwas fort- 
gelassen, weil es unverständlich war. Für die Schüler ist das Buch bestimmt, 
und denen mit Textkritik zu kommen, halte ich für einen Unfug, grade weil 
ich weils, dafs zum Philologen verdorben ist wer sie nicht zu schätzen und 
zu üben versteht. Übrigens sind zu meiner Überraschung diese äufsersten 
Mittel recht selten und in der Mehrzahl grade der bedeutendsten Stücke 
gar nicht notwendig geworden. Eine Auswahl, wie ich sie in der Politik und 
Ethik des Aristoteles vorgenommen habe, ist zwar auch Willkür, aber un- 
schädlichere, als was sich in den meisten Ausgaben als Textkritik giebt. 

Eine besondere Behandlung haben die Apophthegmen und in noch 
höherem Grade die beiden äsopischen Stücke erfahren. Konnte in den 
ersteren von philologischer Gewähr des Textes schon darum nicht immer die 
Rede sein, weil sie aus einem zusammenhängenden Texte ausgehoben wurden, 
so waren diese, wie sie überliefert sind, überhaupt nicht zu brauchen. Die 
Fassung, wie sie für die Fabeln bei Halm auf ungenügender handschriftlicher 
Grundlage gegeben ist, und wie sie Eberhard zuverlässig für das Leben 
Äsops gegeben hat, ist nicht älter als das Ende des vierten Jahrhunderts, 
vermutlich jünger, da sie die accentuierten Satzschlüsse zeigt. Wie sehr diese 
neue Prosa zu Änderungen der Wortstellung und auch der Syntax verführt 
hat, weils wer sein Ohr geschult hat, ihre Künste zu empfinden. Mit diesen 
Dingen aber durfte der Sekundaner nicht behelligt werden, und der ganze 
Text hatte auf pietätvolle Behandlung keinen Anspruch. Da ist also 
mancherlei ganz gewaltsam geändert, und es hätte diese Willkür vielleicht noch 
weiter gehen sollen. Übrigens sind diese Partien die. welche auch in der 


Nachwort. 


Auswahl mich am wenigsten befriedigen, und ich glaube bereits zu sehen, 
wie die Apophthegmen richtiger zu behandeln sind. 

Orthographie und Interpunktion haben beträchtliche Mühe gemacht und 
werden dennoch der Verbesserung bedürfen. Die Schule muls eine Gleich- 
förmigkeit wünschen, die in den Ausgaben und Handschriften nicht vorhanden 
ist, je näher sie der Ilandschrift der Autoren kommen, desto weniger. Im 
allgemeinen habe ich da, meiner Neigung und Übung entgegen, normalisiert, 
selbst in den Urkunden und Briefen, aber überall das zu thun, auch einem 
Aristoteles und Polybios gegenüber, konnte ich mich nicht entschliefsen; so 
etwas wie ouder und ouder, Tegeoroy und Tigéoros ist doch nicht schlimmer 
als die ionische Vokalisation gegenüber der attischen, und ich meine, auch 
dem Schüler nützt es etwas, wenn er neben dem Terrorismus unserer 
modernen orthographischen Schablone eine Alınung von dem Leben der 
Sprache erhält. Accentuation und Interpunktion, also etwas, das auch dann 
nicht überliefert ist, wenn cs den Handschriften entnommen wird, war 
namentlich deshalb so schwer auszugleichen, weil man unwillkürlich etwas 
unter dem Banne des gedruckten Textes steht, den man durchkorrigiert. Wie 
sehr die Herausgeber auch in der Accentuation auseinandergehen, habe ich 
hier erst ganz klar erkannt. Darin hoffe ich leidliche Gleichförmigkeit er- 
reicht zu haben; nicht so in der Interpunktion. Zwar würde ich mich darin 
niemals zu einer schematischen Gleichmacherei verstehn, habe vielmehr von 
neuem die Meisterschaft bewundert, die in Immanuel Bekkers Inkonstanz liegt. 
Aber ich fürchte, dem nächsten Zwecke, die Schüler nicht zu verwirren und 
es ibnen möglichst zu erleichtern, hätte man noch besser dienen können. 
Dafs ich aber diesem Gesichtspunkte auch gegenüber dem, was ich für an 
sich richtig halte, Rechnung getragen habe, kann ich versichern. Richtig 
werden wir erst interpungieren, wenn wir durch genaue und von Phantasmen 
freie Untersuchung des reduerischen Rhythmus die Punkte kennen gelernt 
haben, an denen die Stimme inne hielt: das wollte die antike Interpunktion 
bezeichnen, und es ist das einzig verständige. 

Die Erläuterungen sind in der Weise zu stande gekommen, dafs sie, 
wenn ich sie entworfen hatte, Ewald Bruhn vorgelegt wurden und erst auf Grund 
seiner Bemerkungen ihre definitive Gestalt erhielten. Seine besondere Aufgabe 
war die Vokabeln festzustellen, die in den geläufigen Schulwörterbüchern 
fehlen und nicht ohne weiteres dem Schüler aus seiner allgemeinen Sprach- 
kenntnis verständlich sein müssen. Diese sind dann. womöglich nicht blofs durch 
eine Übersetzung. erklärt. Ich halte es übrigens für gar keinen Schaden, wenn 
dem Schüler hie und da das Aufschlagen erspart wird: an das, was er nicht 
zu behalten braucht, soll er so wenig wie möglich Zeit verlieren. Aber aller- 
dings habe ich mich entsetzt, wie grausam der unselige Klassicismus unserer 
Schullektüre die Wörterbücher ausgemergelt hat: keine Seite Polybios oder 
Dinodar kann jemand mit ihnen verstehen. Es würde ein nicht geringer Nutzen 


Nachwort. 


dieses Buches sein, wenn es damit etwas besser würde, und dazu sind er- 
freuliche Ansätze bereits gemacht. Von der sonstigen Qualität meiner Er- 
klärung will ich nicht reden: ich habe es so gut gemacht, wie ich konnte, 
aber ich wollte nicht das Bessere suchen gehen, geschweige denn das absolut 
Gute: ich wollte fertig werden. Beim Korrigieren sind mir zahlreiche Dubletten 
aufgefallen. Beseitigt würde ich sie wohl nicht baben, denn das Buch ist ja 
nicht zum Durchlesen da, und so schaden sie nichts; aber auszugleichen wäre 
manches gewesen, und wie sollte mein Auge nicht vieles sehen, was fehlen 
sollte und was fehlt? Dennoch habe ich nicht geändert; es mufs sich zeigen, 
ob das Buch lebensfähig ist. Das werden diese Mängel nicht hindern; vor 
allen Dingen mufste es gemacht werden. Gemacht ist es nicht für Philologen, 
sondern für die Lehrer und Schüler, die es brauchen wollen. Daher kramt 
es keine Gelehrsamkeit aus; nur habe ich gern hie und da etwas Schönes 
an Citaten eingesetzt, und dieses mir wichtige Komplement schien mir das 
beigegebene Verzeichnis zu verdienen. 

Der Einflufs von Bruhn ist viel tiefer gegangen, als ich anzeigen kann. 
Den Mahnungen des erfahrenen Lehrers bin ich gern gefolgt, bis an die 
Grenze, wo ich mich selbst hätte aufgeben müssen; womit nicht geleugnet 
wird, dafs er auch weiter hinaus recht gehabt hätte. Aber mir und meinem 
Verständnis des Textes kam es auch sehr zu statten, dafs noch ein wirklich 
des Griechischen mächtiger Philologe alles mit arbeitete. Es ist wirklich das 
wenigste,- dafs er eine Anzahl Erläuterungen und Verbesserungen des Textes 
beigesteuert hat, obwohl auch das so viel ist, dafs er notwendig einen Aufsatz 
darüber schreiben mufs. Endlich hat er das Schwerste der Korrektur auch 
noch auf sich genommen, unterstützt von unserem gemeinschaftlichen Freunde 
Dr. Hans Petersen in Flensburg. Wenn ich also am Schlusse dieses Buches 
allen meinen Mitarbeitern meinen Dank ausspreche, so mufs ich Bruhn gradezu 
als Mitarbeiter an allem bezeichnen und auch dem vorgesetzten Ministerium 
besonders dafür danken, dafs Bruhn von seinen Amtspflichten soweit entlastet 
worden ist, dafs er mir diese lilfe zu leisten im stande war. Was endlich 
die Verlagsbuchhandlung geleistet hat, das liegt zu Tage. Möchte es doch 
vorbildliche Bedeutung haben, wie hier die leitende Behörde, Universitätslehrer 
und praktische Schulmänner und der Verleger sich einträchtig und opferwillig 
zusammengefunden haben, ausgehend von dem gemeinschaftlichen Grunde 
ernster Wissenschaftlichkeit, hinstrebend zu demselben Ziele, dem Wohle des 
Gymnasiums, getragen von dem Vertrauen zu unserm wissenschaftlichen 
Lehrerstande, dem Vertrauen zu unsern Schülern, vor allem von dem Ver- 
trauen zu der welterziehenden Mission des Hellenismus: darum steht Alexander 
auf unserm Titelblatt. 


© 





Druckprobe des Textes. 


988 X. Urkunden und Briefe. 2. Stiftungsurkunde des zweiten Seebundes. 


2. Stiftungsurkunde des zweiten Seebundes. 
(Dittenberger Sylloge 80.) 

“Ent Navowixov &oyovros, KaAklfıos Knypıoopwvrog Haavısög 
Eyoaundrever. 

’Eni vis Innodwrrldos EBödung movravelas &öoße vy Povdg 
xal tH dium, Xagivog “Aduovets Ensordreı‘ Aguororeing eine 
ron Ayady vy Admvalov xai Tor ovppdyor Tor "Adnvalav' so 
Snag Av Aaxsdaruövioı Eücı tods “FAAnvas LAsvdeoovg xal adcovd- 
hous hovzlay Äyeım viv yoga Exovrag Ev Beßalp viv éavtdy * * * 
**** 2ungloda tH djuo édv tug Bodinru vüv ‘Eddjvov ih 
or PagBdgwv tiv ev Ijnelgpw evoxodytwr N THY vnowwtéy, Goor 
un Baovkéws eioiv, “AInvalow cdppazos slvar xai tdY ovundzwn, 1 
Eeiva adt@ ehevdéow Svc zal adrovéum@, mokirevopévw mokırelav 
aw dy Botdytas, pave poovoav elodsxopévep jujve dgyovta Önodeyo- 
Hévr@ pate gogov gégovtt, Enl 6&8 vols adtois, Ep’ oloneg Xior xal 
OnBaior xai of G2Aot otupazor. vols d& momoapévors ovpmaziay s 
zoog Adnvalovg xai cobs ouupdzovs dgetvar tov dijuov ta éyxcij- 
mata, d:60’ dv tuyzdvy Svea 7 Ida ) Ömudara Adnvalov Ev ti 
HOG thy olovperoy THY ovuuazlav' xal aegi rodror alot 
dota “Adnraiovs. bay 08 toyzdiy row adden THY owvueror 
Thy ovunazlar zoo Aldyraulovz orijiu oboar “Adjvnot dvenctydecot, 10 
Thy Bovdsyw viv dei Bovdetovoay xugiay eivar xadaigeiv. dnd 6é 
Navowizow dozovtos po) eSetvar wire ida wire Önuoolg ‘Adnvalor 
underi eyxrijonoda év rals Tor ovoppdzor zadoais wire olxlav pure 
zwoiov wire zouauerp wire brodenivp jujte GAA toda pndevi. 
bay ÖE tg viva N zräraı 7) rıdiraı toda Örwoöv, Eelvu tH 15 
BovAoutrp or cvppdzor gira rgös tods ovvédqovs THY auundgor" 
of 62 ouvednoı dnodduevor AtoddvTON TO fev Fuov TH grjvartt, TO 
6& dAko xowdr Forw THY ovuudzan. fav ÖE tis ty Eni nokiup 
omoauevong Thy avpaglar 7 zara zijv i) zard Oddatcar, 
Atywaioug xai robs Grundzovz Tovroz zai xara yijv za 20 





éxito 
Bondeiv 
nate Ydharrav aarti odéver xard To Öwvardv. édv 6€ tes elny 
7 éxepngloy 7 dozov 7 löimens azagd Tode To yiigioua, ws Adew 
ru det Tor Ev Tode tH ymglouarı sionuror, bragyerw wer 
abt@ dating elvac xal ta zorjpata adtod dnudaa Edorw xal tis 
deod ro exdéxatows xal zowiodo tv Adyraioız zai tots ovumdyog 






INHALT. 


