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Göttingische
selehrte Anzeigen.
Unter der Aufsicht
der
Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
163. Jahrgang.
Erster Band.
Berlin.
Weidmannsche Buchhandlung.
1901.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel
in Göttingen.
Verzeichnis
der an dem 163. Jahrgange (190])
der
Göttingischen gelehrten Anzeigen
beteiligten Mitarbeiter.
Die Zahlen verweisen auf die Seiten.
G. von Below in Tübingen. ” 364.
H. Bloch in Straßburg. 872.
W. Bousset in Göttingen. 753.
K. Brandi in Marburg. 144. 242.
C. Brockelmann in Breslau. 342. 509.
G. Buchholz in Leipzig. 166.
O. Bürger in Santiago di Chile. 350.
W. Caland in Breda. 125.
P. Corssen in Berlin. 1. 645.
H. Diemar in Marburg. 489.
K. Dziatzko in Göttingen. 354.
R. Eucken in Jena. 900.
Ais Frankenberg in Louisendorf. 177. 276. 677.
Fuhr in Berlin. : 98.
P. Goldsoh midt in Berlin, 87. 751.
a”
IV Verzeichnis der Mitarbeiter.
E. Gothein in Bonn. 401.
H. Graeven in Hannover. 77. 196.
J. Haller in Rom. 807.
W. Heyd in Stuttgart. 263.
H. Höffding in Kopenhagen. 134.
A. Höfler in Wien. 468.
O. Hölder in Leipzig. 301.
H. Holtzmann in Straßburg. 673. 835. 948.
A. Jülicher in Marburg. 183. 345. 628. 706.
G. Kawerau in Breslau. 293. 513.
W. Kisch in Straßburg. 206.
Th. Kolde in Erlangen. 711. 864.
A. Korte in Greifswald. 960
A. Köster in Leipzig. 797.
J. C. Kreibig in Wien. 128.
W. Kroll in Greifswald. 575.
A. Leist in Gießen. 340.
F. Leo in Göttingen. 318.
H. Lietzmann in Bonn. 89.
J. Loserth in Graz. 907.
Leo Meyer in Göttingen. 325. 734. 897.
G. Meyer von Knonau in Zürich. 260. 582. 587. 999.
L. Mollwo in Göttingen. 173.
R. Much in Wien. 453.
B. Niese in Marburg. 596.
E. Norden in Breslau. 593.
M. Perlbach in Halle. 826.
M. Ritter in Bonn. 652.
O. Scheel in Kiel. 835. 913.
C. Schmidt in Berlin. 996.
A. E. Schönbach in Graz. 425.
E. Schroeder in Marburg. 46.
A. Schulten in Göttingen. 560.
F. Schulthess in Göttingen. 204. 802. 991. .
W. Schuppe in Greifswald. 656.
E. Frhr. v. Schwind in Wien. 723.
Verzeichnis der Mitarbeiter.
W. Sickel in Straßburg. 373.
J. Sommer in Poppelsdorf. 526.
F. Studniczka in Leipzig. 539.
H. Suchier in Halle. 406.
E. Troeltsch in Heidelberg. 15. 265.
Tupetz in Prag. 336.
Th. Vahlen in Königsberg. 787.
W. Voigt in Göttingen. 330. 742.
H. Wagner in Göttingen. 138.
O. F. Walzel in Bern. 972.
H. Wartmann in Sankt Gallen. 818.
J. Wellhausen in Göttingen. 738.
P. Wendland in Wilmersdorf. 777.
F. Wiegand in Erlangen. 634.
U. von Wilamowitz-Moellendorff in Westend (Berlin). 30.
H. Zimmern in Leipzig. 416. 421.
Verzeichnis
der besprochenen Schriften.
Die Zahlen verweisen auf die Seiten.
Germanistische Abhandlungen, begründet von Karl Wein-
hold, hrsg. von F. Vogt. XVI. Die Jacobsbrüder von Kunz
Kistener, hrsg. von K. Euling. [Schroeder].
Abhandlungen zur germanischen Philologie.
Festgabe für Richard Heinzel. [Schönbach)].
Abou Othman Amr, Le livre des Ovares, publié par G. van
Vloten. [Schulthess].
Acta apostolorum Graece et latine edidit A. Hilgen-
feld. [P. Corssen].
L. Apulei Madaurensis apologia et florida rec. J. van der
Vliet. [Kroll].
Bäumker, s. Beiträge.
Beckmann, s. Reichstagsakten.
Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters.
Hrsg. von Baeumker und Frhr. v. Hertling.
II 1. Domanski, B. Die Psychologie des Nemesius.
[Eucken].
46
425
802
575
904
Verzeichnis der besprochenen Schriften.
Ill 4. Worms, M. Die Lehre von der Anfangslosig-
keit der Welt bei den arabischen Philosophen des Orients
und ihre Bekämpfung durch die arabischen Theologen.
[Eucken).
Beiträge zur Romanischen Philologie. Fest-
gabe für Gustav Gröber. [Suchier].
Belser, J., Einleitung in das Neue Testament. [Jülicher].
Bergk, s. Poetae.
Assyrische Bibliothek, hrsg. von F. Delitzsch und P. Haupt.
XVI. Delitzsch, F., Assyrische Lesestiicke. Vierte Auflage.
[Zimmern].
Bibliothéque de l’école des hautes études. Sciences re-
ligieuses. XI. Levi, La doctrine du sacrifice dans les Bräh-
mapas. [Caland).
Black, s. Cheyne.
Blass, F., Die Rhythmen der attischen Kunstprosa. [Norden].
Brandenburg, E. Moritz von Sachsen. Erster Band.
[Brandi].
— —, —, Politische Korrespondenz des Herzogs und Kur-
fürsten Moritz von Sachsen. Erster Band. [Brandi].
Braude, M., Die Elemente der reinen Wahrnehmung.
[Schuppe].
Briefe und Aktenstücke zur Geschichte Preußens unter
Friedrich Wilhelm III. Vorzugsweise aus dem Nachlasse von
F. A. Stägemann, hrsg. von Franz Rühl. [Goldschmidt]. 87.
Budge, W., The earliest known coptic Psalter. [Schmidt]
Bugenhagen, s. Quellen.
Bülow, O. Das Geständnisrecht.
[ Hölder]
[Kisch].
Burkhardt, H., Funktionentheoretische ö Vorlesungen.
Cheyne and Black, Encyclopaedia biblica II. [Holtzmann].
Chronik der Stadt Zirich, s. Quellen.
Cornelius, H., Psychologie
[Kreibig].
als
Erfahrungswissenschaft.
VII
900
406
706
416
125
593
144
161
656
751
996
206
301
673
128
Vil Verzeichnis der besprochenen Schriften.
Nassau-Oranische Correspondenzen. Erster Band. Mei-
nardus, O., Der Katzenelnbogische Erbfolgestreit. [Diemar].
Delaville le Roulx, J., Cartulaire general de l’ordre des
Hospitaliers de S. Jean de Jerusalem (1100—1310). IV 1.
[Heyd].
Delbrück, H., Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der
politischen Geschichte. I. (Niese].
Delitssch, s. Bibliothek.
Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich. II.
vı. VI1. VO. VII 1. [Voigt].
Dierauer, s. Quellen.
Dionysii Halicarnasei opuscula ed. H. Usener et L.
Radermacher. Volumen prius. [Fuhr].
Domanski, s. Beiträge.
Dorner, A. D., Grundriß der Dogmengeschichte. [Tröltsch].
Dunlop Gibson s. Palestinian Syriac texts.
Egli, E.. Analecta reformatoria. (II). [Meyer von Knonau].
Ehrhard, A. Die altchristliche Literatur und ihre Erfor-
schung von 1884—1900. Erste Abteilung. [Jülicher].
Euling, s. Abhandlungen.
Faulhaber, s. Hesychius.
Fayum towns and their papyri, by B. Grenfell, A. Hunt,
D. Hogarth. [von Wilamowitz-Moellendorff].
Festschrift zu Goethes 150. Geburtstagsfeier, dargebracht
vom Freien Deutschen Hochstift. [Köster].
Funk, F. X, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Unter-
suchungen. II. [Jülicher].
Gauß, C. F. Werke. Achter Band. [Sommer].
Geib, O., Theorie der gerichtlichen Compensation. [Leist].
Gottlieb, Th., Die Ambraser Handschriften. I. [Dziatzko).
Gots, s. Kampschulte.
Gramsow s. Studien.
489
263
596
742
98
265
30
797
183
526
340
354
Verzeichnis der besprochenen Schriften.
Grenfell, s. Fayum.
Grüneisen, C., Der Ahnenkultus und die Urreligion Israels.
[Frankenberg].
Gunkel, s. Handkommentar.
Haller, s. Urkundenbuch.
Handkommentar zum Alten Testament, hrsg. von Nowack.
I 1. Gunkel, H., Genesis übersetzt und erklärt. [Franken-
berg].
Harrisse, H., Découverte et évolution cartographique de
Terre-Neuve et des pays circonvoisins. [Wagner].
Heinemann, s. Quellen.
Herre, s. Reichstagsakten.
Herrmann, M., Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. [Walzel].
v. Hertling, s. Beiträge.
Hesychii Hierosolymitani interpretatio Jesaiae pro-
phetae edita a M. Faulhaber. [Lietzmann].
Hilgenfeld, s. Acta.
Frhr. Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band.
[Studniczka].
— —, s. Inscriptiones.
Hogarth, s. Fayum.
Hunt, s. Fayum.
Ibrahim ibn Muhammad al-Baihagä, Kitab al-maha-
sin val-masävi, hrsg. von F. Schwally. I. [Brockelmann].
Inscriptiones Graecae insularum maris Aegei. II. In-
scriptiones Graecae insularum Symes, Teutlussae, Tebi, Ni-
syri, Astypalaeae, Anaphes, Therae et Therasiae, Pholegandri,
Meli, Cimoli ed. Fr. Hiller von Gaertringen. [Studniczka].
Kampschulte, F. W., Johann Calvin, seine Kirche und sein
„Staat in Genf, II. Hrsg. von W. Götz, [Kaweraul.
177
677
138
972
89
539
342
539
293
x Verzeichnis der besprochenen Schriften.
Kayser, H., Handbuch der Spectroscopie. I. [Voigt]. 330
King, L. W., The letters and inscriptions of Hammurabi. II.
IL. [Zimmern]. 421
Kistener, s. Abhandlungen.
Klostermann, s. Origenes.
König, E., Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische
Litteratur komparativ dargestellt. [Frankenberg]. 276
— —, — Hebräisch und Semitisch. [Wellhausen]. 738
Kunze, J., Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis.
[Scheel]. 835. 913
Levi, S., s. Bibliothéque.
Liebenam, W., Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche.
[Schulten). 560
D. Martin Luthers Werke. XIX. [Kolde]. 711
Mayr, M., Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum ita-
lienischen Landestheile. [v. Schwind]. 723
v. Meier, E., Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsge-
schichte. [v. Below]. 364
Meinardus, s. Correspondenzen.
Meyer, L., Handbuch der Griechischen Etymologie. [Meyer].
325. 734. 897
— —, Ph., s. Studien.
Mitteilungen aus dem Naturhistorischen Museum in Ham-
burg. Jahrgang XIV—XVI 2. Beiheft. [Bürger]. 350
Monod, G., Etudes critiques sur les sources de Vhistoire ca-
rolingienne. I 1. [Bloch]. 872
Müllenhoff, K., Deutsche Altertumskunde. IV. [Much]. 453
Nowack, s. Handkommentar.
Oechs'li, W., Quellenbuch zur Schweizer Geschichte. [Meyer
“yon Knonau}, 999
Verzeichnis der besprochenen Schriften.
Oeltzelt-Nevin, A., Kosmodicee. [Höfler].
—. — —, Nachtrag: Ueber Willensfreiheit.
[Hofler].
Origenes Werke. III. Hrsg. von E. Klostermann. [Wend-
land].
Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling.
I 1—3. I 1—9. [Ritter].
Palestinian Syriac texts from palimpsest fragments in
the Taylor-Schechter collection ed. by A. Smith Lewis and
M. Dunlop Gibson. [Schulthess].
Papyri, s. Fayum.
Peter, H., Der Brief in der römischen Litteratur. [Leo].
Pfister, A., Aus dem Lager der Verbündeten. 1814 und
1815. [Mollwo].
Pieper, A., Die päpstlichen Legaten und Nuntien in Deutsch-
land, Frankreich und Spanien seit der Mitte des 16. Jahr-
hunderts. I. [Gothein].
Pindarus, s. Poetae.
Poetae Lyrici Graeci coll. Th. Bergk. I 1. Pindari car-
mina recensuit O. Schroeder. [Korte].
Preuschen, E., Antilegomena. [Holtzmann].
Quellen zur Pommerschen Geschichte. IV. Jo-
hannes Bugenhagens Pomerania, hrsg. von O. Heinemann.
[Perlbach].
Quellen zur Schweizer Geschichte. XVIII. Chro-
nik der Stadt Zürich, mit Fortsetzungen, hrsg. von J. Dierauer.
[Meyer von Knonau].
Radermacher, s. Dionysius.
Deutsche Reichstagsakten. X 1. Hrsg. von H. Herre.
XI. XI. Hrsg. von G. Beckmann. [Haller].
Rietschel, G., Lehrbuch der Liturgik. I. [Kawerau).
Riezler, sg, ‚ Geschichte Baierns. Vierter Band (von 1508—
1597). [Brandi]. Zr
468
468
777
52
204
318
173
401
960
835
826
582
807
513
242
XII Verzeichnis der besprochenen Schriften.
Rühl, s. Briefe und Aktenstücke.
Schlitter, H., Die Regierung Josefs II. in den österreichi-
schen Niederlanden. I. [Loserth].
Schroeder, s. Poetae.
Schwally, s. Ibrahim.
Schware, s. ‘Umar.
Schweizer, P., Die Wallenstein-Fragen in der Geschichte
und im Drama. ([Tupetz].
Seeberg, R., Lehrbuch der Dogmengeschichte. Zweite Hälfte.
[Troeltsch].
Smith Lewis, s. Palestinian Syriac texts.
Die Zürcher Stadtbücher des XIV. und XV. Jahrhunderts.
Hrsg. von H. Zeller-Werdmüller. II. [Meyer von Knonau).
Stägemann, s. Briefe und Aktenstücke.
Stein, s. Studien.
Studia Sinaitica IX/X. [Schulthess].
Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche. III 6.
Meyer, Ph., Die theologische Litteratur der griechischen
Kirche im sechzehnten Jahrhundert. [Wiegand].
Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte. Hrsg.
von L. Stein. XII. Gramzow, Friedrich Eduard Benekes
Leben und Philosophie. [Höffding].
Thiele, E., Luthers Sprichwortersammlung. [Kolde].
Ulmann, H., Russisch-preußische Politik unter Alexander I.
und Friedrich Wilhelm IIL bis 1806. [Buchholz].
Der Diwan des ‘Umar ibn Abi Bebi’a, hrsg. von
P. Schwarz. I. [Brockelmann].
Urkundenbuch der Stadt Basel. IV. Hrsg. von
R. Wackernagel. VII. Hrsg. von J. Haller. [Wartmann].
Usener, 8. Dionysius.
van der Viset, 8. Apuleius.
907
336
15
587
991
634
134
864
166
509
818
Verzeichnis der besprochenen Schriften.
van Vloten, s. Abou Othman Anr.
Vogt, s. Abhandlungen.
de Waal, A., Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grot-
ten vun St. Peter. [Graeven].
Wackernagel, s. Urkundenbuch.
Waitz, G., Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. Zweite Auf-
lage. Bearbeitet von G. Seeliger. [Sickel].
Waitz, H., Das pseudotertullianische Gedicht adversus Mar-
cionem. [Jülicher].
Weber, H., Lehrbuch der Algebra. Zweite Auflage.
[Vahlen].
Weinel, H., Die Wirkungen des Geistes und der Geister im
nachapostolischen Zeitalter. [Bousset].
Weinhold, s. Abhandlungen.
Wendt, H. H., Das Johannesevangelium. [Corssen].
Wiegand, J., Das altchristliche Hauptportal an der Kirche
der hl. Sabina. [Graeven].
Worms, s. Beiträge.
Wrede, W., Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. [Holtz-
mann].
Zeller- Werdmüller, s. Stadtbücher.
77
373
628
187
753
645
196
948
Göttingische
yelehrte Anzeigen.
Unter der Aufsicht
der
Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
163. Jahrgang.
Zweiter Band.
Berlin.
Weidmannsche Buchhandlung.
1901.
Für die Redaktion verantwortlich : Prof. Dr. Georg Wentzel
in Göttingen.
Januar (901. Nr. |,
Acta apostolorum Graece et Latine secundum antiquissimos testes edidit actus
apostolorum extra canonem receptum et adnotationes ad textum et argumentum
actuum apostolorum addidit Adolfus Hilgenfeld. Berlin, G. Reimer, 1899.
XIV und 310 S. 8. Preis Mk. 9.
Die ältesten Zeugen, auf welche H. den Text der Apg. gründet,
sind die Vertreter derjenigen Ueberlieferung, die man friiher die
occidentalische zu nennen pflegte, in erster Linie der Codex Bezae
(D). Diese Ueberlieferung bezeugt nach H. nicht nur den ältesten,
sondern auch den einzig echten Text, während der heutigen Tages
allgemein angenommene — der textus receptus novus, wie H. sich
ausdrückt — nach ihm nicht, wie Blass meint, eine spätere Bear-
beitung des Verfassers selbst, sondern vielmehr das Werk griechi-
scher Sophisten oder Grammatiker ist (p. XIV).
Es gab eine Zeit, wo man die Ansicht Bornemanns, mit dem H.
in der Wertschätzung des Cod. Bezae wesentlich übereinstimmt, der
Curiosität wegen zu verzeichnen pflegte, ohne sie einer Widerlegung
zu würdigen. Aber die Zeiten ändern sich. Der Codex Bezae hat
durch Blass bekanntlich viele Gläubige gewonnen, und H. hofft, daß
das neue Jahrhundert, in das wir nunmehr eingetreten sind, die
Blinden alle sehend machen wird (p. VII).
Wer mit den Zeugen des sogenannten occidentalischen Textes
vertraut ist, den ich mit Blass der Kürze halber 8 im Gegensatz zu
dem üblichen, «, nennen will, wird sich immerhin wundern, daß bei
einem Versuch, aus ihrer ungeheuren Mannigfaltigkeit einen ur-
sprünglichen Text wiederzugewinnen, die höchst verwickelten Vor-
gänge der Textgeschichte, die zu dieser Mannigfaltigkeit geführt
haben, nicht einmal angedeutet werden. Vergebens sucht man sich
aus der kurzen Einleitung, die dem Text voraufgeschickt ist, dar-
über zu belehren, wie H. über das Wesen und die Beschaffenheit
der Zeugen, über ihr Verhältnis zu einander denkt, nach welchen
Grundsätzen und welcher Methode er sodann den Text consti-
tuiert hat.
Wir werden also aus dem Texte selbst die Methode zu ermitteln
@6tt. gel. Ans. 1901. Nr. 1. 1
2 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
suchen, nach der er hergestellt ist. Bevor wir aber dieses unter-
nehmen, wollen wir die Einrichtung des kritischen Apparats ins Auge
fassen, um uns zu überzeugen, ob der Bau, der darauf errichtet ist,
auf sicherem Grunde ruht.
Die schmerzliche Erfahrung, daß bei der Herstellung des Appa-
rates Fehler aller Art sich einschleichen, werden ja die meisten
machen, die sich mit solchem Geschäft befassen, aber die Kritik darf
sich dadurch nicht abhalten lassen, den Wert der Arbeit nach dem
Maaße der dabei erreichten Deutlichkeit und Zuverlässigkeit zu be-
messen. Hier handelte es sich in der Hauptsache nicht um neue
Collationen, da die 8. Auflage der großen Tischendorfschen Ausgabe
zur Grundlage genommen wurde, sondern wesentlich um eine durch
die veränderte Wertschätzung bedingte neue Gruppierung des dort
aufgestapelten Materials.
Daß der Apparat dabei an Uebersichtlichkeit und Deutlichkeit
gewonnen habe, wird man nicht behaupten können. Man vergleiche
z.B. 13, 29: xaı xadelovres axo tov Evdov xu (xae om. Thom.)
ednxav (avrov add. in marg. Thom., sed in Ph obelo notavit) es
pynpecov Dd Thom. (in marg. praem.) xcı, om. axo tov Evdov, xaı
(praem. Psch. gig.) x«dsAovres (avrov add. syr. utq.) axo rov Evdov
(oravpov E Psch.) efyxav (avrov add. syr. utq. gig.) eg pynuecov
EB cett. M syr. utq. gig. — Was hier (in marg. praem.) xat, om. axo
tov Evdov bedeuten soll, habe ich beim besten Willen nicht ent-
rätseln können. Sieht man im übrigen zunächst einmal von den
vielen Parenthesen ab, so bedeutet die umfangreiche Angabe, daß die
Ueberlieferung sich hier in zwei Hauptzweige spaltet, Dd Thom.
einer-, EB etc. andererseits. Worauf läuft aber der Unterschied der
beiden Gruppen hinaus? Auf ein winziges x«ı vor ed'nxev, das, ab-
gesehen von seiner inneren Unmöglichkeit, noch dazu in seiner
Gruppe nur von einem der drei Zeugen bestätigt wird. Das hatte
Tischendorf kürzer ausgedrückt, nämlich e@yxev: D xaı ednxav (item
d), das letztere freilich irrtümlich, denn d beweist nichts, wovon
später.
Zu dem Text 22, 28 xal droxgidels 6 yıllapyos einev heißt es
im Apparat im wesentlichen so: xat «noxgıdes o yeıkınpyos (xuı
periisse videtur) D, anexgidn de o yılıapyos EB cett. | cınev avrw
D>. — Jedermann wird glauben, daß xaı vor axoxg:ferg in D verloren
gegangen zu sein scheine, aber aus Scrivener erfährt man, daß es
anders gemeint ist, nämlich daß nach yecdsegzos anscheinend xa aus-
radiert ist. Der Corrector D> hat ferner nicht esxev «vrw, sondern
nur «vrm zugesetzt, während esxey schon die erste Hand hat, was
aus H. nicht ersichtlich ist.
Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. 3
Wenn 9, 20 angegeben wird pera zaang zappneies fl. m 4 Iren.
197, so kann man wirklich nicht gleich wissen, daß die Ziffern hier
Seitenzahlen bedeuten, da sonst auf solche Weise Minuskelhand-
schriften bezeichnet werden und 2, 30 unzweideutig Iren. p. 193
steht. 15, 20 hinwiederum ist Iren. III, 12, 14 nach Buch, Kapitel
und Paragraph citiert, während meist ohne weiteres Iren. gesetzt
ist. — Origenes wird nach Bänden und Seiten citiert, mit Ausnahme
der Bücher Contra Celsum, Clemens Alexandrinus dagegen nach
seinen Schriften. Bei Origenes wird nicht unterschieden, ob ein
Citat aus einer im Original oder einer nur in der lateinischen Ueber-
setzung erhaltenen Schrift stammt, ebenso wenig ist angegeben,
daß die wichtigen Varianten 4, 31 und 9, 20 von Irenaeus auch grie-
chisch erhalten sind. — 15, 20 werden Iren. Tert. Ambros. Hieron.
nach ihren Schriften citiert. Dazwischen steht Cypr. 329, was ich
nicht verstehe, denn Cyprian citiert die Stelle überhaupt nicht. In
weitaus den meisten Fällen ist, wie bei Irenaeus, nur der Name des
Kirchenvaters in Abkürzung angegeben, wobei ich bemerke, daß
mit Lucfr. (z. B. 13, 6) Lucifer Calaritanus gemeint ist.
Die Auswahl aus den Citaten der Väter scheint willkürlich. Den
Zeugnissen von Chrysostomus und Theophylaktus, oft nicht belanglos
für den ß-Text, z. B. 20, 10 und 15, bin ich an den Stellen, wo ich
danach suchte, nicht begegnet. Während wichtigere fehlen, wird da-
gegen wiederholt Beda ex graeco angeführt, dessen griechischer Co-
dex doch kein anderer war als der uns erhaltene Laudianus E. Bei
H. stehen freilich beide gelegentlich mit einander in Widerspruch,
z.B. 4, 31 und 13, 41; aber ein Blick in Tischendorfs Ausgabe des
Laud. zeigt, daß H. sich über diesen geirrt hat.
Nach einer Seite geht H. natürlich über Tischendorfs Apparat
hinaus. Waren doch diesem sehr wichtige Zeugen des ß-Textes ent-
weder ungenügend, wie die erst durch S. Berger vollständig ent-
zifferten Fragmente des lateinischen Floriacensis, oder überhaupt
nicht bekannt, wie der sogenannte Gigas und der Paris. lat. 321.
Auch aus S. Berger’s Histoire de la Vulgate hat H. Nutzen gezogen,
wobei ich aber nicht verschweigen kann, daß Anmerkungen wie 12, 18
Berg. p. 162 add.: aut quomodo exisset über das Maaß erlaubter
Breviloquenz hinausgehen.
Für keine Bereicherung unserer Einsicht kann ich es halten,
daß die Varianten der Pariser Ausgabe des R. Stephanus vom Jahre
1550 mitgeteilt werden. Zum mindesten hätten uns die Varianten
von ß erspart bleiben können, da 6 nichts anderes als der Cod. Be-
zae ist, besonders in den Fällen, wo sie ersichtlich falsch sind, wie
2,47. 3, 1, 15, 20.
1*
4 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
Dagegen ist es anzuerkennen, daß H. die interessante Minuskel-
handschrift 137 s. XI in Mailand hat neu vergleichen lassen. Sie
ist in den Apparat unter dem Buchstaben M ‘quasi maiusculus’
(p. IX) aufgenommen. Freilich wäre es nicht nötig gewesen, den
Apparat mit den vielen gräulichen Fehlern, von denen diese Hand-
schrift wimmelt, zu belasten. Bedenken flößt die Bemerkung in der
Einleitung ein, M würde 15, 14 nicht zugleich als Zeuge für die
Lesart exeoxewaro und e&eiskaro erscheinen, wenn die Druckbogen
in Mailand nach der Handschrift vollständig hätten revidiert werden
können, wie es mit den ersten drei geschehen sei. Ist der genannte
Fehler der einzige? Nach H.’s Angabe hat M 24, 24 sowohl zıvas
nuegas als nuepas tevac. 27,7 steht M ebenso unter den Zeugen
für als gegen xara ocAumvnv, 22, 29 gilt das Gleiche sogar für den
ganzen Satz xa rapeypnua edvoey avtov. Wie mag es an den an-
dern Stellen stehen, wo H.’s M von Tischendorfs 137 abweicht ? wie
23, 25 (megısyovoav M, syovoav 137) v. 34 (erngwrnse M, xaı exegu-
noag 137) 22, 26 (ote ewpacoy Exvrov Asycı om. M, hab. 137).
Die beiden syrischen Uebersetzungen hat H. selbst verglichen
und zwar die Peschitta in der Ausgabe von Martin Trost vom J.
1621, während Tischendorf die Ausgabe von Schaaf zu Grunde ge-
legt hatte. Ob die Differenzen zwischen Tischendorf und H. (z. B.
22, 12. 13. 14) auf dieser Verschiedenheit der Ausgaben, ob auf
Versehen von der einen oder andern Seite beruhen, vermag ich bei
meiner Unkenntnis des Syrischen nicht zu sagen. Die Philoxeniana,
von Tischendorf und Blass als syr?, d. h. syriaca posterior bezeichnet,
wird Ph von H. genannt Neu ist auch die Bezeichnung Thom. c. ast.
für die von dem Bischof Thomas von Heraclea mit einem Asteriscus
versehenen und Thom. (mg.) für die am Rande der Philoxeniana
von ihm zugesetzten Lesarten. H. nimmt an, daß für die letzteren
zwei Handschriften benutzt seien, und unterscheidet 23, 23. 24 mg.!
und mg.” Ebenda findet man die Bemerkung: om. Thom. (mg.),
etiam alterum codicem haec continere testatus. Mir ist es nicht
möglich gewesen, irgend eine Spur von einer solchen Unterscheidung
des Thomas zu entdecken.
Wo Beschränkung auf das Wesentliche, Durchsichtigkeit und
Klarheit der Anordnung, Praecision und Consequenz in den Angaben
den kritischen Commentar beherrschen, wird man mit diesen Tugen-
den auch die Zuverlässigkeit im Bunde finden. Wir haben, als wir
uns nach jenen umsahen, auch diese bereits öfter vermißt. Die bei-
läufig erwähnten Fälle sind nicht die einzigen. |
Widersprüche, wie wir sie bei M fanden, begegnen auch sonst:
26, 15 ist P sowohl unter denen verzeichnet, die xvgcog haben, als
Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. 5
unter denen, die es auslassen. E soll 12, 25 xcı (vor Imavny), 25, 4
peldesy nach der ersten Angabe haben, nach der zweiten nicht. 2, 17
tritt E zuerst für xa: 0: wgeoBuregoc, dann für x. o 2. vuwv ein.
27,7 sind es sogar drei Handschriften zugleich, die sich in solcher
Weise widersprechen, nämlich außer M (s. oben) noch BN. — 28, 1
steht im Text tore, im Apparat statt dessen re; 18, 1 im Text dva-
zopioas dt, im Apparat axoywenous de, zugleich wird ds D erst
zugeschrieben, dann abgesprochen.
2, 23 steht zu dem Text dvefAare im Apparat avecdare M, eben-
so 27, 10 gogriov etiam M, ohne daß eine Variante vorläge. Was
aber bedeutet vollends 26, 26 «Ada etiam M, wo dAA« im Text nicht
vorkommt ? — 26, 23 fragt man sich, warum im Apparat pedde: EB
cett. angegeben ist. Das Rätsel löst sich, wenn man Tischendorf
aufschlägt, denn hier erfährt man, was bei H. ausgefallen ist, daß NHP
und mehrere Minuskeln peddey haben.
4, 12 heißt es: ov D fl. ovde dB (syr. utq.) gig. ovre EPM. Was
NA haben, erfährt man nicht, und warum d mit neque, gig. mit nec
mehr für ovds als für ovrs zeugen, ist nicht ersichtlich.
23, 34/5 ist der Text Zpn‘ KéAcE: xal avOdpevos Epn' dxodco-
paé cov. Dazu der Apparat: 34 epn ılıE (xılıcıa Thom.) xae xvGo-
wevog &pn M Thom. (mg.) gig. | 35 axovsouaı cov (cov om. Thom.
mg.) MPh, egy «xovoouaı cov Psch. Thom. (mg.) gig. Hier ist zu-
nächst bei Thom. der Widerspruch in Bezug auf gov zu notieren,
der durch Versetzung der Parenthese zu lösen ist. Vergebens sucht
man aber den Unterschied zwischen M einer- und Thom. gig. an-
dererseits zu ergründen. In Wirklichkeit hat Thom. mg. dixit, Cili-
cia. Et cum cognovisset, dixit: Audiam, dixit. Gig. aber: Et cum
audisset, dixit: Audiam te, mit völliger Uebergehung des fn: xtAıE.
Diese Beispiele sind aufs Geratewohl herausgegrifien, es kommt
schlimmer, sobald man genauer nachprüft.
Einer der wichtigsten Zeugen ist Irenaeus. Er bestätigt an
vielen Stellen den Text von ß, an manchen geht er mit a, an eini-
gen hat er singuläre Lesarten. Ich habe alle seine Citate mit H.
verglichen, dabei fand ich, daß in weitaus den meisten Fällen sein
Zeugnis überhaupt nicht beachtet, in einigen unrichtig wieder ge-
geben ist. So bestätigt Iren. den Zusatz von ß 2, 30 nicht. 3, 21
stimmt er nicht mit DB etc. überein, sondern hat die singuläre Les-
art per sanctos prophetas suos. 15, 7 hat er zwar in vobis mit BA
etc., aber die Wortstellung gleich D. 3, 13 bestätigt er ®eAovrog
von D, aber nicht das damit unvereinbare xgrvavrog.
Die unberücksichtigten Lesarten betreffen durchaus Dinge, die
H. principie der Erwähnung wohl für würdig gehalten hat, z. T.
6 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1,
sind sie von hervorragender Bedeutung. Z.B. 3, 17 add. nequam
== ß v.18 om. ovrwg = fl. (fl. fehlt gleichfalls) v.21 om. aw aımwvog
= ß v. 22 add. ad patres nostros = ß etc. etc. — Es ist sogar
nicht einmal angegeben, daß Iren. 15, 20 den Zusatz et quaecumque
nolunt sibi fieri, aliis ne faciant und 15, 29 denselben in der zweiten
Person hat. Zu 15, 20 wird angemerkt, daß nach dem von E. v. d.
Goltz mitgeteilten Scholion des Cod. Lawra 184 B 64 Eusebius adv.
Porphyr. den Zusatz in derselben Form wie D angeführt habe. Der
Scholiast sagt aber nicht, daß Eusebius diese Lesart gebilligt, son-
dern daß er sie so aus Porphyrius angeführt habe. In der Form
aber weicht das Citat in dem Cod. Lawra von D ab. Aus demsel-
ben Scholiasten wäre zu 15, 29 zu notieren gewesen, daß der Zusatz
auch in dem griechischen Text des Iren. stand (cf. Texte u. Unters.
N. F. Il, 4, p. 41).
An manchen Stellen könnte man denken, Iren. sei bei H. unter
einem cett. (= ceteri) einbegriffen. Da er aber in der Einleitung
bestreitet, dass Iren. je mit & zusammentreffe, so muß man an-
nehmen, daß auch an solchen Stellen sein Zeugnis übersehen ist,
wie 10,41; 15, 26; 17,28; wolren. die Zusätze von ß nicht teilt.
Nächst Irenaeus ist Tertullian der älteste Zeuge für 8. Obwohl
seine Citate weniger zahlreich als die des Irenaeus und von Rönsch
bequem zusammengestellt sind, so sind sie darum nicht sorgfältiger
behandelt. So ist z.B. sein Zeugnis für das Fehlen der zvıxrd
15, 29 nicht vermerkt. Ebensowenig, daß er, der im übrigen an
dieser entscheidenden Stelle für 8 eintritt, doch den Zusatz doa un
Beisre etc. nicht bezeugt. Nicht beachtet ist, daß Tert.’s Ueber-
setzung 15, 28/9 eine Lesart oy éxdvayxsg dneysodeı statt trav End-
vayıss" dntyeodeı voraussetzt. Wer möchte sich da verwundern,
daß die auch von Blass übersehenen Zeugnisse für u Feouayöusv
23, 9 und yeyparıaı ydg Ev Mwücst 26, 22 übersehen sind?
Des demnächst ältesten lateinischen Zeugen, Cyprians, Citate,
nicht umfangreicher als die Tertullians, haben eine erwünschte Er-
gänzung durch die Fragmente des Palimpsests von Fleury (fl.) er-
halten, deren Text mit dem cyprianischen identisch ist. Auch aus
diesen sind die Angaben so dürftig und unzuverlässig, daß mam
überall auf die Ausgabe von S. Berger zurückgehen muß.
Ich muß mich auch hier darauf beschränken, durch wenige Bei—
spiele, die Art und Weise, wie fl. benutzt ist, zu charakterisieren.
5, 27 Text: ‘Ayaydvrss dt adrods Zornoav Ev tH ovvedoin oc
Ennonrnosv avtovs 6 legeds Adyov. Dazu als einzige Variante a2 5
fl. praetor für fegevg. Nach Berger hat fl. Ut modo (1. oma.
perduxerunt eos in conspectu concilss cepit ad eos praetor dicere. ——
Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. 7
5,29 hat fl. nach H. respondens autem ait Deo. et dixit Petrus ad
eum, nach B. respondens autem petrus dixit ad illos Cui obaudire
oportet dd an hominib- ille autem ait dod et dixit Petrus ad eum.
14, 19/20 Text: xul énsostoavres rods ÖyAovs xal Addaavreg
tov Ilatiov Eoveay fw trijg aédews, vouifovres tePvava avrdév, xv~-
xAodavıov St tay pabyray adrod dvactag eislAdev eis tiv Adorgav
xéityv. Als einzige Abweichung wird verzeichnet wodw om. fl. und
gerade hier stimmt fl. mit dem Texte, im übrigen weicht er voll-
kommen ab: et concitaverunt turbam ut lapidarent paulum quem
trahentes foras extra civitatem putaverunt eum esse mortuum tunc
circumdederunt eum dicentes (1. discentes) et cum surressisset (1.
discessisset) populus vespere Levavit se et introiwzt civitatem lystram.
26, 28 Text: 6 08% ‘Ayelaxas xeds roy IIaddov Eqn: ‘Ev öAlyo
us welBero Xguotiavoy yevéodoar. Commentar: egy fl. | revere fi. |
yeveoSat (fl.) xocnoo: B etc. | Berger: agrippa ad eum ait modico
suades mihi paule xpianum facere.
Selbst der Codex Bezae (ed. Scrivener) ist nicht mit geniigender
Sorgfalt verglichen. Wenn man 2, 20 petacrgegerae D, petacteagy-
oeraı D> usraorgapıoraı D* verzeichnet findet, so muß man freilich
denken, die Akribie sei hier aufs äußerste getrieben. Auf solche
Peinlichkeit wird man aber gern verzichten, wenn man weiß, daß D*
‚eine ganz moderne, nicht viele Jahrhunderte alte« Hand ist (s. Scri-
vener p. XXVI). Wünschenswerter wäre es, wenn z. B. 18, 6 darauf
geachtet wäre, daß in D ysıvousvov steht, und dementsprechend in
Text und Commentar nicht ye-, sondern yıvousvov gedruckt wäre.