Text. Erster Halbband. 


I Fabeln und Erzählungen. Seite 
1. Äsopische Fabeln . . . » .: 2: 22 22200. | 
2. Aus dem Leben Äsops. . 2 2: 2 mem. 7 
3. Aus Lukians Wahrhaftigen Geschichten. .......2..... BR 
4. Der Jäger, von Dion von Prusa ........ |‘ 
5. Gnomen und Apophthegmen . . . . 2:22 2 2 2 nenn 32 

a) ‘Upaxielrou "Eyeoiov yrouer. . . 2.2... Er »; 
b) .Mmuoxglrov ABdnolrov yyuumı... . . . en of 
C) Anoydlyguue . . we ee ee ee ee ou 
II. Geschichte. 
1. Solon, aus der Molıreia A9rvalov des Aristoteles. . ....... 3 
2. Pausanias und Themistokles, aus Thukydides I. ......... 0 
3. Die Schlacht bei Salamis, aus den Persern des Aischylos . ... . in 
4. Perikles. 
a) Gründungen und Bauten der Friedensjahre, aus Plutarchs 
Perikles. . 2: ww we ee ee te ee ee ee tt i? 
b) Lebensende, aus Plutarchs Perikles . ........2.2.2.. «40 
c) Stimmen von Zeitgenossen. 
1. Thukydides. .. 2... or en“ 6% 
2. Eupolis . 2. 2 oo onen. MM 
3. Protagoras . . ......+2-+ eee | 
5. Demosthenes, aus der Kranzrede . . . . 2 2 2 2000 nenn i) 
6. Alexander der Grofse, aus Arrians Anabasis. .......... 4 
a) Der Kampf mit Poros ... . 2... 2 nenn nenne. dr 
b) Der Anfstand der Makedonen. . .-. . 2. 2222 en nen ah 
c) Alexanders Tod... 2... 22 eee ee ee ee ee 102 
7. Scipio Aemilianus als Jüngling, aus Polybios . ......... 106 
8. Tiberius Gracchus, aus Appians Bürgerkriegen. .. ....... Ile 
9) Caesars Lebensende, aus Plutarchs Caesar . . .. 2.2 220 .. 123 


I. Politik. 


1. Das Ideal der athenischen Demokratie, Leichenrede des Perikles 
bei Thukydides. . . 2 22 Co oo Ce 13. 
Anhang: Epigramme . .: 2:2 ren 144 
2. Staatslehre des Aristoteles... . 2... Fa 148 
a) Begriff des Staates . . 2... 1 1 ee ee ee en 150 
b) Begriff des Staatsbürgers . .. . 000 0 2-21 rn 15? 
c) Verfassungsformen. . 2: 2: 00 +2 ee nn 154 
d) Berechtigung des Majoritätsprinzipes .......2..2.2.. 14 
e) Die natürlichen Stände im Staate . .......4..2.22... 156 
f) Die Formen der Demokratie und Oligarchie ......4... 158 
g) Die äufserste Demokratie... . 2... oe eee we we ew 159 
h) Der beste Staat. . . 2. 2... rn 160 

3. Polybios über den Kreislauf der Verfassungen und den Vorzug der 


Verfassung des römischen Volkes, ... 22... oe ew we we 168 


Inhalt. 


Text. Zweiter Halbband. 


Seite 
IV. Erd- und Himmelskunde . .. 22 22 m 2 2a 181 
1. Das Weltgebäude, aus der Schrift seo xoauov . ...... .. 186 
2. Asiaten und Europäer, aus Hippokrates zei «dowy vdarwy tommy . 199 
3. Das Keltenland und seine Bewohner, aus Strabons Geographie 207 
4. Sitten der Kelten, aus Poseidonios. 
a) Auszug des Strabon . . 2 2m mern 217 
b) Auszug des Diodoros . . 2 >: 2 nenn 219 
c) Bruchstück bei Athenaios ........2.2..28.2.8448. 224 
5. Britannien, aus Strabon . . .. 22 onen 226 
6. Die latinische Küste und Rom, aus Strabon . . . . 2 2 2 2 202. 229 
V. Mathemathik und Mechanik. 
1. Aus den Elementen des Eukleides . . 2 2 2 2: 2 2 nr 2 2 2 nen 235 
2, Archimedes Buch von der Sandzahl ........... 2 ee 242 
3. Aus Heron von Alexandreia . . . .. 1... nr ee eee 252 
a) Lehre vom Vacuum . . 2. 2: 2:2 onen Di 
b) Windkessel . 2 2 2 22 Co one 257 
c) Feuerspritze . 2. 2: 2 Con 259 
d) Weihwasserautomat . 2 2: 2 0 mr ren 261 
e) Kugel von Dampf bewegt ...........2.2-+.2446- 261 
f) Wegmesser ... 2 00 rer. 262 
4. Das Riesenschiff des Hieron, von Moschion ........... 265 
VI. Medizin. 
1. Hippokrates von der heiligen Krankheit. . nennen. 269 
2. Gesundheitspflege . . . 2 2: 00 m onen 277 
a) Aus Diokles von Karystos . 2. 2 2 2 or ren 279 
b) Aus Athenaios von Attaleia .......... +62 ee eae 284 
VII. Philosophie. 
1. Sokratische Methode, aus Platons Menon .......2.2.2... 287 
2. Die Lebensziele, Gliickseligkeit, aus der Ethik des Aristoteles. . . 294 
3. Über das Studium der Natur, aus Aristoteles evi (yw uoplwor . . 300 


4. Menschliche Charaktertypen, aus den Charakteren des Theophrastos 302 
5. Philosophie als Regel und Trost des Lebens, aus Marcus eis éevrey 308 
6. Erziehung zu Gott wohlgefälligem Leben, aus den (Gresprächen des 
Epiktet . 22 oo onen nenn. 320 
7. Aberglaube und Unglaube, von Plutarch . . . 2.2: 2 2220. 328 
8. Berechtigung des Bilderdienstes, von Maximus von Tyros. . . . . 338 
VIH. Altchristliches. 
1. Verfassung und Gottesdienst der altchristlichen Gemeinde, aus der 
Apostellehre . .......2..... ER 343 
2. Das Christentum als Offenbarung der wahren Wissenschaft, aus dem 
Protreptikos des Clemens . . . . 2: 2 re rennen 347 
3. Die Christen als Träger eines neuen Lebens, der Brief an Diognet . 306 


Inhalt. 


Seite 
IX. Ästhetik und Grammatik. 

1. Redekünste oder wissenschaftliche Forschung?, aus dem Phaidros 
des Platon.  . 2 2 00 00 et ern. 354 
2. Regel und Genie, aus der Schrift zepd Uwous - . . - 2 22.2.0. 377 

8. Die Elemente der Grammatik, aus dem Lehrbuche des Dionysios 
Thrax . 2 2 200 en 382 

X. Urkunden und Briefe. 
Urkunden: 
1. Volksbeschlüsse über Methone .......2.2.2... .... 387 
2. Stiftungsurkunde des zweiten Seebundes. ......2.2.2.2... 388 
3. Ehrung eines Agonotheten. . . . » 2 200 22 0 +22 ee ee 390 
Erlasse: 
4. Dareios an Gadatas. . 2. 2 22 1 1 ee nen 591 
5. Alexander an das Volk von Chios . . . . 2 2 2 2 ee nen 391 
6. Philippos V an die Stadt Larisa. . -.....-.-2..4... 392 
7. Attalos II an den Hohenpriester von Pessinus . . - .. 2. 2... 333 
8. Mithradates Eupator, Achtung eines Römerfreunde ....... 24 
9. Augustus an die freie Stadt Knidos . . 2. 2 2 22 nenn ood 
10. Nero, Rede an die Griechen in Korinth. ............ 39 
Privatbriefe: 

11. Epikuros an ein Kind... . 22 2 Cu eee ee ee eee 39 
12. Epikuros auf dem Sterbebette an Idomeneus .......... 83% 
13. Zwei Söhne an ihren alten Vater ...... Swe eee ee 8M 
14. Eine verlassene Frau an ihren Gatten ......2.2.2.2..2.+. 991 
15. Einladungskarte zur Hochzeit . . . 2 2 2 2 0 2 ee we eae 398 
16. Kondolenzbrief . . .. 2... we ee 0 ee tt th een 395 
17. Geschäftsbrief nn nn 309 


auf Rechnung — zur Ansicht: 
v. Wilamowitz-Moellendorff, Griechisches Lesebuch. 


Text 2 Halbbände. — Erläuterungen 2 Halbbände. 
(Verlag der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin) 
Ort und Datum. Name. 





Druck von W. Pormetter in Berlin. 


Verlag der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin SW. 12. 


Vom Januar 1902 an erscheint im unterzeichneten Verlage und ist durch alle 
Buchhandlungen des In- und Auslandes zu beziehen: 


Monatschrift für höhere Schulen 


Herausgegeben 
unter Mitwirkung namhafter Schulmänner, Universitatslehrer und Verwaltungsbeamten 
von 


Dr. R. Köpke, „, Dr. A. Matthias, 
Geh. Ober-Reg.-Rat Geh. Reg.-Rat, 


Vortragenden Räten im Königl. Preuss. Kultusmimsterium. 
Jährlich 12 Hefte im Gesamtumfange von ca. 4° {ogen im Format dieses Prospektes. 


Preis für den Jahrgang: 15 Mark. 


Die Monatschrift für höhere Schulen soll im Gegensatz zu den bestchen- 
den Zeitschriften für das höhere Schulwesen, welche alle mehr oder weniger 
die Interessen einer bestimmten Schulart oder cines bestimmten Unterrichts- 
zweiges vertreten, das gesamte höhere Unterrichtswesen behandeln. 

Auf Anregung des Königlich Preussischen Kultusministeriums ins Leben 
gerufen, von zwei an hervorragender Stelle stehenden bedeutenden Schulmännern 
herausgegeben und durch eine grosse Zahl ausgezeichneter Mitarbeiter unter- 
stüzt, dürfte die neue Monatschrift berufen sein, eine führende Rolle in der 
pädagogischen Zeitschriftenlitteratur einzunehmen. Von einer hohen Warte soll 
hier das höhere Unterrichtswesen in allen seinen Zweigen betrachtet und ge- 
fördert werden und zwar in einer Weise, dass nicht nur der Fachmann, sondern 
jeder Gebildete, der an den Fragen des Unterrichts und der Erziehung teilnimmt, 
dabei seine Befriedigung findet. 

Die Verlagshandlung hotit. dass die Grundsätze, welche als die für die 
Monatschriit massgebenden in dem Artikel „Zur Einführung“ dargelegt sind, 
die Zustimmung weiter Kreise besonders auch der deutschen Lehrerschait 
der höheren Schulen finden werden, und dass die Monatschrift tür höhere 
Schulen sich der dauernden Teilnahme dieser Kreise erireuen wird. 


Weidmannsche Buchtantuns.. 


Aus dem Artikel „Zur Einführung“. 


Die neue Monatschrift wird bemüht sein, die Interessen der höheren 
Schulen nach allen Richtungen hin in sachgemäßer Weise zu vertreten 
und von allgemeinen Gesichtspunkten aus das ganze Gebiet des höheren 
Unterrichtswesens zu umfassen. 

Das Programm der Monatschrift wird daher so weit gesteckt sein, daß alle 
prinzipiellen und praktischen Fragen des Schulwesens hineinfallen. Schulgeschichte, 
Organisation, Statistik, alle sogenannten Externa, auch Schulgesundheitspflege, 
pädagogische und didaktische Fragen allgemeiner Art sowie Lehrpläne und Lehr- 
aufgaben der einzelnen Unterrichtsfächer sollen in größeren Abhandlungen, kurzen 
Weisungen und Bücherbesprechungen behandelt werden, auch Personalien, soweit 
sie allgemeine Beachtung verdienen, gebührende Berücksichtigung erfahren. Mit 
der Herausgabe der Zeitschrift verbindet sich die Hoffnung, daß die betrübende Zer- 
splitterung der Richtungen und Kräfte auf dem Gebiete des Unterrichtswesens be- 
seitigt oder doch vermindert wird durch eine Sammelstelle für alle die bezeichneten 
Fragen der gesamten Organisation des höheren Unterrichts, auch des Universitäts- 
unterrichts, soweit er die höheren Schulen berührt. Und wenn sich unter den 
Mitarbeitern, die bis jetzt freundlich zugesagt haben, auch Männer befinden, die nicht 
dem Schul- oder Lehriache angehören, so entspricht das den weitgesteckten Zielen 
der Monatschrift, die jeden, der dem Leben der deutschen höheren Schule Auf- 
merksamkeit und Wohlwollen schenkt, in ihre Kreise ziehen möchte, damit alle 
gebildeten Freunde der Schule und daran hat Deutschland keinen Mangel -— 
nicht nur aus den Tagesblättern über wichtige Schulfragen ihre Nahrung schöpfen, 
sondern aus einem Fachblatte, das sich in den Dienst aller derer stellen möchte, 
denen daran grelegen ist, das Leben der Schule mit dem frisch pulsierenden Leben 
unseres Volkes in inniger Berührung zu halten. 

Insbesondere will die Monatschrift die Weiterführung der Schul- 
reform unterstützen und an ihrem Teile dazu beitragen, daß die Aus- 
liihrungen des Allerhöchsten Erlasses vom 26. November 1900 im Leben 
der höheren Schule volle Geltung gewinnen. Der leitende Grundsatz 
des Erlasses Gleichwertigkeit der Gymnasien, Realgymnasien und 
Oberrealschulen- sollmaßgebend sein auch für dieses neue Organ des 
höheren Unterrichts. Es werden deshalb die Vertreter aller Schul- 
Faltungen gebeten an gemeinsamer Arbeit teilzunehmen, um durch 





3 


gegenseitige Anregung und Wertschätzung und durch den Grundsatz, 
daß die drei Anstalten sich nicht in den Bildungszielen, sondern nur 
in den Mitteln und Wegen zu gemeinsamen Erziehungsidealen unter- 
scheiden, die Gegensätze zwischen der sogenannten humanistischen 
und realistischen Richtung zu mildern und einem versöhnenden Aus- 
gleiche entgegen zu führen. 

Daß gegen den leitenden Grundsatz des Allerhöchsten Erlasses die Gleich- 
wertigkeit unserer verschiedenen höheren Schularten - -- noch mannigfache Bedenken 
sich regen und daß gewissenhafte Männer zur Vorsicht mahnen bei Neuerungen, 
die nach ihrer Meinung an bewährten Grundlagen rütteln, kann man verstehen 
und würdigen. Von diesen Männern fürchten die einen, daß der unsere Gebildeten 
erfüllende Geist klassischer, humaner und idealer Bildung, der so Großes in unseres 
Volkes Vergangenheit geschaffen hat, verflacht werden könne und daß unser Volk, 
namentlich in seinen leitenden Kreisen, ohne eine gründliche Schulung durch die 
alten Sprachen und Schriftsteller eine unersetzliche Einbuße an Kraft und Hoheit 
des Geistes erleiden werde. Andere machcı. sich stille Sorge, es solle durch die 
Gleichstellung der drei Schularten eine Umwandlung aller Bildungswerte in der 
Richtung des „Amerikanismus* angebahnt werden. Wieder andere können von 
der Anschauung nicht lassen, daß die Gymnasialbildung vor allem wegen des 
Zusammenhangs mit der Geschichte, in den die Jugend selbsterlebend und selbst- 
schöpfend und -schaffend eingeführt werde, eine tiefergehende und ernstere sei, 
als die sonst in manchen Stücken für den unmittelbaren Gebrauch in Haus und 
Beruf nützlichere Bildung der anderen Schulen. Und weiterhin ist man besorgt, 
daß die Eröffnung der Fakultätstudien für die Reatabiturienten nicht nur die 
Wirksamkeit unserer Universitäten herabzichen, sondern in ihren Folgen den ge- 
samten nationalen Bildungstand schwer schädigen müsse; man prophezeit bereits 
einen Niedergangsprozeß, dessen Fortgang den Universitäten das rauben werde, 
was ihnen bisher den Vorrang vor den ähnlichen Bildungsanstalten anderer Völker 
sicherte: den Geist der Wissenschaftlichkeit. 

Allen diesen Bedenken, Sorgen und Befürchtungen gegenüber muß man doch 
fragen: Will denn der Alterhöchste Erlaß dem alten Guten seine Berechtigung 
nehmen? Soll nicht vielmehr jeder Schule und gerade dem Gymnasium --- 
Gelegenheit gegeben werden, sich in ihrer Eigenart und der ilır eigenen Wirkungs- 
kraft zu entfalten? Das Gymnasium hat kraft seines Berechtigungsmonopols viel- 
fach auf seinen Lorbeern stark ausgeruht. Quandoque bonus dormitat Homerus. 
Und nicht selten waren es eingebildete Lorbeern, auf denen man sich behaglich 
streckte. Jetzt soll diese Schule ihrem eigenen Wesen wiedergegeben werden, 
aber sie soll und nur das ist das Neue an der Entwicklung in einen Wett- 
kampf edelster Art nach idealen Zielen mit ihren Schwestern eintreten, die bisher 
nicht auf Lorbeern und Rosen gebettet waren, sondern in der Asche saßen. 
Jenen Bedenken gegenüber muß man ferner fragen: Sind denn die realen Anstalten, 
denen jetzt auch ein Platz an der Berechtigungssonne gegönnt wird, heute noch 
das, was sie waren oder in ihren ersten Entwicklungsstadien zu werden drohten: 
Schulen trivialen Nutzens, bei denen wie bei den Gymnasien akademische 











4 


gute Wille in ihnen jetzt ein ganz anderer als vor mehreren Jahrzehnten? Heute 
ist man doch der Ansicht, daß jede höhere Schule lediglich der Allgemeinbildung 
dienen und sich nicht knechtisch in den Dienst und die Abhängigkeit irgend einer 
Art von Fachbildung oder einer der vielen Berechtigungen stellen soll, die mit 
jedem Jahre sich mehren. Alle höheren Schulen - das ist heute die Meinung -- 
sollen dem Ganzen dadurch dienen, daß sie begrifflich klares Denken wecken, die 
Phantasie, das Gemüt und den Willen stärken und so den ganzen Menschen in 
Zucht nehmen. Die Aufgabe der höheren Schule für die so oder so geartcte 
spätere Fachbildung kann nur darin bestehen, die allgemeinen, unerläßlichen Vor- 
bedingungen für jede Art von höherer Berufsthätigkeit und eine von Vorurteilen 
möglichst freie Geistesbildung zu gewähren durch einen festen Kenntnisbestand 
und sicheres Können in einem bestimmten Kreise vornehmen Wissens. Die huma- 
nistische Bildung, deren Pflege das Gynınasium für sich allein beanspruchte, soll 
auch an den Realanstalten das ideale Endziel bilden, um einen Riß der höheren 
Bildung unseres Volkes und eine Scheidung in eine Allgemeinbildung besser- und 
minderwertiger Art zu verhindern. Sind die gesamten Geisteskräfte in richtiger 
Weise an den verschiedensten mehr oder minder schwierigen Stoffen der mannig- 
faltigen Unterrichtsfacher erst einmal geweckt und gestärkt, so wird - - das ist 
Grundsatz der humanistischen Bildung im weitesten Sinne und der Grundgedanke 
der Gleichwertigkeit der drei Schularten - der also gebildete Jüngling jedes 
weitere Studium angreifen, indem er mit seinen geistigen Kräften sich einsichts- 
bereit, eindringlich und willensstark in die jedesmaligen Besonderheiten seines 
Berufs hineinarbeitet und die mannigfachen Schwierigkeiten der Fachvorbildung 
olıne weitere Vormundschaft allein überwindet. Man begreiit es schwer, daß man in 
unserem Lande und in unserer Zeit, wo man nie genug Freiheiten haben zu können 
meint, dem Grundsatz des Allerhöchsten Erlasses, welcher der Bewegung der 
Individualität den freiesten Spielraum gewährt, indem er jeden nach seiner Fagon 
seinen Bildunysweg in Frieden ziehen läßt, nicht in allen Kreisen volles Verständnis 
entgegen bringt und es nicht begreifen will, daß auch auf den realen Anstalten 
Ideale so gut wrepflegt werden können, wie auf den Gymnasien. Wer das Leben 
unserer Schulen in den letzten Jahrzehnten genau beobachtet hat, kann Thatsachen 
von idealer Bedeutung gar nicht übersehen haben. Diejenigen, die auf den Namen 
Humanisten den ersten Anspruch machten, haben 1882 und 1892 in den L.ehr- 
plänen jener Jahre eines der idealsten Fächer, die philosophische Propädeutik, 
preisgeyeben ohne Sang und ohne Klang. Männer aber, die man den Realisten 
zuzurechnen sich gewöhnt hat, haben dann diesen Unterrichtsgegenstand in ihre 
Pflege genommen und mit dazu beigetragen, daß die Lehrpläne von 1901 wieder 
den Mut zeigen, auch das Studium der Philosophie den oberen Klassen unserer 
höheren Schulen warm zu empfehlen. Und unter den Lehrern der matlicinatisch- 
naturwissenschättlichen Fächer zeigen sich heute Männer, die ihr Lehrfach nach 
vornelimen humanistischen Grundsätzen betreiben im Gegensatz zu der realistischen 
Meinung derer, die den Stoff einzie und allein nach der Wichtigkeit der Gesetze 
für das praktische Leben im allgemeinen und nach den Bedürfnissen der Technik 
im besonderen auswählen möchten. 
Wenn so schon Vorsien geboten ist mit der Mibachtung des idealen Wertes 
der sogenannten realen Unterrichtsfächer, so sollen andcretseits dieienigen vor- 


9) 


sichtig sein, die die Pflege idealen Sinnes nur dem gymnasialen Unterricht zu- 
weisen, und, um Eins herauszugreifen, behaupten, daß nur der altsprachliche 
Unterricht der Bildung historischen Sinnes dienstbar gemacht werden könne. Wer 
sich wesentlich auf das Altertum beschränkt für die Ausbildung geschichtlichen 
Denkens, der überläßt den schwierigen Teil der Aufgabe, nämlich die Verwertung 
des im Unterricht gebotenen Stoffes für die Bedürfnisse der Gegenwart dem Schüler 
allein und er stellt ihm damit die oft unlösbare Aufgabe, die Berührungspunkte 
zwischen den einfachen ihm im Unterricht vorgeführten Verhältnissen und den 
Verhältnissen des modernen Lebens, in das er eintreten und auf dessen Weiter- 
entwicklung er selbst vielleicht einmal Einfluß üben soll, selber herauszufinden, 
olıne ihm für diese Berührungspunkte auch nur einen Fingerzeig zu geben. Und 
mit gleicher Vorsicht sollte man die Behauptung aufnehmen, als ob das Selbst- 
bilden und Selbsterleben geschichtlicher Vorgänge nur durch den altsprachlichen 
Unterricht möglich wäre. Es ist doch nicht einzusehen, weshalb nicht auch treff- 
liche Übersetzungen antiker Schriftsteller, an denen wir leider noch immer großen 
Mangel leiden, unsere Schüler in das Geistes- und Kulturleben des Altertums 
einführen sollten, und es ist, abgeschen von der Einführung in die alte Ge- 
schichte, nicht einzuschen, weshalb nicht französische, englische und deutsche 
Geschichtsquellen aus abgeklärten Zeiten die Schüler anleiten sollten zum Selbst- 
bilden und Selbsterleben und vielleicht zu gesunderem Selbstschaffen, als es 
an antiken Reden oder historischen Darstellungen möglich ist, von denen jene 
vielfach gar nicht so gehalten sind, wie sie die Überlieferung darbietet, und diese 
und jene das wirkliche Leben der Vergangenheit durch ihren panegyrischen Charakter 
nicht selten schief darstellen, verbrämen und verdecken. Eine Rede des älteren Pitt, 
der im 18. Jahrhundert die künstlerische Behandlung der parlamentarischen Rede 
zur Meisterschaft gebracht hat, oder eines Macaulay, der mit wenig rhetorischen 
Mitteln Musterstücke edelster Beredsamkeit geschaffen hat, oder eines der großen 
französischen Parlamentarier aus der Schöpfungszeit des modernen Staates wird 
doch bei geschickter Behandlung durch tüchtige Lehrer ein Selbstbilden und 
Selbstschaffen so ermöglichen, daß das Bild vergangener Zeiten plastisch vor 
das Schülerauge tritt und seinem historischen Sinn reichliche Nahrung spendet. 
Auch hier tiegt noch ein reiches Arbeitsfeld für die Unterrichtsaufyaben der realen 
Anstalten. Die Monatschrift wird sich bemühen, dieses Feld ergiebig und frucht- 
bar zu machen®). Und wenn immer das Monopol klassischer Bildung und 
der Vertieiung ins klassische Altertum nur den Gymnasien zugewiesen wird, 
so vergesse man doch nicht, daß es auch dem Schüler der realen Anstalten 
vergönnt ist, durch Shakespeares Vermittlung Freude am römischen Staat und 
dessen gvewaltiger Laufbahn nachzuempfinden. Weshalb sollen die Schüler denn 
nicht wie der große britische Dichter gleichsam init dem stolzen Wohlgefallen 
eines Angehörigen an Coriolans Wirken und dem Kampfe zwischen der Macht 
des Adels und des Volkes oder an Cäsars Thaten und dem Kampfe des Freistaates 
mit der Alleinberrschaft nacherlebend teilnehmen und an diesen Stofien aus weiter 


*) Eine der nächsten Nummern der Monatschrift wird eine Abhandlung bringen über die 
Frage, wie das Realeymnasium tiefer in das Verständnis des klassischen Altertums cia- 
führen und zu geschichtlichem Denken erziehen kann. 