18, 2 steht im Apparat: oı xexatwmxyoay (sic etiam D**, xaerwandev
D). Aber Scr. druckt: oc xs xarmxndev (= of xal xarhxndsv) und
bemerkt dazu S. 445 « pro e in xarmxyosy A? d.h. xarwandev ist
in xeroxnoav, wahrscheinlich von A, verbessert. 18, 7 ist die Wort-
stellung ovouzeatos (corr. -zı) Iovorov nicht beachtet. 18, 3 soll n0av
yg oxnvoxoıoı ty vexvn von D d bezeugt werden; ich habe den
Satz bei Ser. vergebens gesucht. Dagegen habe ich umgekehrt dort
19, 4 die Worte eo tov egyouevoy wer avtoy in eum qui venerit post
ipsum gefunden, die nach H. in D d fehlen.
Ich werde mir nach diesen Proben den Nachweis sparen diirfen,
daß die übrigen Zeugen mit keiner größeren Sorgfalt behandelt sind.
Nur auf einen Punkt muß ich noch eingehen. Die Varianten der
lateinischen und anderen Uebersetzungen sind teils lateinisch ange-
geben, teils ins Griechische rückübersetzt oder ihre Zeichen sind
hinter die aus griechischen Handschriften belegten Varianten gesetzt.
Man kann, wie wir gesehen, sich auch auf die lateinischen Angaben
nicht verlassen, aber in dem andern Falle ist besondere Vorsicht an-
8 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
zuraten. 4, 14 steht in dem Apparat ors ovv rw ımoov noav fl.
Aber fl. hat quoniam eum ihu conversabantur = ovvsoroapnsav
(vgl. Mt 17,21 abdf vg und Acta 10,41 D). 23, 16 nv evedoay
avrov fl. gig. Das stimmt für gig., aber fl. hat conventionem eorum
= ovorgogiy (vgl. v. 12). 3,6 sımev de xetgog xeog avrov Thom.
(mg.) fl. gig. Stimmt für die beiden ersten, gig. hat ait autem illi
Petrus. 25, 21 xatoaga xaı aırnoausvov tnonPyvar gig. Darauf ist
der Text gegründet rod 0 Tlavdov éxixadecapévov Kaioaga xal
altyoawévov tnondiver. Gig. hat aber: tunc Paulus appellavit Ce-
sarem et petiit etc. Mit dieser Form des Satzes stimmt die Fort-
setzung, die bei H. lateinisch angeführt ist und in dem Commentar
unverständlich bleibt. U. 8. w. |
Es wird undenkbar scheinen, daß solche Dinge aus H.’s Feder
gekommen sind. Sie stammen auch nicht aus seiner Feder; denn
H. hat nach p. IV Text und Apparat von drei Mitgliedern des theo-
logischen Seminars in Jena abschreiben lassen. Aber H. hat für
Apparat wie Text die Verantwortung übernommen, sie sind bei
G. Reimer erschienen und nicht als Seminararbeit gedruckt.
Ein so beschaffener Apparat kann für den Text kein anderes
als ein ungünstiges Vorurteil erwecken, und leider trügt dies Vor-
urteil nicht. Statt eindringenden Verständnisses der Ueberlieferung,
methodischer Abwägung der verschiedenen variantenbildenden Fak-
toren, sicherer, innerlich begründeter Textgestaltung, begegnen wir
bald blindem Vertrauen, bald grundsatzlosem Tasten und Schwanken ;
und es scheint, als wenn die ungefügste und verchränkteste Satzbil-
dung, die ungeheuerlichsten Wortformen in H.’s Augen das beson-
dere Kennzeichen des ursprünglichen lukanischen Stiles seien.
Wir finden 14, 24 AAdav 16, 19 eidav und elyav 17,15 xaracıd-
vovreg 5, 35 tods ovvedglovg 21, 24 Ste xogevov 17,27 Pndagpicaccay
(gedruckt ist gydAap.) und sdgoıcev, alles dies auf Grund von D. D
wird auch für die rätselhafte Form u ov@xys 18, 9 verantwortlich
gemacht. Aber D hat nicht ocmxys, wie im Apparat angegeben ist,
sondern cé:mong, offenbar ein Schreibfehler für ce:amnons, wie eine
spätere Hand verbessert hat.
D wird von H. in der Einleitung als der wichtigste Zeuge für
den originalen Text des Lucas bezeichnet. Ueber das Verhältnis
der neben dem griechischen Texte (D) stehenden lateinischen Ueber-
setzung (d) zu diesem bemerkt er, daß beide zwar auf das nächste
mit einander verwandt, aber doch von einander unabhängig seien
und daß sie eine gesonderte Existenz geführt hätten, ehe sie mit
einander vereinigt worden wären. In Wirklichkeit gehen die beiden
Texte an manchen Stellen soweit auseinander, daß es den Anschein
Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. 9
hat, als hätten sie nichts mit einander zu thun, an anderen aber
stimmen sie so merkwürdig überein, daß die Absicht einer voll-
kommenen Harmonie unverkennbar ist. Schon hieraus geht hervor,
daß uns entweder beide oder doch der eine von beiden nicht in
ihrer ursprünglichen Form erhalten sind, aber auch, daß keiner von
beiden ohne den andern vollkommen verstanden werden kann. Es
ist daher nicht einzusehen, warum H. d für sich besonders auf
S. 127—196 hat abdrucken lassen.
Wir haben in der zufällig erhaltenen Form dieser bilinguen
Ueberlieferung das Produkt einer längeren Entwicklung zu sehen,
über die sich derjenige, der diese Ueberlieferung für die Constituie-
rung des ß-Textes nutzbar machen will, zunächst Klarheit verschaffen
muß. Zwei Faktoren, beide hinlänglich bekannt, sind in diesem Pro-
cesse besonders wirksam gewesen, einmal die Einwirkung des Latei-
nischen auf das Griechische, sodann die Verwirrung, die der «-Text
angerichtet hat. Beiden Faktoren hat Blass bei seiner Reconstruc-
tion des B-Textes Rechnung getragen, aber für H. hat dieser Vor-
gang kaum Bedeutung gehabt. Er schreibt z. B. auf Grund von D
11, 1 totg ddeAgois ol Ev ti Iovdatea, wo ot das ursprüngliche rosg
in Folge der Uebersetzung qui erant verdrängt hat. Ebenso 4, 12
övoua .. 6 dedouevoy st. rd Od. aus nomen quod datum est. 17, 27
Enzeiv 6 Heidv conv st. £. rd Hstov. Hier ist der Umbildungspro-
ceß in D noch nicht vollendet : corey ist nach dem Lateinischen zu-
gesetzt, ro unverändert ($nreıv to Pevov eorey quaerere quod divinum
est). — 12, 17 tva aıyiomaıv st. aıyäv. Die ursprüngliche Lesart
von D ist in Folge späterer Correctur nicht mehr zu erkennen. Es
scheint, als habe die erste Hand zwischen Infinitiv und Conjunktiv
geschwankt. 17, 30 fva ueravoronav, st. weravosiv. Hier hat D
wa peravosıv. Wenn dieser Fall noch nicht deutlich genug war, so
hätte doch 13, 28 wwe so avacgeory ut interficeretur über den Gang
der Veränderung in D belehren müssen. — 12, 16 (ddvteg abröv xul
eEeornoav aus viderunt eum (Hs. eunt) et obstupuerunt. Entspre-
chend setzt H. x«/ mit D auch 13, 7. 27. 29. — 7,4 hat D e&eA-
dov xcı xarmxndsv. Hier setzt H. selbst den in D begonnenen Pro-
cess fort und schreibt mit Berufung auf d Psch &£74dev xal xurg-
ANoEV.
Sehr häufig sind die Fälle, wo H. mit D eine aus « in ß ein-
gedrungene Lesart beibehält. Einige Beispiele, in denen die auszu-
merzende «-Lesart von mir gesperrt ist, mögen das erläutern.
3, 11 of 8 Haußndevres Eornoav ... Zxdaußoı. 4, 34 door
YaQ xTjropes Fouy yoolav 7} olmay Unijexzor. 7,26 «ti re &m-
10 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
odon!) Auloe Hoy adrols uayouedvoıs!) xal sidev adrode ddı-
xoüvrag. 18, 8 dxovovres Enlorsvov nal EBanıifovro xtorevorvtes.
20,18 do dk mageyéevovto ngös adroy dudes Svtmy adrady einev.
Auch in Fällen, wo das Richtige bei andern Zeugen erhalten ist, folgt
H. der Autorität von D. Z. B. 3, 13 xard& xgdoamnxov Ilsı$drov tod x el-
vavros Exeivov axodvesy adıbv Sélovtoc. Iren. ante faciem
Pilati cum remittere eum vellet. Aehnlich Hier. Das rov hinter ITeı-
Actov beruht auf unbeabsichtigter Wiederholung der letzten Silbe.
Oft hat natürlich das Eindringen von Lesarten aus « weitere
Verderbnisse zur Folge gehabt, so daß die Elemente sich nicht so
einfach wie in den bisherigen Beispielen scheiden lassen, wie z. B.
18, 5 f. wo H., wesentlich in Uebereinstimmung mit D. schreibt:
xagsyévovto 6d dnd rig Maxsdovias réte Zilüs al Tiuödeos,
owvelye te (ovvaıyero D) r& Adyo adios drapagrvedpevog tots
‘Tovdalosg, slvor roy Xguordoy xvgeov ’Imooüv. noAlod dt Adyov
yevopevov (yeıvousvov D) xal yeapady dıspunvsvousvov, dvriradoo-
uevov dt adrüv xal BAaapnuovvrov Extıvakdusvog 6 Haddog etc.
An verräterischen Zeichen fehlt es in dieser Periode nicht: die auf-
fällige Stellung des rdrs, der mangelhafte Anschluß des Genitivus
abs. dvriraooousvov auröv. Dagegen findet man eine in sich zu-
sammenhängende, von dem Einfluß von « durchaus freie Construction
in fl.: Tunc supervenerunt a Macedonia Silas et Timotheus atque
iterum cum multa (Hs. multis) fierent verba et scripturae interpre-
tarentur, contradicebant Iudaei quidam et maledicebant. Tunc ex-
cussit etc. Offenbar hat man hiervon in der Reconstructien von ß
auszugehen.
18, 19 hat H. im wesentlichen mit D xar/ivrnoav (xatavrnoag D)
dt sis “Eqecov. xal t@ Enıövr oaBBdrm éxsivovg warllınev Exel,
adrog dt elgedPcoy sls thy suvaywmyny dvedéysto vols "Iovdatorg. Die
in « fehlenden Worte r& éxidvte oaBBerm haben auch M und Thom.
c. ast. Aber beide verbinden sie mit dem Vorhergehenden (eis
“Egecov +G £. 6.) und fahren mit a fort xdxsivovs. Das hat wenig-
stens Sinn, aber es vereinigt sich nicht mit dem Schluß von v. 21,
wo M nach Tischendorf (die Angabe bei H. widerspricht sich) statt
évizin &xd rig "Epéoov, wie H. mit D und a schreibt, vielmehr
tov Öb ‘dxvidav slacev Ev ’Epéom, aurös dt dvsverdelg etc. hat.
Aehnlich Thom. mg. Hieraus ergiebt sich mit höchster Wahrschein-
lichkeit, daß, um ß wiederzugewinnen, die Worte &xsivovg — adrds
ö3 auszuschalten sind und v. 21 mit M Thom. zu schreiben ist.
Gar nicht beachtet hat H. die kolometrische Schreibung von D
1) D core extoven und pazopevoc (nicht wazouevor, wie im Apparat ange-
geben ist).
Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. ll
und in Folge dessen gelegentlich einen Text hergestellt, der zwar
in den Worten mit D iibereinstimmt, dem Sinne nach ihm aber wi-
derspricht. So 13, 38 f. did rovrov tty kpects apaetidy xaray-
yédderae xal uerdvoia. and xévrav ov odx Advuviiyte Ev véup
Movetwe SixarmPijvar, év tovt@m obv etc. Aus der Stichenabteilung
von D geht deutlich hervor, daß nach seiner Absicht dad xdvroy
mit dem Vorhergehenden verbunden werden und mit &v tovrm ein
neuer Satz beginnen soll.
5, 36 teilt D folgendermaßen ab: oo dueAvdn avrog dt avrov —
XL HAVTES 0001 Exiforto avtm — xuı Eyevovro so ovdev. Das xaı
zu Anfang des dritten Stichus ist offenbar nicht ursprünglich, son-
dern entweder aus « eingedrungen oder aus dem vorhergehenden
Stichus irrtümlich wiederholt. Das Richtige hat d: et omnes quod-
quod obtemperabant ei facti sunt nihil. H. aber klammert sich ge-
rade an dieses xa und ohne sich um die stichische Anordnung von
D zu kümmern, macht er aus D folgendes zurecht: ög dısAddn aürdg,
di’ avrov xal navıss Boo. Ensidovro aurd, xal EyEvovro eig ovdEv.
— 5, 29 schreibt H. mit D?: 6 d& IIergos einsv xedg adtovs’ Medag-
zeiv Ost Ye uällov N dvdgmnoıs. Ueber D? bemerkt H. p. X:
quae Scrivener s. m. signavit »incerti cuiusdam neque antiquissimi
scriptoris lectiones indicans<, doleo me signasse D?. sed ipsa res
parum mutabitur. Der Unterschied ist ein gewaltiger: statt der
originalen Lesart von D folgt H. einer ganz willkürlichen Aenderung,
die ebensowenig in der Ueberlieferung wie in der Absicht von D
eine Stütze findet. de statt dec ist kein Schreibfehler, wie H. an-
nimmt; die Aenderung ist allerdings alt, nach Scrivener aus dem
Ende des VI. Jahrhunderts, nicht von G, wie H. angiebt, aber das
darf an der Meinung von D nicht irre machen, die deutlich aus der
stichometrischen Anordnung hervorleuchtet : xaos Bovieotat eyayaysıv
EP NAS — to aya tov Avdgmnov Exsıvov — nevdagysv de Em
kallov 7 avdomnoıs — O de nergo0 Eınev xgoo avtove. Diese
Lesart ist sonst nirgends überliefert und gewiß nicht die von ß.
Diese wird vielmehr aus fl. zu gewinnen sein.
Auch wo D von H. corrigiert worden ist, zeigt er, daß er
die Natur der Handschrift nicht erkannt hat. 12, 21 hat D (o 1gw-
O76) zönusıyops: xg06 avrovo — xacadAayevtod O& KUTOV TOLO TU-
erorg — 0 dé Önuos exepove. H. tilgt das erste ds und setzt ei-
nen Punkt nach tvgtoco, während das zweite, aus « eingedrungen,
zu streichen ist. — 11, 26 schreibt H., mir vollkommen unverständ-
lich, ofteves zapayevdpevor Eviavrov ÖAov Ovvsrvoav ÖyAov Ixavov.
Gewonnen ist das aus einer Combination von D und d
12 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
OLTLYES HaPRYEVouEVOoL Eviavrov oAov contigit vero eis annum totum
Ovvsyvdnoav oyAov ıxavov commiscere ecclesiam
Richtig ist, daß beide, D und d, interpoliert sind, und es kann auch
aus ihnen das Ursprüngliche combiniert werden. Man muß sich aber
dabei nach einer Richtschnur umsehen, und die wird durch die ver-
wandten Zeugen gegeben. Bestätigt wird der Anfang von D durch
Thom. mg. (cum venissent autem) und den Perpinianus, einen la-
teinischen Text des 13. Jahrhunderts mit vielen alten Lesarten, (cum
autem venissent), der in d vorauszusetzende Schluß — denn commis-
cere ecclesiam, verderbt aus commisceri ecclesiae ist der vorherge-
henden, aus « interpolierten, Zeile angepaßt — wiederum durch den
Perp. (conmiscuerunt se eclesie, nicht ecclesia, wie H. angiebt).
Darnach wird man oftives xagayevéusvor (oder xagayevdpsvor dt)
Eviavrdv ÖAov ij éxxdnote ouvsqvonoay als ursprüngliche Lesart
von ß vorauszusetzen haben.
Oefters besorgt H. das Geschäft der Textmischung von & und
ß selber. Z.B. 3, 5 6 dt dreviang Eneiyev adtoig (a : 6 Ob dmeiygev
euros D o de arevsıoaa avroo fi. ille autem contemplatus est
eos). 19, 20 5 Adyog rod Hsod eviozvoev, xal 4 niorisg tod PEod
nbEavs (a: 5 Adyog tod xvplov (tod xvolov 6 Adyog) nikavev xal
toyvev; D d (mit falscher Wortstellung) evıoyvaev xaı 4 aıorıs tov
deov nvéave, so auch Psch., aber mit der richtigen Wortstellung. 24,
27 tov dt Tlatdov elacev Ev rnorası did Sgovorsdav HEAwv Te
z&0ıv naradEodaı tots Tovdatotg 6 DHALE xarédAcaerv
tov ITaükAov dedsu&vov. Hier fehlt Dd. Die Philoxeniana hat
a (dEAmv — dedeuevov) im Text, dafür die andere Lesart am Rande.
Nach Tischendorf wird sie durch 137 bestätigt. H. setzt freilich im
Apparat M zu beiden Lesarten. Nach den oben mitgeteilten Beobach-
tungen wird man ein Versehen dabei annehmen dürfen.
Da das Eindringen des «-Textes in D an so vielen Stellen noch
deutlich wahrzunehmen ist, so wird man überall, wo D= a ist,
andere Zeugen aber, die sonst mit D zusammengehen, einen abwei-
chenden Text haben, soweit nicht andere Gründe dagegen sprechen,
den andern Zeugen ein größeres Gewicht beilegen müssen. H. ist
auch in solchen Fällen vielfach mit D gegangen, ohne sich um die
Abweichungen zu kümmern, z. B. 4, 15. 7, 1. 14, 5. 22. 18, 9.
Freilich ist diese Wertschätzung keineswegs mit starrer Conse-
quenz durchgeführt. Es können dagegen Fälle angeführt werden,
wo H. mit Recht D zu Gunsten anderer Zeugen von ß verläßt, wie
14, 18. 15, 1. 6. 24, ja gelegentlich begnügt er sich mit einem ein-
zigen Zeugen, wie 4, 3 mit fl. (éxedrycay adrovs) oder 21, 31 mit
Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. 18
Thom. c. ast. (längerer Zusatz). Es ist gewiß nicht das eklektische
Verfahren an sich, was zu tadeln ist; im Gegenteil, es wird durch
die Natur der Zeugen gefordert. Aber die Auswahl muß mit einer
inneren Consequenz erfolgen.
Diese Consequenz vermißt man auch da, wo D nicht erhalten
ist. Erweiterungen wie der Zusatz des Gig. 24, 5 oder am Rande
der Philoxeniana 24, 10. 25, 3. 26, 1, die durchaus dem Charakter
des ß8-Textes entsprechen, sind nicht aufgenommen. Ks ist nicht
etwa geschehen, weil die äußere Bezeugung H. nicht stark genug
erschienen wäre, denn 25, 21 wird für den Text ganz allein gig.,
25, 25 Thom. mg. angeführt. Daß bei 24, 10 und 25, 3 innere
Gründe ausschlaggebend gewesen sind, erfahren wir aus der Vorrede
p. XII: der erste Zusatz, defensionem habere pro se, statum autem
assumens divinum dixit, sei ohne Zweifel eine Ausschmückung, der
zweite, illi qui votum fecerant se pro virili (facturos esse) ut in ma-
nibus suis esset, eine Wiederholung aus 23, 12. Vom Standpunkte
des originalen Textes aus wird man sich solche Gründe gern gefal-
len lassen, aber wenn man diese und ähnliche Erwägungen auf den
Text, den H. dem Verfasser der Apg. beilegt, anwenden wollte, wie
viel würde dann von seinen Eigentümlichkeiten nachbleiben? Wenn
aber innere Gründe den Ausschlag geben sollen, warum ist dann
25, 25 nach Thom. der Zusatz dxovoag dt duporspov aufgenommen,
24, 22 dxovoas dt tatra aus HLPM dagegen nicht? einer Gruppe,
deren Bedeutung 24, 26 H.s Aufmerksamkeit erregt hat (zaviov
oxmg Avon avrov HLPM, fort. legenda). 25, 16, wo die Gruppe
durch Psch. Thom. c. ast. gig. verstärkt ist, ist aus ihr eis dnalsov
zugesetzt, 22, 20, wo sie gleichfalls an den beiden syrischen Ueber-
setzungen Unterstützung findet, ist ein entsprechender Zusatz, tf
dvaıg£aeı, unberücksichtigt gelassen. 25, 24 geht H. ganz mit Thom.,
der hier durch die böhmische Uebersetzung und eine lateinische
Handschrift unterstützt wird; 24, 24 dagegen wird er, obwohl gleich-
falls durch die böhmische Uebersetzung bestätigt, verschmäht. U.s.w.
So schwankt die Behandlung des Textes ohne Grundsatz und
Methode hin und her. Sie steht in jeder Hinsicht hinter dem mehr
skizzenhaften Entwurf von Blass zurück, der trotz aller Inconse-
quenz im einzelnen doch einen scharfen und sicheren Blick für die
eigentlichen Probleme beweist.
Wenn die textkritische Aufgabe, den ß-Text, soweit möglich,
wiederherzustellen, H. zu lösen nicht gelungen ist, so läßt sich füg-
lich auch die These, daß dieser Text der allein echte sei, nicht
diskutieren. Aber nicht unterlassen kann ich es, gegen die Darstel-
kung, die in der Einleitung von dem Verlauf der Textgeschichte ge-
14 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
geben wird, zu protestieren. Bis auf Clemens Alexandrinus und
Origenes, so behauptet H., sei der ursprüngliche Text (8) allgemein
anerkannt gewesen. Diese hätten den von griechischen Sophisten
oder Grammatikern gefeilten Text («) zuerst angenommen. Dieser
jüngere Text beruhe auf BNAC, von denen B am Ende des 5., N
nicht vor dem 6. Jahrh. geschrieben sei. Alle andern Handschriften,
Uebersetzungen, Citate — mit Ausnahme der der beiden genannten
Väter — bezeugten mehr oder weniger den älteren Text. Zu der
Zeit, als BRAC geschrieben wurden, habe der jüngere Text durch
die Autorität des Clemens und Origenes das Uebergewicht über den
immer mehr entarteten älteren Text gewonnen.
Wie H. sich die Verschwörung des Clemens und Origenes gegen
den älteren Text, wie die stille Wirkung ihrer Autorität auf dem
Gebiete der handschriftlichen Ueberlieferuug denkt, vermag ich mir
nicht vorzustellen. Es ist richtig, daß wir für B in vielen Fällen
ältere Zeugen als für « haben. Aber es wäre doch ein wunder-
liches Quiproquo, wollte man die älter bezeugte Lesart darum schon
für thatsächlich älter halten. Wir sind über die Geschichte des
Textes vor dem dritten Jahrhundert dürftig genug unterrichtet, aber
wir haben ein völlig sicheres Zeugnis dafür, daß der Kampf zwischen
« und ß älter ist als Clemens und Origenes, in dem Text des Ire-
naeus. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß H. sich in den
meisten Fällen um die wichtigen Zeugnisse dieses Kirchenvaters
nicht gekümmert hat. Irenaeus bietet, wie Blass mit Recht be-
hauptet, einen gemischten Text. Dagegen bemerkt H. p. XII, Blass
habe seine Behauptung nicht bewiesen, und thut die ganze Sache in
sechs nichtssagenden Zeilen ab. Als wenn es sich hier überhaupt um
Beweise und nicht um klar zu Tage liegende Thatsachen handelte,
die man doch dadurch nicht aus der Welt schafft, daß man die Au-
gen vor ihnen schließt.
Nicht im Sturmlauf, wie Blass und jetzt H. es versucht haben,
lassen sich die Schwierigkeiten der sogen. occidentalischen Ueberlie-
ferung nehmen. Dazu bedarf es langer und geduldiger Arbeit. Auch
darf man nicht vergessen, daß sie sich keineswegs auf die beiden
Schriften des sogen. Lucas beschränht, und daß man billigerweise
einen Codex wie den des Beza nicht ohne Rücksicht auf den nah-
verwandten Codex Claromontanus der paulinischen Briefe unter-
suchen sollte.
Die Anmerkungen zu dem Text der Apg. S. 228—256 geben
dem von H. aufgestellten Texte keine Stütze. Die Anmerkungen
zu dem Inhalt der Apg. S. 257—301, aus den acht Abhandlungen, Die
Apostelgeschichte nach ihren Quellenschriften untersucht, in der
Acta apostolorum edidit Adolfus Hilgenfeld. 15
Ztschr. f. wiss. Th. 1895 und 1896, erwachsen, sowie die Zusammen-
menstellung der ältesten außerkanonischen Nachrichten über die Ge-
schichte der Apostel überlasse ich lieber anderen zur Beurteilung.
Berlin, 8. October 1900. Peter Corssen.
Seeberg, R., Lehrbuch der Dogmengeschichte. Zweite Hälfte: Die
Dogmengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Erlangen 1899. Verlag
von A. Deichert Nachf. XIV 472. Preis Mk. 8.
Seebergs Dogmengeschichte hat mit dem zweiten Bande das
Gebiet betreten, wo die Einheitlichkeit der christlichen Kirche und die
vorwärtstreibende Kraft einer das antike Material sich einverleiben-
den neuen religiösen Begriffs- und Systembildung aufhört, wo
daher die. Dogmengeschichte über Ziel und Methode ihrer Darstel-
lung unsicher zu werden pflegt. Das Zeitalter Augustins und des
Chalcedonense hat zwar bereits die zwei Hauptgruppen, die orien-
talische und die occidentalische, in ihrer Getrenntheit gezeigt, aber
gleichwohl durfte hier der Fortbestand der gemeinsamen Reichs-
kirche und die Gemeinsamkeit der dogmenbildenden Arbeit nicht
übersehen werden. Insbesondere war hier der enge Zusammenhang
zwischen einer immer noch producierenden Theologie und ihrem Er-
gebnis in usuell recipierten oder officiell beschlossenen Dogmen noch
vorhanden, der die Aufgabe der Dogmengeschichte mit der einer
Geschichte der dies Dogma erzeugenden Theologie noch zusammen-
fallen läßt und daher der Dogmengeschichte eine natürlich abgrenz-
bare Aufgabe zuweist. Mit der Trennung der Reichskirche, der
Sättigung der Kirche mit fertigen Dogmen und dem Erlöschen einer
produktiven Theologie setzt der zweite Band ein und damit begin-
nen auch sofort die Schwankungen. Die Geschichte der anatolischen
Theologie fällt ohne weiteres unter den Tisch. Allerdings sind dort
formell neue Dogmen von Belang nicht promulgiert worden, aber es
hat doch hier ein Fortleben der christianisierten Antike stattgefun-
den, das bis zum Untergang die Fortdauer der Culturwelt mitten in
der Unkultur und Halbkultur bedeutete und das für die Geschichte
der christlichen Ideen, sofern sie auf das Abendland von dort her-
überwirkten und sofern sie an die slavische Ideenwelt übergiengen,
sehr bedeutsam gewesen ist und in seinen Nachwirkungen bis heute
ist. Mit der Bemerkung, daß die griechische Kirche kein Mittel-
alter erlebt habe S.2, ist doch wenig gesagt, da ihr doch nur die
16 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
charakteristischen Eigentümlichkeiten des westtlichen Mittelalters
fehlten und eben deshalb ihre historische Bedeutung und Wirkung
in einer andern Richtung liegen. Aber auch von dem sog. westlichen
Mittelalter, das in Wahrheit eine bestimmte Culturform, die Welt-
kultur der römischen Kirche und der ihr unterworfenen halbeivili-
sierten romanisch-germanischen Völker, ist, kann nur mit sehr unsi-
cherem Rechtstitel in der Dogmengeschichte gehandelt werden, wenn
sie nichts anderes sein soll, als die Geschichte der Entstehung offi-
zieller Dogmen. Das Mittelalter hat blutwenig Dogmen hervorge-
bracht (S. 1), und so wird denn auch die Darstellung des Mittel-
alters von Seeberg wenigstens prinzipiell unter den Gesichtspunkt
gebracht (S. 3), daß sie nur die Vorbedingungen der tridentinischen
und vatikanischen Dogmenfixierung sowie besonders diejenigen der
Dogmenbildung in den Reformationskirchen darstellen solle. Obwohl
nun aber das Mittelalter nur eine Vor- und Durchgangsstufe sein soll,
wird doch um des Vaticanums willen die Geschichte seiner Ideenwelt
bis auf die Gegenwart herabgeführt, während die protestantische
Ideenwelt, der eigentliche Zielpunkt der mittelalterlichen Entwicke-
lung nach Seebergs Darstellung, nur bis auf die Conkordienformel
und die Canones von Dordrecht herab geschildert wird und die Ent-
wickelung der in ihr liegenden Consequenzen außerhalb des Rahmens
der Darstellung fällt.
So gewinnt die Darstellung einerseits das Gesicht, als handle
es sich um historische Einleitungen zu einer Ausgabe der Codices
officieller Kirchendogmen, andererseits aber, indem diese Dogmen
doch in den lebendigen Fluß der Ideengeschichte als deren Erzeug-
nisse und Material eingetaucht werden, das zweite Gesicht einer
Darstellung der Bewegung der christlichen Ideenwelt mit besonderer
Hervorhebung ihrer gelegentlich und unvollständig erfolgenden kirch-
lichen Fixierungen. Ja das Interesse der Darstellung ruht trotz der
prinzipiellen Ablehnung ganz sichtlich bei dieser zweiten Auffassung
des Gegenstandes. Die Dogmen erscheinen nirgends als der eigent-
liche Kern und die Quintessenz der Ideengeschichte, sondern als
durch allgemeine Zustände und Wendungen bedingte Fixierungen,
die entstehen und vergehen und die vor allem erst dann recht ver-
standen werden, wenn auch das berücksichtigt wird, was in ihnen
nicht gesagt, als selbstverständlich vorausgesetzt wird oder neben
ihnen als praktische Volksreligion lebt.
Diese, übrigens auch in anderen Gesamtdarstellungen der Dog-
mengeschichte wiederkehrenden, Unebenheiten zeigen, daß der ganze
Begriff der Dogmengeschichte in eine bedenkliche Unsicherheit ge-
rathen ist. Es geht ihm ähnlich wie dem der Kirchengeschichte,
Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 17
Beide sind durch die moderne historische und undogmatische Denk-
weise gründlich verändert worden und diese Veränderungen machen
alle Darstellungen schwankend. Nach dem alten dogmatischen Be-
griff von Kirchengeschichte und Dogmengeschichte gab es in der
Theorie ein ganz bestimmtes Subjekt, dessen Geschichte in beiden
Disciplinen erzählt wurde. Es war für die Kirchengeschichte die
wahre, normative, übernatürliche Kirche, die in der ältesten Christen-
heit vollkommen rein in Lehre und Sakrament geblüht hatte, deren
Verfall die Darstellung der beiden Katholicismen beschrieb, deren
latente und relative Fortdauer unter den katholischen Trübungen
durch Aufsuchung der im Katholicismus erhaltenen Wahrheitsele-
mente erwiesen wurde und deren Wiederherstellung im Protestan-
tismus triumphierend aufgezeigt wurde. Die Dogmengeschichte gieng
den gleichen Gang. Sie zeigte die erste reine altkirchliche Ausbil-
dung der Bibelwahrheiten zum unveräußerlichen Lehrgesetz, die Ent-
stellung der reinen Lehre durch den Katholicismus und ihre Wie-
derherstellung durch den Protestantismus. Diesen einfachen Zusam-
menhang hat die neue historische Methode zerstört, die ein solches
konstantes, einheitliches, übernatürliches Subjekt weder in der Kir-
chen- noch in der Dogmengeschichte anerkennt oder es doch wenig-
stens nur stillschweigend voraussetzt und nur gelegentlich hervor-
hebt. Sie hat alles flüssig, beweglich und relativ gemacht und daher
die großen kulturellen und institutionellen Zusammenhänge in den
Vordergrund gestellt, auf denen die Einheitlichkeit der jeweiligen,
ein bestimmtes Gebiet beherrschenden religiösen Gedankenbildungen
beruht. Sie hat die sog. Neutestamentliche Geschichte und Theo-
logie in Geschichte des Urchristentums und der ersten Fixirungen
des noch frei beweglichen Messiasevangeliums verwandelt. Sie schil-
dert dann den Proceß der Entstehung der großen Kirche des römi-
schen Reiches oder des Katholicismus, der das Urchristentum in
eine mit der Welt paciscierende Kirche verwandelt und auf dem
Boden dieser Kirche und ihrer Antike und Christentum neu mischen-
den Cultur die Dogmen der alten Reichskirche erzeugt. Daran
schließen sich dann die Sonderdarstellung des byzantinischen Ka-
tholicismus mit seiner besonderen historischen Mission für den Osten
und für die Befruchtung des Westens und die des abendländischen Ka-
tholicismus mit seinem Weltreich der Kirche und seiner kirchlich
geleiteten Cultur. Neben beide aber tritt dann zuletzt eine neue
eigentümliche und selbständige, durch den Katholicismus vorbreitete
aber doch in vieler Hinsicht originale Entfaltung der christlichen
Idee im Protestantismus, der ebenfalls seine eigene in sich zusam-
menhängende Geschichte und seine besondere Entwickelung der
GU. gel, Ans, 1901, Hr. 1. 2
18 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
religiösen Gedankenwelt hat. Damit ist die Kirchengeschichte un-
widerruflich zerteilt in die Geschichte einzelner kirchlicher Gebiete,
deren Sonderart jedesmal in allgemeinen Verhältnissen und Institu-
tionen liegt und die sämmtlich ihr relatives historisches Recht haben.
Nicht minder aber ist die Dogmengeschichte von Rechts wegen zer-
teilt in die Darstellungen der Gedankenentwickelungen der einzelnen
Kirchen. Nur das Urchristentum und der Katholicismus der Reichs-
kirche läßt eine einheitliche Darstellung zu, weshalb denn auch die
ersten Bände der Kirchen- und Dogmengeschichten ein klares Ziel
und eine natürliche Methode zu haben pflegen. Die weiteren Ent-
wickelungen lassen sich bei einer historischen Detaildarstellung nur
jede für sich gesondert im Zusammenhang des diese Kirchen be-
herrschenden geistigen Lebens darstellen als eine Geschichte der
byzantinischen, der katholischen und der protestantischen Theologie
und der damit zusammenhängenden Dogmenbildung. Jede ist eine
selbständige Größe und ein Zweck für sich und wird in falsches Licht
gestellt, wenn sie nur als Voraussetzung von etwas anderem be-
trachtet wird, wie denn in der That die Dogmengeschichten des
Mittelalters und der Reformation sehr unbefriedigende Leistungen zu
sein pflegen. Die Einheitlichkeit der älteren Gesamtdarstellungen
ist mit den Voraussetzungen dieser Einheitlichkeit aufgehoben. So-
ferne unter den neuen Verhältnissen Gesamtdarstellungen des Chri-
stentums unternommen werden, sind sie zu einer Art Geschichtsphi-
losophie des Christentums oder Philosophie über die Geschichte des
Christentums geworden, wie das ja bereits das Wesen der bekannten
Aufstellungen Ritschls in seinem Aufsatz »Ueber die Methode der
alten Dogmengeschichte< und der zur Konfessionskunde umgewan-
delten Symbolik ist. Reflexionen dieser Art durchziehen daher
auch als Anmerkungen und Exkurse die neueren Dogmengeschich-
ten, um ihnen die in der Gesamthaltung verlorene einheitliche Rich-
tung durch andeutende und oft sehr interessante Randglossen zu
ersetzen.
Alle diese aus dem schwankenden Zustande der gegenwärtigen
Theologie folgenden Unsicherheiten zeigen sich besonders deutlich
bei Seebergs Lehrbuch, weil es bei seinem mehr kirchlich-gläubigen
Standpunkte strenger als Harnack und Loofs die Aufgabe der
Dogmengeschichte auf die Entstehungsgeschichte der wirklichen
Dogmen beschränkt und dabei doch wie diese die Dogmen
aus dem lebendigen Fluß des geistigen und kulturellen Lebens
hervorgehen läßt. So zeigen sich die Uebelstände nicht bloß in
der Anwendung und Abgrenzung des Stoffes, sondern in der Be-
bandlung selbst. Katholicismus und Protestantismus sollen in ihrer
Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 19
Dogmenbildung dargestellt werden. Aber was soll nun hierbei wirk-
lich dargestellt werden? Geist und Wesen beider Formationen des
Christentums, die dann freilich, wie jetzt allgemein anerkannt ist,
nicht ausschließlich aus den Dogmen, sondern vor allem aus der
theologischen Arbeit, der praktisch geübten Ethik und dem kirch-
lichen Volksleben erkannt werden müssen? Oder nur die Dogmen |
für sich allein, höchstens mit einem Blick auf die sie erklärenden
theologischen Vorstadien und allgemeinen Verhältnisse ? Das erstere
ist eine überaus anziehende Aufgabe, die auch eigentlich Seeberg
vorgeschwebt hat, aber die im Rahmen einer bloßen Entstehungsge-
schichte der Dogmen nicht zu erledigen ist und die daher auch bei
Seeberg beständig in die Geschichte der Theologie und des reli-
giösen Lebens hinübergreift, um dann jedesmal durch Erinnerung
an die viel beschränktere Aufgabe einer Dogmengeschichte irgendwo
rasch abzubrechen. Das zweite aber ist dann, wenn man Wesen und
Geschichte der Religion nicht in Dogmen und Bildung von Dogmen
aufgehen läßt, eine sehr unbefriedigende und lückenhafte Aufgabe.