Oe eee oo nn 


6 


Fremde und ferner Zeit die tiefsten und wirksamsten Gefühle von universaler Be- 
deutung mitempfinden! Das Bewußtsein aber, daß deutsches und hellenisches 
Wesen innig verwandt sind, und die Empfindung, daß wir geistig verarmen und auf- 
hören würden, in der Kulturgeschichte der Menschheit eine führende Stellung zu 
behaupten, haben wir doch nicht lediglich dem altsprachlichen Unterricht zu ver- 
danken, sondern deutschen Geistesschöpfungen, die unserem Auge die stille Einfalt 
und Größe der Antike unmittelbar nahe gebracht haben. Es führen viele Wege nach 
Rom und ins klassische Altertum, z.B. auch der Weg durch Herders, Lessings, Goethes 
und Schillers Dichtungen und Prosaschriften und durch die antike Kunstgeschichte, die 
dem Realschüler auch im Zeichenunterrichte erschlossen werden kann. Und vielleicht 
führt mancher dieser Wege sicherer zu lebendiger Anschauung als dieser oder jener 
Weg, auf dem der landesübliche Betrieb des altsprachlichen Unterrichts über 
grammatische Schwierigkeiten holpernd und stolpernd in die Antike bisher vergeb- 
lich einzudringen versucht hat. Wir sollten doch auch nicht vergessen, wie die reale 
Weltauffassung von jeher reinigend und klärend auf unsere idealen Träume ge- 
wirkt hat, wie die klassisch begeisterten und zugleich nüchtern praktischen Be- 
strebungen eines Schliemann, die ihren Nährboden nicht auf den Bänken eines 
Gymnasiums hatten, der Forschung einen Antrieb gegeben haben, der die inhalt- 
losen Räume der griechischen Vorgeschichte mit Leben erfüllte und jenen Ge- 
stalten Fleisch und Blut verschafite, die bis dahin gleich farblosen Schattenbildern 
vor unseren Blicken vorüberzogen. 

Eine weitere Aufgabe wird die neue Monatschrift darin sehen, 
gleichsam einen ausführenden Kommentar zu bilden zu den durch die 
Weiterführung der Schulreform geschaffenen neuen Lehrplänen und 
Lehraufgaben, sowie zu den weiteren Verfügungen der Central- und 
Provinzialbehörden. Verfügungen müssen sich naturgemäß nur in 
kurzen Sätzen und knappen Fassungen bewegen Diese knappen 
Auslassungen ihren Intentionen nach zu verdeutlichen, die Verfügun- 
gen mit frischen Geiste zu erfüllen, in lebendige That umzusetzen 
und das vertrauensvolle Zusammenwirken von Behörden und Lehrer- 
kollegien dadurch zu fördern, wird Aufgabe der neuen Zeitschrift sein. 
Die gedeihliche Ausführung der allgemeinen Anordnungensolldurch die 
individuelle Überzeugung jedes einzelnen, der zur Mitarbeit an den 
Aufgaben der Schule berufen ist. gesichert werden. Dazu hofft die Zeit- 
schrift die treimiitige Mitwirkung aller beteiligten Kreise zu gewinnen. 

In der Aufsrabe, die in den vorstehenden Sätzen dargelegt ist, sehen manche 
Mitarbeiter den Schwerpunkt der Zeitschrift. Mit Recht weisen sie darauf lin, 
daß die L.chrpläne von 18092 eine Menge von feinen und treiflichen Anregungen 
enthielten. welche meistenteils ungenützt geblicben seien. Maßgebende Persönlich- 
keiten. die zu jenen Lehrplinen in naher Beziehung standen, haben keine Gelegenheit 
versännmmt zu betonen. dab die Lehraufgaben keine beengende Vorschritt, sondern 
nur em Mester veben sollten: daß man ihre Vorschläge im einzelnen nachdenklich 
daetelimmen aber vor ahem ihren Geist zu erfassen suchen mége. Die Behörden 
haben ja adden „Jahren nach 1802 °mmer wieder und wieder hervorgehoben, daß es 
ihnen Feb seh, wenn die Anslührung der Lehrpläne weitherzig gehandhabt werde. 
Verständhor cid Seeinitiac Direktoren und selbstbewußte, tüchtige Lehrerkollegien 





7 


haben das Ihrige gethan, um sich keine spanischen Schnürstiefel anziehen zu 
lassen. Alles vergeblich. Man mußte immer wieder erfahren, daß Leute, die als 
ganz verständig galten, aus reiner Bequemlichkeit buchstabengläubig waren, um sich 
des eigenen Urteils entschlagen zu können. Die pedantische Neigung, die in 
manchem Deutschen liegt, sich im ganzen und im einzelnen nach beengenden 
Normen und Vorschriften zu sehnen, stellte sich freier und optimistischer Anwen- 
dung der Lehrpläne immer wieder in den Weg. Das Glück der Arbeit schien in 
den Schulen geringer werden zu sollen, indem man dem mechanisierenden Zeit- 
geist allzuweit entgegen kam. Die Schulen wurden nicht selten Fabriken gleich, in 
denen überall derselbe Faden gesponnen wird und alle Arbeit als eine Last und 
nicht als eine Lust erscheint; dazu schauten ängstlich besorgte Erziehungsmächte 
beständig aus, ob aus solcher Arbeit der Jugend auch ja nicht zu viel Mühe 
erwachse, und man begann in burcaukratischer Korrektheit das Pflichtmaß der 
Jugend nachgerade nur noch mit der Elle zu messen. Daß man Arbeitspläne 
und Arbeitsmaß verständig überlegt, ehe man Arbeitsforderungen stellt, ist 
in jedem gewissenhaften Lehrerkollegium selbstverständlich, weil es einfach 
Menschenpflicht und Sache jreundschaftlichen Wohlwollens zur Jugend ist, 
besonders so lange sie in den Kinderschuhen steckt, daß diese auch leisten 
kann, was man von ihr fordert. Daß man aber auch heranwachsende Jünglinge 
wie Kinder behandelt in ihrer Arbeitseinteilung, entspricht nicht einer kraftvollen 
und wirksamen Erziehung, da „die Götter Schweiß verlangen, bevor wir die 
Tugend erreichen“, und da es dem deutschen Empfinden zuwider ist, kraftvolle 
Eigenart durch ängstliche und künstliche Gleichmacherei und Bevormundung zu 
hemmen. Es wäre ein Unglück, wenn auch die neuen Lehrpläne von 1901 
unter unfreie Anschauung gestellt würden. 

Die Besorgnis also, die uns entgegengehalten ist, als der Plan zu dieser 
Monatschrift im Werden war, daß die freie Meinung nicht zu Worte kommen 
werde, und daß nur solchen Aufsätzen Raum gegeben werden solle, die sich in 
engen und strengen amtlichen Bahnen bewegten, dürfte unbegründet sein; ebenso 
ist von vornherein der Gedanke abzuweisen, als ob alles, was in dieser Zeitschrift 
steht, auch sofort befolgt werden müsse. Die preußischen Direktorenkonferenzen, 
auf denen manch freimütiges Wort über amtliche l.ehrauigaben gesprochen worden 
ist, haben doch wahrlich zu frischem Leben viel beigetragen und Leben und Segen 
verbreitet, aber der guten Disziplin unserer Schule und unserer Lebrauffassung 
nicht den geringsten Schaden gethan. Weshalb sollte die Monatschrift nicht in 
ähnlichen Bahnen wandeln können? Dafür bürgen ja auch die zahlreichen Mit- 
arbeiter aus allen Kreisen und aus allen Richtungen, die sich bis jetzt freudig 
zur Verfügung gestellt haben. 

Ganz ungerechtfertigt erscheint aber der Einwurf, daß „ein abhängiges Organ 
die für eine wahrhaft fruchtbare Behandlung unentbehrliche freie Bewegung der 
Natur der Sache nach niemals haben könne, weil ein solches Organ, drastisch aus- 
gedrückt, nicht das Recht und nicht die Freiheit habe, auch einmal Dummheiten 
zu machen.“ Dem Abstraktum, was man so „Organ“ nennt, mag ja dieses Recht 
nicht zustehen; aber den einzelnen Mitarbeitern möchte die Leitung der Zeitschrift 
die Freiheit liebenswürdiger Thorheiten nicht verkürzen, da diese zu begehen für 




















8 


freimütigen Auffassung des Wesens der neuen Monatschrift ist auch ein anderes 
Bedenken, das mit dem cbenbezeichneten zusammenhängt, hinfällig, daß .das 
Publikum der Monatschrift den Reiz der Polemik vermissen werde.“ Auf diesen 
Reiz will die Monatschrift keineswegs verzichten. Überall, wo es der Sache 
dienlich ist, wird Auseinandersetzung verschiedener Ansichten geradezu erbeten 
werden. Amicus Plato, amicus Socrates, sed praehonoranda veritas. 

Damit hängt eng zusammen ein weiteres Ziel der Zeitschrift: Sie hat es sich 
vor allem zur Aufgabe gemacht, die höhere Schule in steter lebendiger 
Fühlung mit den Fortschritten der Wissenschaft zu halten. Die be- 
ständige Berührung mit der Wissenschaft wird dazu dienen, in den 
alltäglichen Verzweigungen der Einzelarbeit das Interesse wach zu 
halten für große erziehliche (Grundsätze, für weite leitende Gesichts- 
punkte und für die Festigung der idealen Auffassung des schwierigen 
Lehrerberufs. Die Ausbildung in den pädagogischen Seminarien, die 
seit etwas melir als einem Jahrzelint ins Leben getreten sind, hat diz 
technische Seite und die Methodik des Unterrichtsbetriebes erfreulich 
gefördert, aber auch die Gefahr bedenklich nahe gerückt, daß hank- 
werksmäßiges Geschick und äußere methodische Fertigkeit im Unter- 
richt überschätzt, die wissenschaftliche treibende Kraft des Unter 
richts aber unterschätzt wird. Dieser Gefahr kann mit Erfolg nur be- 
gegnet werden durch beständige wissenschaftliche Vertiefung des 
Unterrichtenden. Deshalb wendet sich diese Zeitschrift nicht nur an 
praktische Schulmänner, sondern auch an die Professoren und Dozenten 
der Universitäten und technischen Hochschulen. Wenn diese, die vie! 
zu weit ab vom praktischen Unterrichtsbetriebe der Schulen gestanden 
haben, gemeinsam mit den Schulmännern ihre Arbeit in den Dienst Je: 
Schule stellen, so wird diese vor Verflachung und Veräußcerlichun« am 
sichersten bewahrt bleiben. 

In den letzten Jahrzehnten des eben verflossenen Jahrhunderts hat ja unstreitig 
durch die Berründung zahlreicher pädagogischer Seminarien an den höheren Lehr- 
anstalten die Technik und Methodik des Unterrichts eine feinere und soryfaltigere 
Ausbildung erfahren und die Genauigkeit auf diesem Gebiete erfreulich zuge- 
nommen. Auf diese Erfolge soll man aber nicht zu stolz sein; denn mit diese: 
methodischen Vervollkommnunge sind doch auch gewisse Gefahren verbunden. 
Es wird von besonnen urteilenden Mitarbeitern bereits mit einiger Besorgnis hir- 
gewiesen auf eine Art von pädagorisch-didaktischem Hochmut der jüngeren Schul- 
männer, der dem älteren Geschlechte iremd war, und auf gefährliche äuberliche 
Richtungen, z.B. auf die Richtung, welche die Ausbildung der künftigen Lehrer au! 
neusprachlichen Gebiet im wesentlichen auf die Fertigkeit im mündlichen unc 
schriftlichen Ausdruck sowie anf die sogenannten Realien beschränken möchte. 
die philologisch-historischen Grundlagen der Sprachwissenschaft aber unterschätz: 
und so den Unterricht auf das Niveau der Sprachmeisterei herabzudrücken dront. 
Man fürchtet mit Recht. auf diesem Wege werde der Unterricht veräußerlicht une 
jedes tieieren Bildungswertes beraubt. Wenn diesen Abweg aber gar diejenizer 
walen Anstalten beschreiten würden, auf denen der neusprachliche Unterricht der 
altsprachlichen Unterricht mit seiner sprachlich-logischen Schulung zu ersetzen be: 


9 


rufen ist, so wiirde es um die Gleichwertigkeit dicser Anstalten mit den Gymnasien 
bald geschehen sein. Und nicht nur diesem Gebiet droht Verflachung, wenn der 
wissenschaftliche Charakter der höheren Schulen nicht nach guter Tradition sorgsam 
gepflegt wird. Mit Freuden haben deshalb viele Mitarbeiter aus akademischen 
Kreisen und aus den Kreisen der Schulmänner die Forderung begrüßt, daß die 
Lehrer nach besten Kräften Fühlung behalten sollen mit der Wissenschaft, die 
dem gesteigerten geistigen Leben des Schulmannes immer neue Kräfte erweckt 
und seiner Unterrichtskunst die rechte Weihe gibt. Die erfolgreiche Ausübung 
des schwierigen Lehrerberufes besteht doch im wesentlichen darin, daß eine wissen- 
schaftlich gebildete, geistig angeregte und selbständig denkende Persönlichkeit 
die Gegenstände ihres Gedanken- und Wissenskreises in freiester Weise zu hand- 
haben versteht und in unmittelbarer Frische und Begeisterung der Jugend dar- 
zubieten weiß. Mit der trivialen Wahrheit, daß beim Unterricht der Stoff die 
Hauptsache sei, läßt sich eine lebensvolle pädagogische Anschauung nicht ab- 
speisen; sie ist vielmehr der Meinung, daß es auf den Reiz der lebendigen Persön- 
lichkeit ankomme, die der Jugend die Kenntnis des Stoifes vermittelt; die Stoffe 
müssen sich fügen, denn der Mensch hat die Kraft zu wollen und die Stoffe zu be- 
herrschen, wie er will. Ein jeder weiß doch aus eigener Schulerfahrung, wie sich der 
Dank, den er noch in späten Jahren der Stätte seiner Jugendbildung zollt, besonders 
auf diejenigen Persönlichkeiten richtet, von denen ein Hauch wissenschaftlichen - 
Geistes und wissenschaftlicher Wärme auf ihn begeisternd und erwärmend überging. 
Solche Wirkungen können die Vertreter eines jeden Lehrfaches ausüben, wenn sie nur 
mit freiem Blicke aus allen Wissens- und Erfahrungsgebicten die Berührungspunkte 
zu dem jeweiligen l.chrstoffe und zu den Schülern herausfinden, die gern lernen, 
wenn sie mit innerer Teilnahme zu lernen angeregt werden und wenn man sie 
tüchtiger, geistiger Anstrengung würdigt. Dem akademisch-gebildeten Lehrer kann 
dagegen nichts mehr die lebendige Freude an seinem Beruf so ersticken, als jene 
„Kinderstubenpädagogik*, wie sie der Geschichtsschreiber des Materialismus ge- 
nannt hat, die sich aus Furcht vor Überbürdung sogar schon in den oberen Klassen 
unserer höheren Schulen einzunisten droht unter der Losung: „Was nicht gleich 
geleistet werden kann, darf auch nicht verlangt werden.“ Der wissenschaftliche 
Charakter der höheren Schulen, der Lehrer an ihnen und des Unterrichtsverfahrens 
kann nur erhalten werden, wenn der andere wertvollere Wahlspruch hoch gehalten 
wird: „Was verlangt wird, ist nicht gleich zu leisten.“ Diesen wissenschaftlichen 
Grundsatz wünscht die neue Zeitschrift zu vertreten. Die trendige Zustimmung, 
die ihre Ankiindigung bei Professoren und Dozenten der Universitäten und tech- 
nischen Hochulen gefunden hat, berechtigt sie zu der Hoffnung, daß es ihr bei 
ihrer Arbeit an reichen Anregunyen aus denjenigen Kreisen, die das Glück ge- 
nießen, in lebendigster und unmittelbarster Fühlung mit der Wissenschaft zu stehen, 
nicht fehlen wird. Nach wie vor bedürfen wir an unseren höheren Schulen des 
wissenschaitlichen Nährbodens für unsere Jugend. nach wie vor des Schulmannes 
von alter Art. der sich liebevoll und treu auch in seine wissenschättlichen Auf- 
gaben versenkt. Es ist selbstverständlich, daß die mäterielle Blüte unserer Nation 
auch ihm zu gute kommt, da jeder Arbeiter seines Lolines würdig ist. Aber dieser 
Lohn macht den Wert des Lehrers nicht aus. Hauptsache bleibt, daß er selbst 
sich als Mitglied des Standes, der dem Staate und dem Vaterlande die Jugend er- 


10 


zieht, und des hohen Berufes, der mit keinem anderen den Vergleich zu scheuen 
braucht, zu den führenden Geistern und zur geistigen Aristokratie der Nation zählt. 

Damit aber unserer Schule allezeit der weite Blick gewahrt bleibe, 
und damit sie nicht in selbstgefällige Sicherheit und Selbstüber- 
schätzung sich einwiege, soll auch das Unterrichtswesen der anderen 
deutschen Länder und in angemessener Beschränkung auch des Aus- 
landes mit in den Kreis der Betrachtung gezogen werden, um alles 
Gute, wo es sich auch immer findet, der eigenen Schule und dem 
eigenen Unterricht nutzbar zu machen. 

Also auch einer Art von vergleichender Schulwissenschaft wird die Arbeit der 
Monatschrift dienen. Dazu wird die Kenntnis und die Würdigung des Unter- 
richtswesens aller Länder, in denen die deutsche Zunge klingt, und auch des 
außerdeutschen Schulwesens wesentlich beitragen, wenn die Eigenheiten des ge- 
samten deutschen und fremden Lebens in solche Betrachtung gerückt werden, daß 
die charakteristischen Unterschiede der eigenen Verhältnisse im Spiegel anders- 
gearteter Zustände ausdrucksvoller hervortreten. Es wird also darauf ankommen, 
interessante und Ichrreiche Parallelen zu finden und auszubeuten, um daraus für 
unser Wirken zu lernen und den Fehler bei unserer Arbeit für die Schule zu meiden, 
uns mehr zu dünken als wir sind und uns weniger zu schätzen, als wir wert sind. 


Berlin. Adolf Matthias. 


Verzeichnis der bis jetzt gewonnenen Mitarbeiter. 


Dr. Baer. Professor, Direktor der stiidt Leal- 
schule in Kiel. 


Adeneuer, Professor. Oberlehrer am städtischen 
Gymnasium in Köln. 


Dr. Adickes, Oberbürgermeister, Frankfurt a.M. 


Dr. Albrecht, Ministerialrat. Direktor des Ober- 
Schulrats für Elsass- Lothringen in Strassburg U. 

Dr. Althoff. Ministerialdirektor. Wirklicher Ge- 
heimer Ober-Regierungsrat in Kultusministerium 
Berlin. 

Dr. Appel, o. Professor an der Universität Breslau. 

Dr. R. Arendt. Professor an «ler öffentlichen 
Handelslehranstalt in Leipzig. 

Dr. von Arnim. o. Professor an der Universität 
Wien. 

Dr. Arnoldt. Direktor der kel. Christianeum in 
Altona. 

Pr. Asbach, Direktor des kel. 
Düs-eltleorf. 

Dr Auler, Direktor des stäet. Resizyimnastnes in 
Dortinunel. 

Dr Bagin-ki. ao. 
Berlin. 

sähre, Direktor der 
nach. 

Pr. Iris, 

Dr. v. Ba mberyu, (ie 
(fern Cavaniersitren borers tian 

Ir. Banner. Oendienier cm. 
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Pıiufenseor I Pre, N 


Pers poser zul ltir- Khor 


1 Grothe. 
t sort}. SOV 


bil, 


Dr. Bardt. Direktor des kel. Joachimthalseben 
Gymnasiums in Berlin. 

Dr. P. Barth. ao. Professor an der Universität 
Leipzig. 

Dr. Baumgart, o. Professor an der Universitit 
Königsberg i. Pr. 

Dr. Baumgartner. o, Professor an der Univer- 
sität Breslau. 

Dr. theol. Becker, Professor, Oberlehrer am kgl. 
Gymnasium in Bonn. 

Dr berghoff. Oberlehrer an 
realschule in Düsseldorf. 
Dr. Bergmann, (reh. Rex.-Rat. o. 
der Universität Marburg i. H. 
Dr. Bermbach. Oberlelirer an der Handels-Hoch 

schule in Köln. 
Dr Beamer. Generalsekretär in 
Mitel. d. Reiehst. u. d. H. d. Abe. 
Beurirer. Oberl. am kgl Gymnasium in Bonn 
Dr Beyer. Provinzial-Schulrat in Magdeburg. 
D. Dr von Bezold. o. Professor an der Univer: 
ait Bonn. 
Dr. A. Diese. Professor, Direktor des kel Gym 
nasiumes in Neuwied, 
Dr, Blind Professor an der 
Köln, 


der städt. Ober- 


Professor an 


Düsseldorf 


Handelssehule 1 


11 


au, Professor, Uberlehrer am kgl. Pro- . 


siun in Pr.-Friedland. 

ch. Geh. Reg.-Rat. o. Hon.-Professor an 
versität Berlin. Direktor des statistischen 
der Stadt Berlin. 

e, Direktor der städt. Adlerflychtschule 
nkfurt a. M. 

me. Oberlehrer am fürstl. Gymnasium 
ıleiz. 

ler Borght. Geh. Reg.-Rat und vortrag. 
Reichsamt des Innern. Professor in Berlin. 
cowsky. Oberlehrer ain kgl. Kadetten- 
Gross-Lichterfelde. 

ier, Direktor des städt. Realgvmnasiums 
erfeld. 

inger, Fabrikdirektor in Elberfeld. Mit- 
des Hauses d. Abg. 
ıdl, o. Professor an der Universitit 
8. Oberlehrer an der städt. Realschule 
ttbus. 
ter. Geh. 
nnover. 
‘tsehn vider, Professor, 
ıymnasium in Insterburg. 
ikmann, o. Professor an der Universität 
sberir i. Pr. 

:ks. Provinzial-Schulrat in Schleswig. 


‘kner. Oberlehrer am kyl. Prinz Heinrich- 
asinm in Schöneberg b. Berlin. 

hn, Oberlehrer am städt. Goethe-Gym- 
nin Frankfurt a. M. 

'heler. Geh. Reg.-Rat, o. Professor an 
niversität Bonn. 

bring, o. Professor an der Universität 


Reg.-Rat, Provinzial-Schulrat 


Oberlehrer am 


:hmann. Geh. Reg.-Rat. Provinzial-Sehul- 
Coblenz. 
olt. o. 
yen. 
lf Busse, Professor am städt. Friedrich- 
asinm in Berlin. 
usse. Professor. Oberlehrer am kyl. Wilh. 
asium in Berlin. 
se, 0. Professor an der Universität Königs- 
. Pr. 
‚elle, Professor. Direktor 
‚I in Thannover. 
», Oberlehrer an der Realschule der [sraeli- 
n Relirionsgesellschaft in Frankfurt a.M. 
er. Professor, Direktor des städt. Gvin- 
ns in Düsseldorf. 
ritius. Professor. Oberlehrer kel. 
sium in Landsberg a. d. W. 
n. o. Professor an der Universität Leipzig. 
sen. Professor, Oberlehrer am herzogl. 
ı Gymnasium in Braunschweig. 
lmann, Provinzial-Sehulrat in Danzig. 


‚sen, Oberlehrer am Bismarck -t 
. Wilmersdorf b. berlin. 
"ramer, Oherlehrer am stidt. Gymmnasimmn 
issellorf, 

‚remer. Konz Rat, 0. 
ırsjtät Greifswald. 
nemann, Direktor der 
rınen 
ters, Rew 
blenz. 