Die Wichtigkeit der Dogmen, »gleichviel ob sie einem gefallen oder
nicht gefallen« (S. 457), ist selbstverstandlich; aber die Funktion,
die doctrina publica mit Lehrzwang geltend zu machen und damit
die Continuität der Kirchenlehren aufrecht zu erhalten, wird doch
nicht von ihnen allein, sondern auch von noch nicht promulgierten
Ordenslehren, Schultheorieen, gewohnheitsmäßigen Ueberlieferungen
ausgeübt, und es wäre daher auch auf diese mit Bezug zu nehmen.
Und wenn vollends das historische Interesse der Erklärung das dogmati-
sche an der Statuierung so sehr überwiegt, wie das bei Seeberg der
Fall ist, da führt die historische Erklärung der Dogmen so tief in
die Geschichte der Theologie und Religion hinein, daß die Beschrän-
kung auf das mehr oder minder zufällig zum Dogma Gewordene nur
mehr eine ganz willkürliche Zielsetzung ist. Ja, wenn es sich nicht
um eine juristische Feststellung der trotz allen modernen Abfalls
rechtsverbindlichen doctrina publica handelt, dann müßte insbeson-
dere und vor allem auch die Geschichte der Auflösung und Zer-
setzung der Dogmen dargestellt werden, wie sie von den letzten
Jahrhunderten bewirkt worden ist. Das überraschende Auskunfts-
mittel Harnacks, der im Protestantismus das Dogma überhaupt auf-
hören läßt und mit der Theorie von den drei Ausgängen des Dogmas
seiner Dogmengeschichte einen gewaltsamen Abschluß verleiht, hat
sich Seeberg mit Recht nicht angeeignet. Am Anfang (S. IV) und
am Schluß (S. 458) eröffnet er daher die Aussicht auf eine Dogmen-
geschichte des Protestantismus als anzugliedernden letzten Teil.
Aber doch hält er dann wieder eine bis auf das Vaticanum, die Con-
2%
20 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
cordienformel und die canones Dordraceni reichende Darstellung al-
lein für Dogmengeschichte , weil jener Auffassung »das organisie-
rende Prinzip der Dogmengeschichte d. h. die Zweckbeziehung zum
werdenden Dogma fehlen würde« S. 458. Aber das ist eben die
Frage, ob eine solche Zweckbeziehung eine Disziplin, wie die Dogmen-
geschichte thatsächlich geworden ist, organisieren kann oder ob nicht
das Versagen eines solchen Prinzips auf weite Strecken der Ge-
schichte die Zweckmäßigkeit des Prinzips in Frage stellt; hat doch
das Prinzip auch schon bei den Darstellungen des Mittelalters und
der Reformatoren so sehr versagt, daß gerade die interessanten Par-
tieen des Buches auf dem Gebiete der nicht unmittelbar zum Dogma
verwerteten Theologie liegen.
Der Austrag dieser Frage liegt auf einem anderen Gebiete als
dem der Dogmengeschichte selbst. Es genügt zu zeigen, daß die
thatsächlichen Leistungen der modernen Dogmengeschichte immer
wieder auf prinzipielle Fragen hinweisen, die von der gegenwärtigen
Theologie nicht entfernt zur Klarheit gebracht sind. Damit ist aber
in keiner Weise gesagt, daß nicht diese thatsächlichen Leistungen,
jede rein für sich genommen, bedeutende wissenschaftliche Fort-
schritte darstellen. Das muß von dem Buche Seebergs in Bezug
auf einzelne Leistungen unbedingt behauptet werden. Die vielen an-
einander gereihten Einzeldarstellungen zeichnen sich großenteils durch
Knappheit und Präcision, durch scharfsinnige Betonung des Wesentlichen
und durch Belege mit trefienden Citaten in ungewöhnlicher Weise
aus. In dieser Hinsicht hat er die Arbeit seiner Vorgänger wesentlich
vervollkommnet. Ihm kommt die Kunst des Systematikers, jedesmal die
Grundideen zu suchen und die richtigen Proportionen zwischen den
Gedankenelementen herauszufühlen, in hervorragendem Maße zu Gute.
Besonders aber diejenigen Partieen, in denen der Schwerpunkt sei-
ner selbständigen Arbeit liegt, die Darstellungen der Theologie der
großen Scholastiker, Luthers und Calvins sind so vortrefflich, daß
man nur ihre Kürze und Gedrängtheit bedauert.
Der eigene dogmatische Standpunkt Seebergs tritt sehr diskret
zurück. Es ist eine wirklich unbefangene wissenschaftliche Arbeit.
Soweit ihre Grundauffassung einer der großen bestehenden Rich-
tungen zugewiesen werden kann, teilt sie diejenige, die Ritschl
für diese Partieen der Dogmengeschichte ausgebildet hat. Die Un-
terschiede bestehen lediglich in Nüancen. Mit den Vorzügen dieser
Auffassung, ihrer Unabhängigkeit von der herkömmlichen Schablone
und dem Dringen auf die charakteristischen Kerngedanken, verbindet
sie auch ihre Schwächen, die einseitig dogmatische Betrach-
tung des Mittelalters, dessen Größe, die Herstellung einer einheit-
Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 21
lichen kirchlich - wissenschaftlichen Cultur, gerade als Schwäche be-
handelt und dessen asketisch-dualistischer Zug in seiner spezifischen
Christlichkeit verkannt wird, sowie die ebenso einseitig dogmatische
Verabsolutierung des Luthertums, dessen Vernunfthaß und Ableh-
nung gegen social-kulturelle Gestaltung als ‚ein außerordentlicher
Vorzug gerühmt und dessen doch sehr komplicierte, vom Pietismus
wie von der autonomen Entwicklung des Staates und der Gesell-
schaft sofort wieder aufgelöste Ethik als ein Definitivum gepriesen
wird. Ebenso ist es eine von Ritschl übernommene sehr wunderliche
Paradoxie, wenn die Berührungen Zwinglis mit dem aufstrebenden
modernen Denken und die Versuche Calvins, eine autoritäre Ord-
nung der Gemeinde nicht bloß im Dogma, sondern auch für prakti-
sche Leistungen zu schaffen, als » mittelalterliche Schranke< bezeichnet
werden. So ferne hierin wirklich Aehnlichkeiten mit dem Mittelalter
vorliegen, sind sie lediglich in der Natur der Sache begründete Ana-
logieen, denen das Luthertum sich nur zu seinem Schaden entzogen
hat. Es ist nicht umsonst zu der von jedem Hauch philosophischen
Geistes verlassenen und jeder socialen Leistung entbehrenden Lehr-
kirche geworden. Ä
Zu einzelnen Bemerkungen wäre selbstverständlich mannigfacher
Anlaß. Ich möchte mich jedoch auf einen Hauptpunkt beschränken.
Er betrifft einen für die gesamte katholische Theologie, Ethik und
Cultur grundlegenden Begriff, der aber seine Wurzeln schon in den
ältesten Berührungen von Evangelium und Welt hat und der dann wei-
terhin für die Theologie der Reformatoren und dann für die Wie-
derauflösung der kirchlichen Dogmatik und Cultur von größter Be-
deutung geworden ist. Es ist der Begriff des sittlichen Naturge-
setzes oder der lex naturae. Ich habe seiner Zeit die Bedeutung
dieses Begriffes für Katholicismus und Reformatoren in meiner Schrift
Vernunft und Offenbarung bei J. Gerhard und Melanchthon« 1890
eingehend auseinandergesetzt, habe aber damit, so viel ich weiß, bis
jetzt nur in den beiden Artikeln Gottschicks in der dritten Auflage
der Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche
‚Gesetz, natürliches< und »Gesetz und Evangelium< ernstlichere Be-
rücksichtigung gefunden. In meinen eigenen Artikeln der gleichen
Encyklopädie über »Aufklärung«e und »Deismus« habe ich dann die
Bedeutung des Begriffes für die Zersetzung und Umformung der
Theologie gezeigt, womit zugleich Licht auf seine Bedeutung für die
voraufliegende dogmatische Periode geworfen ist. Fast gleichzeitig
mit meiner Schrift und unabhängig von ihr hat Dilthey in einem
großen Aufsatze des Archivs für Philosophie 1892/93 über >das na-
tarliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrh.« den glei-
22 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
chen Begriff mit vollkommen übereinstimmenden Ergebnissen behan-
delt. Beide Arbeiten hat Seeberg berücksichtigt, aber gerade ohne
diesen wesentlichen Punkt dabei zu beachten. Und doch handelt es
sich hierbei um einen Grund- und Stammbegriff der christlich-kirch-
lichen Lehre, der nur freilich niemals direkt in einem Dogma zu
Tage tritt, sondern zu den Voraussetzungen der dogmenbildenden
Theologie und der Cultursysteme entwerfenden wie Gewissensfra-
gen entscheidenden Ethik der Kirche gehört. Die Orientierung der
Dogmengeschichte lediglich nach den in officiellen Dogmen kanoni-
sierten Begriffen und die vollständige Zersetzung dieses Kosmo-
logie, Ethik, Jurisprudenz, Gesellschaftslehre und Volkswirtschaft
umfassenden Begriffes durch die moderne Ethik hat ihn der Auf-
merksamkeit und dem Verständniß der modernen Dogmenhistoriker
entrückt, und auch die protestantischen Darsteller der Geschichte der
christlichen Ethik haben ihn regelmäßig verkannt. Bei ihrem pro-
testantischen Subjektivismus haben sie ihn hinter den der lex natu-
rae doch nur ein- und untergeordneten Begriff des Gewissens zurück-
gestellt, und bei ihrer einseitigen Achtsamkeit auf die rein innerlichen
Gegensätze von Legalität und Gnade haben sie die umfassende kon-
struktive Bedeutung dieses Begriffes für die Zusammenfassung der
spezifisch christlichen und der kulturellen Elemente übersehen. Nur
die katholischen Darsteller (man vergleiche den Artikel »Gesetz« von
Wirthmüller im kath. Kirchenlexikon? von Wetzer und Welte, Lehm-
kuhl, Theol. moralis I 39—139, Ottiger, Theol. fundamentalis I
37—147) und der Katholik Jodl in seiner Geschichte der Ethik haben
ihn richtig gewiirdigt.
In Wirklichkeit spielt dieser Begriff die gleiche Rolle wie der
so viel verhandelte Logosbegriff. Auch er ist ein Erzeugnis der
stoisch-eklektischen Popularphilosophie und bereits von der helleni-
stischen Theologie mit den moralischen Bestandteilen der Thora
identificiert worden. Dieser Bahn folgt auch Paulus, um die Ana-
logie des heidnischen sittlichen Bewußtseins mit der Forderung des
Evangeliums zu zeigen und die ewig giiltigen Bestandteile des Ge-
setzes von dem vergänglichen zeremonialgesetzlichen zu trennen. Die
paulinischen Stellen Rom. 2, 14 ff. sind daher von nicht geringerer
Bedeutung geworden als die berühmten Logosstellen des vierten
Evangeliums. Die ältesten christlichen Theologen haben diese Ab-
sicht lediglich fortgesetzt, indem sie das sittliche Naturgesetz mit
dem Gesetz des Moses ausdrücklich identificirten und dadurch einer-
seits das spezifisch Jüdische abschüttelten, andererseits den Anschluß
des christlichen Gesetzes an die antike Moral vollzogen. So haben
Justin (vgl. Luthardt, Gesch. d. Ethik I 169), Clemens (ib. 114),
Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 28
Irenäus (ib. 154), Tertullian (ib. 156), Lactantius (ib. 169), Hiero-
nymus (ib. 182) und Ambrosius gelehrt, Ambrosius bereits mit
Heranziehung der juristischen Lehre vom Naturrecht an die lex na-
turae (ib. 179). Freilich ist in dieser Gleichung von den voraugu-
stinischen Theologen wesentlich die Uebereinstimmung in den pri-
vaten und individuellen Bezügen der Moral, besonders in den kon-
templativ-asketischen Elementen, betont worden. Augustin, an dem
die Protestanten in der Regel nur den berühmten Gegensatz von
Gesetz und Gnade zu beachten pflegen und der durch seine Ver-
dammung der nicht - christlichen Menschheit den Rationalisten und
Culturfreunden die Geltung jenes Begriffes geradezu aufgehoben zu
haben scheint, hat gleichwohl in anderen Zusammenhängen ihn und
seine Gleichung mit dem Urstandsgesetz, dem mosaischen Moral-
gesetz und partiell dem christlichen Gesetz aufs stärkste betont
(Stellen bei Jodi I 377 f.) und insbesondere im Anschluß an Cicero
und die Juristen die Ordnungen des Staates, der Familie, der Ge-
sellschaft an ihn angeknüpft. Diese stellen mit ihrem relativen Ge-
rechtigkeitsgehalt den in der sündigen Welt übrig gebliebenen und
gegen sie reagirendem Rest des ordo naturalis dar und bedürfen
nur der Ergänzung aus dem der Kirche voll offenbarten Naturgesetz
sowie aus dem besonderen christlichen Gesetz (Stellen bei Reuter,
August. Studien 135—150, bes. 139, 382 f.). Charakteristisch ist, daß
Augustin diese Gedanken überall da betont, wo ihm die Idee der Har-
monie und Gesetzmäßigkeit des Universums vorschwebt oder wo ihn der
Gegensatz gegen den im Donatismus erhaltenen Rest urchristlicher
Weltfeindschaft zur Bildung positiver Theorieen nötigt. Von ihm
ist dieser Gedankenkomplex auf die mittelalterlichen Theologen über-
gegangen, die ihn zwar noch nicht als wesentliche Basis des Beweises
für die Vernünftigkeit des Christentums benutzten, da sie für diesen
Zweck noch die Gleichung der aristotelisch- neuplatonischen Meta-
physik mit der kirchlichen Gotteslehre zur Verfügung hatten, die
aber doch die ganze weltliche Ethik in Staat, Gesellschaft, Recht
und Wirtschaft von hier aus mit dem mosaisch - christlichen Gesetz
in innere Verbindung brachten und die spezifisch kirchliche Ethik
an diesen Begriff anlehnten. Ueber diesen Zusammenhang hat die
von Seeberg erwähnte, aber nicht in ihrer Tragweite gewürdigte
Schrift M. Maurenbrechers »Thomas von Aquino’s Stellung zum Wirt-
schaftsleben seiner Zeit« höchst interessantes Licht verbreitet. Frei-
lich hätte auch Maurenbrecher noch deutlicher zeigen müssen, wie
der all das leistende Begriff der lex naturae mit der antik -christ-
lichen Tradition zusammenhängt und wie seine Identifizierung mit
der lex Mosis und der lex Christi die christlich - theologische Recht-
24 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
fertigung aller dieser Lehren ermöglicht. Er hätte dann auch deut-
licher gesehen, daß die Umformung der aristotelischen Politik zu
einer bloßen Wirtschaftslehre doch zugleich auch in der unpolitischen
Natur des stoisch-ciceronianischen und vor allem des christlichen Geistes
begründet ist und noch einen besonderen Anlaß in der augustinischen
Zuspitzung der lex naturae zu einer Lehre von den aus der vernünf-
tigen Harmonie des Universums folgenden vernünftigen Zwecken des in-
dividuellen Lebens, seien sie irdische oder himmlische, besessen hat.
Er hätte sich dann auch weniger gewundert, daß die aus diesen Prin-
zipien ebensosehr wie aus der Rücksicht auf die thatsächlichen Ver-
hältnisse erwachsende Betonung des Berufes Thomas in so große
Nähe zu Luther bringt. Sie stammt bei beiden aus der lex natu-
rae und hat nur bei Luther das Gegengewicht der asketischen prae-
cepta und consilia verloren. Denn jener Begriff hat bei den Refor-
matoren womöglich eine noch höhere Bedeutung als bei den Schola-
stikern. Als nämlich die Reformatoren jede Verbindung der Schrift-
wahrheit mit einer spekulativen Metaphysik abbrachen, wurde die
Gleichung von Urstandsgesetz, lex naturae, lex Mosis, lex Christi
das einzige Mittel einer Beziehung auf außerchristliche und vor-
christliche entgegenkommende Analogieen und blieb sie das Funda-
ment der Ethik, die Staat, Recht und Gesellschaft nach wie vor aus
dem natürlichen Gesetz ableitete und ihnen dadurch eine indirekte
göttliche Autorität wahrte, selbst aber hierzu nicht wie der Katho-
licismus höhere asketische Gebote hinzufügte, sondern nur die rechte
religiöse Herzensverfassung, aus der heraus das Handeln nach der
christlich ‘d. h. vollkommen verstandenen lex naturae von einer bloßen
justitia civilis und externa disciplina zu einer interior et spiritualis
justitia wird. (Vgl. die Belege in meinem bereits angeführten Buch).
Die Bedeutung dieser Combination ist in erster Linie die Lö-
sung eines fundamentalen Problems des Christentums. Das alte
Christentum ist gegen Staat und Cultur bekanntlich gänzlich indiffe-
rent oder sogar feindselig. Die Festsetzung in der Welt und die
Ausbildung eines kirchlichen Gemeinwesens und einer kirchlichen
Moral nötigt zu einem positiven Anschluß an die gegebenen Ord-
nungen, und das geschieht eben in der Identificirung von lex natu-
rae und mosaisch - christlichem Gesetz. Hierbei kann die Trübung
des natürlichen Gesetzes und seine Correktur aus der Offenbarung
zusammen mit der prinzipiellen Einheit beider betont werden, kann
der Unterschied der natürlichen, schwachen und der übernatür-
lichen eingegossenen Kräfte zur Gesetzeserfüllung hinreichend hervor-
gehoben werden ohne Aufhebung ihrer Aufeinanderbeziehung und
kann der ursprüngliche transscendent-asketische Charakter der christ-
Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 25
lichen Moral in besonderen, durch Christus zum natürlichen Gesetz
noch hinzugefügten Geboten der praecepta evangelica und kirch-
licher Leistungen gewahrt werden zugleich mit einer Anpassung der
Durchschnittsmoral an die weltlichen Culturforderungen. Auch noch
der Protestantismus hat diese Gleichung in diesem Sinne benützt
und darauf seine Ethik begründet, wenn er sie auch noch mehr ver-
einheitlicht und verinnerlicht hat zu einer von Glaube und Liebe
beseelten innerweltlichen, an die Ordnungen des Naturgesetzes ge-
gebundenen Moral. Diese Gleichung also erst hat das Christentum
zu einem Cultursystem gemacht und ihm eine wissenschaftliche Be-
gründung dieses Cultursystems ermöglicht. . Sie ist daher für die
Geschichte des Christentums noch wichtiger als die so viel behan-
delten Ausgleichungen zwischen dem christlichen Gottesgedanken und
der metaphysischen Spekulation. Aber auch ihre engere Bedeutung
für die Dogmengeschichte liegt auf der Hand. Sie hat den gesetz-
lichen Charakter des Katholicismus vollenden helfen und seinen Aus-
bau als eines Rechtssystems ermöglicht, das die Rechte zwischen
Kirche und Welt, zwischen Gott und Mensch festsetzt. Und wenn
die ganze Dogmatik des Protestantismus bei Melanchthon und wenig-
stens großenteils bei Calvin von dem Begriff einer moralisch-gesetz-
lich regierenden Gottheit bedingt ist, so äußert sich auch hierin der
Einfluß dieser Gleichung. Nicht bloß die theoretische Prinzipienlehre
über das Verhältnis von Vernunft und Oftenbarung und die prakti-
sche Bekehrungslehre vom Uebergang des natürlichen zum geist-
lichen Menschen, sondern das ganze Dogma von Bekehrung, Recht-
fertigung, Versöhnung, Satisfaktion und Heiligung stehen unter dem
entscheidenden Einfluß dieser Gleichung.
Das Ganze bedürfte dringend einer dogmengeschichtlichen, theo-
logische, juristische, nationalökonomische und philosophische Kennt-
nisse vereinigenden Monographie, die freilich von der üblichen Scha-
blone der Auffassung der christlichen Ethik sich gründlich befreien
und wie bei den metaphysischen Bestandteilen so auch bei den ethi-
schen die Notwendigkeit der Ergänzung des Christentums aus dem
antiken Culturerbe ebenso unumwunden anerkennen als sie die Art
der thatsächlich geschehenen Ergänzung unbefangen aufdecken müsste.
Doch liegen die Grundzüge bereits deutlich genug zu Tage. Auch hat
Seeberg, der die Abhandlung Diltheys und Gierke’s >Althusius« vor
sich gehabt hat, der Sache mehr Aufmerksamkeit geschenkt als
sonst in Dogmengeschichten üblich ist. Aber wie unvollständig sind
die Angaben, wie schwankend und verworren ist die Auffassung! Von
der Anbahnung der Gleichung in der alten Kirche ist nur bei Ori-
genes die Rede (1 112), aber ohne Verfolgung der Consequenzen,
26 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
und dann wird noch in einer kleinen Anmerkung (II 155)') von den
Apologeten als den Vätern dieser Idee gesprochen, deren Beitrag
aber nur in der Idee des Gewissens als Gottesstimme bestehen soll.
Einmal heißt das Begriffsgefüge »die alte kirchliche Lehre vom Pri-
mat des Naturrechtes<, die von der Kirche zur Kritik des ihr ent-
gegenstehenden weltlichen Rechtes aufgenommen worden sein soll
(155), gewöhnlich aber wird es als »mittelalterlicher Gedanke« (330),
oder gar als »Lehre des ausgehenden Mittelalters« bezeichnet (286),
wenn es nicht geradezu als Theorie der Nominalisten erscheint (179),
die Bibellehre und Vernunftrecht in Beziehung gesetzt und dabei die
Schwankungen des Verhältnisses von Vernunftrecht und positivem Recht,
die auf politischem Gebiet stattfanden, auf das Verhältnis zwischen
Vernunft und Bibelautorität übertragen, ja in diesem Conflikt die
von Luther so tiefsinnig iibertroffene spezifisch katholische Lehre
von einer rein positiven Rechtsautorität der Bibel geschaffen haben
sollen! Es scheint in der That Seebergs eigentliche Meinung zu
sein, daß die Identificirung von lex naturae und lex divina ein Er-
zeugnis des späten Mittelalters sei. Er scheint das Hervortreten
der Gleichung von der Notwendigkeit abzuleiten, daß das germanische
positive Recht mit dem antiken von der Kirche mitgeführten Natur-
recht ausgeglichen werde, und die so verursachte Betonung des
Naturrechts scheint ihm dann zu einer ähnlichen Annäherung auch des
positiv kirchlichen Rechtes an das Naturrecht geführt zu haben
(154 f. und 178 f.)!), woraus er dann die socialrevolutionären Bewe-
gungen des späten Mittelalters als Hauptwirkung ableitet (167).
Allein alles das sind ja doch nur Nüancen innerhalb des längst von
der Kirche geschaffenen Begrifisgefiiges, dessen Bedeutung ja nur
die ist, christliche und kulturelle Ethik zur Einheit zu bringen, und
das durch die Unterscheidung von schlechthin evidenten Grundprin-
zipien und erst in der Anwendung auf die Wirklichkeit zu ziehen-
den Folgerungen Vernunftrecht und positives Recht sehr wohl in Ein-
klang gebracht, außerdem von Anfang an neben dem in lex natu-
rae und Dekalog enthaltenen Gesetz noch besondere, partikulare
aus der göttlichen Allmacht fließende positiv - kirchliche Gesetze ge-
lehrt hat. Den Gedanken, den die frommen Revolutionäre des Spät-
Mittelalters aus Anlässen der allgemeinen wirtschaftlichen Lage
kommunistisch gewendet haben, hat Augustin (Reuter, Aug. St. 139)
und Thomas (Maurenbrecher 104—117) höchst konservativ gewendet,
geradeso wie ihn ja auch Luther nach Seebergs eigenem Zeugnis (230
1) Hier scheint im Index unter Naturrecht ein Fehler zu sein. Dort ist
S. 157 f. angegeben, wo sich jedoch nichts findet. Dagegen ist 8. 177f. aller-
dings mit ihm beschäftigt, Es ist also wohl 157 und 177 verwechselt.
Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 27
und 260) konservativ verwertet hat. Nur die genaue Ausarbeitung
stammt aus dem späten Mittelalter d. h. vom heiligen Thomas, aber
Motive und Sinn der Gleichung sind uralt und immer dieselben.
Daß es so sei, zeigt daher auch gelegentlich Seebergs eigene Dar-
stellung. Ganz beiläufig wird einmal auf den großen Vermittler des
Altertums und des Mittelalters, auf Isidorus, hingewiesen (156),
ebenso auf die hochwichtige Verwertung des Begriffes im kanoni-
schen Recht S. 36, was dann freilich später noch einmal mit größe-
rem Nachdruck wiederholt werden muß (156). Dagegen ist freilich
die dominirende Bedeutung des Begriffsgefiiges bei Abälard trotz
Reuter (Religiöse Aufklärung im Mittelalter I 198, 318), der es aller-
dings ebenfalls total mißverstanden hat, nicht hervorgehoben, so
treffend sonst auch die führende Stellung dieses Mannes gezeichnet
ist. Aber gerade der Versuch dieses Mannes, eine selbständige
christliche Ethik auf Grund der Gleichung von lex naturae und lex
revelata aufzurichten, hat die eingehende mittelalterliche Bearbeitung
des Begrifisgefüges eröffnet. Beruht doch sein ganzer »Rationalis-
mus« nur auf der Hervorhebung des antiken Kupfers, mit dem die
Kirche das christliche Gold hatte legiren müssen, um ihm Härte und
Weltbeständigkeit zu geben.
Noch an einem besonderen Punkt hätte die Beachtung der mit
dieser Gleichung verbundenen Probleme fruchtbare Dienste leisten
können, bei der Darstellung des Verhältnisses zwischen Luther und
Melanchthon und der damit gegebenen Darstellung der lutherischen
Dogmen und Dogmatik. Hier weist freilich Seeberg mit einer kur-
zen Notiz auf die Benutzung des Begriffes der lex naturae bei Me-
lanchthon hin (341), aber von der entscheidenden Gleichung von lex
naturae, Dekalog, lex Christi, römischem Recht und socialer Ordnung
ist nicht die Rede, sowenig wie von der Funktion dieser Gleichung
für das Ganze seiner theologisch-philosophischen Tätigkeit. Andrer-
seits wird die Adoptirung dieser Gleichung bei Luther ausdrücklich
anerkannt (S. 226, 230 f.) und ihr mit Recht der Sinn beigelegt, daß
dadurch der ewige Gehalt des ATlichen Gesetzes im Gegensatz zum
bloß jüdisch-temporären festgesetzt werden soll (230), daß das
Gesetz die Bekehrungsreue wirken soll mit den Vorstufen in der
äußern Disziplin und der noch natürlichen Gesetzesangst (232 und
235), und daß das natürliche Gesetz die natürlichen sittlichen Ordnun-
gen in Staat, Gesellschaft und Beruf darbietet, die somit aus dem
mit dem Dekalog identischen und im positiven Recht nur ausgebildeten
Naturgesetz fließen und auch für den Wiedergeborenen göttliche
Ordnungen bleiben (260, 263). Dagegen stehen dann aber ganz un-
vermittelt entgegengesetzte Aeußerungen, daß Luther die vom aus-
28 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
gehenden Mittelalter angenommene Gleichung des Naturrechtes und
des göttlichen Rechtes der Schrift geleugnet und dadurch die Posi-
vität der Offenbarung behauptet habe (286), und die Ausführungen
über die ursprüngliche Bußlehre Luthers, die das Gesetz lediglich
aus der Offenbarung erkennen und die Buße daher aus Glaube und
Liebe beginnen läßt (220 f., 233 ff). Die erste dieser Aeußerungen
zeigt, wie irrig, trotz aller einzelnen Bemerkungen, das Wesen der
Gleichung aufgefaßt ist; die zwei von Seeberg als Beleg angeführten
Predigtstellen handeln gar nicht von der lex naturae und der lex
divina, sondern von der aristotelisch - thomistischen Philosophie und
den Zweifeln der Vernunft an der Bibelautorität. Die zweite Reihe
von Aeulerungen weist darauf hin, daß die Adoptirung der Glei-
chung bei Luther nicht ursprünglich und wesentlich ist, sondern erst
später in ihrer bewußten Bedeutung auftritt, wie denn auch später
die wachsende Anerkennung der vom Naturrecht gegebenen Gesell-
schaftsordnung gegen die Täufer und Schwärmer betont wird (327).
Das weist alles auf bedeutsame Zusammenhänge hin, die Seeberg
nicht geklärt hat. In Wirklichkeit liegen die Dinge meines Er-
achtens so: Luther hat mit seinem vom Nominalismus begründeten
und von seiner religiösen Empfindung vollendeten Vernunfthaß am
Anfang alle natürliche Gotteserkenntnis, natürliche Gesetzeserkennt-
nis und natürliche Gesetzesleistung bestritten. Er hat insbesondere
einen Gesetzesbegriff ausgebildet, der das Gesetz allein aus der Offen-
barung als Forderung der freien und vollen Gottesliebe versteht und
der seine tödtliche, zwangsmäßige Form betont, in beiden Fällen
also dem rationalen Gesetzesbegriff entgegengesetzt ist. Daher for-
dert seine ursprüngliche Bußlehre im engsten Zusammenhang mit
dem strengsten Determinismus der Gnade den Anfang der Gesetzes-
erkenntnis aus dem Glauben und aus der Liebe zu Gott d.h. aus
einem Wunder der Gnade am erbsündigen Menschen, der dadurch
erst das Gesetz in seinem spiritualen und wirklichen Sinne der For-
derung der vollen freien Gottesliebe erkennt und erst hierdurch zur
Contrition gelangt, in der ihn dann das Evangelium tröstet. Dem
entspricht auch, daß Luthers ursprüngliche Ethik keine Rücksicht
nimmt auf Gesetz und Naturrecht, sondern den Wiedergeborenen
alles Gegebene mit suveränster Freiheit behandeln läßt, sofern er
ja überall nur die Ehre Gottes und die Liebe zu den miterlösten
Brüdern fördern will und dabei ausschließlich sich selbst mit der
inneren Notwendigkeit der Freiheit Gesetz ist. Dieser Standpunkt
ließ sich aber nach allen Seiten nicht festhalten. Der Determinis-
mus enthielt fatale Consequenzen, der christliche Glaube bedurfte
einer Vorbereitung und eines Anknüpfungspunktes im natürlichen
Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 29
Menschen, die Buße der vollen Gesetzeserkenntnis eine Anbahnung
in der natürlichen Disziplin und Reue, die Ethik der wiederge-
borenen Freiheit eines Schutzes gegen Schwärmerei und Phantastik
wie einer Begründung des Anschlusses an die gegebenen Ordnungen.
Alles das leistet bei richtiger Behandlung die Gleichung von lex
naturae und lex revelationis, die nicht eine Wiedererweckung schola-
stischer Metaphysik bedeutete, sondern nur eine nüchterne und vor-
sichtige Anknüpfung im natürlichen sittlichen Bewußtsein und einen
Schutz der gegebenen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Und
so wurden diese letzteren auf die zweite Tafel d. h. auf die mit dem
noch bestehenden Naturrecht identischen Bestandteile des Dekalogs zu-
rückgeführt. Hier setzte Melanchthon ein und hierfür gewann er
Luther, der diese scholastischen Begriffe nie prinzipiell beseitigt hatte.
So wurden die älteren großartigen, aber auch überidealistischen Con-
zeptionen Luthers abgeplattet und entstand die Vorherrschaft des Ge-
setzes im Gottesbegriff, die Coordination von lex und evangelium,
die beherrschende Bedeutung der Satisfaktion, die rein forensische
Fassung der Justification und die bloße Addierung der Sanctification
in den bona opera, die melanchthonische Encyklopädie und Univer-
tätsreform, die Ethik und Cultur des lutherischen Territorialstaates
mit der custodia utriusque tabulae, die dem Fürsten als membrum
praecipuum der Gemeinde zufiel und das von der Kirche mit den
motus spiritualis zu durchdringende Naturrecht des Staates und der
Gesellschaft aufrecht zu erhalten hatte. Es ist kein Zweifel, daß all
das eine Herabstimmung der lutherisehen Gedanken darstellt. Aber
man darf auch nicht vergessen, daß die lutherische Ethik das Pro-
blem der christlichen Ethik nicht löste sondern stellte, und daß ihr
streng und einseitig religiöser Charakter mit der Zurseitestellung von
Wissenschaft, Kunst und Politik einer positiven Ergänzung nach der
weltlichen Seite hin bedurfte. Wenn sie bei Melanchthon und dem
Luthertum so kümmerlich ausfiel, so liegt das teils an den inneren
Schwierigkeiten der Sache, teils an der in Deutschland fortbestehen-
den mittelalterlichen kirchlichen Gebundenheit der weltlichen Cultur.
Die wirklichen Probleme der reformatorischen Ethik und damit des
reformatorischen Christentums hat erst die neuere nachorthodoxe
Entwicklung des Protestantismus aufgedeckt.
; Alles das soll die Verdienste der in ihrer Weise vortrefflichen
— übrigens doch erst durch die großen dogmengeschichtlichen Werke
der Vorgänger ermöglichten — Darstellung Seebergs durchaus nicht
ern mälern. Es soll nur zeigen — und damit fasse ich die Aus-
gen des ersten Teils meiner Anzeige mit denen des zweiten
sammen —, daß wir nunmehr für längere Zeit eine dogmenge-
80 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
schichtliche Gesamtdarstellung nicht mehr zu wünschen brauchen, um
so dringender dagegen eingehende Monographieen sowohl über ein-
zelne Persönlichkeiten als besonders über einzelne Begriffsgruppen.
Liegen ja doch die Vorzüge von Seebergs Darstellung in den Par-
tieen, wo er selbst monographisch gearbeitet hat. Daher scheide ich
von dem Werke mit dem Wunsche, es möchten ihm noch zahlreiche
Monographieen der Art folgen, wie der Herr Verfasser solche be-
reits in Aussicht gestellt hat.
Heidelberg, 5. Juni 1900. Ernst Troeltsch.
Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth.
London 1900. Kgypt Exploration Fund. 373 Seiten, 18 Tafeln.
Den zu Weihnachten 1900 ausgegebenen fälligen Band des
Egypt Exploration Fund, Graeco-roman branch, hier anzuzeigen, fühle
ich eine gewisse Verpflichtung, obwol eine Publication dieser Serie
und vollends ein Buch dieser Verfasser keine Empfehlung mehr
nötig hat. Mich hat die Continuität veranlaßt, es genau zu lesen:
daraus kann ich denn auch anderen erzählen, die je nach ihrem In-
teresse mehr oder weniger von ihm befriedigt sein werden als von
den beiden Bänden über Oxyrynchos.
Die litterarischen Papyri treten nämlich fast ganz zurück. Ein
par Fetzen der Ilias und Odyssee, die wie gewönlich nichts von Be-
lang lehren, weil sie aus der Kaiserzeit stammen, und daher ein
Facsimile kaum verdient hatten. Ein gar zu zerstörtes Stückchen
einer Erläuterung von Aristoteles Topik, ein durch seine vielen Cor-
recturen instructiver Fetzen von Demosthenes dritter Philippica, ein
Stückchen aus dem ersten Buche Euklid mit schlechtem Text, das
bringt keinen positiven Gewinn '). Wertvoll ist nur ein Blatt eines
Buches. Es stammt aus dem Roman des Chariton und entscheidet
über dessen Zeit gegen Rohde, da es noch dem zweiten Jahrhundert
angehört. Der Roman ist also der älteste, den wir vollständig be-
sitzen und gehört mit dem etwas jüngeren des Longus noch der
blühenden zweiten Sophistik an. Denn in das erste Jahrhundert
möchte ich wenigstens mit Chariton nicht hinaufgehn. Der Schrei-
ber im Bureau des Rechtsanwalts Athenogenes von Aphrodisias hat
1) Unter den par registrierten Bruchstücken erscheint außer einem theolo-
gisch-philosophischen Tractate (337) eine Spruchsammlung mit dem Anfang 6
Blog Boazts, dem Anfange von Hippokrates Aphorismen. Aber das ist von roher
Hand auf die Rückseite eines Papyrus geschrieben.
Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 81
also den Erfolg gehabt, daß seine »Liebesgeschichte< (so nennt er
sie) bis in ein Dorf des Fayum wol noch bei seinen Lebzeiten ge-
drungen ist. Er hat seiner Erzählung gleich mit der Ueberschrift
einen historischen Hintergrund gegeben, die sicilische Expedition der
Athener; er hat die Handlung zum Teil nach Asien geführt, also
auf den Boden seiner Heimat, und in die Perserzeit, die wenn auch
nebelhaft, doch noch im Gedächtnis seiner Landsleute lag. Hero-
dotos Thukydides und Xenophon sind für ihn Voraussetzung, ganz
wie für die pedérac der damaligen Rhetorik. Die Kyropaedie mit
Araspes und Pantheia und Herodot und der damals durchaus noch
nicht verschollene Ktesias lieferten auch für die Abenteuer und die
Erotik classische Vorbilder. Das rückt eben die erotischen Erzäh-
lungen der Griechen in einen Zusammenhang, den Rohde immer
verkannt hat: die Historiographie ist für einen wesentlichen Teil
der späten Romane genau so maßgebend wie die von Rohde richtig
gewürdigte Geographie, am letzten Ende Ilias ebenso wie Odys-
see. Die richtige Chronologie auch der erhaltenen Romane stimmt
dazu. Ich habe die Sache seit dem Ninosroman als ausgemacht be-
trachtet und behandelt. Der Roman mit mythischen Personen, wie
Metiochos und Parthenope, schlägt vollends die Brücke zu den Aoyo-
yodpoı, die die wzornre: einst abgelöst hatten. Homer, Pherekydes,
Antikleides . . . Diktys: das ist eine kenntliche Reihe. Wenn im
Apolloniosroman König Antiochos auftritt, der seine Tochter liebt,
so ist jetzt die syrische Geschichte nur noch in Namen, nicht in
- Motiven kenntlich, aber die Entwickelung ist analog gewesen.