Professor an der Universität 


des städt. Ly- 


am 


ASHES Een 


Professor an der 


städt. Realschule 


(ieh. „Rat. Provinzial-Schulrat 


Dr. Denicke, Pirektor der städt. Realschule in 


Rixdorf. 
Dr. Dennert, Lehrer am evangel. Pädagogium in 
Godesberg. 
Oe o. Professor an der Universität 
ie 


Dr. Deuticke, Professor, Oberlehrer am städt. 
Humboldt-Gymnasium in Berlin. 

Dr. Diekmann, Direktor der städt. Ober-Real- 
schule in Köln. 

Dr. Dilthev. Geh. Reg.-Rat, o. Professor an der 
Universität Berlin. 

Dr. Dittrich, o. Professor am Lyceum-Hosianam 
in Braunsberg. Mitgl. d. H. d. Abgeordneten. 


Drenekhahn, Direktor (es stüdt. Gymnasiums 
in Mühlhausen (Pr. Sachsen.) 

Dr. Duden, Direktor des kgl. Gymnasiums in 
Hersfeld. 

Dunker, Oberlehrer 
Hadersleben. 


am kgl. (ivymnasium in 


‚ Dr. von Dyck, o. Professor an der Technischen 


' Dr. 


Hochschule in München. 

Dr. Ebeling, Oberlehrer a. d. 4. stiidt. Realschule 
in Berlin. 

Dr. Elster, Geh. OÖ. Reg.-Rat und vortr. Rat im 
Kultusministerium Berlin. 

Dr. Elster. Professor, Oberlehrer am herzogl. 

Gymnasium in Wolfenbüttel. 

Erbe, Rektor des kgl. Gymnasiums in Ludwigs- 
burg, 

Dr. Erdmann, 0. Professoran der Universität Bonn. 


Eucken, Geh. Hofrat, o. Professor an der 

Universität Jena. 

Dr. Eulenburg, Geh. Medizinalrat, ao. Professor 
an der Universität Berlin. 

Evers, Professor, Direktor des städt. Gymna- 
sinms in Barmen. 

Dr. Fauth, Professor. Direktor des städt. u. kgl. 
Gymnasiums in Höxter. 

Fiedler, Zeichenlehrer am kerl. 
Flensburg. 

Dr. Finke, o. Professor an der Universität Frei- 
burg i. Br. 

Dr. Flügge. Geh. Med.-Rat, v. 
Universität Breslau. 

Dr. Richard Foerster, Geh. Reg.-Rat, o. Prof. 
a. d. Universität Breslau. 

Franck, Professor u. Lehrer an der kgl. Kunst- 
schule in Berlin. 

Dr. Fränkel. Prof, an der Universität Halle a. S. 
Dr. Franz. Direktor des städt. Matthias Claudius- 
Gymnasiums in Wandsbek. 

Dr. Freudenthal, o. Professor 

„ität Breslau, 
Dr. Friedel, Provinzial-Schulrat in Stettin. 


Dr. Fries. (ieh. Reg.-Rat, Direktor der Franeke- 
schen Stiftungen, o. Han. -Professor an der Uni- 
versität Halle als, 

Dr. Fritzsehe. Professor, 
Berlinischen Gymnasium 
in Berlin. 

Dr. Fuchs. treh 
versitäit Berlin 

Dr. F iene rs Professor, Oberlehrer am kgl. Kais. 
Wilh. Gymnasium in Hannover. 

Dr. Bruno Gebhardt, Professor an der 4. städt. 
"Realschule in Berlin. 


(zymnasium in 


Professor an der 


an der Univer- 


Oberlehrer am stidt. 
zum grauen Kloster 


Rep.-Rat. o. Professor a. d. Uni- 


Dr. hon. (seitel. Professor, Oberlehrer am her- 
z0gl. Gymnasium in Wolfenbiittel. 

Dr. Genniges, Direktor des kel. 
in Konitz. 

Dr. Genz, Professor. (reh. Reg.- n. Prov.-Schulrat 
in Berlin. 

Dr. Gercken. Professor, 
Realgymnasium in Perleberg. 

Gerschmann, Oberlehrer am 
nasium in Königsberg i. Pr. 

Dr. Gey er. Professor, Oberlehrer am stält. Gvin- 
nasium in Dor tmund. 

Dr. Gneisse, Professor. Oberlehrer 
Lyceum in Strassburg i. E. 

Dr. Goebel. Geh. Reg.-Rat. Gvmnasialdirektor a. 
D.. Mitgl. d. H. d. Abg. Fulda. 

Dr. Goldbeck. Oberlehrer am 
städt. (rymnasium in Berlin. 

Dr. Goldscheider, Professor, 
stiidt. Gymnasiums in Mülheim (Ithein.) 


Gymnasiums 


städf. Realgyın- 
am kaiserl. 


stiidr. Luisen- 


Gossner, Regierungs-Rat, Justitiar u. Verwaltungs- - 


rat im Prove Sehulkoll. in Coblenz 
Grimm, Stadtrat, Frankfurt a. M. 


Dr. Gropp, Professor. Direktor der städt. Ober- 
realschule in Charlottenbur 

Dr. Grosse, Geh. Ree.-Rat. Pı ‘ofessor, Direktor 
des kel. Wilh, Gymnasinmmms in Königsberg i. Pr. 

Gruhl, Geh. Ober-Revierungsrat und vortragender 
Rat im Kultnsministerium Berlin. 

Dr. Griinbaum, Prof... Oberlehrer an 
Ritterakademie in Brandenburg a. HL. 

Dr. Gruppe, Professor am stadt. Askanischen 
Gymnasium in Beriin. 

Dr. Halfmann, 
Eisleben. 

Dr. RB. Hanncke, Professor. 
Gymnasium in Köslin. 

D. Dr. Harnack. o. Professor an der Universität 
Berlin. 

Dr. Harniseh, 
Cassel. 

Dr. med. A. Hartmann in Berlin. 

Dr. Hauck, Geh. Rer.-Rat, Professor an der Tech- 
nischen Hochschule in Charlottenburg. 

Dr. Ad. Hanffen. ao. Professor an der deutschen 
Universität in Prag. 

Dr. Hauskneeht. Professor. Direktor 
Ober-Realsehule in Kiel. 

Dr. Hechelmann. Geh. 
Schnlrat in Münster. 

Dr. Heidrieh. Professor, Direktor des kul. Gvin- 
nasiums in Nakel. 
lleinriech, Oberlehrer 

in Sonderbur:r. 
Dr. Henke, Professor. 
in Bremen. 


der kel. 


Oberlehrer am kel, 


Direktor der stidt. Realschule in 


der stäcdt. 
Ree.-Rat.. Provinzial- 


an (der städt. Realschule 


Direktor des Gymmasinms 


Dr. Hense. Professor, Direktor des kel. Gym- 
_nasiume in Pirlerborn. 
Dr. Hermann, Professor, Oberlehrer am städt. 


Ask: anischen (rvmmasinm in Berlin. 

D. Dr. Herrmann. o. Professor an der Univer- 
sität Marbure i. Hl. 

Dr. Heubaum. Oberlenrer am 
Gymmasinn in Berlin. 

Dr. IHeynacher. Professor, Direktor des kel. 
Gymnasium Andreantms in Jlildesheim 

Heyne, Professor. Oberlehrer ain stäct. Palk-Real- 
gymnasium in Berlin. 


stiilt. Lessine- 


Oberlehrer am kyl. / 


Direktor des © 


Direktor der stidt. Realschule in: 


Dr. Heyne. Geh. Reg.-Rat, 0. Professor an de 
Universität Göttingen. 

Dr. Hintzmann, Direktor der städt. Oberrea 
schule in Elberfeld. 

Dr. van Hoffs, Professor. 
Gymnasium in Coblenz. 

Dr. A. Hifler, k. k. Schulrat. Professor a 
Gymnasium d. k. k. Theresianischen Akademi 
Privatdoeent an der Universität Wien. 


Dr. Holfeld, Professor, Prov. Schulrat in Bresla 


Dr. Holthausen. ao. Professor an der Unive 
sität Kiel. 

Dr. Holzmüller. Professor, Realschul-Direkt 
a. D. in Hagen i, W. 

Dr. Holzw eissig. Direktor des kel. Dom-Gyn 
nasiums in Magdeburg. 

Dr. Höpfner, Geh. Ober-Reg.-Rat, 
Universität "Göttingen. 

Dr. Hubatseh, Direktor des 
nasiums in Charlottenburg. 
Dr. Huckert. Professor, Oberlehrer 

Kealevinnasium in Breslau. 

Dr. Joh. IInemer. k. k. Hofrat u. Landesschul 
inspektor im Ministerium für Kultus u. Unter 
richt in Wien. 

Dr. Huther, Gymnasialoberlehrera.D.. Heidelberg 
Dr. Jaever, Geh. Reg.-Rat. o. Hon.-Professor ar 
der Universität Bonn. 
Dr. Jahnke, Direktor der 

Brüssel. 

Dr. Jansen. Professor, Direktor des stärlt. Real 
Gvinnasiums in Münster i. W. 

Dr. Imelmann. Professor, Oberlehrer am kal 
Joachimthalschen Gymnasium in Berlin. 

Dr. Jonas, Direktor des kgl. Gymnasiums in 
Köslin. 

Dr. Irmer, Professor, Redaktear der Kreuzzeitung. 
Mitel. d, H. d. Abg. in Berlin. 

Dr. Karri. o,f Professor an der Universität in 
"zürich. 

Dr. Kaiser, Provinzial-Sehulrat in Kassel. 

Dr. Kammer, Ober- u. Geh. Reg.-Rat, Professor. 
Dir. des Kgl Provinzial-Schul-Kollegiums in 
Koniesberg i. Pr. 

D. Dr. Kautzseh. o. 
Halle. 

D. Kawerau, Konsist.-Rat. 0. 
Universitit: breslan. 

Dr. Kehr. Direktor der kel. Ritter- Akademie ıD 
Brandenburg a. H. 

Dr. Kettner. Professor. Oberlehrer 
L.andesschule Pforta. 

Dr. Kiepert, Geh. Rer.-Rat. Professor 
Technischen Toehsehule in Hannover. 

Dr. J. Kiesslinge. Professor am Johannenm in 
Hamburg. 

Dr. Kirchhoff. 

Halle a. 8. 

Dr Kirchner, Geh. Ober -Med.-Rat um vortr. 
Rat i. Knltusministerinim, ao. Professor an der 
Universitit) Berlin. 

Dr. Klatt. Professor. Oberlehren aim städt. Lessing 
Gvinnasium in Berlin. 


Oberlehrer am kg 


Kurator de 
stiidt. Realgym 


am städt 


deutschen Schule ir 


Professor an der Universität 


Protessor an der 


an der kgl. 


an der 


o. Professor an der Universität 


Dr. Klein. Geh. Rew-Rat. o. Professor an det 
Universität Gottingen. 
D. Dr. Kleinert. Ober Kons. Rat. a. Professor 


an der Universität Berlin. 


e. Konsist.-Rat, Professor der 
sität Göttingen. 

Kobilinski. Oberlehrer am Wilhelms- 
sium in Königsberg i. Pr. 

3ldewey, Sehulrat. Prof., Direktor des 


»-Katharineum in Braunschweig. 
önig. o. Professor an der Universitit 


Qa, an 


se. Geh. Ober-Reg.-Rat nnd vortrag. 
Kultusministerium Berlin. 

hwitz, o. Professor an der Universität 
wi. TL 

r. Geh. Ober-Reg.-Rat, Gen.-Direktor d. 


itsarehive und des Geh. Staatsarehivs 
‘tenburg. 
ister, Professor, Oberlehrer am Real- 


sium in Iserlohn. 
er, 0. Professor an der Universität 


chmann., Direktor des kyl. Gvinnasiums 
rAT La 
‘rg. Oberlehrer am städt. Gymnasium in 
lorf, 


13 


tzer, Oberlehrer am kel. Friedr. Wilh - . 


slum in Cöln. 

‚atscheck. Professor, Chef-Redakteur 
uzzeitung, Mitgl. d. H. d. Abg. in Berlin. 
er, Professor, (ieh. Schulrat in Dessau. 
2, ao. Professor an der Universität Bonn. 
e. Geh. Reg-Rat in Danzig. 

er, (ich. Reg-Rat. Professor, Direktor 
. Wilhelms Gymnasiums in Berlin. 

n. Zeichenlehrer am stidt. Realeym- 
in Altona. 

. Professor. Oberlehrer am kel. Real- 
Jum in Wiesbaden, 

emann, ao, Professor an der Universitit 
vr ı. 11. 