König Antiochos, der seine Stiefmutter liebt, erscheint uns in einer
ganz romanhaft erotischen Erzählung auch innerhalb dessen was wir
Geschichte nennen *).
1) Da Wilcken (Arch. Pap. F. I 258) Stellung gegen die Ansicht von Haupt
und Klebs nimmt, die den Apolloniusroman nicht als eine Uebersetzung gelten las-
sen, so will ich mich kurz zur Sache äußern. Gewiß sind sehr viele der für die
Originalität angeführten Gründe so nichtig wie die, mit denen immer wieder die
ungeheuerliche Behauptung gestützt wird, der lateinische Diktys wäre Original.
Allein man kann das sehr gut zugeben, daß die Bearbeiter von beiden Romanen
keine Uebersetzer sind, in dem Sinne wie Caelius Aurelianus oder Marius Victo-
rinus übersetzen. Darum bleiben sie doch noch weit abhängiger von griechi-
schen Büchern als Apuleius in seinen Metamorphosen: sie bearbeiten ein be-
simmtes Buch, oder wenn sie etwas eingelegt haben sollten, so sind das wieder
Entlehnungen. Der Apolloniusroman ist in den Motiven so verwüstet, daß er
eine lange Geschichte erlebt haben muß: da ist unmöglich zu sagen, worin der
einzelne Bearbeiter tätig gewesen ist; der Lateiner ist eben der letzte einer
ie a i. dem griechischen Apollonius keine Spur ist, wird den nicht Wun-
der elende In u as Verlorene einigermaßen schätzen kann. Und dadurch, daß
inische Roman lediglich weil er sich erhalten hatte im Occidente
82 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
Es hat natürlich bedeutendes Interesse, daß wir ein Stück Cha-
riton in einer fast gleichzeitigen Ausgabe, und zwar einem sorgfäl-
tigen Buche, an dem das Riesenformat, 57 Zeilen, bei sehr schmaler
Columne, auffällt, zu lesen bekommen. Gegenüber unserer einzigen
Handschrift, dem berufenen Florentinus kleinsten Formates und
minutiöser Schrift, stellt es sich freilich so, daß auf den zwei Teub-
nerseiten (72, 73 Hercher) mindestens 13 unzweifelhafte Verbesse-
rungen ans Licht kommen. Dazu treten die an sich zweifelhaften,
z. B. Wechsel im Tempusgebrauch, und als wirklicher Fehler des
. neuen Textes bleibt kaum etwas unzweifelhaftes'). Trotzdem ist
die Abweichung nicht der Art, daß sie uns verhinderte, unsern Text
als den des Chariton zu bezeichnen. Es steht nicht wesentlich an-
ders, als ich es für den Oeconomicus des Xenophon an dem Blatte
aus Oxyrynchos gezeigt habe. Natürlich aber ist es notwendig, sich
die bedingte Glaubwürdigkeit aller solcher Texte immer gegenwärtig
zu halten, die der Sicherung durch die Grammatik dauernd ent-
behrt haben. Die Statistiker kann man nicht oft genug an die Un-
sicherheit ihres Fundamentes und die Buchstabengläubigen an die
Tatsache erinnern, daß die Erschließung neuen Materiales nicht nur
die Berechtigung der Conjectur an sich, sondern die Conjecturen
eines Reiske direct gar nicht selten bestätigt“). Nun ist es zwar
schade, daß es ein so untergeordnetes Machwerk wie diesen Roman
angeht, aber allgemein instructiv ist es doch, daß Wilcken eben im
Archiv für Papyrusforschung beträchtlichere Reste einer andern
Charitonhandschrift aus einem Palimpseste etwa des siebenten Jahr-
hunderts veröffentlicht hat. Er kommt zu dem Ergebnis, daß der
Florentinus eine in vielem trügende Redaction böte, der Thebanus
auch. Das fällt nun hin, da für zwei Seiten durch ein so gut wie
authentisches Document der Florentinus gerechtfertigt ist. Allein
die Forderung an Einheit des Textes, die Wilcken aufstellt, war
überhaupt zu hoch.: Die Masse von Zusätzen, Auslassungen, Aende-
eine ungeheure Nachkommenschaft gezeugt hat, gewinnt er für das Altertum kein
bischen höhere Bedeutung.
1) desvdy ldhv für dervdy Biéxwv, wie die Herausgeber auf eine schwache Spur
hin setzen, kann man nicht billigen; wenn für rös deoxdene des Florentinus der
Eigenname Mı®gıddrn: im Papyrus erscheint, so wird die Regel für jenen stim-
men: ich statuiere lieber eine Ausnahme. Bemerkenswert ist, daß der Papyrus
und der Thebanus die Helden Xaidıpdn nennen. Wir haben gar keine Veran-
lassung die Verdoppelung des R von Chariton zu verlangen.
2) Der Thebanus bestätigt drei Conjecturen von Hercher, eine sehr kühne
von Reiske, mehrfach zeigt eine neue Lesart, daß das Falsche erkannt, das Rich-
tige verfehlt war.
Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 33
rungen der Wortstellung, Wechsel von Synonymen ist keine graduell
von dem verschieden was zwischen dem Florentinus und dem Fayum-
papyrus obwaltet, und zwar muß gehörige Ueberlegung den Floren-
tinus tatsächlich über den Thebanus stellen. Und das ist nicht im
entferntesten etwas neues oder seltsames. Man muß nur Umschau
halten; ich erinnere an die beiden Schriften Philons, die in dem
Pariser Papyrus vorliegen, das bisher allein veröffentlichte Blatt des
Strabonpalimpsestes, die Antiquitates des Josephus, die ersten zwan-
zig ethischen Schriften Plutarchs, zu schweigen von den berüchtigten
Differenzen in der Apostelgeschichte oder der dritten philippischen
Rede des Demosthenes; auf meinem Tische liegen grade mehrere
hippokratische Schriften, an denen ich sehr viel stärkere Differenzen
aufzeige.
Wilcken hat freilich auf zwei Stellen hin, wo die Abweichung
etwas tiefer geht, von einer doppelten Recension geredet; allein
es handelt sich beide Male nur um Auslassungen') und da-
durch bewirkte Aenderungen. Und selbst wenn hier und da eine
kleine Partie überarbeitet wäre, dürfte man so weit nicht schließen ;
so etwas ist selbst in einem pseudoplatonischen (modernste Per-
versität sagt natürlich platonischen) Dialoge vorgekommen ?). Ich
würde an sich geneigt sein, in solcher Unterhaltungslitteratur an
1) In der einen Stelle, Kol. VI 23—27 = Char. VIII 6, 11, ist der Theba-
nus sicher verwirrt; nimmt man aus ihm die Bestätigung für Reiskes xadi/wyv
und beseitigt Kallıgönv lieber als den Casus zu ändern, so ist an der Fassung -
in F nichts zu tadeln. Ebensowenig verdient die Stelle IV 3—10 den Vorzug
vor F VIII 5, 15. Daß der Vater, der sich vorher eingeschlossen hatte, sein Kind
erst sehen kann, nachdem er wieder herausgekommen ist, sagt sich der Leser
selbst: es steht ja unmittelbar vorher eine abschließende Sentenz des Autors. Da
aber in dem Briefe, den der Leser kennt und dessen Eingang eben recapituliert
ist, die Aufforderung steht, den Knaben einmal zur Mutter in die Ferne zu
schicken, so ist angemessen was F hat »Und als er das Kind sah, nahm er es
auf den Arm (streiche x« vor znlag) und sagte: du wirst auch einmal fortgehn ;
Mutter befiehlt es jac. Dagegen T. @eacapevov dt td nuıdiov roy aarégau A-
Hövra (?) xeocHPev absae nal »x0t wor wereg, elaev, N urjtne; &xiwpsv xedg
abtive ob piv dnelevon tenvov ebruyüg. Hier ist anstößig, daß das Kind den
Vater ‘kommen’ sieht: wo, woher? Anstößig, daß man annehmen muß, der Va-
ter erklärte das Kind gleich zur Mutter zu schicken; anstößig endlich die Frage
des Kindes, das von der Mutter schon sehr lange getrennt war. Ist man so ver-
anlaßt hier einen Zusatz anzuerkennen, so wird man über die Scene kurz vorher
bei der Verlesung des Briefes kaum anders urteilen, obwol der erste Eindruck
für T spricht. Da Chariton den Brief vorher ganz mitgeteilt hatte, war es nur
verständig, wenn er die Ueberschrift hier nicht als solche wiederholte. Sehr
vieles muß Wilcken selbst auch hier aus F nehmen: die an sich nicht üble aber
billige Wendung »yalgeıve rag dvvapar cot duefevyuévos halte ich also für Zu-
satz, zumal sie den Zusammenhang, das Spiel mit &dsey&rns, unterbricht.
2) Alkib. I 133° in unsern Handschriften und bei Stobaeus und Eusebius.
Gött, gel. Anz. 1901. Nr, 1. 3
84 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
sehr viel stärkere Umformungen zu glauben. Der christliche Ro-
man, der uns in den clementinischen Homilien und Recognitionen
vorliegt, ist ein fast beängstigendes Exempel; die Acta Pauli und
Petri auch. Hier im Chariton sind es doch nur stilistische Varianten,
nicht etwa eine Epitome, wie wir sie allerdings von Xenophon von
Ephesos und Petron besitzen, auch nicht eine Interpolation, wie sie
neben Doppelfassungen in einigen Reden des Dio auftritt: all dies
ist nur die Verwilderung ungeschützter Texte. Daß wir in diese
Geschichte der Textüberlieferung hineinsehen, ist freilich ein noch
viel wertvollerer Ertrag, den die Reste antiker Bücher liefern, als
die einzelnen Verbesserungen.
Ein einziges neues Litteraturdenkmal bieten die Herausgeber
dieses Mal, und das ist nicht der Rest eines Buches, sondern eine
ungelenke private Abschrift, sugar von zwei sich abwechselnden
Händen, und es ist ein Gedicht schwerlich älter als die Abschrift,
Ende des 2. Jahrhunderts. Die Herausgeber nennen es lyrisch und
sein Versmaß logaoedisch, suchen dafür bei Pindar und gar Sappho
die Vorbilder. Sehen wir von den Logaoeden ab, die wir füglich
als eine seiner schlechtesten Erfindungen mit dem 19. Jahrhundert
begraben können, so ist auch die Lyrik hier nicht angebracht : diese
Erzählung ist nicht für musikalischen Vortrag bestimmt. Aber die
Nomenclatur macht in dieser Zeit nichts mehr aus. Das Versmaß
sei zunächst nach den eigentlich falschen zweisylbigen Füßen der
Rhetorik bezeichnet, drei Anapaeste (oder Spondeen) und ein Iam-
bus. Gemeint hat man das damals als einen Dimeter anapaesticus
catalecticus in disyllabon. Daran ist gar kein Zweifel, denn in dem
umfänglichsten Beispiel, das wir besaßen, im Tragodopodagra des
Lukian 87—111, tritt daneben der dimeter catalecticus in syllabam,
der Paroemiacus. Außerdem besitzen wir auf dem attischen Steine
CIA III Add. 171a zwei Gedichte eines Diophantos, dessen erstes
auf einen vollständigen Dimeter ausgeht. Ich halte natürlich die
Conjectur nicht mehr für zulässig, mit der ich einst (bei Kaibel Rhein.
Mus. 34, 211) diese Anomalie beseitigen wollte. Zu derselben Vers-
gattung gehören die beiden Hymnen des Philostratos an Thetis und
Echo in dem Heroicus, die aber nicht gelegentlich erledigt werden
können. Eine höchst merkwürdige Fortbildung ist das Versmaß, in :
dem der bereits quantitierende Taufhymnus der Amherst-Papyri ge-
halten ist '): das sind paroemiaci miuri: aber auf der vorletzten be-
1) Vgl. Harnack Berl. Sitz. Ber. 1900, 986 dvol druaoı unaerı Accder, ein
auch quantitierend richtiges Beispiel zu geben, waoly 6’ sbayyelıfe Aéyov, ein
nur accentuiert richtiges, ’Inooös 6 nadmv éxl rovroıg ein nicht miures, d.h.
durch Versehen zugelassenes . &&awerpor petoveor hat auch das Tragodopodagra.
Zu den welovgos von Oxyrynchos habe ich Herm. 34, 218 einen Hymnus des Gno-
Fayum towns and their Papyri.by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 35
tont, so daß dort auch eine lange Sylbe ausnahmsweise eintreten
kann. Anapaeste sind neben den Sotadeen und Hemiamben in der
Kaiserzeit die eigentlich volkstümlichen Maaße gewesen, und die Ex-
perimente werden dann nach der damaligen Metrik angestellt. Aber
as ist ein zu weites Feld. Der Inhalt des neuen Gedichtes zeigt
zuerst das Gebet eines Menschen an irgend einen Gott. Darauf tut
sich irgend ein Tor auf, er kommt in eine unbetretene Gegend, wo
eine Masse Leichen liegen. Mit dem Hare einer Leiche befestigt er
Köder an eine Angelrute und wirft sie in die Tiefe des Meeres,
fängt aber nichts. Er geht am Strande weiter; da ist ein Schind-
anger mit Gekreuzigten, Gepfählten u. dgl. Jetzt betet er an eine
Göttin und scheint Antwort zu halten. Ich enthalte mich jeder wei-
teren Vermutung, und ergänzen mag ich um so weniger, als kein
Facsimile gegeben ist. Die Sprache will erhaben sein, mischt aber
Vulgarismen mit altpoetischen Wörtern ').
Mindestens halb der Litteratur gehört ein Brief des Ha-
drian an (19), geschrieben an Pius im Angesichte des Todes.
Er ist hier als Schreibübung zweimal hinter einander von
einer Hand geschrieben, leider so zerrissen, daß man den Wortlaut
nicht herstellen kann. So etwas konnte man gewiß erfinden;
allein so gut wie die Verschen, animula vagula blandula, konnte
stikers Valentinus gestellt. Aus Sotadeen besteht die Thaleia des Arius. Ana-
paeste, Monometer meist, finden sich in Orakeln, die Porphyrios weg) tar éx
Aoylay giiocopias giebt, bei Synesius (der neben den damals lebendigen For-
men auch Imitationen, wie die in den Mélanges Weil erläuterten sapphischen
Phalaeceen anwendet), und lange vorher als Spottverse der Alexandriner erwähnt
sie Philon adv. Flaccum 537 M. Das Leben sah eben ganz anders aus als der
Classicismus es malt; die Philologie hat nur zu lange die Wolken des Classicis-
mus für den Leib der Göttin genommen. In den Imitationen der alten Formen
steckt freilich nur Scheinleben.
1) Als Probe 13 = 40 sovrov tad’ éxevyouévou zöre: da hat man gleich
ein Flickwort.
20 d&yavig yap Ensıro..... nv nee
danedov yEuov alvoudgwy vexgar,
nelexıfoutvov oravpovusvov.
Avyea copata & ... af Gneode yijs
FEtQAYNOKXONNMEVA XECCHATWS
25 Erspoı nalıy éoxodomopéevor,
éxoguavro tedxaie mixeds rvzn¢.
TIowal 8’ éydloy péleov vexoady
| Havarov redxoy dorepyavaukvaı.
23 schämt man sich nicht zu ergänzen ; aber ef«®” hätte Crusius nicht vorschla-
gen sollen; Leichen sitzen nicht. Auch sein Gedanke, daß die Hölle der Schau-
platz wäre, ist unglücklich. Dort hat man das Totschlagen nicht mehr nötig;
den gepeinigten Seelen aber wäre der Tod willkommen.
3%
86 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
Hadrian an seinen Sohn Pius einen Brief schreiben, der seine Seelen-
stärke zeigen sollte, und der pietätvolle Sohn konnte ihn ver-
öffentlichen. Mich dünkt, es steckt seine Pose, seine Falschheit, aber
auch seine Größe darin, wie er hat sterben können und wollen.
Schriftstücke des populären Kaisers finden sich ja auch in dem
Uebungsbuche zum Uebersetzen, das den Namen Dositheus trägt.
Von den Urkunden ist eine kleine Anzahl aus ptolemaeischer
Zeit, ohne besondere Bedeutung; die wichtigste (22), in römischer
Copie erhalten, ist leider so zerrissen daß sich der wichtige Inhalt
nicht feststellen läßt. Es war ein Gesetz über Ehe und Scheidung,
wie die Herausgeber meinen: mir scheint es nur auf Scheidung zu
gehen. Besonders bemerkenswert ist die Beteiligung von Cultbeamten.
lsoodVraı und Hsouopdiexes; aber der Sinn ist leider nicht zu er-
raten). Unter den römischen Stücken sei zuerst ein Erlaß des
Alexander Severus genannt, der den Städten des ganzen Reiches
die Steuer des orepavos erläßt, wortreich und gedunsen, wie die
einst so sachlich schreibende Kanzlei in dieser Verfallzeit zu stili-
sieren beginnt 7). Die erhaltene Copie ist so gedankenlos angefer-
tigt, daß die sonst der Conjectur sehr abgeneigten Herausgeber zu
den gewaltsamsten Mitteln gegriffen haben, ohne die es gewiß nicht
abgeht; allmählich wird man aber wol zum Ziele gelangen ?). Ein
Erlaß des Praefecten M. Petronius Mamertinus (20) aus dem J. 134
verordnet die allgemeine Einführung der Quittung, wie es scheint
auch schriftliche Erklärung, Zahlung leisten zu wollen‘). Es sind dann
1) 27 könnte sich die Schwierigkeit auch so heben, daß von der Verpflich-
tung gegen die geschiedene Frau die Rede wäre, bis zu dem Termin, wo das
Kind seine Mutter ernähren könnte.
2) 14 ist eine Quittung der woaxrogeg über einen Beitrag zu einem oréqavos
für Numenios, einen dezromparopvicé aus der Zeit Euergetes II: so brachte man
damals die ‘freiwilligen Beiträge’ zu einem Ehrengeschenk für einen Vorgesetzten,
auf, eine Form der Erpressung, die von den römischen Statthaltern auch ange-
wandt ward. Augustus hat ibnen das Handwerk gelegt.
3) Sicher heilen kann ich nur einen Satz 6—8 obd’ &v éuélinoa xul ei te (so
kann man, denk’ ich, auch lesen, dx Gr. H. was sie zu vielen Aenderungen
veranlaßt hat)... é« tijg ... ovvreisiag narıbv hpellero, nal dxdoa ... dpnplopeda
... 0nd tay ndiswv, Exe (etn P) xal raüra dveivaı. 9 kann in dem was sicher
verschrieben mir als er«vappasıv erscheint, nur éravaegégery stecken. 14 zwingt
der Sinn ovyopwv in od Pdgwv Enrijceory dAl& owpeocuvnı zu ändern. 15 ist am
Ende ein Wort verloschen, also wol lieber axivrov [xeareiv] genudtorv. 1 hat
gewiß nicht in der Copie, aber in der Vorlage wol gestanden drjiwory roınoacheaı
elxavıv. 4 hinter Teacavdy nal Mäoxov ... uwusioher Zusllov dv nal xeds
calla thy xooulosory (ronda ynv nooaıenosıv P) Lücke, in der etwa stand
<dıa navrög Beßovisvucı fnAhasıv>. Dann tijv<d’> ody bya yrdaunv noLodueı.
4) Erst dann ist eine pagrveda neol Tüv pi) xoocremevoy (xeoersp. Gr. H.)
vorhanden,
Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 87
natürlich wieder überwiegend Geschäftspapiere, Steuerquittungen oder
sonstige mit den Steuern zusammenhängende Documente da, auch
eine um der Herkunft aus dem Fayum willen für die wenigen Sach-
verständigen interessante Sammlung von Ostraka. Da ich die Sachen
nicht beherrsche, verweise ich nur auf einige wichtige Ausführungen
der Herausgeber. Zu 33 über owuarıouds gegen Wilcken, mit dem
Eingeständnis, daß noch unerklärte Stellen bleiben. Zu 36, einem
merkwürdigen Stücke, über Monopole: hier handelt es sich um die
Fabrication und den Handel mit Ziegeln. Zu 67 über die 9’ xa v
Steuer (die 3°/,) und einen im innern Fayum befremdlichen Ca-
ravanenzoll Ausevog Méugems. Einzelne Steuern kommen vielfach
zur Sprache. Zu 48 wird als Bestätigung für Wilckens feine Dar-
legungen gezeigt, daß Nervas Tod (27. Jan.) am 25. April im Fayum
noch nicht bekannt war. Zu 81 wird die schwierige und wichtige
Frage, was die Önudaroı ysmpyol waren, besprochen; Material dafür
findet sich auch sonst, aber wie es scheint, noch nicht genügendes.
87 und 88 erscheint oixog als Bezeichnung für die Casse einer juri-
stischen Person, oder auch die ‘Schatulle’ einer fürstlichen. Ein Phi-
losoph Julius Asklepiades hat ein Landgut im Dorfe Euemeria der
Stadt Alexandreia vermacht, für die durch Vermittelung einer Bank
der éxi rév Orsuudtınv mooxsysıgıouevos die Einkünfte in Empfang
nimmt. Das Grundstück gehört nun dem oixog xddswmg ’Alskav-
desiov. 88 heißt ein xAnogos olxov addemsg Bacrdioons IIvoAsunlov
Néov Awovioov, d. h. er hat, ehe er arsinoitisch ward, der Königin
(d. h. der regierenden), vorher dem Auletes gehört. 23. 23° sind
Listen von Beamten, hinter denen ihre Besitzungen mit Wertan-
gabe stehn: sie stellten wol so zu sagen ihre Caution dar. 108
sind zwei Schweinehändler auf dem Wege zwischen zwei Dörfern des
s. w. Fayum ausgeraubt: das passiert unter Marcus. 105 ist ein
lateinischer Papyrus; Verzeichnisse von Schuldnern und Depositen-
gläubigern einer Militärcasse.
Mein persönliches Interesse gilt mehr den privaten Documenten,
namentlich den Briefen. Von diesen stammt eine sehr große Zahl
aus einem Funde von Euemeria, und es wird das Kleine nun durch
den Zusammenhang interessant. Da war ein gewissen Lucius Bel-
lienus 1) Gemellus, ausgedienter Legionar, der in mehreren Dörfern
1) Bellienus verlangt die Sprache, und wenn er selbst alle seine Briefe in
dem Stolze auf sein Bürgerrecht mit den ganzen tria nomina beginnt und Bei-
invog schreibt, so mag er das i auch im Reden unterdrückt haben; aber 110
hat er einem gebildeten Schreiber dictiert, und da erscheint BeAlınvog, wie gegen
die Abschrift die Photographie lehrt, die von diesem Stücke aus palaeographi-
schem Interesse gegeben ist. Z. 15 ist nicht Aovo-, sondern worıodrno«y zu er-
88 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
und in der Kreisstadt Besitzungen erworben hatte, und mit seinem
Sohne Sabinus, seinem Verwandten Epagathus u. a. unter Trajan
eine recht intensive Wirtschaft treibt. Der würdige Herr beherrscht
die Sprache und Schrift nicht besonders, aber seine Sache versteht
er und bringt die Seinen ordentlich auf den Schwung. Er schreibt
die entsetzliche Orthographie ossıw:, wenn er seinem Sohne schreibt,
sonst sagt er “Exayd@o (so zu betonen) r@ (d’m Epagatho suo. Wo
man o oder ® zu setzen hat, und ähnliche Schrecknisse der histori-
schen Orthographie sind ihm nie klar geworden, auch gehorcht die
Feder nicht, und so fehlen oft Buchstaben. Auch in seiner Familie
ist die Bildung wol nur bei seinem Sohne Sabinus auf anständiger
Höhe. Man muß die Briefe schon selbst lesen, um an der Form
und dem Inhalte Spaß zu haben; eigentlich merkwürdiges ist kaum
darin. 102 ist eine Rechnung über Lohn an freie Arbeiter, Männer,
Jünglinge und Knaben, die nach ihrer Leistung verschieden bezahlt
werden : ein par zagdEvoı werden daneben beim Schwingen (Aıxvi£sıv)
von Weizen verwandt. Die Arbeit der Masse ist rıvdassıv, und das
Resultat wird in oxvelöss gesammelt. Auf einer andern Farm sind
Knaben beim d:addyey rd zröum beschäftigt. Die Zeit ist 19 Tybi
bis 2 Mechir, nur am 20 Tybi ist frei, war also Fest. Gemeint
kann wol nur die Olivenernte sein: Bellienus ist wesentlich Oelbauer:
die fiel also im Jahre 103 in den Januar. 91 ist ein Contract von
ihm mit einer Arbeiterin, die in einer Oelpresse beschäftigt werden
soll, sehr genau; aber eine feste Bestimmung über den Lohn hat
der alte Fuchs nicht aufgenommen: der richtete sich nach den Con-
juncturen. 111 schreibt er sehr böse an Epagathos wévmopat oon
ueydins‘ anddscag yvpldın Ova axd rod oxvduod rs od0d, Exar
év ri xdun egyarine xvivn Cena. ‘Hoaxdidag 6 ÖvnAdıns ta altioue
xegLeninde Aéyoy ate ov elonyas nebo ta yvoldın éldou. Das sei
eine Probe seines Stiles und seiner Schrift. 117 ist ein neuer Stra-
tege ernannt, sofort avisiert Gemellus seinen Sohn aldv ov daén,
néuoa abr shag dor. a xal sxPddiv, ext yolav adbtod Eymuor.
gänzen. Der erste Satz ist unklar ausgedrückt, da Gemellus sicu an den Brief
halt, den er vor sich hat, und Nebenbestimmungen parataktisch trifft. Epaga-
thus hatte gefragt, wo er bei der kommenden Ueberschwemmung mit den Schafen
hinsollte und was mit einer Scheune (rapevov) zu machen wäre. Er soll aus
dieser den Unrat (xdéxgov; das ist nicht Dung) hinausschaffen, das und das tun,
in Hinblick auf das kommende Wasser, dann kommt die Hauptsache, »damit da
die Schafe zu liegen kommen.< Wo? In dem zu einem xaraßdAnıov gemachten ra-
peiov. In dem lateinischen Bellienus ist der Laut, den man 7 schrieb, ohne Zwei-
fel e gewesen: trotzdem verklingt das i davor, wie in tapeiov, dyela, Aoyeiv (119)
für Aoyıeiy: so bat es Gemellus doch wol gemeint, nicht ein Aoyeiv erfunden.
Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 89
Auch zu den Harpokratesfest, das der neue Stratege feiern will,
wird Diverses bestellt. 114 erfahren wir, daß auch an den Isien
viele Personen, vor allen die Strategen, Geschenke von ihm er-
halten. An den Festtagen seiner Familie ist er splendid; zu den
Saturnalien läßt er 12 Hühner kaufen (die zieht er also nicht), zum
Geburtstage einer Dame der Familie bestellt er Fische und eine Art
von Weizenmehl (119), ebenso zu den rsrgaxooor« des Kleinen ....,
"Sohnes der Gemella. Das ist der 40. nicht 400. Tag; seine Feier
bezeugt Censorin 11, aber es brauchte keines weiteren Zeugnisses:
wie weit ist denn Mariae Lichtmeß von Weihnachten? Seinen Sohn
schilt er gemütlich aus, un ov Anorjang roy &xrıvayudv cov steht
hinter einer Fischbestellung für den Geburtstag Gemellas (114), éxré-
abov rd dsetgoy Eiva dufgıuvos ns 117, 21. Das ist keine verständliche
Rede, soll doch aber wol heißen ‘schüttle das und das ab, damit du ohne
Sorgen bist’ und ‘schwatze keinen Unsinn in betreff deines Abschüt-
telns, d. h. mach keine Widerrede, als könntest du die Sorge nicht
abschiitteln’. Mit dem rıvaoasıv der Oliven hat dieser seltsame Ge-
brauch des Wortes nichts zu tun. Es giebt hier noch manche Nüsse
zu knacken; aber nicht leicht wird man mit dem fertig, was den
Herausgebern widerstanden hat.
Ein Par Kleinigkeiten meine ich hie und da fördern zu können;
dabei werden noch etliche Stücke bezeichnet werden. 12 ist die Be-
schwerde eines Mannes, noch aus dem Ende des 2. Jahrh. v. Chr.,
der durchgeprügelt und seines Rockes beraubt worden ist. Z. 20
elf odrws wet Evöduards uloı weoı]t[wo]dEvros Ind tHv pyvwmotuor.
Seinen Rock muß er bei einer Kneipwirtin auslösen, bei der ihn die
Räuber rods dowreiav versetzt hatten: das ist nicht incontinently,
sondern sie haben sich dafür mit ihr oder bei ihr der dowrei« er-
geben, und ihre Beute war die Bezahlung. Das Local der Dame,
die den bezeichnenden, übrigens interessanten, Namen MéAc führt,
wird man damals dowreiov genannt haben; zu Herodots Zeiten sagte
man Hßnzrorov: auffallender Weise war die Sprache gröber ge-
worden. 24, 20 &yodpn did... vouoypdapov EnaxoAovdoüvrog Juodw-
gov (für den Dativ, wie sehr oft) txnocrov pauevov un eldevaı
yoduuare. Da muß statt vanoerov mindestens gemeint sein Umtg
ebrov. Den lateinischen Genetiv Aıßeoaiıs würde ich nicht ver-
treiben. 89 ist ein Schuldschein augusteischer Zeit, datirt unter
Anwendung noch des griechischen Monats neben dem aegyptischen
(was noch hundert Jahre später vorkommt) nach der xgarnoug Kat-
ocpos. Z. 11 erwartet man nach der Formel neben xagcyejua nur
dic xıpds ; gelesen ist an der zerstörten Stelle ...ns. Das gelie-
hene Saatkorn soll uérem rerdprw zurückerstattet werden. Das be-
40 Gött. gel. Anz. 1901. Nr, 1.
deutet, wie feststeht, daß mit dem Maaße der Viertel- Artabe ge-
messen werden soll. Warum? doch wol, weil die kleineren Nomi-
nale reichlicheres Maß gaben. In der folgenden Nummer 90 ist ein
wétooy Evösxdusroov vorgesehen: das ist ein Maß, das ein pwéreov
mehr als die eigentliche Artabe enthält: die Zinsen, so zu sagen,
für das geliehene Korn werden auf diese Weise gezahlt. 96 nimmt
man Anstoß daran, daß ein Gymnasiarch unmündig ist: ohne Grund,
denn es handelt sich bei dem Amte um die Spenden, die für die
Ehre gezahlt werden, In Asien z.B. ist so etwas gewöhnlich. 116
suchen die Hrsgr einen Fischnamen, haben ihn aber mit gegovg
eigentlich gelesen: gaygovs. 124 bekommt jemand Vorhaltungen
und Drohungen, falls er seine Mutter weiter schlecht behandelt, u
yee ÜnoAaßns tiv unregav cov xegl tovrwv [r]oeusıv. Das giebt
keinen Sinn: es war [n]oeueiv. 138 in der Anfrage an das Orakel,
xvpior Aidoxoveor, N xgeiveraı avrov aneAdiv tg addey ist noivere
gemeint; zs 3 fated entspricht der Wortbedeutung nicht, und man
will damals doch eine praktische Directive von dem Gotte.
Sprachlich könnte man Dank Gemellus eine ungeheure Zahl von
Belegen für Verderbnisse der Aussprache und Grammatik häufen,
und es zeigen sich jetzt nicht selten bedenkliche Symptome, daß die
Sprachgeschichte durch hastige Benutzung plebejischer Urkunden
mehr verwirrt als aufgeklärt werden soll. Wie Barbaren oder Leute
ohne Schulbildung die Sprache handhaben, das ist gewiß für die
lebendige Aussprache nicht zu verachten, aber man soll doch nie
vergessen, wer so redet; bei dem Schreiben ist vollends nicht zu
vergessen, daß die Leute Buchstaben auslassen und vertauschen: die
Vasenaufschriften und die ungelenken Steinschriften der alten Zeit
und vollends diese flüchtigen Papiere dürfen wahrhaftig nicht auf
eine Stufe gerückt werden mit der athenischen Kanzlei oder der
monumentalen Schrift. Wenn man immer wieder hört, daß in
Aegypten a zu &, ot zu v schon im zweiten Jahrhundert v. Chr. ge-
worden wäre, in Athen erst drei Jahrhunderte später, so ist dabei dem
verschiedenen Beweismateriale nicht Rechnung getragen. In Athen
schrieben im wesentlichen Griechen, in Aegypten dringt in der sin-
kenden Ptolemaeerzeit der hellenisirte Barbar empor, und wenn wir
hier diesen hören, aus Athen die Steinschrift haben, so erscheint
eine trügliche Differenz. Wenn Aristophanes von Byzanz Formen
wie éAcBooey chalkidisch genannt hat, so ist das bekanntlich auf
Lykophron von Chalkis gemünzt gewesen, der &sy&&ooav in die Poesie
aufgenommen hatte. Daß die Form aus Chalkis oder aus Boeotien
verbreitet wäre, ist damit nicht wirklich behauptet und man wird
es schwer glauben, zumal die römische Kanzlei zur Zeit des Aristo-
Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D, Hogarth. 41
phanes so schreibt. In Tanagra hat man um 500 oe und ae für oc
und ac geschrieben, ebenso transcribirt das Lateinische: aber zu
einer Zeit, wo man in Boeotien schon y und e sprach. Boeotien
hat phonetische Orthographie, von der sich Spuren in dem benach-
barten Phokis finden. Dagegen die Bergstämme des Parnassos und die
Aetoler, die das Schreiben erst ausgiebiger üben, als die ionische
Schrift internationale Geltung hat, haben diese festgehalten: ich sehe
keine Möglichkeit, zu wissen, wie sie aussprachen. Um so weniger
kann ich glauben, daß die heutige Aussprache von ov und a, die einst
allgemein plebejisch war, von den Boeotern stammte. Gegen diese
Gedanken Kretschmers hat Thumb bereits Verwahrung eingelegt.
Aber auch bei ihm finde ich die Frage nicht aufgeworfen, die mir
von fundamentaler Bedeutung scheint: was lehrte die Schule? Wann
hat der Schulmeister, der Redner, der Schauspieler begonnen dem
Lautwandel zu folgen? Soll sich etwa die attieistische Reaction der
augusteischen Zeit, die das bereits aufgegebene stumme ı der Schrift
wieder zufügte, der Einwirkung auf die Aussprache enthalten haben?
Es ist eher merkwürdig, daß sie jenes ı als stumm anerkannte. Sein
Verstummen, zuerst hinter n, beginnt in Asien, bei den loniern und
dann den Aeolern, schon seit dem 6. Jahrhundert. Die Aussprache
des v als y ist durch die ionische, dann die attische Schriftsprache
dem andern Hellas aufgedrängt: oder hätte um 400 irgend eine
andere Mundart diese erste Etappe des Itacismus bereits erreicht
gehabt ? Die Asiaten haben das h ganz früh aufgegeben; die
ionische Schrift vertrieb es aus den meisten Alphabeten: dadurch ist
allmählich auch die Sprache ionisirt. Auf solche Dinge wie das
ionische xed Eros Ep Eros (auch hier wieder vertreten) ég tone
soll man doch keinen Wert legen, denn sprachlich sind das ja In-
laute, und da ist die Aspiration der Consonanten nur vereinzelt auch
in Ionien aufgegeben worden. Aber für das daovvaıv trat die Schule
ein: das zeigt ja unsere Grammatik noch in der spätesten Zeit. Der
Ungebildete weiß wenigstens, daß es fein ist zu aspiriren, und er
macht es dann falsch, schon in Athen im 5. Jahrhundert. Aber der
grammatisch gebildete hat das sauer gelernt: daher die Transscrip-
tionen der Lateiner und Kopten. Wir haben hier wieder ein hüb-
sches Beispiel: 38 schreibt ein Römer: der setzt den Asper und eine
Art Apostroph: das besagt, er hat bei dem Grammatiker Griechisch
theoretisch gelernt. Gemellus hat gewiß kein Gefühl für die Quan-
tität eines Vocales gehabt; das ist ein Symptom der beginnenden
Verwilderung: aber von der griechischen Sprache darf man erst
sagen, daß sie diesen Zustand erreicht hat, wenn die Messung der
42 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
Verskunst oder der Kunstprosa den Accent statt der Quantität be-
rücksichtigt.
So will ich denn von den gemeinen Vertauschungen der Vocale
schweigen, nur daß e und i überhaupt sich sehr nahe standen, sei
z. B. an dvreovußoAov 73. T4 gezeigt, und daß der Conjunctiv éxodd
u. dgl. wieder öfter eintritt, sei notirt: die Aussprache ist mir jetzt
zweifelhaft; zu i ist y meiner Ansicht nach überhaupt im Altertum
nicht geworden; für ihre Verwechselung hat schon das classische
Attisch Belege. Hinter s hat man wie heute das @ nicht spiran-
tisch sprechen können, aber daher auch @ statt x geschrieben. So er-
scheint hier überwiegend Mvo@ns und Derivate: das ist doch nichts
als udorns, das daneben vorkommt. Von Eigennamen hebe ich den
weiblichen /TroAAxgoög hervor, so entstanden: /TroAsuatos, ITroAAäg
Feminin, /TroAAdgıov, IItoAAagoüs, das eigentlich /7TroAAxo& lauten
sollte. Auffällig war mir, vermutlich durch meine Schuld, od vor
Vocalen (außer Gemellus auch der Geprügelte 12). siödrog für das
Femininum 91, halte ich für unbeabsichtigten Schreibfehler, ebenso
den scheinbaren Ionismus &ovong 22. ävoxvos 130 ist dagegen be-
absichtigt und begreiflich. uxög 127 durfte nicht beseitigt werden‘):
das hat zu allen Zeiten bestanden, schon bei Aristophanes ist eine
Mixa. 126 nehmen die Herausgeber die Auslassung eines Augmentes
an, und es mag sein: dann hat der Schreiber aber einen Buchstaben, '
den er sicherlich sprach, vergessen; er kann auch meuyev für weupeı
geschrieben haben. Der Wortgebrauch liefert immer etwas für den
künftigen Thesaurus; da sind Fremdwörter, das semitische uaydaAov
für das Haus der Gensdarmen ist fest recipiert ; ovge oder weıgı,
Bedevxodia sind unverständlich; das halblateinische roioeAAov nach
bisellium. Das alles leistet sich Gemellus. Derselbe verwendet ox«-
gytoov und dißdAnteov für die Action des oxéarew und diBodety,
obwol es die Bezahlung dafür bedeuten sollte: was er mit Evdauy
meint, weiß ich nicht. Wenn ihm &os so viel wie éxa@¢ ist, so ist
das auch seine Sache. Daß er statt des gewöhnlichen Aoızdv für
ceterum xegıoodv sagt?), ist eher auch wirkliches Griechisch, sicher-
lich dıxgavigsıv, mit dem dixgavov, der furca, bearbeiten.
Doch die Papyri sind dieses Mal, wie schon der Titel zeigt,
nicht die Hauptsache in dem Bande. Von den 18 Tafeln gehören
ihnen nur 3, und ich würde nicht mehr verlangen (nur statt des
1) Ebenda war die Schreibung tiafvecy, yaupds, && Acdßnre nicht zu ändern:
das ist eben geschrieben wie man sprach. Der Name in dı@ Karoırov ist unver-
ständlich.
2) Vgl. auch 127 xoly 4 cs wegaıbregov Eyyıpran xoreiy, etwas ‘weiteres’.
In Form und Verwendung neu.
Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 48
Homer die Anapaeste). Daneben erscheinen eine Anzahl Abbil-
dungen von ptolemaeischer und römischer Thonwaare, die noch eine
Behandlung von Specialisten nötig hat; ein vollkommen erhaltener
Pflug und anderes Handwerkzeug, auch Riemen und Flechtwerk,
alles übrigens ohne Schönheit und ohne Eigentümlichkeit; ferner
Pläne von zwei Heiligtümern, an denen mir das wichtigste ist, daß
sie ungriechisch sind, und das mir weitaus Belehrendste, Photogra-
phieen von einigen Ruinen, namentlich zwei Trümmerstätten, nie-
drigen Hügeln in der Wüste, die die Dörfer bergen und nun die
Papyri geliefert haben; endlich eine Karte des Fayum. Das sind
Illustrationen zu den eingehenden Abhandlungen über die Geographie
des Arsinoitischen Gaues und die Grabungen nach Papyri, die von den
Herausgebern vorgenommen sind, wobei aber ein Rückblick auf die frü-
heren dortigen Entdeckungen gegeben wird. Ich fühle mich durchaus
incompetent, aber meine Freude über diese Darlegungen ist besonders
warm. Es ist schon so erfreulich zu lesen; nüchterne Sachlichkeit
erzielt hier mit wenigen Worten eine große Anschaulichkeit. Der
Stil hat Ethos, und dies Ethos imponirt. Weit von den Objecten
entfernt ist man so sehr leicht in Versuchung die Papyri nur als
tote Documente anzusehen, als Schutt, aus dem man Vocabeln oder
Formen oder Informationen über dies und das holt. Nun wird man
‘schon durch die Karte veranlaßt, sich bei Theadelphia und Phila-
delphia etwas concretes zu denken; schließlich fragt man, wo hatte
Gemellus seine Oelpresse, wie sah sie aus. Und mag auch das Bild
ohne Zweifel erst die Grundlinien zeigen, man bekommt doch über-
haupt erst hier ein Bild von dem was das Fayum durch die Könige
der zwölften Dynastie und dann durch Philadelphos geworden ist,
und wie es dann seit dem Elend des ausgehenden dritten Jahrh.
nach Chr. verfallen ist um hoffentlich jetzt erneuter Blüte entgegen-
zugehen. Für die auf die Bodenformation und das Nivellement ge-
gründeten Fundamente der Schilderung verweisen die Herausgeber auf
eine Arbeit des Majors H. Brown; für die aegyptische Zeit sind die
Entdeckungen und Forschungen von Flinders Petrie in Illahun und
Hawara maßgebend. Es zeigt. sich daß die altaegyptischen Deich-
und Canalbauten nur einen kleinen höhergelegenen Teil der Tief-
ebne, die jetzt Fayum heißt, aus dem See zu Land gemacht haben ;
es war die Umgebung der Hauptstadt des Krokodilgottes, der immer
unter wechselnden Namen Herr des Gaues geblieben ist. Aber durch-
gegriffen hat erst Philadelphos im letzten Jahrzehnt seiner Regie-
rung: er hat die Stadt der Arsinoiten, die Häfen, die Kolonisten-
dörfer geschaffen, die nur zum allergeringsten Teile eine aegyptische
Vergangenheit und dann auch aegyptische Namen hatten. Seine
dé Gott, gel, Anz. 1901. Nr. 1.
Leistung muß in der Tat imponiren, und sie hat vorgehalten, wenn
auch wol allmählich das Wasser wich, also die Wüste vorrückte, bis
der Staat zusammenbrach, ohne dessen energische Fürsorge ein sol-
ches Werk nicht gehalten werden kann. So haben denn wol gegen
300 die Einwohner die stattliche Ansiedelung Zoxvomadéov vijoog
(Dime) verlassen, so rasch, daß ihre Papiere unberührt gelegen
haben, bis leider ungeschickte Räuber sie aufgesammelt haben. Es
folgt hieraus, daß abgesehen von vereinzelten Puncten, namentlich
im Süden auf der Höhe, nur die griechisch- römische Periode hier
Reste hinterlassen hat, weil nur in ihr Leben in dem arsinoitischen
Gaue gewesen ist. Daher hat auch das Christentum hier so wenig
zu bedeuten. Von den Dörfern erfährt man das meiste durch den
Abschnitt über die Ausgrabungen. Diese hatten ja freilich nur die
Papyri im Auge, und es war eine sehr berechtigte, aber immerhin
eine Abweichung von diesem Ziele, wenn die Freilegung eines Heilig-
tumes vorgenommen ward. Auch die Gräber haben sie untersucht;
der Ertrag ist hier ziemlich gering gewesen. Wir verlieren vielleicht
wenig daran, daß wir keinen Plan einer Dorfanlage oder eines Hauses
und Gehöftes erhalten, obwol ich nun auch danach verlange; die
Ortskenner werden das Typische wol leicht angeben können, und
darum sei gebeten (also z. B. Dorfstrasse oder regellose Gehöfte,
Dorfplatz, Thing, oder nicht, Einfriedigung des Einzelgehöftes, Um-
fang der Anlage). Das sieht man ja, daß die Dörfer sehr unan-
sehnlich aussahen: die Kirche fehlte aber dem Bilde nicht, denn wol
jedes Dorf hat seinen Tempel, zwar schwerlich von vorn herein,
aber wol noch in ptolemaeischer Zeit erhalten. Der Inhaber war nicht
der Eponym des Ortes, obwol die #eol adsAyor oder die pıAddsApos
oder Karanos oder Bakchos sich dazu eigneten, sondern es wird der
aegyptische Krokodilgott, also der alte Herr des Bodens, in irgend
einer Namensform verehrt. Es ist sehr zu beherzigen, daß die An-
siedler gar keine religiösen Bedürfnisse in ihrer Gemeinschaft gehabt
haben können, und daß sich diese auch nicht eingestellt haben; es
dauerte nur das Aegyptische, man findet wol fast ausschließlich
Aegyptische Feste'). Die Kreisstadt hat natürlich mehr Culte, vor
allem den der Könige und dann der Kaiser und des Reiches gehabt.
Es ist das für die Stellung der hellenistischen Zeit zur Religion sehr
wichtig. Die Leute sitzen auf dem neuen Boden: natürlich huldigen
sie den Gewalten, die in ihm seit Ewigkeit mächtig sind, und sie
unterwerfen sich der Form der Verehrung, die für diese Gewalten
gilt. Das aegyptisirt sie nicht innerlich; die homerischen Götter
waren dann aber doch Mythologie für sie. Aber wenn denen, die
1) Die Saturnalien feierte man, aber sie hatten keine religiöse Bedeutung.
Fayum towns and their Papyri by B. Grenfell, A. Hunt, D. Hogarth. 45
in der Lage waren höhere Bildung zu suchen, die Philosophie eine
individuelle Religion verlieh, so mußte die Masse der Bauern in eine
rein materielle Existenz geraten, wie sie denn aus diesen Papieren
zu uns redet. Das Christentum hat diesen Kreisen nicht eine neue,
sondern überhaupt erst Religion wieder gebracht. Es wird uns
schwer von der Sinnesart, die aus den Papyri römischer Zeit spricht,
den Uebergang zu Athanasius und Palladius zu finden. Doch eine
Arbeit über die Art der Arsinoiten zu leben und zu denken wird
erst zu schreiben sein, und dazu wie .zu allem bedürfen wir die Er-
schließung der ptolemaeischen Papyri, die von den Hrgbrn in Teb-
tunis, am Südrande des Fayum, in Masse entdeckt sind — und wer
weiß, welche Schätze sie nun schon wieder gehoben haben.
Wenn man erfährt, daß so viel bereits über der Erde ist und
seine Entzifferung dadurch aufgehalten wird, daß die Finder nach
neuem graben, so scheint die Papyrologie dem Jäger des Kallimachos
zu gleichen, der aus Freude an der Jagd das erlegte Wild liegen
läßt, und man möchte wünschen, daß in dem Entdecken eine Pause
einträte. Aber das geht doch nicht an, nicht bloß, weil die Menschen-
natur nun einmal Schätze, von denen sie weiß, nicht ruhen lassen
kann, sondern weil die Gefahr des Unterganges und der Verzette-
lung durch Raubbau zu groß ist. Davon überzeugt die Erzählung
von den früheren Entdeckungen durch die Araber und Händler
völlig. In dieser Notlage giebt es, da die zerstörende Cultur sich
doch nicht hemmen läßt, kein Mittel, als daß die Zahl der befähigten
Arbeiter, sowol der Entdecker wie der Leser, zunimmt. Monopoli-
siren läßt sich auch das Entdecken nicht, aber wol organisiren und
auf die Sachverständigen beschränken ; auch sollte, so weit irgend
möglich, das Verzetteln der Papyri, durch das sie nach der Ent-
deckung wieder verschwinden, verbindert werden. Das ist ein er-
strebenswertes Ziel. Welch ein Glück es gewesen ist, daß erst
Flinders Petrie, dann Grenfell und Hunt, zu denen nun Hogarth ge-
treten ist, das Ausgraben selbst in die Hand genommen haben, das
wird durch dieses Buch ganz deutlich: sie haben sich selbst ein
verdientes Denkmal gesetzt.
Ein besonderer Abschnitt aus der Feder von J. Grafton Milne
ist den Münzen gewidmet, namentlich einem Schatze von über 4000
Stück aus Bakchias. Sie gestatten über die sehr ungleichmäßigen
Emissionen der Alexandrinischen Münze von Claudius bis Marcus
sichere Schlüsse zu machen. Hinzutreten einige Bleistücke mit
Münzbild und Inschrift, die wieder als Scheidemünze von localer
Geltung erklärt werden.
Westend 6. Januar 1901. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff.
46 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
Die Jacobsbriider von Kunz Kistener herausgegeben von Karl Euling.
(= Germanistische Abhandlungen begrüudet von Karl Weinhold herausgegeben
von Friedrich Vogt, XVI. Heft). Breslau, M. & H. Marcus. 1899. VIII u.
130 S. Preis Mk. 5.—.
Wir haben eine Edition vor uns, die dem Texte eines spätmhd.
Gedichtes ungewöhnliche Sorgfalt zuwendet, in der Einleitung die
Frage nach der Heimat und der Entstehungszeit des Gedichtes zur
zuverlassigen Entscheidung bringt, den Autor urkundlich festlegt
und über den Stoff seines Werkchens aus guter Belesenheit bei-
bringt, was wir verlangen können.
Wenn ich gleichwohl an dem ganzen keine reine Freude habe,
so rührt das wahrlich nicht daher, daß der Herausgeber mir ein seit
Jahren bereitgelegtes Fündlein vorweggenommen hat: denn er hat
sich der Priorität vor der Oeffentlichkeit durch seine liebevolle Be-
schäftigung mit dem Gedichte vollauf würdig erwiesen. Es sind viel-
mehr allgemeinere Betrachtungen über den Zustand unserer Disci-
plin, die mich wehmütig stimmen. Der Wagemut zu größern Edi-
tionsaufgaben scheint immer mehr zu schwinden. Ich rede nicht
davon, daß wir vorläufig keine Aussicht haben, die uns s. Z. ver-
sprochenen kritischen Texte des Freidank, des Tristan, des Wigalois
von der erwarteten oder einer andern Seite zu bekommen — da
können wir uns zur Not noch ein paar Jahrzehnte behelfen. Aber
daß von einem der wichtigsten unter den Epigonen, von Rudolf von
Ems, drei Werke dauernd ungedruckt bleiben, daß uns die Ausgabe
des »Wilhelm von Oesterreich« jahrzehntelang vorenthalten wird,
daß sich kein geeigneter Herausgeber für den »Friedrich von Schwa-
ben< findet, daß wir für kulturgeschichtlich interessante Litteratur-
produkte des 14. Jahrhunderts zwar brauchbare und z. Tl. vortreff-
liche Prolegomena, aber nicht die Ausgaben selbst erhalten, das er-
füllt mich mit aufrichtiger Sorge. Demgegenüber werden wir mit
»Neudrucken< z. Tl. recht gleichgiltiger und für die wenigen Inter-
essenten ohnedies genügend zugänglicher Werke des 16. bis 18. Jahr-
hunderts wahrhaft überschüttet, und hier dürfen sich als Heraus-
geber in eine Reihe mit den gewissenhaftesten Philologen getrost
Leute stellen, denen die allernotwendigste Vorbedingung, die sprach-
liche Bildung fehlt.
Und weiter: während an Schönaich und Uz, an Goethe und
Uhland die Editionstechnik neue Aufgaben löst und auch einen
schwierigen Apparat geschickt zu bewältigen weiß, scheint die vor-
nehme Kunst der Lachmann und Haupt den Herausgebern mittel-
Die Jacobsbrüder von Kunz Kistener hrsg. von Karl Euling. 47
hochdeutscher Texte keines ernsthaften Studiums mehr wert zu sein:
daß ein kritischer Apparat etwas anderes ist als eine Sammlung
von Kollationen, daß man nicht das Recht hat, eine Edition zum
Zusammenscharren von Lesefrüchten zu benutzen, die mit dem Texte
gr. Teils nur in recht lockerem Zusammenhang stehn, dafür scheint
unsern jüngern Mitarbeitern das Gefühl mehr und mehr abhanden
zu kommen. Ich hatte kürzlich Anlaß, über die Verrohung der Edi-
tionstechnik Klage zu führen (Anz. f. d. Alt. XXV 366), und ich
kann auch Euling von dem Vorwurf nicht frei sprechen, seinen Ap-
parat und den Notizenschwall, den er zwischen die Lesarten gesteckt
hat und der ja eine ganz hübsche Belesenheit erweist, ohne rechte
Erwägung ihres Zweckes — und Wertes auf einen ungebührlichen
Umfang gebracht zu haben. Wohin soll es denn kommen, wenn
wir jetzt für die kritische Ausgabe eines Gedichtes von wenig über
1200 Versen, dessen sämtliche (3) Textzeugen im Drucke bequem
zugänglich waren, 5 Mark bezahlen müssen? Es gibt doch an hun-
dert Dichtungen ähnlichen Umfangs, die einer kritischen Behandlung
gleich oder mehr würdig wären.
Die »Jacobsbriider< des Kunz Kistener hat Goedeke 1855 in
einem Privatdruck den Brüdern Grimm gewidmet. Diesem Abdruck
der Wolfenbüttler Hs. (A) ließ er 1856 in seinem »Pamphilus Gengen-
bach« die Textbearbeitung des rührigen Basler Buchdruckers (B)
folgen und wiederholte in den Anmerkungen S. 640—658 fast zwei
Drittel des Kistener; dazu kam dann 1872 ein Frankfurter Frag-
ment (C) mit 93 Versen (Germ. XVII). Nun ist die Ueberlieferung in
A so mangelhaft und bleibt der echte Wortlaut vielfach so unsicher,
daß wir auf die Lesarten von B gewiß nicht verzichten können — daß
sie aber so umständlich (man darf getrost sagen: nach Art einer
Kollation) mitgeteilt zu werden verdienten, kann ich nicht zugeben.
Und dabei ist die Form dieser Kollation noch so wenig überlegt,
daß man trotz aller Umständlichkeit über den Wortlaut doch viel-
fach in Zweifel sein kann. Die Anwendung der | ist dem Verf.
fremd, ebenso das bequeme (!): wo immer seine Lesung im gering-
sten von Goedeke abweicht, heißt es: »nicht ... wie bei Goedeke
zu lesen< o. ä& Und über dieser Wortklauberei vergißt der Heraus-
geber nicht selten wichtigeres: so fehlt zu V.72, wo der brave Goe-
deke sich zweimal um eines Buchstabens willen (!) rügen lassen
muß, die la. seit] seite A — wobei ich übrigens auch der Textände-
rung E.’s nicht zustimme.
Einen Text des 14. Jhs. aus später Ueberlieferung wieder in
sein ursprüngliches Gewand einkleiden, ist immer ein heikles Ding,
und selten wird man es Allen recht machen. Im allgemeinen kann
48 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
man das maßvolle Verfahren Eulings billigen, der ähnlich zu Werke
gegangen ist, wie ich in meiner Ausgabe des »Peter von Staufen-
berg<. Manches freilich in den Aenderungen versteh ich nicht, am
wenigsten V. 55f. elichet: ziehet für /lühet: züuhet A. Auch die For-
men suone, suones (‘filii, filio’) sowie die weitgehende Neigung für
proklitisches und enklitisches Zusammenrücken der Wörter (z.B.
duf f. do uff V. 79, bim f. by ime 338, sbest 562, dazt 629, darme 724
usw.) muß ich tadeln. Und warum setzt E. V.19 die ganz selbst-
verständliche Besserung Vogts nicht in den Text? warum läßt er
V. 672 ingnote stehn, obwohl er selbst auf das V. 718 bewahrte ige-
note hinweist ?
Im Einzelnen ließe sich wohl allerlei bekritteln, so besonders
hinsichtlich der Interpunction. V. 17 muß es natürlich heißen: sante
Jacop und (nüt) die welt. Die meisten Schwierigkeiten (und nicht
alle sind beseitigt) schafft die richtige Abgrenzung der Reden:
Kistener hat das Bestreben, seine Erzählung durch unvermittelte
Einführung der Sprechenden zu beleben, und gestaltet den Dialog
oft gesucht lebendig. — Zum Ganzen muß doch bekannt werden, daß
Euling die nicht sonderlich bequeme Aufgabe, diesen Text für die
litterarhistorische Einreihung und Würdigung herzurichten, gut ge-
lungen ist. Es ist ihm wohl zu gönnen, daß er die Früchte dieser
vorbereitenden Arbeit in der Einleitung selbst gepflückt hat. Und
wenn er den »>Fall Kistener<, der uns übrigen nicht eben besonders
aufregt, mit einer Umständlichkeit vorführt (>Stand der Frage«
S. 1—12!), als ob es sich um die Quellen des Parzival oder um die
Entstehungsgeschichte des Faust handle, wenn wir auch von den
angeblichen Entlehnungen und Reminiscenzen besonders aus Konrad
von Würzburg wieder ein gut Teil unbedenklich streichen und zu
andern ein kräftiges Fragezeichen machen, wenn es uns auch bei
den Ausführungen über die Sprache, wo Karl Schröders Glossar
zu den Straßburger Chroniken als Specialautorität citiert wird (es
ist die schwächste Leistung des verdienten niederdeutschen Gelehrten),
im Ohre summt: »Schier dreißig Jahre bist du alt< — jedenfalls
werden die Resultate dieser Einleitung als gesichert gelten müssen:
das Gedicht, über dessen Heimat und Alter Goedeke und Bartsch
merkwürdig schief geurteilt hatten, ist im Elsaß um 1350 ent-
standen und erweist sich wie in seinem Wortschatz so in seiner
stilistischen Physiognomie durchaus als einen der Spätlinge der el-
sässischen, speciell der Straßburger »höfischen« Litteratur; ja schon
die Stoffwahl scheint das Werkchen diesem landschaftlichen Kreise
aufs engste anzuschließen.
Freilich hat E. aus dieser elsässischen Litteratur fast nur die
Die Jacobsbrüder von Kunz Kistener hrsg. von Karl Euling. 49
großen Werke und bekannten Namen herangezogen : Gottfried von
Straßburg und Konrad von Würzburg, den Rappoltsteiner Parzival,
Peter von Staufenberg und die Dichtungen des Hans von Bühl. Eine
Durchmusterung von Lassbergs Liedersaal und von der Hagens Ge-
samtabenteuer hätte ihm eine ganze Reihe von kleinern Gedichten
elsässischer Herkunft ergeben, von denen insbesondere die poetischen
Novellen des Gesamtabenteuers zum Vergleich einluden: eine der um-
fangreichsten ist der unserm Werkchen etwa gleichzeitige oder doch
nur wenig ältere »Busant< (Nr. XVI).
Auf dem Boden und in der Zeit, wohin der Herausgeber die
»Jacobsbriider< mit überzeugender Sicherheit stellt, nehmen wir
dann auch den persönlichen Nachweis für den Verfasser entgegen:
S. 28f. bringt E. urkundliche Belege für den Straßburger winruffer
Cantze Kistener aus den Jahren 1355 bis 1372. Mir waren beide Zeug-
nisse seit längerer Zeit bekannt, denn auch die Ordnung der Wein-
rufer und Weinmesser von 1355, die E. aus dem jüngst erschienenen
V. Bande des Straßburger Urkundenbuches citiert, ist bereits 1889
in Bruckers Straßburger Zunft und Polizeiordnungen S. 519 ff.
ediert worden, und hätte Euling die dort (S. 518—591) in langer
Reihe gedruckten Weinordnungen des 14. und 15. Jhs. gelesen, so
würde er sich über die Aufgaben der ‘Weinrufer’ besser unterrichtet
zeigen'). Ich halte. die Wahrscheinlichkeit, daß der Weinrufer Cunz
Kistener der Verfasser der »Jacobsbrüder« ist, für eine so große, als
sie nur irgend bei einem derartigen Urkundenbeleg möglich ist, und
finde die entsprechende Reserve<, mit der E. diesen Fund aus-
drücklich vorbringt, durchaus überflüssig.
Das Gewerbe der cistarii oder kistenere?), das sich erst spät von
den zimberlüten (carpentarıi = huszimberlüte und wagenere) losge-
löst hat, ist in Straßburg auch nach dem J. 1332, wo es unter den
nüwen antwerken erscheint (E. s. 17), lange Zeit nicht sehr stark ge-
wesen. Der frühste Vertreter, den ich kenne, ist ein ‘Henricus ci-
starius’, der am 1. Apr. 1266 der Domfabrik sein Haus in der Kurde-
wenergasse schenkte (Kraus, Kunst und Altertum in Elsaß -Loth-
ringen I 357). Dann folgen die E. (s. 17) bekannten Belege für
Wernher den kistener 1313 = Wernherum dietum Kistener 1321,
gleichfalls in der Korduangasse wohnhaft, bei dem sich der Gewerbs-
name zum Familiennamen umbildet. Ihn möcht ich für den Vater
des Weinrufers und Dichters Cüntze Kistener halten, eher als den
1) Auch über die Behandlung der Aussätzigen in Straßburg ist bei Brucker
allerlei zu finden.
2) Die Bezeichnung kommt so nnd als kistelare auch anderwärts vor, 2.B.
in Würzburg und Zürich.
Gött. gel. Ans, 1901. Nr. 1. 4
50 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
1332 auftretenden Dietrich Kystener (E. s. 29). Die Gasse, aus der
die Familie hervorgegangen ist, beherbergte im J. 1587 nicht we-
niger als 12 Schreiner (Seyboth, Das alte Straßburg S. 159 ff.: ‘Kor-
duangasse’), und das scheint durch Jahrhunderte hindurch so ge-
wesen zu sein: auch die vielen Brände (z. B. a. 1280. 1298. 1343.
1400) finden dadurch ihre beste Erklärung.
Cunze Kistener, der es im J. 1372 erleben mußte, daß sein er-
wachsener Sohn wegen eines gemeinen Verbrechens schimpflich ver-
stümmelt und aus der Stadt verbannt ward’), mag im Anfang der
50er Jahre das Werkchen verfaßt haben, das vielleicht sein Debüt
war und seine einzige litterarische Leistung blieb. Hatte der Straß-
burger Zunftmeister etwa einen Gönner oder gar Auftraggeber, wie
die Goldschmiede Wisse und Colin, die im J. 1336 den Rappolt-
steiner Parzival zu Ende brachten? Man muß immer im Auge be-
halten, daß sich auch die anspruchslose Kunst Kisteners noch als
Nachfolgerin des höfischen Romans und der höfischen Novelle fühlt.
E., der das ganz richtig sieht, hätte die Worte, mit denen der Autor
den Charakter seiner Dichtung ankündigt, nicht mit Stillschweigen
übergehen sollen: v. 7. 8 das ich ez han geseit den lüten umbe ein
hübescheit d.h. etwa ‘als gebildete, feinere lectiire’. Auch im
14. Jh. war es in erster Linie noch der Adel, der litterarische Be-
stellungen machte: ganz ähnlich wie solche bei bildenden Künstlern.
Schon die Herren aus dem Baseler Stadtadel und Domcapitel, welche
den Konrad von Würzburg zur Abfassung von Legenden, vielleicht
ihrer Schutzpatrone anregten,, betrachteten das nicht viel anders, als
wenn sie etwa Bilder oder Statuen der Heiligen in Auftrag gegeben
hätten. Die Frage nach einem solchen Mäcen ist also auch bei
Kistener nicht unberechtigt.
Ich habe schon vor dem Erscheinen von Eulings Buch in den
GGN. 1899 phil.-hist. Cl. S. 70 angedeutet, daß ich den Gönner
Kisteners zu kennen glaube, und will es hier näher ausführen,
warum ich den Grafen Hugo von Hohenberg-Haigerloch
dafür halte. Die beiden Helden des Gedichtes sind ein bairischer
Graf Jakob, der Sohn Graf Adams, und der schwäbische Ritter Hug
von Heigerloch. Nun hat die Situation, in der wir diesen und seine
verarmten Eltern kennen lernen, freilich gar keine Aehnlichkeit mit
1) Hierzu verweist E. (der die Litteratur oft etwas gewaltsam herbeizieht)
s. 28 auf Schmoller, der Q-F. XI20 »von dem Treiben der Jeunesse dorde jener
Tage« handelt: aber der Weinruferssohn ist kein Junker — und ein nächtlicher
Einbruchsdiebstahl [daß es sich dabei namentlich auch um Geld handelte, sieht
man aus E.’s Citate nicht!) doch etwas anderes als das Abdecken von Krambuden
und das Durchprügeln von Scharwächtern.
Die Jacobsbrüder von Kunz Kistener hrsg. von Karl Euling. 51
der angesehenen und einfluGreichen Stellung der mit dem habs-
burgischen Königshause verschwägerten schwäbischen Dynastenfamilie,
— aber man beachte folgendes. Eben um jene Zeit, in die ich mit
Euling das Gedicht Kisteners setze, um die Mitte des 14. Jahrhun-
derts hatte Graf Hugo zum zweiten Male das Amt des kaiserlichen
Landvogts im Elsaß inne, und die Hohenburger Grafen erscheinen in
den elsässischen Geschichtsquellen regelmäßig unter dem Namen ‘von
Heyerloch’: es genügt hier auf Closener (DStChr. 8, 58. 62) und
Königshofen (ebenda 454. 457) zu verweisen. Der Straßburger Zunft-
genosse, der zu jener Zeit eine ‘*höfische Erzählung’ ausgehn ließ, in der
die einzige nach Herkunft und Familie genau bezeichnete Persönlichkeit
sich in Vor- und Zunamen mit dem elsässischen Landvogt von (1336
—1338 und wieder) 1350—1353 Oct. deckte, kann diese Namenwahl
unmöglich durch reinen Zufall getroffen haben: daß er dabei an den
vornehmen Zeit- und Landsgenossen dachte, ist ganz selbstverständ-
lich, — daß er den Namen aus der Quelle übernommen habe, wird
schwerlich jemand für wahrscheinlich halten. Aus der Quelle muß
hingegen die eigenartige Situationsschilderung v. 689 ff. übernommen
sein: wie Hugo nach Schwaben heimkehrend die verarmten Eltern
draußen vor der Stadt bei einer Wäscherin aufsuchen muß. Ich will
hier nicht verschweigen, daß es neben dem Herrengeschlecht der
Hohenberg - Haigerlocher Grafen auch eine Ministerialenfamilie ‘von
Haigerloch’ gab und daß auch in dieser der Name Hugo bezeugt ist
(vgl. L. Schmid, Monumenta Hohenbergica I 11: Hdgo de Heigerlo
a. 1225). Die höchst merkwürdige Tatsache, daß ein elsässischer
Dichter den Helden einer Aussatzgeschichte, der durch unschuldiges
Blut geheilt wird, mit dem Namen des damaligen kaiserlichen Land-
vogtes belegte, wird damit nicht erklärt. Da der Hugo von Heiger-
loch der ‘Jacobsbrüder’ als ein Bild edler Ritterlichkeit, ein Muster
der Freundestreue wie der Kindesliebe erscheint, so ist der Gedanke
ganz ausgeschlossen, daß Kistener dem Grafen mit jener Aussatzge-
schichte etwas anhängen wollte. Und doch — mußte nicht einen
Menschen jener Tage, der die abscheuliche Krankheit oft mit Wider-
willen zu beobachten Gelegenheit fand, ein Grausen ankommen, wenn
er sich oder seinen Namensvetter so als Aussätzigen geschildert fand’?
Dieses Bedenken würde schwinden, wenn etwa in der Familie der
Grafen von Hohenberg eine Kunde lebte, die von einem der Vor-
fahren ein ähnliches Schicksal und eine ähnliche Heilung berichtete:
eine Tradition, die dem Einfall Kisteners das abgeschmackte und
widerwärtige nehmen würde. Und die Möglichkeit, daß eine der-
artige Familiensage existierte, ist allerdings gegeben: handelt es sich
doch um eben jenes Grafenhaus, zu welchem die bekannte Hypothese
4*
62 Gött. gel. Ans. 1901. Nr. 1.
von L. Schmid den Dichter des »Armen Heinrich« in ein Lehensver-
hältnis bringen will. Und diese Hypothese, so wenig fest sie be-
gründet ist, kann vorläufig noch immer die Concurrenz mit ander-
weitigen Vermutungen aushalten. Vielleicht erhält sie eben von un-
serer Seite her eine Stütze.
Ich habe oben die Meinung ausgesprochen, daß Kistener seine
Dichtung bei Lebzeiten des Grafen Hugo von Hohenberg-Haigerloch
verfaßt habe, aber ich bin mir bewußt, daß ich das nicht bewiesen
habe und nicht einmal zu eindrucksvoller Wahrscheinlichkeit erheben
kann. Daß er bei der Benennung des einen Jacobsbruders als ‘Hugo
von Heigerloch’ den elsässischen Landvogt im Auge hatte, wird nie-
mand bestreiten wollen: die Art seiner persönlichen Beziehungen zu
ihm und vollends seine Kundschaft von einer hohenbergischen Fa-
milientradition bleiben in Dunkel gehüllt.
Marburg i. H. den 10. März 1900. Edward Schröder.
Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling, utgifna af Kong).
Vitterhets-Historie- och Antiquitets-Akademien. Förra afdel-
ningen 1.—3. bandet. Senare afdelningen 1.—9. bandet. Stockholm 1888—1900.
Die Herausgeber von Acten zur neueren Geschichte werden sich
wol immer von zwei sehr verschiedenen Grundsätzen der Bearbei-
tung leiten lassen. Der eine wird Schriftstücke, die nach for-
malen Kennzeichen zusammengehören — z. B. Briefe, Denkschriften,
Protocolle, die von denselben Verfassern ausgehen oder an dieselbe
Adresse gerichtet sind — möglichst vollständig sammeln und nach
demselben Gesichtspunkt herausgeben, nach dem man eine mittel-
alterliche Kaiserurkunde oder eine römische Inschrift herausgiebt,
weil es eben eine Kaiserurkunde oder eine Inschrift ist. Der andre
wird nicht von den schriftlichen Zeugnissen, sondern von der Wirk-
lichkeit des historischen Verlaufs ausgehen: die Acten, welche die-
sen Verlauf in all’ seinen Einzelheiten und in der Zusammenfügung
des Einzelnen zum Ganzen darlegen, wird er aufsuchen und zusam-
menstellen, unbekümmert darum, ob sie nach formalen Merkmalen
zusammengehören oder nicht. Bei dem ersten Verfahren ist es ver-
hältnismäßig leicht, innerhalb des Arbeitsplanes etwas Vollständiges
zu bieten, — nur daß das, was geboten wird, die geschichtlichen
Vorgänge in der Regel sehr einseitig beleuchten und dem In-
halte nach oft sehr bunt ausfallen wird. Bei dem zweiten Verfahren
Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling 58
wird eine erschöpfende Quellensammlung erstrebt, — nur daß hierbei
die Aufgaben des Acteneditors und des Geschichtsforschers vermischt
werden, und jeder Mangel in der Auffassung der objectiven Vor-
gänge, ob sie etwa oberflächlich ist oder in’s Grenzenlose sich ver-
liert, auf die Editionsarbeit zurückwirken muß.
Bei den Vorzügen und Nachteilen beider Methoden werden sie
wol beide in den Actenausgaben der Zukunft ihr Recht behaupten,
und oft werden diejenigen Arbeiten als besonders glücklich erschei-
nen, in denen eine Vermittelung zwischen den Extremen gesucht
wird. Das Quellenwerk, über welches hier zu berichten ist, gehört
zu denjenigen, in welchen das erstgenannte Verfahren in strikter
Observanz befolgt ist —, nicht freilich, ohne daß die Schriftstiicke
selber nach ihrer Natur und dem Zustand, in dem sie gefunden wur-
den, dazu einluden. | |
Im dritten und vierten Jahrzehnt des siebzehnten Jahrhunderts
gab es zwei Staatsmänner, welche durch die riesenhafte Thätigkeit,
die sie in der Leitung der innern und äußern Politik ihres Landes
entfalteten, alle anderen übertrafen: es waren Richelieu in Frank-
reich und Oxenstierna in Schweden. Selbstverständlich muß sich also
in den Schriften, die von ıhnen aus- und bei ihnen eingingen, die
Geschichte ihrer Zeit in reicherem Maße abspiegeln als in irgend
einer andern Correspondenz. Während aber Richelieu mit Vorliebe
diktirte oder seine Gedanken in kurzen mündlichen Anweisungen hin-
warf und weder Zeit noch Neigung zu ausgiebigem privatem Brief-
wechsel fand, schrieb Oxenstierna, besonders so lange Gustav Adolf
lebte, mit eigner Hand eine Unzahl von Concepten in innern und
äußern Regierungssachen, führte eigenhändig Protocoll bei Friedens-
congressen mit Dänemark und Polen, nahm die ganze Correspondenz
mit auswärtigen Agenten auf sich und fand daneben noch Zeit zu
eingehendem Briefwechsel mit seinem König, mit hervorragenden
Generalen und Staatsmännern sowol Schwedens wie des Auslandes.