+, Oberlehrer am kgl. Luisen-Gymmasium 
in. 

ahmever, Ober und Geh. Rer.-Rat. 
7 des | Provinzial-Sehalkollegiums in 


Professor, Direktor des städt. Real- 
lums in Barınen. 
rerhirt, Oberlehrer am Gymnasium in 
re. 
rw. treh. Rew-Rat Professor an 
when Hochschule in Charlottenburg. 
recht. o. Professor an der Universität 


der 


erat. Professor am Wilh.-Gyinnasium in 
Vt. 

sberg. Ober am kel Gyinnasium in 
1 0, Pr. 

. Direktor des städt. 
TWintasiiimns in Berlin. 
Friedrich Lange, Redakteur der Deut- 
„tung in berlin. 

‘oa, Professor asd Universität Tübingen. 


Friedr. Wertder- 


Vite. Professor, Oberlehrer am herzosel. 
din Ernestinmm in Gotlia. 

Direktor des städt. Johannes-Gymna- 
ı Breslau. 
"lotz. Direktor des kgl. Gvienasiums 
wertel, 


Dr. Rudolf Lehmann, Professor, Oberlehrer ain 
städt. Luisenstädtischen Gymnasium, Privat- 
docent an der Universität Berlin. 
Max Lehmann, (ieh. Reg.-Rat, o. Pro- 
fessor an der Universität Gottingen. 
Dr. R. Lehmann, o. Professor, an der Akademie 
in Münster i. W. 
Lie. Dr. Leimbach, Prov.-Schulrat in Hannover. 
Leitritz. Oberlehrer am kgl. Marienstiftsgymna- 
sium in Stettin. 
Dr. Lenssen, Prof, Prov.-Schulrat in Hannover. 
Dr. Lentz. Professor, Oberlehrer am kgl. Gym- 
nasium in Rastenburg. 
Dr. Leo. o. Professor an der Universität Göttingen. 
Dr. Leonhard, Prof., Oberlehrer am Bismarck- 
(Gymnasium in Dt. Wilmersdorf b. Berlin. 
Dr. Leuehtenberger. Geh. Reg.-Rat, Direktor 
des kgl. Friedr. Wilh.-Gymnasiums in Cöln. 
Dr. Lexis, Geh. Reg.-Rat, o. Professor an der 
Universitit Göttingen. 

Dr. Liedtke, Oberlehrer am städt. Realgvmnasium 
in Barmen. 

Dr. Lindner. (ieh. Reg -Rat. o. Professor an der 
Universität Halle a. S. 

Dr. Lingen, Professor, Oberlehrer am städt. Gym 
nasium in Diisseldorf. - 

Dr. Lipps. o. Professor an der Universitit München. 

Dr. Litzmann, o. Professor an der Universitit 
Bonn. 

Loeber. Professor, Direktor des kyl. Gvinnasiums 
in Kiel. 

Dr. Loos, k. k. Landesschulinspekt. zu Linz a. d.D. 

Dr. Lorentz, Oberlehrer am kel. Gymnasium in 


Dr. 


Sorau. 
Dr. Lorenz, o. Professor an der Universität Jena. 
Loew. Professor, Oberlehrer am kgl. Kaiser 


Wilhelm-Realgyimnasium in Berlin. 

Liideling. ständiger Mitarbeiter am Kgl. 
Meteorologischen-Magnetisehen Observatorium 
in Potsdam. 

Dr. Ludwig. Geh. Reg.-Rat. 0. Professor an der 
Universität Bonn. 

l.utseh. Direktor kel. 
Kreuznach. 


Dr. 


dex (ivinnasiums in 


Dr. Mangold, Professor, Oberlehrer am städt. 
Askanischen Gymnasium in Berlin. 

Dr. Mareks, 0. Professor an der Universität 
Heidelberg. 

Dr. Friedr. Mareks, Oberlehr. am kel. Friedrich 


Wilhelms-Gymmasium in Kol. 
Martius, o. Professor an 
Kiel. 
Masbere. Professor, Direktor der städt. Real- 
schule in Düsseklort. 
Matthaei. ao. Professor an der Universität 
Kiel. 
Dr. Matthias. Geh. Ree Rat nm. vortrag. Rat im 
Kultusministeriam Berlin. 
Manrer, Direktor der 
in Saarbrücken. 
Dr. Meiners, Oberlehrer ion stiidt. Gymnasium in 
K.lberreld. 
Dr. Meinertz,. Geh. Oher-Regierungsrat u. vor- 
tragrender Bat im Kultu-ministerium Berlin. 
Meltzer. Professor, Rektor Wettiner 
(rvinnasiums in Dresden. 
Dr. Menge, Direktor des stidt. Progvmmasiums in 
Boppard. 


Dr. der Universität 


Dr. 


kel. 


Dr. Oberrealsehule 


des 


Dr 


Dr. Mertens, Direktor des stüdt. Progymnasiums | 
in Briihl. 


Dr. Metger, Prof. am kgl. Gymnasium in Flens- | 


burg, Mitgl. d. II. d. Abe. 

Dr. Meusel. Professor. Direktor 
Köllnischen Gymnasiums in Berlin. 

Dr. Mev. Oberlehrer am städt. Gymnasium 

Dortmund. 

Dr. Meyer, Professor, Direktor des städt. Luisen- 
städtischen Realgymnasiums in Berlin. 

Dr. Meyer, Prov.-Schulrat in Coblenz. 

Dr. Michaelis. Prov.-Schulrat in Berlin. 

Dr. Milkau, Ober-Bibliothekar a. d. Universitiits- 
Bibliothek, Hülfsurbeiter im Kultusministeriun 
Berlin. 

Mohn, Professor an der kgl. Kunstschule in Berlin. 


Moldenhauer, Professor. Oberlehrer am kgl. 
Friedrich Wilhelms-Gymnasium in (’öln. 

Dr. Montag, Geh. Reg.-Rat. Provinzial-Schulrat 
in Breslau. 


des städt. 


in 


Dr. Morsbach, o. Professor an der Universität 
Göttingen. 
Dr. Mücke, Professor. Direktor d. kgl. Kloster- 


schule in Ilfeld. 


14 


Dr. Peters, Öberlehrer am kgl. Gymnasium in 
Düsseldorf. 

Dr. Peters, Reg.-Assessor, Verwaltungs-Rat und 
Justitiarius Prov.-Schulkoll. in Posen. 

Dr. Petersdorff, Direktor des kgl. Gymnasiums 
in Strehlen. 


Dr. Pfuhl, Professor, Oberlehrer am kyl. Marien. 


Pietzker, Professor, Oberlehrer am kpl. 


. Dr. 


Dr. Muff, Professor, Rektor der kgl. Landesschule © 


Pforta. 
Mülder. Öberlehrer am kgl. Gymnasium An- 


dreanum in Jlildesheim. 


Dr. Müllenhoff, Professor, Direktor der 7. Real- 


schule in Berlin. 

Dr. H. Müller, Professor. Direktor des städt. 
Luisenstädt. Gymnasiums in Berlin. 

Dr. Münch, (ieh. Ree.-Rat, o. Hon. Professor 
an der Universität Berlin. 

Dr. Nath, Oberlehrer. schultechnischer Mitarbeiter 
im Provinzial-Schulkollegium in Berlin. 

Dr. Natorp,_o. Professor an der Universitit 

Marburg i. H. 


Dr. Nelso: n. Professor, Prov.-Schulrat in Coblenz. 
Dr. Neubauer, Oberlehrer an der lat. Haupt- 


schule in Tlalle a. 8. 

Dr. Nieberding, Provinzial-Schulrat in Breslau. 

Dr. Nissen, Geh. Ree-Rat, o. 
Universität Bonn. 

Dr. Noack, Professor, Direktor des städt. Real- 
Gymnasiums in Frankfurt a. ©, 

Nodnagel, Geh. Ober-Schulrat in Darmstadt. 

Dr. Norden, o. Professor an der Universität 
Breslau. 

Dr. Norrenberg. Oberlehrer. 

Mitarbeiter am Prov.Schulkollerium in Posen. 

J. Omura, Professor an der kaiserl. 
in Tokyo. 

Dr. Ostermann, Provinzial-Sehulrat in Breslau. 

Dr. Otto, Provinzial-Schulrat in Cassel, 

Dr. Paehler, Geh. Rer.-Rat. Prov.-Schulrat 
Cassel, 

Dr. Paetzoldt. kel. 
in Brie. 


Professor an der 


in 


Direktor des (iynmasinms 


Pr. P: abide ‚ Vberlehrer ame stidt. Realevmnasinm 
in Krefeld, 

Dr. Pallat, Professor. Musenms- Vorsteher, Tlilfs- 
arbeiter iin Kultusmini-ter.um berlin 

Dr. Paulsen. oe. Professor an der Universität 
Berlin. 

Dr. Perle, Direktor der stäidt. Oberrenlschule 


in Halberstaelt. 


gvinnasium in Posen. 

Gym. 

nasium in Nordhausen. 
Pilger. Geh. Reg.-Rat, 

Berlin. 

D. Polte, Geh. Reg.-Rat, Prov.-Schulrat in Posen 


Dr. Poske, Professor, Oberlehrer am städt 
Askanischen Gymnasium in Berlin. 

Dr. Puls, Oberlehrer am kel. 

Christianeum in Altona. 

Quade, Professor, Direktor des kgl. Gymnasium: 
in Meseritz. 

Dr. Quiehl. Direktor 
in Kassel. 


Prov.-Schulrat ın 


(ymnasiun 


der städt. Oberrvealschul: 


Quossek, Direktor der städt. Ober-Realschule 
in Kreteld. 

: Dr. Ratzel, o. Professor an der Universität 
Leipzig. 

Dr. Rehmke,. o. Professor an der Universitit 
Greifswald. 


»chulteehnischer — 


Adelsschule — 


Dr. Rehrmann, Professor, Stutiendirektor an der 
Haupt-Kadettenanstalt in Gr.-Lichiterfelde. 


‚ Dr. Rein, Geh. Reg.-Rat, o. Professor an der 
Universität Bonn. 
Dr. Reinhardt, Professor, Direktor der 2. Real- 
schule in Berlin. 
Dr. Reinhardt, (ieh. Reg.-Rat. Direktor des 
städt. Goethe-Gymnasiums in Frankfurt a. M. 
Dr. Reinke, Geh. Reg-Rat, o. Professor an der 
Universität Kiel. 
D. Reischle, vo. Professor an der Universität 


Halle a. S, 
tethwisch. Professor, Direktor des kel. 
Kaiserin-Augusta-Gvinnasiums i. Charlottenburg. 
Dr. Reuter, Direktor des kyl. Gymnasiums in 
Demmin. 
Dr. Riehter, Professor. Direktor des 
Heinrich-Gyninasinms in Schöneberg. 
Dr. Riehl, Hofrat. o. Professor an der Univer: 
‘sitiit Halle a. S, 
. Ritter. Geh. Reg.-Rar, o. 
Universität Bonn. 
Dr. Rothert, Gymnasial-Professor in Düsseldorf 
Dr. Rothfuchs, Geh. Reg.-Rat, Provinzial-Schulra! 
in Münster i. W. 
Dr. Sachau, Geh. Reg.-Rat, Direktor des Seminar 
fiir Orient.-Sprachen, o. Professor an der Uni 
versität Berlin. 
Suchse, Reg.- u. Schulrat in Hildesheim, 
von Sallwürk, Geh. Hofrat, Mitglied de 
Ober-Schulrats in Karlsruhe. 
Sander, Schulrat der freien Hansestadt Breinen 
Dr. Sattler. Geh. Item. -Rat, Direktor der Staats 
Archive in Berlin, Mitgel. d. H. d. Aber. 
Dr. Schaarschmidt. Geh. Reg.-Rat, Bibl.-Direkt 
a.D. o. Hon. Professor an der Universität Bonn 
Schäfer, Professor, Direktor des städt. Lyceum I 
in Hannover. 
Schäfer. o. 
Heidelberg. 


Dr. 


kel. Prinz 


Dr Professor an det 


Dr. 
Dr. 


Dr. Professor an der Universiti 


schaube. Professor, Oberlehrer am kgl. Gym- 
nasium in Brieg, Mitgl. d. H. d. Abg. 

Schilling, Professor, Oberlehrer am kgl. 
nasium in Glogau. 

Dr. Schlee, Geh. Reg.-Rat, Direktor des städt. 
Realgymnasinms in Altona. 

Ir. Schlemmer, Oberlehrer aın kgl. Gymnasium 
in Treptow a. R. 