Und die aus dieser Thätigkeit hervorgegangene Schriftenmasse ist
zum großen Teil auch äußerlich beisammen geblieben. Gleich an-
dern Staatsmännern seiner Zeit sammelte Oxenstierna einen ansehn-
lichen Teil seiner eignen Concepte, sowie der an ihn gerichteten
Briefe nebst Abschriften anderer politischer Acten als einen Fami-
lienschatz, der dann, nachdem er zwei Jahrhunderte lang vererbt,
auch vielfach geschmälert war, im Jahr 1848 vom schwedischen
Reichsarchiv erworben wurde. Es war eine Sammlung, die förmlich
einlud zur Ergänzung aus den Beständen der schwedischen und aus-
wärtigen Archive und zur Aufnahme unter die Publikationen, durch
welche schwedische Gelehrte und wissenschaftliche Anstalten der Ge-
54 Gott, gel. Ang. 1901. Nr. 1.
schichte des 16. und 17. Jahrhunderts so grofe Dienste erwiesen
haben. Durch das Zusammenwirken der Stockholmer Vitterhets-
Academie, welche die Herausgabe übernahm, eines Privatmannes, der
die Geldmittel gewährte, verschiedener Gelehrter, die unter dem
Vorgang des hochverdienten C. G. Styffe sich der Bearbeitung der
einzelnen Teile unterzogen, ist demgemäß auch das vorliegende,
noch unvollendete, aber doch schon auf zwölf Bände gediehene Werk
entstanden. Im ersten Teil enthält es die von Oxenstierna ausge-
gangenen Schriftstücke und Briefe (letztere bisjetzt bis Ende 1627),
im zweiten die an ihn gerichteten Schreiben, zunächst vom König
Gustav Adolf, dann von Staatsmännern und Gesandten, wie Hugo
Grotius, von Feldherrn und Offizieren, wie de la Gardie, Bernhard
von Weimar u. a. Die Schriftstücke werden unverkürzt mitgeteilt,
die eigne Arbeit der Herausgeber liegt vornehmlich in dem Streben
nach Vollständigkeit der zusammengehörigen Stücke!), in correcter
Wiedergabe der Texte *), in Feststellung des Datums und der Autor-
schaft, der Fundorte und etwaigen Drucke der einzelnen Stücke °).
Ein Begriff vom Werte der Sammlung läßt sich am ehesten geben,
wenn man prüft, welchen Gewinn man für die genauere Feststellung
bestimmter Vorgänge aus ihr ziehen kann.
Das Interesse des Forschers wird sich hierbei vor allem der
Person Gustav Adolfs zuwenden. Gegenüber der Masse der sich
unmittelbar um ihn sammelnden Ereignisse greife ich die Frage
heraus: was lernen wir Neues über die Entstehung des Entschlusses
zum deutschen Krieg ?
Bekanntlich ist dieser Entschluß zuerst aus dem schwedisch-pol-
nischen Krieg hervorgegangen, aus dem Bestreben Gustav Adolfs,
diesen Krieg mit den großen Gegensätzen zwischen dem Haus Oester-
1) Von Briefen Oxenstiernas hatte Styffe im Jahr 1896 schon 2000 Stück
außerhalb Schwedens gesammelt. (I 2 Vorr. S. 2.)
2) Manchmal ist die Sorgfalt übertrieben. Wenn z. B. beim Abdruck chiff-
rierter Stellen in Gustav Adolfs Briefen (z. B. II 1 S. 829 fg.) die nichtssagen-
den Ziffern und hinter jeder Ziffer in Klammern der entsprechende Buchstabe
abgedruckt werden, so heißt das den Leser unnützer Weise quälen. — Sinn-
störende Fehler, die mir aufgestoßen sind, lassen sich meist leicht corrigieren
(so ist z. B. in dem Stück I 2 n. 423 S. 788 Z.18 v. u. der Nachsatz »sd vero«
fälschlich durch einen Punkt, 8.740 Z.17 v. u. der beigeordnete Satz »sique ce-
terorum foederatorum quis« sogar durch Punkt und Absatz von dem Vordersatz
getrennt), scheinen auch das Maß des Zulässigen nicht zu überschreiten.
3) Weiter geht der Herausgeber des kürzlich erschienenen dritten Bandes
von Oxenstiernas Briefen (Sam. Clason), indem er über die mit den gedruckten
Stücken inhaltlich zusammenhängenden, nach dem Plan der Edition aber nicht
aufzunehmenden Acten Nachweise giebt.
Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 65
reich und seinen protestantischen Widersachern im Westen, beson-
ders im Reich, zu verflechten. In ihren Grundzügen machen sich
solche Absichten schon in den ersten Jahren des Königs geltend;
aber mit bestimmten Vorschlägen, wie er den Krieg von Polen nach
Deutschland tragen möchte, um hier zugunsten der protestantischen
Stände einzugreifen, tritt er erst im Jahr 1623 hervor, um dann
von derartigen Vorschlägen und Verhandlungen nicht mehr abzu-
lassen, bis der wirkliche Einbruch im Jahr 1630 erfolgt. Gleich für
jene ersten Vorschläge nun ist die neue Sammlung von Wert. Sie
sind niedergelegt in einer Instruction des Königs für Rutgers vom
17. August 1623 und einer zweiten für Gustav Horn vom 10. October
desselben Jahres, beide bestimmt für Verhandlungen mit Prinz Moriz
und den Generalstaaten. Allerdings wurden diese Actenstücke schon
einmal von Schybergson veröffentlicht; aber da die Zeitschrift, in
welcher er sie mitteilte (Bridrag till kaennedom af Finlands natur
och folk, 1881) nicht zu den verbreiteten gehört, so sind sie erst
durch den Wiederabdruck in den Schriften Oxenstiernas (I 2 S. 583,
591) allgemein zugänglich gemacht.
Seinen Grundgedanken nach ging der damals vorgelegte Plan
auf einen doppelten Angriff: gegen die Herzlande des Königreichs
Polen einerseits, und gegen Schlesien und die übrigen böhmischen
Lande des Kaisers anderseits. Den ersten Angriff nahm Gustav
Adolf auf sich, den zweiten dachte er einem aus den Beisteuern der
Staaten, deutscher Fürsten und anderer Gegner des Hauses Oester-
reich aufzubringenden Heere zu. Auf Verlangen war er auch bereit,
dieses zweite Heer selber aufzustellen und zu führen, wenn man ihm
alle dazu nötigen Geldmittel verschaffen wollte, wie er denn auch — so
scheint es wenigstens!) — für seinen Krieg gegen Polen Subsidien
in Anspruch nahm. Als unmittelbarer Zweck des doppelten Krieges
wird aufgestellt: Schutz der Republik der Niederlande und Aufhe-
bung der von den protestantischen Ständen in Deutschland erlittenen
1) In der Instruction für Rutgers wird dieser Anspruch mit klaren Worten
erhoben. (S. 584 unten, ‘postquam igitur’ etc. und ‘etst entm’.) In der Denk-
schrift für Horn heißt es dagegen von dem gegen Polen bestimmten Heer (S. 594
n. 12): 83 its omnibus (copiis) fuerit sumptibus s. r. Mts de armis ceterisque
necessariis abunde prospectum; und an einer andern Stelle (S. 596 n. 19): exer-
citus uterque, et is qui sumptibus regiis colligitur (gegen Polen), et qui pe-
cunia ordinum conscribetur (gegen Schlesien). — Vielleicht hängt der Unterschied
damit zusammen, daß der König, als er im October die Denkschrift für Horn
abfassen ließ, nicht mehr, wie im August, auf die Heere von Halberstadt und
Maasfeld, als verwendbar gegen Schlesien, rechnete und deshalb, da ein ganz
neues Heer für diesen Zweck aufzubringen war (vgl. S. 595 n. 15), die Ansprüche
für sein eignes Heer nicht mehr ausdrücklich geltend machte.
56 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
Verluste, besonders also Rückführung des vertriebenen Pfalzgrafen
in seine Erblande und seine Kur; in weiterer Aussicht steht es, daß
»die Kräfte der Katholiken geschwächt, und sie vielleicht aus vielen
Reichen und Fürstentümern vertrieben werden können< (S. 585, Abs.
exitum horum constliorum).
Wenn man nun fragt, welche besonderen Antriebe, abgesehen
von der allgemeinen politischen Lage’), den Schwedenkönig be-
stimmten, gerade damals mit seinen Vorschlägen herauszukommen»
so gewinnt man aus den neuen Quellen keinen Aufschluß. Aus äl-
teren Publikationen wissen wir nur, daß des Königs Schwager, Pfalz-
graf Johann Casimir, der sich damals in Deutschland aufhielt, ihm
die schlimme Lage der protestantischen Stände vorgestellt, daß fer-
ner Camerarius ihn um schriftliche Verwendung bei den Kurfürsten
ersucht hatte, und daß Rutgers mit seinen Aufträgen zunächst an
Camerarius gewiesen wurde, um mit dessen Rat und Beistand weiter
vorzugehen ?). Von Wichtigkeit ist hier vor allem das Verhältnis
Gustav Adolfs zu Camerarius, dem Manne, der an dem kleinen Hof
des vertriebenen Friedrichs V. die Geschäfte der auswärtigen Politik
leitete: allem Anscheine nach ist das Einvernehmen mit ihm damals,
wie in der Folgezeit, für die Aufstellung und Ausführung der auf
Deutschland gerichteten Entwürfe des schwedischen Königs von Be-
deutung gewesen. Hinsichtlich des Anfanges dieses Einvernehmens
nun wußte man bisher, daß Camerarius seit 1623 einen Jahresgehalt
von Gustav Adolf empfing, für den er, unterstützt durch die Berichte
anderweitiger bezahlter Correspondenten, regelmäßige Nachrichten
über die Vorkommnisse in den europäischen Staaten von Polen bis
nach Italien und Spanien einsandte ®). Die neue Sammlung belehrt
1) Sie ist vornehmlich dadurch bezeichnet, daß Gustav Adolf seit der Erobe-
rung Rigas eine viel stärkere Stellung im Kreis der Ostseemächte gewonnen
hatte, und daß anderseits die Macht des Kaisers und seiner Verbündeten vom
Süden Deutschlands sich nunmebr auch gegen den Norden auszubreiten begann.
2) Gustav Adolf an Johann Casimir, 1623 Aug. 16. (Gustaf Adolfs Skrifter
S. 359.) Oxenstierna an Camerarius, Sept. 16. (Moser, patriot. Archiv V S. 29.
In der neuen Publikation I 2 S. 588.) Dazu Eingang der Instruction für
Rutgers.
8) Im Jahr 1628 erhielt er 400 R.Thaler als Gehalt und 200 R.Thaler zur
Bezahlung seiner italienischen und polnischen Correspondenten. (Oxenstierna an
Camerar., Juni 17, Sept. 16. Moser V 8. 25, 29. Oxenstiernas Skrifter I 2
8. 571, 588.) Im Jahr 1624 und 1625 beträgt der Gehalt 600, der Zuschuß für
die Correspondenten 800 R.Thaler (Oxenst. 1624 Sept. 28, Oct. 31. 1625 Nov.
20. Moser V S. 57, 68/9, VI 8. 68.) — Neben Camerarius bot Rusdorf seine
Dienste als Correspondent an, welche Oxenstierna am 4. Oct. 1624 annahm.
(Skrifter I 2 S. 7. Vgl. Rusdorf an Oxenst., 1624 Dez. 20. Mém. de Rusdorf I
Rikskansleren Axe) Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 87
uns, daß die schwedische Bestallung viel älter ist: bereits im Ja-
nuar 1620 ist dem Camerarius die Jahrespension >gleichsam asse-
curiert<, im Juli 1620 eröffnet Oxenstierna die Correspondenz mit
ihm, und fürs Jahr 1621 finde ich den ersten Beleg für die Zah-
lung des Gehaltes'). — Also die Vorschläge, mit denen Gustav
Adolf im Herbst 1623 hervortrat, sind neben andern Motiven auch
aus seinen um drei Jahre zurückreichenden, ununterbrochenen Be-
ziehungen zu der pfälzischen Regierung zu erklären.
Das Scheitern dieser ersten Vorschläge hielt Gustav Adolf nicht
ab, ein Jahr später, im September 1624, mit verwandten, aber noch
kühner entworfenen Plänen hervorzutreten. Es war die Zeit, da
der Eintritt Englands in eine kriegerische, zunächst gegen den Kai-
ser und die Liga gerichtete Politik alle Feinde des Hauses Oestreich
und seiner Verbündeten mit neuem Mut erfüllte, und die Blicke der-
jenigen, die für ein großes Unternehmen gegen diese Mächte einen
Führer suchten, sich wie von selber auf den schwedischen König
richteten. Von zwei Seiten sah sich denn auch Gustav Adolf zur
Führerschaft eines derartigen Unternehmens eingeladen: vom Prin-
zen von Wales und Friedrich V., deren Beauftragter Jakob Spens
am 13. August ?) bei ihm eintraf, und von Kurbrandenburg, dessen
Gesandter Christian von Bellin sich im folgenden Monat einfand.
Ueber die Anträge der Gesandten und die Antworten des Königs
sind wir vornehmlich durch mehrere Schreiben Oxenstiernas an Ca-
merarius — sie fallen in die Zeit vom 3. September bis 18. Dezem-
ber — und die nur bruchstücksweise bekannte Relation Bellins vom
23. October °) unterrichtet. Da in diesen Schriftsücken über die ge-
wechselten Vorschläge und Entschließungen eben nur berichtet wird,
so kommt daneben einer von Gustav Adolf dem Spens übergebenen
Denkschrift, als dem directen Ausdruck der Entschließungen des
Königs, hervorragende Bedeutung zu. Diese aber wurde zuerst in
einer von Spens gefertigten englischen Uebersetzung von Gardiner
(Camden Society 1875. Miscellany vol. VII S. 85) veröffentlicht ;
S. 6.) — Ein anderer Correspondent in Deutschland war der brandenburgische
Rat Bellin, und zwar schon »lange« vor Herbst 1624 (Schybergson, Underhand-
lingerna om en evangelisk allians 1624/25 (Helsingfors 1880) S. 42 Anm. 12.) —
In den Niederlanden zog Heinsius einen schwedischen Gehalt. (Oxenst. an Rut-
gers, 1623 Oct. 19. Skrifter I 2 S. 594.)
1) Camerarius an den Pfgr. Joh. Casimir, 1620 Jan. 18 (1 2 S. 373 Anm.)
Oxenstierna an Rutgers, Juli 25. (S. 387.) (Derselbe an Camerarius, 1622 Juli
13. (S. 471/2.)
2) Rusdorf, 1624 Sept. 28. (Mon. pietatis n. 26 S. 331.)
8) Mitteilungen daraus bei Schybergson, evangel. allians S. 43 fg.
58 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
jetzt, in unserer Sammlung, erscheint sie nach Oxenstiernas lateini-
schem Concept ').
Drei Fragen drängen sich dem Inhalt dieser Actenstücke gegen-
über auf: 1. wie entstanden und worauf zielten die Anträge des
Prinzen von Wales und des pfälzischen Kurfürsten? 2. wie ist es
mit dem brandenburgischen Antrag bewandt? 3. wie sind die Ent-
schließungen Gustav Adolfs auf jene Anträge zu verstehen ?
Im allgemeinen ist die erste Frage leicht zu beantworten. Prinz
Karl, unzufrieden mit seines Vaters schwankendem Vorgehen, eröff-
nete sich den Einwirkungen der pfälzischen Diplomaten, und so kam
es, daß er und Friedrich V. jenem Gesandten Spens, den Jakob mit
unbestimmter gehaltenen Vorschlägen an den König Gustav Adolf
schickte, im eignen Namen besondere, natürlich tief geheime Auf-
träge mitgaben. Der König wurde kraft dieser Aufträge eingeladen,
den Kaiser in Schlesien anzugreifen, und ihm dabei eine monatliche
Beisteuer von 20000 Pfund Sterling versprochen ?). Man sieht gleich,
daß hiermit dasjenige aufgegriffen wird, was Gustav Adolf selber
ein Jahr vorher angeboten hatte; aber fragen muß man sofort, wo-
her denn der Prinz, der keine Herrschaft besaß, und der Prätendent,
der seine Lande verloren hatte, die zugesagten Subsidien nehmen
wollten? Vielleicht liegt ein Hinweis auf die richtige Antwort in
der genau bestimmten Summe von 20000 Pfund monatlich. Das war
der Betrag, welchen Jakob I. in den Abmachungen, die er im April
und Mai 1624 mit Mansfeld traf‘), diesem General auf sechs Mo-
1) Das Concept geht noch von der Auffassung aus, daß des Königs Ent-
schließungen dem Pr. Wales und Friedrich V. zur Annahme vorzulegen sind.
Nach dem von Spens übersetzten Original soll König Jakob für dieselben ge-
wonnen werden.
2) Menstrua pecunia: Rusdorf an Camerarius, 1624 Oct. (Monumenta pie-
tatis 8. 358 n. 30.) 20000 pfund st.: Rydfors, diplomatiska forbindelserna mel-
lan Sverige och England 1624—30 (Upsala 1890) S. 20. Cronholm, Gustav Adolf
V 18S. 848.
8) Nach Gardiner (Hist. of England 1603—1642, V S. 223 A. 1) waren die
Abmachungen niedergelegt in engagements von Mansfeld, 1624 April 28., und
einer declaration Jakobs vom 5. Mai. Dem ersten Astenstück dürfte der bei
Villermont II S. 230 abgedruckte undatierte Revers Mansfelds entsprechen. —
Nach Rusdorf waren Jakobs Entschließungen niedergelegt in einer commission
ou accord, und den accord erhielt Mansfeld mit des Königs Unterschrift, als er
eben von London abgereist war und sich in Dover befand (Mém. I S. 289 fg.,
298.) Da Mansfeld am 5. Mai von London abreiste (a.a.0. S. 289), so stimmt
das Datum, das Rusdorf für den accord giebt, mit demjenigen, welches Gardiner
für die sog. declaration giebt. — Außerdem erwähnt Effiat, 1624 Oct. 6., noch
ein dem Mansfeld von Jakob erteiltes Patent vom 27. April (a. St.?) 1624 (Siri V
Rikskansleren Axe] Oxenstiernas skrifter och brefvezling. 59
nate zugesagt hatte!), gegen die Verpflichtung, eine Armee von
10000 Mann z. F. und 3000 z. Pf. aufzustellen, und unter der Be-
dingung, daß Frankreich mit seinen Verbündeten Savoyen und Ve-
nedig ihm die Mittel zur Aufstellung einer gleichen Streitmacht
gewährten, wobei denn auch, mit Rücksicht auf das Zusammenwir-
ken und die verschiedenen Zwecke Englands und Frankreichs, die
Restitution einerseits Friedrichs V. anderseits des Veltlin als Mans-
felds Aufgabe hingestellt wurde”). Nun waren diese Abmachungen
ohne Befragung der Pfälzer und im Grunde auch gegen ihre Wün-
sche getroffen ®).. Rusdorf, der Agent Friedrichs V. am englischen
Hof, sah den Verhandlungen darüber, wenigstens anfangs, mit ent-
schiedenem Mißtrauen gegen Mansfeld zu‘), und Camerarius, der
Leiter der pfälzischen Politik, bewahrte dieses Mißtauen auch nach
den geschlossenen Vereinbarungen: er gründete es auf Mansfelds
Abhängigkeit von den unbekannten Zielen der französischen Politik
und seine Untreue in der Verwaltung fremder Gelder’). Diese Un-
gunst der Pfälzer hätte Mansfeld nun freilich tragen können; aber
wie er von England nach Frankreich zog, um den König Ludwig
nebst seinen Verbündeten für die ihnen zugedachten Leistungen zu
gewinnen, scheint sich eine ähnliche Stimmung der Leiter der eng-
lischen Politik bemächtigt zu haben, d. h. des aus dem Prinzen von
Wales, dem Herzog von Buckingham und dem Staatssecretär Conway
bestehenden Triumvirates, welches damals die Maßregeln einer krie-
gerischen antiösterreichischen Politik allein erwog und entschied ®).
S. 680.) Sollte dieses der von Rusdorf erwähnten, scheinbar mit dem accord
identificierten commission entsprechen ?
1) Nach Rusdorf (Mém. I S. 291) wäre die Höhe der Summe in dem schrift-
lichen accord nicht angegeben gewesen, habe aber 20000 pfund st. durant six
mois de suite betragen. Diese Ziffer wird in den weitern Verhandlungen und
Acten über jeden Zweifel erhoben.
2) Le recouvrement du Palatinat et de la Valtelline. (Revers bei Villermont
II 230.) Recovery and recuperation of the Palatinate and the Valtelline. (Gar-
diner V 223.)
3) Beschwerden Rusdorfs darüber nach seinem Bericht 1624 Mai 6. (Mem. I
S. 290.)
4) Daß es sich gelegt habe, bemerkt er in dem Schreiben an Camerarius
vom 6. Mai. (Mon. pietatis II n. 20.) Argwohn, daß Mansfeld als französischer
Kundschafter diene, in dem Schreiben an dens. vom 25. April (n. 17.)
5) So schreibt er 1624 Juni 4. an Rusdorf (Coll. Cam. 25): herus pecuniam
dart Mansfeldio, antequam de mente et consiliis regis Galliae constaret, rem pers-
culs plenam esse censet, — et hoc verum est. Nisi etiam illi in re rem pecunia-
riam concernente fidi homines adiungantur, mox de tota pecuniae summa actum
erit. — Vgl. seine Schreiben vom 21. Aug. und 8. Oct. bei Soltl S. 192, 194.
6) Darüber Conways Aeußerung bei Rusdorf, mem. I 8. 425. Vgl. die Mit-
60 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
Ein Vorgang im Monat August und September weist darauf hin.
Damals schien es jenen Männern, als ob die Bewerbungen Mansfelds
um französische Beisteuern nicht zum Ziel führen sollten, woraus
sie den Schluß zogen, daß alsdann auch die englischen Zusagen hin-
fällig seien'). Rasch bei der Hand, sprang darauf der pfälzische
Gesandte mit dem Vorschlag ein, die dem Mansfeld versprochenen .
Gelder seinem Kurfürsten zuzuwenden und für einen unter dessen
Führung zu unternehmenden Kriegszug zu bestimmen; und so wirk-
sam war dieser Vorschlag, daß Conway in den ersten Tagen des
September dem Gesandten sagen konnte: »>wir (d. h. Wales, Buk-
kingham und Conway) hoffen dem König die Zustimmung abzuge-
winnen, daß die für die Ausführung von Mansfelds Auftrag be-
stimmten Gelder alsbald verwandt werden, um ein Truppencorps auf-
zustellen und nach Deutschland überzuführen, über welches die Ver-
fügung eurem Herren zufällt *)<.
Indeß kaum waren diese Worte gesprochen, als Nachrichten aus
Frankreich eintrafen, welche sie, wie Conway alsbald bemerkte °),
durchkreuzten. Die Verhandlungen Mansfelds gewannen nämlich eine
günstigere Wendung und führten am 5. September zu einem aller-
dings ziemlich formlosen Abkommen, infolge dessen für Mansfeld
auch französische Monatsgelder im Betrag von 180000 Livres auf
sechs Monate gesichert schienen). Als diese Entscheidung in Eng-
teilung des Erzb. Canterbury, daß die Abmachung mit Mansfeld ohne Wissen
des geh. Rates durch eine, höchstens zwei Personen (Buckingham und Conway)
erwirkt sei. (Vosbergen, verbaal etc. in Werken van het Histor. Genootschap
XS. 44.)
1) que sa commission ira en fumée, sagt Conway am 10. Aug. 1624. (Rus-
dorf I S. 334.) Unter commission versteht er den mit englischen Hülfsgeldern
auszuführenden kriegerischen Auftrag. Vgl. S. 346: deniers destines pour Texécu-
tion de la commission donnée au c. de Mansfeld.
2) Rusdorf, 1624 Aug. 23., Sept. 8, 21. (Mem. I S. 335, 346, 364.) Vgl.
Camerarius an Rusdorf, Aug. 21. (Söltl III S. 192.)
8) In dem angef. Bericht Rusdorfs vom 8. Sept., S. 347.
4) Die einzige schriftliche Verpflichtung, welche hierbei ausgefertigt wurde,
war ein Revers Mansfelds vom 5. Sept., in dem er sich verpflichtete, gegen Mo-
natssubsidien von 120000 Ecus (360000 L.), welche Frankreich, Venedig, Savoyen
zu zahlen hatten, 10000 Mann z. F, und 3000 z. Pf. aufzustellen. (Goll, Die
französische Heirat 'S. 88 n. 18. Valaresso, 1624 Oct. 4., bei Siri V 8. 679.)
Daneben ging eine Vereinbarung zwischen der französischen Regierung und den
Gesandten von Venedig und Savoyen über Zahlung und Verteilung der genannten
Subsidien. (Siri S. 639, 668. Daß die Vereinbarung nicht in der Form einer
schriftlichen Verpflichtung festgesetzt wurde, bestätigt Rusdorf, 1624 Oct. 8.,
Mém. I S. 874, und Valaresso, Oct. 4., a. a. 0.) Die auf Venedig und Savoyen
Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 61
land kund wurde, glaubte die Regierung Jakobs I. sich zur Erfül-
lung ihres gegebenen Wortes verpflichtet. Mit Hülfe der seit Octo-
ber eingehenden englischen!) und seit Dezember hinzukommenden
französischeu ?) Teilzahlungen begann Mansfeld im October 1624 um-
fassende Werbungen in Frankreich, in England und in der Umge-
gend von Hamburg und Bremen. Der Plan, die für ihn bestimmten
englischen Gelder andern Zwecken zuzuführen, schien also mißlungen
zu sein. Aber es schien doch nur so. Denn schon am 14. oder
kurz vor dem 14. September entwickelte Conway dem pfälzischen
Agenten Rusdorf den Gedanken, daß es für England darauf an-
komme, Frankreich in die Unterstützung Mansfelds zu verwickeln,
um dann die eignen Hülfsgelder nach sechs, wenn nicht schon nach
drei Monaten dem vorher bezeichneten Zwecke zuzuwenden —, einen
Gedanken, den Rusdorf natürlich zu verfolgen beschloß °).
Wenn man nun mit diesen Vorgängen die Daten der schwedi-
schen Verhandlung vergleicht — daß Spens am 16. Juni abgefertigt
wurde, nachdem Mansfeld am 5. Mai von England nach Frankreich
gezogen war, daß Spens die geheimen Anträge an Gustav Adolf in
der zweiten Hälfte des Monats August stellte, während in England
die Zweifel, ob das Mansfeldische Unternehmen ins Leben treten
werde, gerade auf den Höhepunkt gekommen waren, daß endlich,
als die Nachrichten über die Verrichtungen des Spens in England
geschobenen Summen wurden hinterher nicht erlegt (vgl. u. a. Lomenie an Ville-
aux-Clercs, 1625 Jan. 4., bei Siri V S. 770, ferner die Aeußerungen Wakes 1624
Aug., bei Roe, negotiations S. 675), sodaß nur die französische Quote von 180000 L.
wirkliche Bedeutung gewann. Sie war auf sechs Monate bewilligt (u.a. Ludwigs
Instr. für Ville-aux- Clercs, 1624 Nov. 27., Richelieu, lettres II S. 41). Als
Zweck wurde ursprüglich aufgestellt: la recuperazione della liberta de’ Grigions
e restituzione della Valtellina. (Vallaresso in dem angef. Bericht.) Wie dann die
Politik Richelieus in trugvollen Wendungen bald diesen Zweck, bald den der
Restitution des Pfalzgrafen, endlich den der Unterstützung der Staaten zum Ent-
satz Bredas vorschob, ist hier nicht darzulegen.
1) Erste Zahlung: Rusdorf, 1624 Oct. 16. (Mém. I S, 881.) Bis März 1625
80000 Pfund st. gezahlt (a. a. O. S. 521.)
2) Erste Zahlung von 1624 Dez. 24. (Rusdorf, Mém. I 8. 405.) Ueber wei-
tere Zahlungen bis März 1625: Villermont II S. 288, 293. — Zugleich stellte
Jakob einen neuen Auftrag an Mansfeld aus (Nov. 17.), nach dem er die in Eng-
land geworbenen Truppen für die Wiedergewinnung der Pfalz, unter Vermeidung
jeder Feindseligkeit gegen Spanien und die spanischen Niederlande zu verwenden
hatte. (Rusdorf, Mém. I 8. 392.)
8) Rusdorf an Friedrich V., 1624 Sept. 14. (Mém. I 8. 862.) Derselbe an
Camerarius, Sept. 24., 28. (Mon. pietatis n. 25, 26.) Nur nebenbei will ich be-
merken, daß der listenreiche Mansfeld gelegentlich auch selber dem Rusdorf eine
derartige Vertröstung machte. (Rusdorf, 1624 Oct. 5. Mon. piet, n. 27 8, 383.)
62 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
eintrafen, zwar Mansfeld mit seinen Werbungen voranschreiten konnte,
auf die ihm bewilligten Gelder aber die Pfälzer und die Partei des
Prinzen von Wales noch immer ihre begehrlichen Blicke richteten,
so liegt die Vermutung nahe, daß die dem Mansfeld so abgeneigten
Pfälzer, und auf ihren Antrieb der Prinz von Wales hinsichtlich der
Mittel für die Ausführung ihrer Pläne auf dieselben Gelder rech-
neten, welche man dem Grafen von Mansfeld in Aussicht gestellt
hatte.
Allerdings erheben sich gegen diese Vermutung gewichtige Be-
denken. Von vornherein scheint ihr der Umstand zu widersprechen,
daß ja nicht von einer Uebertragung der Mansfeldischen Subsidien
auf Gustav Adolf, sondern auf den pfälzischen Kurfürsten die Rede
ist. Nimmt man, um diesen Widerspruch zu heben, eine Fassung
des Projectes an, nach welcher von den Hülfsgeldern ein Truppen-
corps aufgestellt und unter Friedrichs Commando dem schwedischen
König zugeführt werden sollte, so tritt alsbald eine andere Schwie-
rigkeit hervor. Wenn man die Besprechungen zwischen Conway und
Rusdorf genauer verfolgt, so bemerkt man, daß hier als die
Aufgabe des dem Pfalzgrafen anzuvertrauenden Heeres nicht ein Zug
nach Schlesien und die Verbindung mit Gustav Adolf, sondern ein
Einbruch ins Westfälische zur gleichzeitigen Bedrohung Tillys und
zur Deckung der Niederlande aufgestellt wird. Es war ein Gedanke,
dessen Autorschaft Conway für sich in Anspruch nahm, und den er
schon vor der Anknüpfung Jakobs mit Mansfeld gehegt haben
wollte’), und immerhin kam er auch der pfälzischen Regierung so
beachtenswert vor, daß Camerarius darüber kurz vor dem 12. Octo-
ber mit Prinz Moriz eine Unterredung hielt ?). Offenbar, wenn die-
ser Gedanke die Politik der Pfälzer und des Prinzen von Wales
damals klar und stetig beherrschte, so kann bei den dem schwedi-
schen König gemachten Vorschlägen an eine Uebertragung der Mans-
feldischen Subsidien nicht gedacht sein. Indeß, so weit es sich um
die pfälzische Politik handelt, ist nicht zu vergessen, daß sie we-
der klar noch stetig, sondern ein verwegenes Glücksspiel mit allen
sich darbietenden Gelegenheiten war. Wollen wir daher die wahren
Absichten der Pfälzer erfassen , so müssen wir in deren Geschichte
etwas weiter als bisher zurückgehen.
Ein Mittelglied zwischen den Anerbietungen, die Gustav Adolf
1) Rusdorf, Sept. 14 (Mém. I S. 359): avant que le c. de Mansfeld vint en
Angleterre. Also vor dem 24. April 1624 (a.a. 0. 8.281). Als proposita a d.
secretario Convayo bezeichnet auch Camerarius diese Vorschläge in dem Schrei-
ben (s. folgende Anm.) vom 12. Oct.
2) Camerarius an Rusdorf, 1624 Oct. 12. (Coll. Cam. 25. Vgl. Böltl III 196.)
Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 63
im August 1623 an die Generalstaaten richtete, und den Anträgen,
mit denen im Herbst 1624 Spens und Bellin an ihn herantraten,
bilden Besprechungen, welche Camerarius bei einer in den letzten
Monaten des Jahrs 1623 vollführten Reise nach Schweden mit Gustav
Adolf und Oxenstierna führte!). Sie bezogen sich auf den als un-
vermeidlich *) angesehenen Neuausbruch des polnisch - schwedischen
Krieges, und indem man nun abermals mit der Absicht dieses Krieges
den Plan eines gegen Schlesien und Böhmen zu führenden Angriffes
verband °), wurde zugleich — das war das Neue dabei — dem pfäl-
zischen Kurfürsten eine unmittelbare Beteiligung zugedacht. Er
selbst, meinte Gustav Adolf, sollte mit einem kleinen Heer an den
Grenzen Schlesiens erscheinen *), um dann mit der schwedischen Ar-
mee in Polen und dem, wie man weiter rechnete, gegen Ungarn los-
brechenden Bethlen Gabor zusammenzuwirken °). Die Mittel für das
dem Pfälzer zugedachte Unternehmen mußten natürlich durch fremde
Beisteuern aufgebracht werden, und selbstverständlich war es, daß
man dabei vor allem auf das Geld des englischen Königs rechnete ®).
Als Zweck wurde, indem man wieder geradeswegs in die ausschwei-
fenden Bahnen der früheren pfälzischen Politik einlenkte, die Rück-
führung Friedrichs V. auf den böhmischen Thron aufgestellt.
1) Er reiste vom Haag ab am 13. Sept. 1623, um Gustav Adolf als Paten
für Friedrichs neugeborenen Sohn (Prinz Ludwig? geb. und gest. 1623, Häusser
II 8.518 A.) zu erbitten, und traf im Haag wieder ein am 13. Dez. (an Rusdorf,
1623 Sept. 12., Dez. 14. Coll. Cam. 25.) — Zu den Gegenständen, über welche
unterhandelt wurde, gehörte auch die Frage des eventuellen Nachfolgers des
Rutgers in der Stelle eines schwedischen Agenten bei den Generalstaaten. Nach
Rutgers’ Tod erinnerte Camerarius den Oxenstierna an sein ibm in dieser Bezie-
hung gegebnes Versprechen (an Oxenst., 1625 Dez. 5., 1626 April 9. Schy-
bergson, Sveriges och Hollands diplomatiska förlindelser S. 517, 353.)
2) nist pax cum rege Poloniae coit, quod tamen videtur &ddvaroy (an Rus-
dorf, 1624 Jan. 13. Coll. Cam. 25).
8) Camerarius an Rusdorf, 1625 April 2: propositum regis Sueciae versus
Stlesiam ducends exercitum (wie es mit Spens und Bellin im Herbst 1624 verhan-
delt wurde) miht tam dudum factum fuerat, cum ego fut apud illum regem (a.a.0.)
4) Camerarius an Rusdorf, 1624 Febr. 24: (rex Sueciae), s¢ aliquando rex
Bohemiue cum exiguo exercitu ad fines Silesiae pervenire posset, et fortuna ill
contra regem Poloniae favorabilis foret, procul dubio regem Bohemiae vel in ipsam
Bohemiam restituturus esset (a.a. QO.)
6) Camerarius an Rusdorf, 1624 März 16: wenn das Parlament Friedrich V.
15—20000 M. unterhielte, facslis . . recuperatio vel ipsius Bohemiae futura esset,
Gabore ex una parte imperatori, rege Sueciae ex altera parte Polonis negotium fa-
cessentibus (2.2. 0.)
6) Derselbe an dens., 1624 Jan. 13: (rex Sueciae) ausurus esset restitutionem
nostrs in Bohemiam .., si spem saltem aliquam videret melioris mentis in rege
Angliae. Vgl. Söltl U} 8. 186,
64 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
Sowie das neue Project vereinbart war, beeilte sich Camerarius,
es durch den pfälzischen Agenten Rusdorf am englischen Hofe be-
fürworten zu lassen. Ueber die hierbei beobachte Vorsicht schreibt
er später (15. Dezember 1625) einmal an denselben Rusdorf: »der
König von Böhmen konnte Dir keinen Auftrag über diese Dinge er-
teilen, und auch meine Meinung war es nie, daß sie dem König
Jakob von Dir vorgetragen werden sollten, sondern nur, daß die
Ratgeber zeitig und vorsorglich unterrichtet würden, damit sie, falls
die sehnlich erwünschte Aussicht zur Wiedergewinnung des König-
reichs Böhmen sich böte, dieselbe nicht aus der Hand lieZen<. Die
hier erwähnten Ratgeber waren, wie wir anderweitig erfahren !), die
Vertrauten des Prinzen von Wales und natürlich auch der Prinz
selber.
Fassen wir nun die parallele Entwickelung dieses und des Mans-
feldischen Unternehmens ins Auge, so ergiebt sich zunächst: das
pfälzisch-schwedische Project war fertig, bevor Mansfeld mit seinen
Anträgen an den König Jakob trat. Da nun diese letzteren englische
Hülfsgelder erforderten, welche man dem erstern zuwenden wollte,
so ist die oben erwähnte Mißgunst, welche die Pfälzer den Mans-
feldischen - Wünschen entgegenbrachten, sehr begreiflich. Weiter:
auch nachdem Jakob seine vorläufigen Vereinbarungen mit Mansfeld
geschlossen hatte, hielt der Leiter der pfälzischen Politik an seinem
Plane fest; schreibt doch Camerarius am 21. August 1624 an Rus-
dorf: Gutes sei nur zu hoffen, wenn die Mansfeldischen Monatsgelder
auf Friedrich V. übertragen würden, und dieser mit einem kleinen
Heer sich Schlesien nähern könnte ?). Bei diesem Gegensatz und
dem Verlangen nach Uebertragung der Mansfeldischen Hülfsgelder
auf das schlesische Unternehmen ist es wiederum begreiflich, wes-
halb die Pfälzer in der Zeit, da die Ausführung der Vereinbarung
mit Mansfeld ungewiß wurde, so rücksichtslos für ihre Nichtaus-
führung eintraten, und nicht minder nahe liegt es, daß, wenn
Camerarius und Rusdorf im Verlauf dieser Verhandlungen auf die
Conway’sche Absicht, den Krieg statt nach Schlesien nach Westfalen
zu spielen, eingingen, dieses nur geschah, um, falls das eine Ziel
1) Rydfors, de diplomatiska förbindelserna mellan Sverige och England 1624/30
(Upsala 1890) S. 17, 18, wol nach Bellins Relation. — Nach einer Aeußerung
des Camerarius (an Rusdorf, 1625 April 2: scit Bellinius non a nobis exortum
negotium, sed cum ipse fuit (nicht: fut) in Suecia) fand sich übrigens Ende 1623
zugleich mit ihm, und als Mitwisser der betreffenden Verhandlungen, auch Bellin
am schwedischen Hofe, was denn fir die Entstehung der Gesandtschaft Bellins
vom Herbst 1624 weitere Perspectiven eröffnet.
2) Solel III 8. 192.
Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 65
nicht zu erreichen war, das andere nicht aus der Hand zu lassen’).
Endlich: auch nachdem England sich wieder zur Erfüllung der dem
Mansfeld gegebnen Zusagen gewandt hatte, setzte Camerarius noch
immer sein ausschließliches Vertrauen auf den pfälzisch-schwedischen
Plan, nur daß er jetzt dessen weitere Fassung annahm, die er durch
Gustav Adolfs Resolutionen an Spens und Bellin erhalten hatte.
Und wie sehr er auch jetzt noch für die Ausführung des Plans auf
die Mansfeldischen Hülfsgelder und auf jene Vertröstung Conways,
daß die englischen Zahlungen an Mansfeld ja in einigen Monaten
eingestellt werden dürften, rechnete, ersieht man daraus, daß er das
schwedische Unternehmen als eine Fortsetzung der Unterstützung
des in spätestens sechs Monaten zu Ende gehenden Mansfeldischen
Vorstoßes auffaßte ?).
Nach alledem dürfte sich die geheime Werbung des Spens bei
Gustav Adolf und die sich daran schließenden Verhandlungen, so
weit die Absichten der Pfälzer maßgebend waren, folgendermaßen
erklären: die Anträge des Gesandten fußten auf einer vorhergehen-
den Verständigung zwischen Gustav Adolf und Camerarius, kraft
deren Friedrich V. im Zusammenhang mit einem großen Krieg des
Schwedenkönigs gegen Polen einen Angriff gegen Schlesien unter-
nehmen, im Verfolg des Krieges sich der böhmischen Krone wieder
bemächtigen und die Mittel dieses Unternehmens in erster Linie aus
englischen Hülfsgeldern bestreiten sollte. Als eine Durchkreuzung
dieser Absichten wurde es empfunden, daß Mansfeld nach jener Ver-
ständigung und vor Spens’ Gesandtschaft für seine besondern Ent-
würfe einen Anspruch auf die Casse Jakobs I. gewann. Man hoffte
jedoch, als Spens seine Aufträge erhielt, und die an daran sich
anschließenden Verhandlungen in Gang kamen, das Hindernis zu
überwinden, indem man die für Mansfeld bestimmten Gelder alsbald
1) In diesem Sinn spricht er am 29. November 1624 sogar den Wunsch aus,
daß rex Bohemiae posstt tpse adesse in hoc bello Mansfeldico. Vgl. Söltl II
8. 196.
2) Rusdorf hatte des Camerarius Mitteilungen dahin verstanden, daß dem
Mansfeld die Gelder zugunsten des neuen Unternehmens einfach entzogen wer-
den sollten. Auf seine Einwendungen (1624 Oct. und Dez. 9, 12. Mon. pietatis
n. 30, 31, 32) entgegnet Camerarius 1624 Dez. 30.: tecum sentio, promovendam
prius Mansfeldii diversionem et continuationis loco tandem hunc novum modum
proponendum esse. Sodann 1625 Jan. 23: über das praeclarum consilium regis
Sweciae ist nicht vor Mansfelds Abreise aus England zu handeln. Aber cum comis-
sio silts (Mansfeldio) a regibus Galliae et Angliae data tantum in sex menses
concepta sit, de continuatione tempestive nobis cogitandum existimavs. (Coll.
Cam. 25).
Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 1, 5
66 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
oder nach kurzem Genuß auf das pfälzisch-schwedische Unternehmen
übertrüge.
Wenn nun dieses die pfälzischen Absichten waren, so bleibt
die Frage übrig, ob der Prinz von Wales, der seinen Namen bei
Spens’ geheimer Werbung ja ebenfalls hergab, sie völlig teilte.
Hierauf wird man in Ermangelung bestimmter Zeugnisse nur sagen
können : es liegt kein Grund vor, einen Zwiespalt zwischen dem
Prinzen und dem Pfalzgrafen anzunehmen. Wenn wir aber die
Uebereinstimmung beider Männer voraussetzen dürfen und wenn die
bisher ausgeführten Vermutungen sich bewähren, so wäre hiermit
die erste der oben (S. 58) aufgestellten Fragen beantwortet.
Schwieriger wird es sein, die zweite Frage, wie es kam, daß
dem pfälzisch - englischen Beauftragten der brandenburgische Ge-
sandte Bellin folgte, und welche Aufträge ihm eigentlich mitge-
geben wurden, befriedigend zu lösen. Unzweifelhaft sind der Sen-
dung Bellins in dem geheimen Rate des Kurfürsten Auseinander-
setzungen zwischen den Tendenzen einer kaiserfreundlichen und einer
kaiserfeindlichen Politik, von denen die letztere durch die Mehrheit,
die erstere aber durch den mächtigsten Mann des Collegiums, den
Grafen von Schwarzenberg '), vertreten wurden, vorausgegangen, un-
zweifelhaft hat zeitweilig auch die kaiserfeindliche Richtung so voll-
ständig gesiegt, daß Schwarzenberg selber sich fügte und die neuen
Pläne, die man bei der Aussendung Bellins verfolgte, zu befördern
versprach *). Schwieriger wird die Sache schon, wenn man nach den
speziellen Anlässen der Absendung Bellins forscht. Seine Instruction
— 9. August 1624 — fällt in die Zeit nach der Werbung eines
französischen Agenten namens Marescot und vor dem Eintreffen des
englischen Gesandten Anstruther, beide abgeschickt, um den bran-
denburgischen Kurfürsten gleich andern protestantischen Fürsten und
Ständen Norddeutschlands zum Widerstand gegen Kaiser und Liga
anzutreiben. Ausdrücklich werden denn auch die Vorstellungen
Marescots als Anlaß von Bellins Sendung in seiner Instruction be-
1) In meiner deutschen Geschichte habe ich darauf hingewiesen, daß die
katholische Gesinnung Schwarzenbergs sehr lau war (II S. 401; dazu jetzt
das in viel spätere Zeit — 1630 Jan. 11 — gehörige gleichartige Zeugnis des
Cölner Nuntius bei Kiewning, Nuntiaturberichte II S. 295 A. 5), und daß er in
den Zeiten des Regensburger Fürstentags sich nichts weniger als kaiserfreund-
lich zeigte (III S. 285 A. 2). Erste Zeugnisse für seine kaiserfreundliche Po-
litik : von Gustav Adolf, 1628 Sept. 4. (Skrifter S. 362), von den Staaten, 1624
Nov. (Aitzema I S. 466.)
2) Schybergson, ev. allians S. 50 Anm. 23.
Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 67
zeichnet. Allein diese Instruction weist Bellin noch nicht an Schwe-
den, sondern zunächst an den König von Dänemark !); ihr Inhalt ist
allgemein gehalten, und allgemein, keine Verpflichtung in sich
schließend, fiel auch der Bescheid aus, den Christian IV. erteilte.
Bedeutsam wurde Bellins Gesandtschaft erst, als er nun weiter nach
Schweden reiste. Fragt man aber, welche Instructionen er für seine
Verhandlungen mit Gustav Adolf erhielt, und welchen Einfluß etwa
die inzwischen (August/September?)) von Anstruther in Berlin vor-
gebrachten Aufträge auf seine Instruction ausübten, so giebt die
bisherige Forschung keine Antwort. Wir sind lediglich auf die Nach-
richten über die in Stockholm von ihm geführten Verhandlungen ge-
wiesen. Auf diese aber können wir nicht eingehen, ohne zugleich
der dritten oben gestellten Frage näher zu treten, wie es nämlich
mit den Entschließungen Gustav Adolfs auf die Anträge, welche
erst der von England, dann der von Brandenburg kommende Gesandte
ihm vortrugen, bewandt war.
Den Ausgang für die bisherigen Entwürfe des schwedischen
Königs bildete sein Verhältnis zu Polen; dieses aber war bestimmt
durch einen Krieg, der noch unausgleichbar schien und nur seit dem
Sommer 1622 durch kurz befristete Waffenstillstände unterbrochen
war’). Der letzte Stillstand lief bis zum 1. Juni 1625 (a. St.), war
jedoch mit dem Zusatz beschlossen, daß er, wenn nicht spätestens
am vorausgehenden 31. März (a. St.) die Aufkündigung dem feind-
lichen Feldherrn angezeigt werde, noch auf ein weiteres Jahr
dauern solle. Diese Verlängerung nun war Gustav Adolf entschlos-
sen, nicht zu bewilligen: er verlangte entweder definitiven Frieden
oder auch einen dem Frieden nahe kommenden vieljährigen Waffen-
stillstand, oder aber neuen Krieg. Da man umgekehrt auf polnischer
Seite den Frieden, der ja nur durch Verzicht des Königs Sigis-
mund auf die schwedische Krone und mindestens den besten Teil
der von Schweden eroberten Ostseelande zu erkaufen war, verwarf,
dagegen gerade die Verlängerung der kurzen Waffenstillstande drin-
gend wünschte, so schien die Verständigung ausgeschlossen, und
1) Opel II S. 64 Anm.
2) Opel II 8. 66,
3) Nach Oxenstierna (I 2 S. 572) liefen die beiden ersten Waffenstillstande
vom 1. Juli 1622 — 1. Mai 1623, und von da bis zum ersten Juni 1624 (a. St.).
Hieran schloß sich der dritte Waffenstillstand (gedruckt in acta et literae ab
8. Maii a. 1624 usque 6. Nov. a. 1625 inter . . Sueciae et Poloniae senatores ac
officiales commutatae. Ex mandato s.r. Mtis Sueciae. 8. a.) bis zum 1. Juni
1625 (a. St.)
5*
68 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
Gustav Adolf machte sich für den Sommer 1625 auf neuen Krieg
gefaßt.
In diese Lage der Verhältnisse nun schien dem Könige der von
Spens überbrachte Antrag vor allem deshalb zu passen, weil der
vorgeschlagene Angriff gegen Schlesien sich mit dem Krieg gegen
Polen, wie er es ja schon im vorhergehenden Jahr geplant hatte,
verbinden ließ. Mit zwei Vorbehalten nahm er deshalb auch den
Antrag an. Der erste lautete: der Anfang des Krieges muß in
Polen gemacht werden, und erst nachdem Polens Kräfte gebrochen
“sind, beginnt der weitere Angriff gegen Schlesien). Der zweite be-
sagte: es müssen noch andere Mächte *) zur Unterstützung des Un-
ternehmens gewonnen, und aufgrund eines festen Kriegsbündnisses
Streitkräfte zu Land und zur See aufgebracht werden, die der Größe
der Aufgabe entsprechen.
Noch nicht lange war diese Entschließung gefaßt, als Bellin in
Stockholm eintraf. Der brandenburgische Gesandte, mochte er nun
aufgrund klarer Instructionen oder nach allgemeiner Kenntnis der
Absichten seines Kurfürsten vorgehen, verwarf den polnisch-schlesi-
schen Krieg. Was er verlangte, war Befreiung Norddeutschlands
von den kaiserlich-ligistischen Streitkräften und Rückführung Friedrichs
V., nicht auf den böhmischen Thron, sondern in seine pfälzischen
Erblande und seine Kurwürde. Der Krieg, dessen Führung er Gu-
stav Adolf antrug, sollte demgemäß an der Weserlinie beginnen und
in der Pfalz enden, d.h. der schwedische König sollte die bisher
festgehaltene Grundlage seiner Entwürfe, daß erst der Krieg mit
Polen entschieden werden müsse, preis geben und sich, diesen Feind
im Rücken lassend, mitten ins deutsche Reich hineinwagen. So groß
diese Zumutung war, so erstaunlich erscheint die Geschwindigkeit,
mit der Gustav Adolf sich bereit erklärte, den ersten Vorschlag fal-
len zu lassen und diesen zweiten, weiter gehenden anzunehmen.
Wol stellte er hohe Bedingungen — ein festes Bündnis, als dessen
vornehmste Mitglieder Schweden, England und die protestantischen
Reichsstände zu gewinnen waren, sollte geschlossen, und eine dem
1) Oxenstierna, 1624 Sept. 3.: Aunc Aostem relinquere viribus infractis . .,
a principtis prudentiae . . alienissimum est (I 2 S. 733). — Tentare si qua ra-
tione . . fractis sllius (Poloni) cirsbus der (in Silesiam) . . liderum . . praestare
queat (S. 789).
2) A. a. O.: utque eius (belli) .. rationes .. cum ceteris communicet (S. 735).
— Rex Bohemiae cum amicts suis quos interim sıbi studiose comparure debebit
(S. 73940). Rex Bohemiae ac princeps Walliae ei, si induci possunt, ordines
Beigii (S. 740).
Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling.' 69
schweren Krieg entsprechende Streitmacht zu Land und Wasser
sollte aufgestellt werden —; aber nicht nur daß er unter diesen
Bedingungen die Führung zu unternehmen bereit war, er wollte auch
alle Vorbereitungen so rasch erledigt wissen, daß der Krieg im Früh-
jahr 1625 losbrechen konnte. Das war ein Ungestüm, vor dem der
Forscher doch die Frage stellen muß, ob und wie weit dem König
seine Erklärungen ernsthaft gemeint waren. Eine Probe dafür ge-
währt einerseits seine gleichzeitige Behandlung der polnischen An-
gelegenheiten, anderseits die weitere Entwickelung seiner kriegeri-
schen Pläne.
Für beides bringt uns die neue Publikation hochwichtige Auf-
schlüsse, und zwar zunächst für die polnischen Beziehungen nicht
nur durch den Neudruck !) der damals von dem schwedischen Reichs-
rat an die polnischen und litauischen Senatoren gerichteten, von
Oxenstierna verfaßten Schreiben, sondern vor allem durch eine An-
zahl höchst interessanter Briefe von Jakob de la Gardie (II 5 n.
129 fg.) und einige neu veröffentlichte Schreiben Oxenstiernas (I 3).
Nach diesen Zeugnissen stellt sich die Sache folgendermaßen.
In einem Entwurf der Artikel des zu schließenden Bündnisses,
welchen Gustav Adolf dem Bellin mitgab, heißt es an letzter Stelle:
die Entschließung muß ungesäumt erfolgen, damit sich der König
in seinen Verhandlungen mit Polen darnach richten könne; der Waf-
fenstillstand mit Polen endet nämlich am 1. Juni?) (a. St.); seine
Aufkündigung muß aber bereits am 31. März (a. St.) erfolgen. —
Das will doch sagen: wenn das Bündnis und in seinem Gefolge der
Krieg in Deutschland beschlossen wird, so will der König den Waf-
fenstillstand mit Polen, entgegen seiner bisherigen Absicht, erhalten,
wenn aber nicht, so will er ihn, entsprechend seiner bisherigen Ab-
sicht, aufsagen. Nun wurden die Verhandlungen über das Kriegs-
bündnis, in welche man zunächst England, Frankreich und die pro-
testantischen Reichsstände zog, gegen Ende des Jahrs 1624 begon-
nen). Noch fanden sie sich in ihren ersten Anfängen, als jedoch
1) Zuerst in der S. 67 Anm. 8 citierten Schrift veröffentlicht. Vgl. darüber
I 2 Vorr. 8. 15.
2) Der kürzere Entwurf von Oxenstiernas Hand I 1 8.528. Die etwas aus-
führlichere Fassung, welche dem Bellin mitgegeben wurde, bei Rusdorf, mém. I
S. 439.
8) Statt »au premier jour du mois« (8. 449 Z. 4) ist natürlich zu lesen »as
pr. j. d. mois de Juin«, und statt »au premier jour de Mars« vielmehr »au der-
ater jour d. M.«
4) Spens fuhr am 13. Nov. von Göteborg wieder ab. (Oxenstierna, 1624
70 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
plötzlich am 20. Febr. /2. März ein Schreiben des schwedischen
Reichsrats an die polnischen und litauischen Senatoren abging mit
der Erklärung, daß, wenn nicht am 1./11. Juni ihre und ihres Kö-
nigs Gesandte mit genügender Vollmacht zur Unterhandlung eines
definitiven Friedens in Riga erschienen, der Waffenstillstand als er-
loschen betrachtet werden sollte’). Da an eine Erfüllung dieser
Forderung nicht zu denken war — schon deshalb nicht, weil man
von schwedischer Seite als genügende Vollmacht nur eine solche an-
sah, in der Gustav Adolf den Titel eines Königs von Schweden er-
hielt —, so war das Schreiben eine Aufkündigung des Waffenstill-
standes und wurde als solche, sobald es zweckmäfig erschien, von
schwedischer Seite auch geltend gemacht. Aber wie verhielt sich
diese Aufkündigung zu den bedungenen Terminen ? Vertragsmäßig
mußte sie am 31. März/10. April dem polnischen Feldherrn zur
Kenntnis gebracht werden; in Wirklichkeit ging das Schreiben erst
sieben Tage nach seiner Datierung ab, traf am 8./18. April in Riga
ein und erforderte weiteren Zeitverlust, bis es an seinen Bestim-
mungsort gelangen konnte. Der schwedische Statthalter in Livland
geriet denn auch in Verzweiflung über diese Verspätung, er wagte
die Andeutung, daß der gute Ruf von des Königs Vertragstreue
Schaden leiden könne ?).
Hält man nun diese Vorgänge mit den Verhandlungen über Bel-
lins Anträge zusammen, so läßt sich allerdings die Verspätung mit
großer Wahrscheinlichkeit erklären: im Hinblick auf den geplanten
deutschen Krieg hatte man sich zur Wiedereröffnung des polnischen
Krieges nicht zeitig genug entschließen können. Aber warum ent-
schloß man sich plötzlich am 2. März dazu?
Die Beantwortung dieser Frage muß von der bekannten That-
Nov. 26. I 2 S. 767.) Bellin erhielt seine Instruktion zu Verhandlungen mit
Friedrich V., England und Frankreich am 28. Nov. (Droysen, preuß. Politik III 1
8. 88, 261 n. 83.) — An die prot. Reichsstände sandte Brandenburg die Räte
Götz und Winterfeld. (Opel II S. 79 A. 2. Camerarius, 1625 Jan. 2, Febr. 28,
bei Schybergson, Sveriges och Hollands etc. S. 126, 159. Rusdorf, mem. IS. 451.)
Ueber Winterfelds Erfolge in Oberdeutschland berichtet Camerarius an Rusdorf
1625 März 18: Wirtembergicus et ceteri Uniti prompti sunt ad accessionem, sed
ex metu nondum hoc publice profitert audent. (Coll. Cam. 25.) — Nur nebenbei
weise ich darauf hin, daß Brandenburg mittelst dieses Bündnisses auch den Be-
sitz sämtlicher Jülicher Lande zu gewinnen suchte. (Rusdorf I S. 460 2.3 v.u.,
8. 511 2.2 v. u. —518.)
1) In dem S. 67 Anm. 8 citierten Schriftchen. Jetzt auch Oxenstierna,
Skrifter I 8 S. 88.
2) De la Gardie an Oxenstierna, 1625 April 18. (II 5 n. 152 S. 824.)'
Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 71
sache ausgehen, daß um die Mitte des Januars 1625 Konig Chri-
stian IV. von Dänemark unerwartet mit dem concurrirenden Aner-
bieten eines Krieges in Deutschland hervortrat, daß er dabei an
erster Stelle die Beisteuern Englands und der protestantischen Reichs-
stände in Anspruch nahm, und sofort bei England wegen der gerin-
geren Höhe seiner Forderungen, bei den niedersächsischen Fürsten
wegen seiner nachbarschaftlichen Verbindungen größeren Anklang
fand als der schwedische König. Dieser Zwischenfall hat, wie man
weiß, den Beschluß Gustav Adolfs herbeigeführt, von dem Bellin’-
schen Projecte zurückzutreten und sich wieder seinem polnischen Kriege
zuzuwenden. Aber die Frage ist, ob schon am 2. März dieser Ent-
schluß gefaßt sein, oder auch nur die dänischen Nachrichten, die ihn
bewirkten, vorliegen konnten. Zweierlei wird man hierbei unter-
scheiden müssen. Einmal, eine als maßgebend angesehene Auf-
klärung über die dänischen Absichten erhielt Gustav Adolf erst am
23. März durch ein Schreiben Christians IV., sowie ein zweites des
englischen Gesandten Anstruther, und erst da erklärte sein Kanzler
Oxenstierna den Entschluß, den Krieg in Deutschland dem dänischen
König zu iiberlassen'). Das war ein Vorgang, welcher beinahe
einen Monat nach jener Aufkündigung des polnischen Waffenstill-
standes erfolgte und also die Aufkündigung selber nicht begründen
kann. Indeß eine vorläufige Mitteilung über Dänemarks Entschlüsse
hatte Gustav Adolf bereits am 11. Februar von einem französischen
Agenten, Des Hayes, der von Kopenhagen nach Stockholm gekommen
war, erhalten‘), und wenn man diese Mitteilung mit der neunzehn
Tage später erfolgenden Absage an Polen vergleicht, so ist die An-
nahme des ursächlichen Zusammenhangs unabweisbar : Gustav Adolf
sah das deutsche Unternehmen ins ungewisse gerückt, da beeilte er
sich, noch in letzter, eigentlich schon verspäteter Stunde die Mög-
lichkeit des polnischen Krieges sich wieder zu eröffnen.
1) P.S. zu Ox.’s Schreiben vom 23. März 1625. (Skrifter I 3 8.47. Zu
der dortigen Anmerkung über Christians IV. Schreiben vom 4. März ist zu be-
merken, daß dasselbe nach dem dänischen Original z. T. gedruckt ist bei Weibull,
Gustaf II. Adolf och Christian IV. 1624/25, Universitätsprogramm von Lund zum
8. Dez. 1894 8. 16 A. 1).
2) Gustav Adolf von Dänemark, 1625 Febr. 11. (Moser V S. 101). Ueber
den Inhalt von Des Hayes’ Mitteilungen : Oxenstierna an Götzen, Febr. 13. (Skrifter
I 3 S.20). Dieselben Mitteilungen brachte gleichzeitig der zur Erkundigung
über ein angebliches dänisch-polnisches Bündniß an Christian IV. geschickte Ga”
briel Oxenstierna zurück. (Weibull, a.a.0. S. 14 Anm. 2. Oxenstierna an Came-
rarius, Febr. 20. Skrifter I 3 S. 24).
72 Gétt. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
Das Ergebniß ist also: Ende September 1624 nahm Gustav
Adolf das Bellin’sche Project eines im Herzen Deutschlands zu füh-
renden Krieges an; Anfang März 1625 hob er eine der wesentlich-
sten Bedingungen für seine Ausführung , nämlich die Verlängerung
des polnischen Waffenstillstandes, auf. Gewiß erklärt sich dieser
eilige Rückzug teilweise daraus, daß die Aufkündigung des Waffen-
stillstandes, wenn sie überhaupt erfolgen sollte, ohne Verzug ge-
schehen mußte. Aber nach der Natur der Sache wird man doch
noch ein weiteres Motiv annehmen müssen: im Sinne Gustav Adolfs
bestand ein großer Unterschied zwischen dem ersten Plan eines
Krieges, der in Polen beginnen und in Schlesien fortgesetzt werden
sollte, und jenem andern Krieg, den er im Herzen Deutschlands zu
führen hatte, ohne andere Deckung gegen Polen als die einjährige
Verlängerung eines unzuverlassigen Waffenstillstandes. Den ersten
Entwurf hatte er selber erdacht, der zweite war ihm aufgedrungen,
und wenn sein feuriges Temperament, sein wachsendes Verlangen,
mit den Waffen in die deutschen Wirren einzugreifen, ihm die ein-
fache Ablehnung dieses zweiten Planes verboten, so wies ihn doch
der Anblick der kaum überwindlichen militärischen Schwierigkeiten
mit zwingender Kraft auf den ersten Plan zurück. — Die Richtig-
keit dieser Annahme wird durch den weitern Gang der Verhand-
lungen und kriegerischen Entwürfe bestätigt.
Nicht viel will es sagen, wenn Gustav Adolf und sein Kanzler
auch nach der Aufkündigung des polnischen Waffenstillstandes, am
23. März, am 16., 19. und 26. April nochmals die Bereitwilligkeit
zur Führung des Krieges in Deutschland erklärten, vorausgesetzt
daß die von ihnen geforderten Truppencontingente von den betei-
ligten Mächten ungeteilt gestellt und dem ungeteilten schwedischen
Oberbefehl untergeben würden. Denn soviel wußten sie schon
von der Aufnahme der dänischen Vorschläge in Deutschland und
England, daß sie an die Verwirklichung dieser Voraussetzungen sel-
ber nicht glauben konnten'). Um so bezeichnender ist die Auf-
nahme, welche der zwischen niederländischen Staatsmännern und dem
englischen Gesandten Carleton vereinbarte *) Plan einer Teilung der
1) Aus demselben Grunde will es nicht viel besagen und erscheint fast als
Prablerei, wenn Oxenstierna im grellen Widerspruch mit seinen vorausgehenden
Erklärungen (S. 68 Anm. 1) am 19. April 1625 plötzlich befindet, daß die Aus-
sichten auf neuen Krieg mit Polen parum consilia nostra turbabunt (13 S. 54).
2) Carletons Bericht vom 15. März 1625 bei Schybergson, evang. allians
Beil. n. 4. Vgl. Camerarius an Oxenstierna, März 14, 20. (Schybergson, Sveriges
och Hollands diplomatiska förbindelser 8. 166, 170).
Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 73
erhofften Hülfstruppen zwischen Dänemark und Schweden bei Gustav
Adolf fand. Sofort antwortete er darauf mit einem neuen Project
und neuen Aufträgen zu dessen Beförderung an seine Agenten im
Haag und in London!) Dänemark, so lauten die Grundgedanken,
führt seine Armee nach Deutschland und der Pfalz, der schwedische
König richtet seinen Stoß erst gegen Polen, dann gegen Schlesien.
Ueber die Beisteuern, die für den letztern Krieg zu gewähren sind,
und über den Plan des Krieges selber werden genaue Angaben ge-
macht. Es könnte dabei scheinen, als ob das eigentliche Ziel des
Krieges nur Schlesien und die kaiserlichen Erblande sein, Polen da-
gegen nur als Durchzugsgebiet gestreift werden sollte, wird doch
der Armee der Marsch durch Westpreußen und Posen lediglich von
dem Gesichtspunkt dvs zweckmäßigsten Weges, der nach Schlesien ein-
zuschlagen wäre, vorgezeichnet ?). Allein in den weitern Ausführungen
erscheint die Erzwingung des Durchzuga daran geknüpft, daß man die
Kraft Polens breche?), daß man Westpreußen und Posen zum Sitz
des Krieges mache‘), daß man vor allem auch zunächst der festen
Plätze von Westpreußen sich versichere®). Deutlich bricht hier der
alte Gedanke durch: erst Polen niederwerfen, dann Schlesien an-
greifen.
Scheinbar ließ sich Gustav Adolf allerdings noch einmal auf den
Plan des gegen Deutschland zu richtenden Angriffes zurückführen,
als er im Mai 1625 von den Gesandten Dänemarks und Branden-
burgs um seine Hülfe neuerdings bestürmt wurde. Unter der Vor-
aussetzung der Teilung der Streitkräfte schlug er damals vier Wege
vor, auf denen er und Christian IV. vorangehen könnten ®): der erste
entsprach im wesentlichen der eben bezeichneten Richtung, also den
auf einander folgenden Angriffen gegen Polen und Schlesien’), der
1) Vgl. die Schreiben an Camerarius, Spens, Rusdorf und Rutgers, 1625
April 26—30. (I 3 n. 38—42).
2) ttinera quibus transitus nobis capiendus erit in Silesiam (S. 64).
3) Poloniae potentia .. frangi potest multis modis etc. (S. 67 Z. 6 v. u.).
4) sedem belli firmiter in Polonia (sc. maiori) ac regali Borussia collocars
posse (8.66). Sedes belli quae et hutc regno .. et Silesiae .. suo situ respondeat
(8. 67).
5) 8. 68.
6) Resolution an den dänischen Gesandten Thomaßon Sehestad, 1625 Mai 20
(Weibull Anh. 8. 5. Lateinisch bei Moser V S. 199), an den kurbrandenburgischen
Gesandten Götzen, Mai 20. (Skrifter I 3 8.90 Anm. Moser V S. 227).
7) Statt Westpreußen—Posen heißt es Cassubien—Posen, daß dabei auch an
Westpreußen gedacht ist, zeigt die Forderung der Occupation eines Hafens,
74 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
dritte und der vierte aber führten an der Weser aufwärts gegen
Hessen und die Pfalz, an der Elbe aufwärts gegen Böhmen, und
falls die Verbündeten darauf beständen, erklärte sich Gustav Adolf,
wenn auch nicht ohne nachdrückliche Bedenken !), bereit, sich mit
Dänemark in diese beiden Wege zu teilen. Indeß daß diese Con-
cession nur scheinbar war, erfuhr drei Monate später der niederlän-
dische Gesandte Vosbergen, als Gustav Adolf im Gespräch mit ihm
auf jene verschiedenen Wege zurückkam: für sich selber wollte er
jetzt nur noch von dem ersten wissen, und mit all’ seinen Einwen-
dungen, bis zu der Mahnung, sein gegebenes Wort nicht zurückzu-
nehmen, vermochte der Gesandte ihn keine Spanne weit von dieser
Erklärung abzubringen *).
Dieselben Gegensätze — auf der einen Seite der feurige Eifer,
der ihn antreibt, den Einladungen seiner Freunde zu folgen, und
mitten ins deutsche Reich hineinzubrechen, auf der andern das
Schwergewicht der Verhältnisse, das seine Kräfte ausschließlich ge-
gen Polen wendet, — beherrscht noch auf weitere fünf Jahre die
Politik Gustav Adolfs und bedingt ihren schwankenden Gang. Nur
insofern tritt eine Aenderung ein, als ihm seit 1627 als nächstes
Ziel eines nach dem Reich zu führenden Angriffes die von den ka-
tholischen Waffen unterworfenen Ostseegebiete erscheinen. Wie nun
aber in dem Fortgang solcher Entwürfe, immer noch unter schweren
Rückschlägen und Schwankungen, doch allmählich die aufgetürmten
Hindernisse weichen, und der Weg zu dem so lange und so heiß er-
strebten Unternehmen frei wird, dafür bieten die für diese Zeit be-
sonders inhaltsreichen Briefe Gustav Adolfs an Oxenstierna unschätz-
bare Aufschliisse. Zum guten Teil sind sie allerdings schon die
einen zerstreut gedruckt, die andern in geschichtlicher Darstellung
benutzt, besonders von dem noch immer unentbehrlichen Geijer.
Aber vollständig werden sie erst hier vorgelegt. Wie sie frei-
lich bei den für die Zusammenstellung befolgten Grundsätzen über-
all der Ergänzung aus andern Acten bedürfen, dafür nur noch ein
Beispiel.
Folgt man den Beziehungen Gustav Adolfs zur Stadt Stralsund,
so stößt man in unserer Sammlung auf ein Schreiben, welches der
unter dem, wie in den vorausgehenden Erklärungen, nur Danzig gemeint sein
kann.
1) Resolution an Götzen: non vidert e re. ., ut duo exercitus regit tam pro-
pinquo itinere . . progrediantur (S. 93).
2) Vosbergens Gesandtschaft in: Historisch Genootschap, Werken n. 9 S. 118 fg.
Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling. 75
König am 9. September 1628, also etwa zehn Wochen nach Verein-
barung seines Bündnisses mit der Stadt und nach dem Einzug seines
ersten Hülfscorps, erlassen hat. Aus diesem Schreiben erhellt die
bedeutsame Thatsache, daß Gustav Adolf von der Stadt Stralsund
die Anerkennung eines Schutzverhältnisses (patrocinium) zu erwirken
sucht. Eine Bestätigung und zugleich die Erläuterung, daß unter
diesem Schutz im Sinne des Königs eine >subiectio realis« zu ver-
stehen war, gewinnen wir, wenn wir aus Geijer (III S. 149 A. 1) ein
bruchstückweise mitgeteiltes Schreiben des Salvius vom 11. September
heranziehen. Fragen wir aber, in welchem Zeitpunkt der Beziehun-
gen Gustav Adolfs zu Stralsund dieser weit greifende Anspruch her-
vorgebrochen ist, so müssen wir weiter zu Neuburs Werk über die
Belagerung Stralsunds zurückgreifen, um zu erfahren, daß die Stadt,
als sie auf die ersten Anregungen des Königs') am 30. Mai 1628
dessen Beistand nachsuchte, sich bereits auf Gustav Adolfs Ansinnen,
als Schutzherr der Stadt angenommen zu werden. gefaßt machte °).
Der Gedanke selber wird uns noch deutlicher, wenn wir mit dem
Text des am 3. ‘oder 5?) Juli 1628 zwischen Stadt und König ver-
einbarten Bündnisses den vom schwedischen Gesandten zunächst vor-
gelegten Entwurf?) vergleichen und hier bemerken, daß es nicht auf
ein zeitlich beschränktes, sondern ein »ewig währendes« Bündniß ab-
gesehen war. Also auf eine dauernde Unterwerfung Stralsunds war
von vornherein die Absicht des Königs gerichtet. Der Größe des so
gesteckten Zieles entsprach auch das Feuer, mit dem er das Unter-
nehmen angriff. In einer in der neuen Sammlung gedruckten In-
struction für Oxenstierna vom 14. August 1628 lesen wir‘), daß
Gustav Adolf gleich nach dem ersten Hülfegesuch der Stadt den
Entschluß faßte, nach Vereinbarung eines ihm genehmen Vertrags
persönlich zum Entsatz heranzuziehen. Aus einem andern bei Geijer
(II S. 149 A. 4) benutzten Schreiben vom 10. Juli ersehen wir, daß
1) Sie gehen zurück auf das Schreiben des Äke Axelsson an den Stralsunder
Bürger Joach. Rhodes vom 18. Februar 1628. (Geijer II] S. 146 Anm. 8).
2) Neubur, Beitrag zur Geschichte des dreißigjähr. Kriegs (1772) Beil. n. 49
S. 261.
3) Neubur Beil. n. 58 S. 281.
4) If 1 8.409. Auch erwähnt in Oxenstiernas Rede an die Stralsunder, am
11. Sept. (I 1 8.533 Z. 7 v. u... — Wenn übrigens Gustav Adolf in derselben
Instruction bemerkt, er habe sich bisher durchaus nicht zu einer Einmischung
in die deutschen Wirren bewegen lassen wollen (S. 408 Z. 14 v. u.), so ist das
nur einer von den vielen Beweisen, daß damals der Charakter des Glaubens-
helden mit arger politischer Heuchelei verträglich war.
76 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
er damals damit umging, neun Regimenter nach Stralsund zu führen,
um den Entsatz zu bewirken und dann zu entscheiden »ob irgend
eine größere Armada dressirt werden soll.< Es ist die bei allen
vorausgehenden Entwürfen einer Invasion ins Reich oder in die kaiser-
lichen Erblande wiederkehrende Absicht, vor alleın sich eines Ostsee-
hafens, oder auch noch eines Nordseeplatzes dazu'), als des Aus-
ganges für den Einbruch und der Zuflucht bei dem Rückzug, zu
bemächtigen *). Aber auch diesmal sollte es mit der Ausführung
nicht so rasch gehen. In den Weg trat dem König noch einmal die
alte Nebenbuhlerschaft Dänemarks, die Eifersucht der Stadt Stral-
sund auf ihre Freiheit, vornehmlich aber und Ausschlag gebend, der
noch immer fortgehende Krieg mit Polen, — nur daß diese Durch-
kreuzung seiner Pläne auch die letzte war.
Vier Jahre nach Gustav Adolfs Tod leitete Oxenstierna in einer
Rede an den Reichsrat *) den deutschen Krieg des Königs von einer
»dispositio divinac ab, von einem >»impelus ingenti<. Wir sehen
diesen dämonischen Drang sieben Jahre lang in seiner Seele arbeiten;
sieben Jahre lang suchte er ihm in immer neuen Ansätzen vergeb-
lich zu folgen, bis der sechsjährige Waffenstillstand mit Polen ihm
die Bahn frei machte.
1) Bremen, Wismar, Stettin, Danzig waren von ihm genannt.
2) Auch in dem Vertrag mit Stralsund vom 8. oder 5. Juli (zugänglichster
Druck bei Dumont V 2 S. 548) blickt diese Absicht durch. Vgl. Art. 8 (Even-
tualität, daß der König mit einer Armee anzieht), 9 (Eventualität der Ueberwin-
terung seiner Armee im Stralsunder Hafen), 10 (die Stadt offen für Durchzug
und Rückzug).
8) Geijer III S. 154 Anm. 2.
Bonn, Dezember 1900.