Gym- 


Ir. Schmidt, Geh. Ober-Reg.-Rat u. vortr. Rat 
im Kultusministerium Berlin. 
Ir. Schotten. Direktor der städt. Oberreal- 


schule in Ifalle a. S. 

Ir. O. Schrüder, Professor, Oberlehrer am kgl. 
Jonchimthalschen Gyinnasium in Berlin. 

Dr. Schröder, o. Professor an der Universität 
Marburg i. H. 

Dr. Schulte, o. 

Breslau. 

Ir. Schulte-Tigges. Direktor des städt. Real- 
gymnasiums in Lüdenscheid. 

Dr. P. Schultze, Professor. Oberlehrer am ker. 
W ilhelmsgymnasium in Berlin. 
Dr. G. Schulze. Direktor des 

Gymnasiums in Berlin. 
Dr. Schwering, Professor, Direktor (des kel- 
Aposteln-Gymnasiums in Köln. 


Schwertzell, Direktor des 
nasiums in Solingen. 


Professor an «der Universität 


kel. Französ. 


Dr. städt. Gym- 


D. Seeberg, o. Professor an der Universität 
Berlin. 

Dr. Sieglin. o. Professor an der Universität 
Berlin. 

Dr. Simon. Professor, Oberlehrer am kaiserl. 


Lyeeum in Strasshure i. E. 
Dr. Slaby, Geh. Reg.- Rat, Professor an der Teeh- 
nischen Hochschule in Charlottenburg. 


Dr. Spiess. Direktor des städt. Gymnasiums in 
Bochum. 

Dr. Stiickel, ©. Professor an der Universität 
Kiel. 

Dr. Stahl, (Geh. Reg-Rat, o. Professor an der 
Ak: idemie Münster i. W. 

Dr. Steinbart, Direktor des stält. Realgvin- 


nasiums in Duisburg. 
Steineeke, Direktor 
nasining in Esse nN. 
Dr. Stimming. o. Professor an der Universität 
Göttingen. 
Dr. Storck, Geh. Reg.-Rat, o. 
Akademie Münster i. W. 
Dr. Strauch, o. Professor 


Halle a. S. 


Dr. des stiidt. Realgym- 


Professor an der 


an der Universität 


Dr. Stutzer, Professor, Direktor des stiidt. Gym- 
nasiuns in Gorlitz. 
Dr. Suchier, o. Professor an der Universität 


Halle a. 8. 
Dr. Tendering, Professor, Direktor des Real- 
gy mnasiums des Johannemms in Hamburg 
Thalheim, Provinzial-Nehulrat in Breslau. 
Dr. Thome, Professor, Direktor der stärlt. 
schule in Köln. 

Tilmann. Regierungsassessor, 
Kultusministerium Berlin. 
Dr. Trautmann. o. Professor an der Universität 

Bonn. 
Trosien, Geh. GQher-Ree.-Rat, Direktor des Prov.- 
Schulkollegiums in Magdeburg. 


Real- 


llilfsarbeiter im 


Dr. Uibrich, 


‘ Dr. Volkelt, 


Dr. Tschirch, Oberlehrer am städt. 

nasium in Brandenburg a. H. 

Professor, Direktor des städt. 
Dorotheenstädt. Realgyınnasiums in Berlin. 

Dr. Vaihinger, o. Professor an der Universität 
Halle a. S. 

Viehoff, Direktor der städt. Oberrealschule in 
Düsseldorf. 

Dr. Viereck, Professor, Oberlehrer an der städt. 
Oberrealschule in Braunschweig. 

Dr. Viertel. Professor, Direktor des kgl. Gym- 
nasiums in (zöttingen. 

Dr. Vogel, Geh. Reg.-Rat und Prov.-Schulrat in 
Berlin. 

D. Dr. Vogel. Gel. Schulrat in Dresden. 


Dr. Vogt, o. Professor an der Universität Breslau. 


Dr. Voigt, Professor, Stadt-Schulrat in Berlin. 
o. Professor an der Universitit 


Reagym- 


Leipzig. 

Dr. Wagner, Geh. Reg.-Rat, o. Professor an der 
Universität Göttingen. 

Waldeck, Professor, Oberlelirer am fürstl. Gym- 
nasium in Corbach. 


Walter, Direktor der stiidt. Musterschule in 
Frankfurt a. M. 
Dr. Walter, o. Professor an der Universität 


i. Pr. 


Konigsbery 


Dr. Wangerin. o. Professor an der Universität 
Halle a. S. 
Dr. Waetzoldt. Professor, Geh. Reg.-Rat und 


vortr. Rat im Kultusininisterium Berlin. 

Wehrmann. Direktor der städt. 

realschule in Bochum. 

0. Weise, Professor, Oberlehror am herzogl. 

Gymnasium in Kisenberg >. - 

D. Dr. Weiss, Wirkl. Ober- Kons.- Rat, Pro- 

fessor an der Universität Berlin. 

Dr. Weissenfels. Professor, Oberlehrer am kgl. 
Französischen Gymnasium in Berlin. 

Dr. Weisweiler, Direktor des kgl. Gymmasiums 
in Münstereifel. 

Dr. Wellmann, Oberlehrer am kgl. Marienstifts- 
Gym tim in Stettin. 

Dr. Wendland. Oberlehrer am städt. Köllnischen 
Gymnasium in Berlin. 

Dr. 

D 


Dr. 
Dr. 


Ober- 


0. 


Wendt, Geh. Rat, Oberschulrat. Direktor des 
erossherzogl Gvninasiums in Karlsruhe i. D. 

r. Weniger, Geh. Hofrat. Direkror des gross- 
herzogliehen Wilh. Ernestinischen Gymnasiums 
in Wennar. 

Wernieke, Direktor der städt Oberreal- 
schule, Professor ander Teehnisehen Hochschule 
in Braunschweig 
Dr. Wessel, Professor, 

nasiums in Wittstock. 
Wetekamp, Oberlehrer am städt. 

z. heil. Geist in Dreslau, Mitel. dl. 
Dr. Wetzel. Protessor, Direktor des 

nasiums an Marzellen ın Köln, 
Wickenhagen, Protessor,. Oberlehrer 
Gyınnasium in Rendsburg. 

Widmann. Direktor 

in Iladlamar. 

von Wilamowitz-Moellendorff, Geh. 
teg.-Rat, o. Professor an der Universität Berlin. 
r. Wilinanns, (ich. Rer.-Rat. vo. Professor an der 
Universitit Bonn. 


Dr. 
Direktor 


des kel. Gym- 


(ivinnasium 
Ii, d. Abg. 
kel. (iym- 
kgl. 


tin 


Dr. des kel. Gymnasiums 


Dr. 
D 


Dr. Wimmenauer, Professor, Oberlehrer am 
kg). Gymnasium in Moers. 

Dr. Wissowa, o. Professor an der Universitit 
Halle a. S. 

Dr. Wohlrab, Professor. Oberschulrat, Rektor 
des kel. Gymnasiums in der Neustadt Dresden. 

Wolff, "Professor. Direktor der kel. Domsehule 
in Schleswi ig. 

Dr. Wossidlo, Geh. Ree.-Rat. Gymnasialdirektor 
a. D. in Tarnow itz. 

Dr. Wulff, Professor, Oberlelrer am stiidt. Goethe- 
Gymnasium in Frankfurt a. M. 


16 


lr. Zange, Professor, Direktor des kgl. Realgym 
nasiums in Erfurt. 


Dr. Zehme, Direktor des städt. Gymnasiums it 


Stendal. 


Dr. Ziegler, o. Professor 
Strassburg i. E. 


Dr. Ziehen, Oberstudiendirektor des kgl. Kadetten 
korps Berlin. 


an der Universita 


Dr. Ziemer, Professor, Oberlehrer am kgl. Gym 
nasium in Kolberg. 


Inhalt des soeben erschienenen ersten Heftes: 


Zur Einführung von Geh. Reg.-Rat Dr. A. 


Matthias in Berlin. 


I. Abhandlungen. 


Die Gleichwertigkeit der Gymnasien, Realgymnasien und Oberrealschulen 


aui dem Gebiete 


der ethisch bedeutsamsten Lehrfächer von Professor Dr. P. Geyer in Dortmund. 
Die Geschichte des ersten preußischen Schulgesetzentwurfes von Oberlehrer Dr. A. Heubaum 


in Berlin. 


Die Erziehung zum Urteil von Geh. Reg.-Rat Professor Dr. W. Münch in Berlin. 


Zur römischen Kaisergeschichte von Oberlehrer Dr. 


I, Kreutzer in Köln. 


Zur Behandlung der römischen Kaisergeschichte auf der Schule von Professor D. Dr. A.Harnack 


in Berlin. 
Die Frage 


in Frankfurt a. M. 


Il. Bücher-Besprechungen. - 


der Gymnasial- und Realschulbildung in Frankreich von Oberlehrer Dr. J. Caro 


III. Vermischtes. 


Unterzeichneter bestellt hiermit bei der Buchhandlung von 


Monatschrift für höhere Schulen, 


An 


Herausgegeben von 


Dr. R. Köpke, (ieh. Ober-Reg.-Rat und Dr. A. Matthias, 


Geh. Reg.-Rat. 
tür das Jahr 1902. 1. 
Probeheft gratis. 


Vortragenden Raten im Kyl. 


(Verlag der Weidmannschen Buchhandiung in Berlin.) 


Preuss. Kultusministerium. 


Jahrgang. 








bo zıma. 


ve von Gy Varela ow BaUn. 


Verlag der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin. 


Soeben erschien: 


POETARUM GRAECORUM FRAGMENTA 
AUCTORE U. DE WILAMOWITZ-MOELLENDORFF COLLECTA. 
VOLUMINIS III FASCICULUS PRIOR: 


POETARVM PHILOSOPHORVM™ 
FRAGMENTA 


EDIDIT 


HERMANNVS DIELS. 


gr. 8. (VIII u. 270 S.) geh. 10 M. 





Vol. I. Poetae heroici, ed. Bethe. 
II. Poetae sacri. 
l. oracula, ed. E. Schwartz. 
2. orphica et mystica, ed. A. Dieterich et W. Kroll. 
+ III. 1. Poetae philosophi, ed. II. Diels 1901. (VIII u. 2708.) 10M. 
2. Elegiaci et iambici, ed. W. Schulze. 
N Lyric, ed. U. de Wilamowitz-Moellendorff. 
V. Tragici, 
VI VIL Comici. 
+VI. 1. Doriensium comoediae inimi phlyaces, 
ed. G. Kaibel 1899. (VIII u. 256 S.) 10 M. 
*2, atticorum prisca comoedia, ed. G. Kaibel. 
VII. Atticorum media, nova comoedia. 
VIII. IX. Poetae aetatis Hellenisticae, ed. G. Knaack. 
X. 1. Poetae aetatis Romanae, ed. E. Oder. 
2. Proverbia, lusus aenigmata etc. 
3. Adespota. 
XI. Carmina e lapidibus collecta. 
XII. Indices. 


Volumina cruce notata sunt edita, asterisco notata ab editoribus 
propemodum perscripta mox prelo tradentur. 


Verlag der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin. 


Soeben erschienen: 


GRIECHISCHES LESEBUCH 


VON 


ULRICH VON WILAMOWITZ-MOELLENDORFF. 


I. Text. | Il. Erläuterungen. 
Erster Halbband. Erster Halbband. 
gr. 8 (XI u. 180 S.) Geb. M. 2.60. | ur. 8. (IV u. 126 8S.) Geb. M. 2.—. 
Zweiter Halbband. | Zweiter Halbband. 


gr.8. (IV u. S. 181—402.) Geb. M.2.80.| gr. 8. (IV u. 8. 127—270.) Geb. M.2.—. 





Die Verlagshandlung hat die Freude, das auf Veranlassung des 
Königl. Preuss. Kultusministeriums von U. von Wilamowitz-Moellen- 
dorff bearbeitete Griechische Lesebuch hiermit der Öffentlichkeit über- 


geben zu können. Das überall mit Spannung erwartete Werk ist 
durch jede Buchhandlung zu beziehen. 


Ein ausführlicher Prospekt mit Inhaltsverzelchnis wird auf Wunsch 
gern übersandt. 


GRIECHISCHE ALTERTHUMER 


VON 
G. F. SCHOEMANN. 
VIERTE AUFLAGE 
NEU BEARBEITET 
VON 
J. H. LIPSIUS. 


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Die internationalen Verhältnisse und das Religionswesen. 
gr. 8. (VII u. 644 8.) Geh, 14 M. 


Göttingen, Druck der Univ.-Buchdruckerei von W. Fr. Kaestner. 


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