Moriz Ritter.
de Waal, Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grotten von St. Peter. 77
de Waal, A., Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grotten
von St. Peter. Rom, Spithoever 1900. Fol. 96 8., 13 Lichtdrucktafeln,
13 Textabbildungen. Mk. 20.—.
Unter den Gaben, die den Besuchern des vorjährigen Congresses
für christliche Archaeologie zu Ostern in Rom geboten wurden,
waren die von unseren Landsleuten im Campo Santo neben der
Peterskirche gestifteten unstreitig die wertvollsten. Der würdige
Leiter dieses Instituts, Mgr. A. de Waal, hatte nicht nur im Verein
mit dem Stabe jüngerer Gelehrten, der ihn im letzten Jahre umgab,
eine Sammlung kleiner Aufsätze vorbereitet‘), sondern auch eine
prächtige Sonderpublikation des Junius Bassus-Sarkophags, die allen
Freunden frühchristlicher Kunst hoch willkommen sein muß.
Der Sarkophag, den de Waal mit vollem Recht als das herr-
lichste Werk der altchristlichen Skulptur bezeichnet, hat für die
Kunstgeschichte noch einen erhöhten Wert, weil er fest datierbar ist.
Bekannt ist das Monument seit dem April 1595. Als man damals
Renovierungsarbeiten in der Confessio der Peterskirche vornahm,
fand man den Sarkophag in unmittelbarer Nähe des Apostelgrabes,
und er hat seinen Platz behalten. Daher ist er in der letzten Zeit
fast unsichtbar gewesen, denn die Sacre Grotte unter dem Petersdom
können nur besucht werden mit einer persönlichen Erlaubnis des
Papstes. Um so größer ist das Verdienst des neuen Herausgebers,
der jetzt getreue, auf mechanischem Wege hergestellte Abbildungen
des Monuments allgemein zugänglich gemacht hat. Außer einer
Doppeltafel, auf der die ganze Vorderseite des Sarkophags darge-
stellt ist, bieten neun Tafeln die Einzelfelder mit einer Ausnahme *)
1) STPQMATION APXAIOAOTIKON Mitteilungen dem zweiten internatio-
nalen Congreß für christliche Archaeologie zu Rom gewidmet vom Collegium des
deutschen Campo Santo. Rom 1900. — An erster Stelle enthält das Buch von
der Hand de Waals die Studie »Andenken an die Romfahrt im Mittelalter« und
dazu in Abbildung einige Proben solcher aus Blei hergestellter Andenken, die
dem Museum des Campo Santo gehören. Außer zwei philologisch - historischen
Abhandlungen (Baumstark, Die syrische Uebersetzung der apostolischen Kirchen-
ordnung; Kirsch, Das Todesjahr der hl. Caecilia) bietet das Buch fünf weitre
archaeologische Aufsätze: Kaufmann, Die ägyptischen Textilien des Muscums von
Campo Santo; Stegensek, Ein langobardischer Altar in S. Maria del Priorato
auf dem Aventin; Zettinger, Das Bild des Heilandes in 8. Prassede; Schnyder,
Die Darstellungen des eucharistischen Kelches; Wiegand, Bemerkungen fiber das
Bronzeportal der alten Paulsbasilika.
2) Das Relief des Daniel in der Löwengrube ist nicht eigens abgebildet,
78 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
in größerem Maasstabe und zwei weitre Tafeln geben die Schmal-
seiten des Sarkophags wieder. Leider erlaubte sein Stand in einer
Nische nicht, einen photographischen Apparat den Schmalseiten
gegenüber aufzustellen, sondern deren Reliefs mußten schräg von
vorne aufgenommen werden und in Folge dessen ist ihre hintre
Hälfte gar nicht auf die Platte gekommen, die vordere stark ver-
zeichnet worden. Es hätte sich deshalb, um das Bild des Sarko-
phags zu ergänzen, verlohnt Zeichnungen der Schmalseiten als Text-
illustrationen einzufügen und noch vorteilhafter wäre es gewesen,
wenn man Abgüsse der Schmalseiten gemacht und von ihnen Photo-
graphieen genommen hätte. Zwar sind die Schmalseiten, die keine
specifisch christlichen Gegenstände darstellen, sondern Personifika-
tionen der Jahreszeiten und Putten bei der Ernte des Kornes und
Weines zeigen, weit weniger gut ausgeführt als die Vorderseite, aber
gerade diese Verschiedenheit ist charakteristisch. Die Schmalseiten-
reliefs stehen auf demselben niedrigen Niveau wie die große Masse
der gleichzeitigen Skulpturen, während sich die Frontreliefs weit dar-
über erheben und uns vergegenwärtigen, wie tüchtige Leistungen im
Einzelfalle die Kunst um die Mitte des IV. Jhd. noch hervorzu-
bringen vermochte.
Schon durch die feine architektonische Gliederung zeichnet sich
die Front des Bassus-Sarkophags vor allen anderen frühchristlichen
Sarkophagen aus. Sie ist in zwei Stockwerke geteilt und oben so
wie unten bilden je sechs völlig frei herausgearbeitete Säulen fünf
Nischen. Im oberen Stockwerk haben die Nischen einen geradlinie-
gen Abschluß durch den über die Säulen gelegten Architrav, die
Nischen des unteren Stockwerks sind abwechselnd von einem Giebel-
dach oder von einem Muschelgewölbe bedeckt. Die dritte und vierte
Säule der oberen und unteren Reihe sind im Gegensatz zu den ein-
fach geriffelten übrigen Säulen von Reblaub umsponnen, in dem
Putten emporklettern, und durch diesen Schmuck werden die beiden
Mittelnischen als die vornehmsten Plätze ausgezeichnet. Die untere
enthält die Darstellung des Einzugs in Jerusalem, die obere zeigt
Christus thronend mit dem personificierten Himmel unter seinen
Füßen und mit den beiden Apostelfürsten zu seinen Seiten. So ist hier
weil die Hauptfigur darin ergänzt ist. An die Stelle des nackten jugendlichen
Daniel, der auf anderen frühchristlichen Sarkophagen in Rom erscheint und
bei der Auffindung auch am Bassus-Sarkophag war, ist hier eine langbärtige voll»
bekleidete Prophetengestalt gesetzt. Es ist wahrscheinlich, daß nicht eine zu-
fällige Beschädigung Anlaß zur Ergänzung gegeben hat, sondern daß einer pria—
den Zeit die nackte Danielsfigur anstüßig gewesen ist.
de Waal, Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grotten von St. Peter. 79
in der Mitte die irdische und himmlische Erhöhung des Herrn ver-
einigt. Die übrigen Nischen des oberen Stockwerks bieten (von
links nach rechts) das Opfer Isaaks, die Gefangennahme Petri, Chri-
stus von Soldaten geführt und die Händewaschung des Pilatus, in
den entsprechenden Nischen unten sehen wir die Speisung des
kranken Hiob durch die Gattin, den Sündenfall, Daniel in der Löwen-
grube, Paulus auf dem Wege zum Richtplatz. Als besondere Eigen-
tümlichkeit hat der Sarkophag noch eine Reihe biblischer Szenen, in
denen die handelnden Personen durch Lämmer ersetzt sind. Da-
durch ward es möglich, diese Szenen, die einen mehr dekorativen
Charakter erhalten haben, in den kleinen Zwickeln oberhalb der
Nischen des Unterstocks unterzubringen. Gewählt sind für diese
Darstellungen die Gesetzesübergabe auf dem Sinai, das Quellwunder
Mose, die drei Jünglinge im Feuerofen, die Taufe Christi, die
wunderbare Vermehrung der Brote, die Auferweckung des Lazarus.
Um den Leser zum vollen Verständnis des Kunstwerks zu führen,
entrollt de Waal in einem Eingangskapitel ein Bild der Zeit, in der
der Sarkophag entstanden ist. Junius Bassus, dem der Sarkophag
als Ruhestätte gedient hat, ist laut der Inschrift!) am 25. Aug. 359
gestorben, im Alter von 42 Jahren 2 Monaten, just als er das Amt
des Stadtpräfekten verwaltete und nachdem er kurz vor dem Tode
das Sakrament der Taufe empfangen hatte. Der Name und die hohe
Stellung des Mannes lassen vermuten, daß er der Sohn des Junius
Bassus gewesen ist, der 317 die Würde eines Consuls bekleidete.
Dieser ließ auf dem Esquilin eine Privatbasilika errichten, die später
zu einer Kirche des hl. Andreas umgewandelt ward, aber ihren ur-
sprünglichen profanen Schmuck zum größten Teil beibehielt, so daß
davon noch Reste auf unsere Zeit gekommen sind ?). Sie zeugen
davon, daß in der Familie der Bassi reiche Mittel für die Kunst
aufgewandt wurden und ein guter Geschmack herrschte.
Für die christliche Kunst war die Zeit, da Junius Bassus starb,
trotz aller kirchlicher Wirren und Unruhen in Rom, die de Waal
eingehender schildert, eine Periode der Schaffensfreude und des
Emporblühens. Eine große Basilika nach der andern ward in Rom
erbaut und alle wurden aufs prächtigste ausgeschmückt. Da die
Bauherren z. T. die Kaiser selbst waren, darf man annehmen, daß
für ihre Arbeiten die besten künstlerischen Kräfte herangezogen
1) Jun. Bassus v. c. qui vixit annis XLII men. II in ipsa praefectura urbi
neofitus iit ad deum VIII Kal. Sept. Eusebio et Ypatio Coss.
2) Vgl. de Rossi, Bulletino di archaeol. crist. 1871 p. 48 ff.
80 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
worden sind, und in erster Linie gilt dies für die vatikanische Ba-
silika. Daran knüpft de Waal die Vermutung, daß die Bauhütte der
Peterskirche auch den größten Teil der Sarkophage geliefert habe,
die aus der nächsten Umgebung der Apostelgruft hervorgezogen
worden sind, und daß durch die Herkunft aus jener Werkstatt sich
die für jene Zeit außerordentliche Güte des Bassus-Sarkophages er-
klare. Dieser Vermutung vermag ich nicht beizupflichten. Es ist
mir sehr fraglich, ob wir unsere Vorstellungen von mittelalterlichen
Bauhütten auf das IV. Jhd. übertragen dürfen; unzweifelhaft ist,
daß der Bau einer frühchristlichen Basilika, die nur geringen Skulp-
turenschmuck heischte, nicht Gelegenheit bot, Bildhauer lange zu be-
schäftigen und auszubilden zu besondrer Tüchtigkeit. Die Sarko-
phage, die dem vaticanischen Coemeterium entstammen, weichen zu-
dem inhaltlich wie formell viel zu stark von einander ab, als daß
sie ein und derselben Werkstatt zugeschrieben werden dürften;
offenbar stammen sie aus verschiedenen Magazinen. Wie verbreitet
die Sitte war, die Sarkophage fertig im Magazin zu kaufen, wird
bewiesen durch die große Zahl von Exemplaren, an denen die Büsten
der Verstorbenen nur abbozziert erscheinen, weil die Käufer es für
überflüssig hielten oder weil die Zeit mangelte, um den nur roh an-
gelegten Köpfen die betreffenden Porträtzüge geben zu lassen. Auch
der Sarkophag des Junius Bassus scheint nicht auf Bestellung ge-
macht zu sein, sonst würde daran das Bild des Verstorbenen mit der
seinen hohen Rang kennzeichnenden Amtstracht schwerlich fehlen !).
Da die Hinterbliebenen des Stadtpräfekten vermögend genug waren,
in dem bestrenommierten Sarkophaggeschäft ihren Einkauf zu machen,
und da sie Geschmack genug besaßen, das Beste auszuwählen, er-
klärt es sich zur Genüge, daß dieser Sarkophag alle übrigen uns
erhaltenen übertrifft.
Ist die Annahme eines direkten Zusammenhangs des Bassus-
Sarkophags mit dem Bau der Peterskirche zurückzuweisen, so hat
1) Die Hypothese de Waals (p. 62), daß die Figur des Petrus zwischen den
Schergen mit den Porträtzügen des Junius Bassus ausgestattet sei, ist unhaltbar.
Der Kopf läßt sich nicht als »schöner Rémerkopf« bezeichnen, er ist in Anlehnung
an griechische Philosopbenköpfe geschaffen. Der vornehme Herr des 4. Jahrh.
hat sicher nicht solch langen krausen Bart getragen. Auch läßt sich kein Bei-
spiel der frühchristlichen Zeit dafür beibringen, daß jemand sich als Petrus hat
porträtieren lassen. De Waal zieht als Analogie die Susannafiguren heran, die
zugleich die Verstorbenen darstellen, und man könnte auch an Noahdarstellungen
mit Porträtzügen erinnern, aber diese Analogieen beweisen nichts. Es ist ein
großer Unterschied, ob sich jemand jenen alttestamentiichen Personen, die einen
halbmythologischen Charakter hatten, gleichsetzte oder dem Apostelfürsten.
de Waal, Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grotten von St. Peter. 81
doch de Waal vollkommen Recht mit der Behauptung, daß der Bas-
sus-Sarkophag das prägnanteste Beispiel ist für den Einfluß, den die
Kirchendekoration auf die Entwicklung der Sarkophagskulptur ge-
übt hat. Die Apsiden pflegten in Mosaik die Majestas Domini zu
tragen, die der Bildhauer für den Hauptplatz seines Werks über-
nommen hat. Die Idee, Lämmer als Träger biblischer Handlungen
zu verwenden, wurde ihm ebenfalls durch den Schmuck der Apsiden
eingegeben, denn sehr oft steht unterhalb der Majestas Domini in
einem Schmalstreifen das Lamm Gottes inmitten der von beiden
Seiten zu ihm eilenden Lämmer, die die Gläubigen versinnbilden.
Das II, III, IV. Cap. von de Waals Buch ist einer ausführlichen
Besprechung der einzelnen biblischen Szenen gewidmet. Die rich-
tige Deutung war für alle bereits gefunden, nur ein Detail ist bis-
her immer falsch erklärt worden. In der Pilatusszene nämlich steht
zwischen dem sitzenden Landpfleger und dem Diener, der Schale
und Kanne zum Händewaschen bringt, ein Pfeiler, der eine Vase
trägt. Sie ist weitbauchig mit stark eingezogenem Halse, dessen
Mündung sich wieder schalenartig verbreitert. Fast alle Sarkophage:
auf denen die Vorbereitung zu Pilatus’ Händewaschung vorgeführt
wird, fügen dabei die Vase ein, die bald auf einem Pfeiler, bald auf
einem Tische, bald auf einem Dreifuß steht und in der Form leicht
variiert. Zumeist ist sie mit Henkeln ausgestattet, so daß sie als
Amphore bezeichnet werden kann. De Waal sieht in dem Gerät
einen Opferaltar und Feuerbehälter, der zur Ausstattung des Ge-
richtslokals erforderlich sei, um dem Numen Imperatoris, in dessen
Namen der Richter seines Amtes walte, Weihrauch zu verbrennen.
Ein Zeugnis für diese Sitte ist mir aus dem Altertum nicht be-
kannt. Die antiken Thymiaterien, von denen uns nicht wenige im
Originale erhalten sind, noch mehr durch Bilder auf alten Monu-
menten bekannt sind, haben niemals die Form der Vasen, wie sie
in den Pilatusdarstellungen vorkommen. Auch begreift man schwer,
weshalb die christlichen Künstler gerade ein so irrelevantes Aus-
stattungsstück der Pilatusszene immer und immer wieder eingefügt
haben sollten. Andere Interpreten haben die Vasen als Stimmurnen
aufgefaßt, doch in den Gerichten der hohen Beamten gab es keine
Stimmurne, weil es keine Geschworenen gab, die abzustimmen
hatten). Die Assessoren, deren einer gewöhnlich neben Pilatus
sitzt, waren nur zur Beratung des Richters da, der allein die Ent-
scheidung fallte. Unbedingt nötig waren dagegen für das Gerichts-
1) Vgl. Mommsen, Römisches Strafrecht p. 229 ff., 286, 447 ff.
Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1. 6
82 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
lokal auch in der spätesten Kaiserzeit noch die Wassergefässe, die
dazu dienten, den Parteien ihre Redefrist zuzumessen!),,. An ihnen
war eine Vorrichtung angebracht, den Inhalt in einem bestimmten
Tempo auslaufen zu lassen, und sie wurden, um sichtbar zu sein,
erhöht aufgestellt. Es lag nahe für die christlichen Künstler, diese
Gefäße in die Pilatusszenen zu versetzen, um anzudeuten, woher
der Diener das Wasser zur Handwaschung genommen hat. Eine
Gewähr für die Richtigkeit dieser Erklärung erblicke ich darin, daß
weder diejenigen Pilatusbilder, die des Dieners mit dem Waschgerat
entbehren , noch irgend welche antike Darstellungen einer Gerichts-
szene jenes auf einem Untersatz stehende Gefäß enthalten, weil
dessen Anwesenheit eben nur für den Moment der Händewaschung
bedeutungsvoll war.
De Waal verfolgt in seiner Besprechung der biblischen Szenen
abgesehen von der Erklärung des Gegenstandes stets eine doppelte
Aufgabe. Einerseits zieht er die Paralleldarstellungen heran und
stellt fest, welchen Platz das einzelne Relief in der Entwicklung des
Typus einnimmt, andererseits untersucht er, welche Bedeutung die
betreffende Szene als Grabschmuck hat. Dank seiner Vertrautheit
mit dem frühchristlichen Vorstellungskreise findet er überall die
eschatologische Beziehung heraus und in seinem VI. Capitel reiht
er ohne Zwang die Gedanken, die in den einzelnen Reliefs ausge-
sprochen sind, zu einer Kette aneinander, deren ganzen Inhalt das
Glauben und Hoffen des Christen bildet.
Das letzte Capitel mit der Ueberschrift »Profanes und Beson-
deres« enthält eine kurze Erläuterung der Schmalseiten ?) und eine
Reihe von Einzelbeobachtungen, die das genaue Studium des Sarko-
1) Lydus schildert uns den Gebrauch der Vorrichtung in den Gerichtssitzungen
des Praefectus Praetorio, de magistratibus II 14 (ed. Bonn. 180, 5) xal xdv@e-
005 ds Asnavn tis SE doyvpov En) rolnodog koyvgkov xual aparne Inte tay rags
Zungodtonovs Ölnag Ev tH dixaornelm leydvtwv xefuevog, II 16 (ed. Bonn. 181, 23)
nal 6 tefmovg ev uéowm Tod a&xgoarnolov, éEnornusvov xara ufcov tod xavOceov,
ual xgarie magaxeuevos, Öl ot wort wingotusvog 6 xavGagos Sdarog tocodroy
E8idov naıpdv ro tig Ölung reouarı dp’ Door did tivog yvdpovog too Evövrog
abr@ Sdarog denPoupévov 6 ubabog candidctrero.
2) Das Fehlen einer vollständigen Abbildung der Schmalseiten erschwert die
Beurteilung, ob alles richtig erklärt ist, zumal mir im Augenblick nicht einmal
Garruccis Publikation zur Hand ist. Ein Fehler ist es jedenfalls, einen Putto,
der eine Traube trägt, dem Repräsentanten des Sommers beizugesellen, er ge-
hört vielmehr zu dem Vertreter des Herbstes. Der Blumenkranz, den er nach
de Waals Augabe in der gesenkten Rechten trägt, ist vielleicht eine Schnur ge-
trockneter Feigen.
de Waal, Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grotten von St. Peter. 83
phags ergeben hat. Die interessanteste betrifft das Schuhwerk. Es
sind nämlich nicht weniger als fünf verschiedene Fußbekleidungen
auf dem Sarkophag vertreten, die dem Leser durch eben so viele
große Abbildungen veranschaulicht werden. Die Mannigfaltigkeit
des Schuhwerks dient dazu, die verschiedenen Personen zu charak-
terisieren. Ferner hat de Waal bemerkt, daß zwei der Soldaten
auf der Tunica in der Nähe der rechten Hüfte ein besonderes Ab-
zeichen in Blattform tragen, dessen Bedeutung noch zu ermitteln
bleibt. Das Fehlen der Kopfbedeckung bei den Soldaten giebt
schließlich dem Verfasser Veranlassung zu einem Excurs über die
eigenartige cylinderförmige Mütze, die auf anderen Sarkophagen von
Männern in Soldatencostüm getragen wird und als specifisch jüdi-
sches Abzeichen gilt. Nur vier Szenen sind es, in denen diese be-
mützten Figuren vorkommen: sie führen Christus vor Caiphas, sie
bilden das Publikum bei einer Vorlesung, die als Gesetzverlesung
durch Moses oder Esra gedeutet wird, sie schlürfen das von Moses
aus dem Felsen geschlagene Wasser und sie treten außerdem noch
auf in einer Darstellung, die fast immer mit dem Quellwunder ver-
bunden ist. Die Darstellung zeigt einen dem Moses gleichenden
Mann in eiliger Bewegung, der zurückgehalten wird durch zwei
mit jenen Mützen bedeckte Männer. Man hat darin neuerdings die
Bedrangung Mose durch die dürstenden Juden (Exod. 17, 2 ff.) zu
sehen geglaubt, aber de Waal versucht de Rossis Deutung zu vertei-
digen, nach der die Szene Petri Gefangennahme darstellen soll.
Zu Gunsten der älteren Anschauung plaidoyiert de Waal in fol-
gender Weise: Auf dem Bogen Konstantins sind bei der Darstellung
seines Einzugs in Rom unter den Soldaten einige mit der cylinder-
förmigen Kopfbedeckung, es muß also in Rom im IV. Jahrh., d. h.
zur Entstehungszeit der Sarkophage, für gewisse militärische Korpo-
rationen jene Mütze üblich gewesen sein. Daher liegt die Annahme
nahe, daß in den fraglichen Sarkophagszenen die Männer, die den
Entfliehenden festhalten, da sie außer der Mütze auch die Chla-
mys und das Schwert haben, Soldaten oder städtische Miliz im
Dienste des Praefectus Urbi sind. Der Grund, auf dem diese Be-
weisführung aufgebaut ist, ist kein fester. Am Konstantinsbogen
nämlich sind die Krieger, die in ihrer Ausstattung den Sarkophag-
figuren gleichen, nicht auf dem Relief der dem Coelius zugewandten
Schmalseite, das den Einzug des Kaisers in Rom darstellt, sondern
sie finden sich auf der gegenüberliegenden Schmalseite, deren Relief
bisher noch nicht gedeutet ist"). Auch hier sehen wir einen langen
1) Abb. der Konstantinischen Reliefs vom Bogen bei Rossini, Gli archi
trionfali.
84 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
Zug, der sich von links nach rechts bewegt. An seiner Téte schrei-
ten Soldaten mit Schild und Lanze sowie Signiferi, alle mit Helmen
bedeckt. Ihnen folgen beladene Kamele und Pferde, geführt und
begleitet von Soldaten, die jene cylinderförmige Mütze tragen, und
ebensolche Soldaten umgeben den vierspännigen Wagen, der den Be-
schluß des Zuges bildet. Dieser Wagen unterscheidet sich wesent-
lich von dem, der auf dem Relief der anderen Schmalseite darge-
stellt ist.
Bei seinem Einzuge in Rom bedient sich Konstantin der sog.
Thensa !), eines niedrigen vierrädrigen Wagens, der im Gegensatz
zu dem alten Triumphwagen, dem Abkömmling des Streitwagens,
vorn offen ist und hinten durch eine halbkreisformige Wand ge-
schlossen ist, innerhalb deren ein Sitz angebracht ist. Die Thensa
war ursprünglich der Wagen, in dem die Götterbilder bei feierlichen
Aufzügen einhergefahren wurden, in der späteren Kaiserzeit war,
wie die Notitia dignitatum?) lehrt, ein solcher Wagen auch eine
Auszeichnung für die höchsten Reichsbeamten. Auf dem Relief der
dem Forum zugekehrten Schmalseite sehen wir einen Wagen mit
hohen Rädern, darauf ein hoher Wagenkasten ruht. Auf dem vor-
deren Teil des Wagenkastens hat der Lenker seinen Platz, hinter
ihm erhebt sich noch ein besonderer Sitz. Wagen gleicher Art
pflegten auf Reisen benutzt zu werden, genaue Parallelen zu der
Darstellung des Konstantinsbogens bieten uns ein profanes Marmor-
relief aus Gallien?) und ein sehr bekanntes christliches Elfenbein-
relief in Trier‘). Die Figur, die auf dem Marmorrelief den er-
höhten Sitz inne hat, scheint ein Beamter zu sein, weil er einen
Liktor neben sich hat, das christliche Relief zeigt auf dem Sitze
zwei Bischöfe, die kostbare Reliquien von einer Reise heimbringen.
Am Konstantinsbogen sitzt oben auf dem Wagen eine kleine Gestalt
mit einem Globus auf der Linken und mit erhobener Rechten, die
wohl ein jetzt abgebrochenes Szepter aufgestützt hat. Die Tracht
1) Vgl. die rekonstruierte Thensa des neuen Capitolinischen Museums, Bul-
letino della commissione municipale di archeol. V Taf. II.
2) Die neue Ausgabe von Seeck ist mir nicht zur Hand. Notitia dignitatum
ed. Böcking I p. 12.
3) Abb. Daremberg et Saglio, Dictionnaire des antiquités Fig. 1197; s. v.
carruca.
4) Abb. Molinier, Histoire générale des arts appliqués a l’industrie, I. Jvoi-
res p. 74; Westwood, Fictile ivories in the South-Kensington Museum p. 64;
Aus’m Werth, Kunstdenkmäler des christ]. Mittelalters in den Rheinlanden Taf.
-LVIII, 1; Kraus, Gesch. der christl. Kunst I. p. 501. Strzygowski', Orient und
Rom p. 85.
de Waal, Der Sarkophag des Junius Bassus in den Grotten von St. Peter. 85
der Figur ist dieselbe wie die ihrer Umgebung, auch ihr Haupt ist
mit der eigentümlichen Mütze bedeckt.
Die Reihenfolge der Reliefs am Konstantinsbogen ergiebt, daß
die angedeutete Szene die erste oder die letzte sein muß. An sie
stößt auf der der Via Appia zugewandten Langseite die Belagerung
Susas und dieselbe Langseite zeigt auf ihrem zweiten Relief den
Kampf am Ponte Molle, dem der Einzug in Rom auf der zweiten
Schmalseite folgt. Zwei Szenen, die in Rom spielen, eine Rede des
Kaisers von den Rostra aus und eine Geldverteilung durch den Kai-
ser sind auf der dem Colosseum zugekehrten Langseite dargestellt.
Da jedes der fünf Reliefs die Figur des Kaisers enthält, ist dasselbe
auch für das erste Relief zu postulieren und dort können wir Kon-
stantin nur in der kleinen knabenhaften Gestalt auf dem Wagen
suchen. Eine passende Erklärung für seine merkwürdige Erschei-
nung hier finde ich in einer Notiz des Eusebius über die Jugender-
lebnisse des Kaisers. Er erzählt, daß sein Held im Uebergangsalter
vom Knaben zum Jünglinge mit Diokletian Palaestina durchreist
habe '). Die Sitte der Römer und speciell der Kaiser, in den Pro-
vinzen die Nationaltracht anzulegen, wird uns mannigfach bezeugt ’*),
es ist also sehr wohl möglich, daß Konstantin bei seiner Palaestina-
fahrt das Kostüm der aus der dortigen Bevölkerung rekrutierten
Truppen getragen hat. Daß christliche Künstler in Rom das Kostüm,
das ihnen unser Relief des Bogens vor Augen führte zur Cha-
rakteristik der jüdischen Krieger verwandt haben, wird noch
sicherer als durch die Sarkophage durch einige Elfenbeinwerke des
IV. Jahrh. erwiesen. Ein oft abgebildetes Elfenbeinkästchen des
British Museum °) zeigt auf drei Seiten Soldaten in der betreffenden
Tracht. Der eine führt den das Kreuz tragenden Christus zum
Richtplatz, der zweite durchbohrt dem Gekreuzigten die Seite mit
der Lanze, zwei andere sind als Wächter neben dem Grabe des
Herrn bestellt und in derselben Situation treffen wir ganz gleiche
Gestalten auf einer Diptychontafel des Museo Trivulzi‘). Diese
Darstellungen geben uns die Gewißheit, daß auf der fraglichen Sar-
kophagszene die bemützten Männer, die den Mann in der Tracht der
heiligen Figuren anfassen, als jüdische Krieger anzusehen sind, daß
1) Vita Constantini I 19: 7d S’&xoı xal naıdög En) roy veavlay daßas,
zung tie weatns mag’atrois (d. b. den Mitkaisern des Vaters) A&ıodro, olov
abröv nal Nusis Eyvopev rd IlaAnıorıvav dispzöusvov Edvos oby th neecfuréon
trav Baoılkov.
2) Vgl. Tacitus Histor. II 20, Fl. Vopiscus, Vita Aureliani 34.
8) Garrucci, Storia dell’arte cristiana VI 446, Kraus a. a. O. p. 505 f.
4) Abb. Garrucci a, a. O. 459. 1, Molinier a. a. O. Taf. VI.
88 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
demnach die Szene nicht einen Moment aus den römischen Erleb-
nissen des Petrus darstellen kann.
De Waal hat im Schlußwort seines Buches ausgesprochen, daß
ihm der vom ersten Congreß christlicher Archaeologen 1894 gefaßte
Beschluß, ein Corpus der frühchristlichen Sarkophage zu schaflen —
derselbe Beschluß ist von dem neuen Congreß wieder aufgenommen
worden — verfrüht erschienen sei. Zuvor müsse das Studium zu
einem gewissen Abschluß gekommen sein, wozu Monographieen wie
die seinige beitragen würden. »Fänden, fährt er fort, einzelne un-
serer Aufstellungen Widerspruch, so würde das nur die obige Be-
merkung erhärten und bestätigen«e. Diese Bestätigung ist durch
meine Beleuchtung der vermeintlichen Petrusszene wohl zur Genüge
erbracht. Was das Corpus der frühchristlichen Sarkophage betrifft,
so möchte ich noch einen Schritt weiter gehen als de Waal und es
nicht nur als ein verfrühtes, sondern auch als ein überflüssiges Un-
ternehmen erklären. Ich halte es für änßerst wünschenswert, daß
als Fortsetzuug des Fickerschen Katalogs vom christlichen Museum
im Lateran eine genaue Beschreibung aller übrigen frühchristlichen
Sarkophagskulpturen gemacht wird und daß als Ergänzung hierzu
an einer Centralstelle photographische Aufnahmen sämtlicher Stücke
gesammelt werden, damit die Forscher das jeweilig für ihre Arbeiten
erforderliche Material in Copieen von dort beziehen können. Eine
den heutigen Ansprüchen genügende Publikation des gesamten Ma-
terials würde mit großen Kosten verbunden sein und dieselben nicht
lohnen, denn die meisten Bildtypen sind in sehr zahlreichen nur sehr
wenig variierenden Repliken vertreten und die Arbeit der Skulpturen
ist größtenteils recht geringwertig. Weder die ikonographische noch
die kunstgeschichtliche Forschung würde daher von der teuren Publi-
kation einen entsprechenden Nutzen haben.
Hannover, Juli 1900. Hans Graeven.
Briefe und Aktenstücke aus dem Nachlasse Stägemanns. I. 87
Briefe und Aktenstiicke zur Geschichte Preußens unter Friedrich
Wilhelm III. Vorzugsweise aus dem Nachlasse von F. A. Stä-
gemann. Herausgegeben von Franz Rühl. Erster Band. Leipzig, Dun-
cker und Humblot. 1899. LXVII und 423 Seiten. 10 Mark.
Dieser Briefsammlung fehlt der Mittelpunkt. Während der
Herausgeber den litterarischen Nachlaß Stägemanns bearbeitete, sind
ihm andere Brief- und Aktensammlungen zu Gesicht gekommen, er
hat aus allen einzelnes ausgewählt, anderes zurückbehalten, teils
>um es zu einer Darstellung zu verwerten<, teils >um es zum Ge-
genstand einer eigenen Abhandlung zu machen«, teils da er »es an-
derweitig zu verwerten< beabsichtigt. Nach welchen Gesichtspunkten
er die Auswahl vorgenommen hat, ist weder aus der Einleitung noch
aus den Briefen selbst zu ersehen. Privatangelegenheiten, Unter-
stützungsgesuche, Poetisches, Militärisches, Finanzielles, Politisches,
Gleichgiltiges und Wichtiges, alles geht bunt durcheinander.
Es sind im Ganzen 273 Stücke, etwa 90 aus den Jahren 1806
—1811. Von diesen seien einige Briefe Adam Müllers aus dem
Sommer 1809 hervorgehoben, in denen er Vorschläge für die Ein-
richtung einer offizidsen Presse macht. Er getraut sich »1) öffent-
lich und unter der Autorität des Staatsrates ein Regierungsblatt,
2) anonym und unter der bloGen Connivenz desselbigen ein Volksblatt,
mit anderen Worten eine Ministerial- und Oppositionszeitung zu-
gleich zu schreiben<; die Regierung müsse »dem beschränkten Vor-
witz der Unterthanen die wahren Gesichtspunkte ihres erhabenen
Verfahrens entgegenstellen lassen<; es sei zweckmäßig, selbst eine
Opposition zu fingieren, >die dann mit Kraft, Vorsicht und Ueber-
legenheit des Urteils niedergeschlagen würde«.
Etwa die Hälfte der Briefe stammt aus den Jahren 1812 und
1813 und zwar zumeist aus Ostpreußen. Die wichtigeren davon sind
bereits von Droysen verwertet und zum Teil abgedruckt worden.
Nach der Meinung des Herausgebers, der sich bekanntlich die Ver-
herrlichung Schöns zur Aufgabe gesetzt hat, tritt in diesen Briefen
»die maßgebende Stellung Schöns bei der Erhebung der Provinz
noch schärfer hervor als bisher, und es scheint auch der Mühe wert,
zu bemerken, daß die Angaben in seiner Autobiographie lediglich
bestätigt werden<. Einen Beweis dafür zu erbringen, versucht er
nicht. Es ist auch nicht zu sehen, wie ein solcher geführt werden
könnte, da gerade diese Briefe der historischen Kritik einen wesent-
lichen Teil des Materials geliefert haben, mit dem die selbstgefällige
88 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 1.
Darstellung Schöns widerlegt worden ist. Auch in den andere
Briefen habe ich nichts gefunden, was diese Kritik irgendwie e
schüttern könnte, wohl aber verschiedene Stellen, durch welche au
neue Schöns unglückliche Neigung bekundet wird, seine Mitwirkur
an der Reformgesetzgebung und den Anteil seiner Provinz an di
Erhebung Preußens in übertreibender Weise darzustellen.
Von den etwa 50 Briefen aus den Jahren 1814 und 1815 biet«
die, welche sich auf die Teilung Sachsens beziehen, einiges Interess
Nebenbei sei darauf hingewiesen, daß dem Bürgermeister v«
Insterburg die »Grabesstille bei der Anwesenheit des Kaisers< au
gefallen ist, weil die blitzartige Flucht Napoleons durch Ostpreußk
nur von wenigen bemerkt worden ist und fast nirgends erwah
wird; ferner auf ein Anstellungsgesuch Max von Schenkendorfs ur
auf eine seltsame, gegen die Jahresfeier der Leipziger Schlacht gi
richtete Verfügung der eben erst von Napoleons Herrsehaft befreit«
großherzoglich hessischen Regierung. So findet sich hier und «
einzelnes Interessante in dieser Sammlung, doch ist die Ausbeu
nur gering; zu rühmen aber sind die sorgfältig gearbeiteten sac
lichen und biographischen Erklärungen.
Berlin. Paul Goldschmidt.
‚Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in
Februar 1901. Nr. 2.
Hesychii Hierosolymitani interpretatiolesaiae prophetae nunc primum
in lucem edita, prolegomenis, commentario critico, indice adaucta a Michaele
Faulhaber ... accedit tabula phototypica. Friburgi Brisgoviae. Herder
1900. XXXVI, 222 8. Preis 7 Mk.
Der im XI. Jahrhundert geschriebene Pergamentcodex Vaticanus
graecus 347 enthält in Doppelcolumne den Text der 16 Propheten;
am Rande befinden sich bei Jeremias und Ezechiel Ausziige aus der
landlaufigen Catene, beim Dodekapropheton, Isaias und Daniel da-
gegen anonyme Scholien. Wer das beigegebene Lichtdruckfacsimile
betrachtet, wird schwerlich der Ansicht des Herausgebers beipflichten,
daß Text und Randnoten von derselben Hand stammen, und inwie-
fern der Umstand, daß einzelne interlineare Notizen den Ductus der
Randschrift zeigen, für jene Behauptung sprechen soll, ist mir un-
verständlich. Es kommt aber wirklich viel weniger darauf an, als
F. glaubt. Bei der Prüfung dieser Handschrift nun hat F. entdeckt,
daß die Scholien zu den XII Propheten identisch sind mit dem, was
die alte Catene des Chisianus R VIII 54 als Commentar des Jeru-
salemer Presbyters Hesychios bezeichnet. Da nun die äußere An-
lage, die exegetische Methode, sogar — wie F. im einzelnen belegt
— die wörtliche Ausdrucksweise der Scholien zu Isaias die gleiche
ist, wie die dieses Commentars zum Dodekapropheton, so ist der
Schluß F.s durchaus gerechtfertigt, daß auch die Isaiasscholien ein
Werk des Hesych seien. Es gehört aber fernerhin zu dem Commen-
tar über die XII Propheten eine im Chisianus und anderweitig er-
haltene, übrigens bei Migne gr. 93, 1339 ft. abgedruckte Vorrede,
die für die Beurteilung des ganzen Werkes von grundlegendem
Werte ist, die aber F. wie ich glaube mißverstanden hat, so daß es
sich empfiehlt, zunächst den Thatbestand klarzulegen, und dann
erst auf die Ausführungen des Herausgebers einzugehen.
Die uns hier angehende Anfangspartie der Vorrede nebst der
Ueberschrift lautet’):
1) Die Kola zeigen rhythmische Cadenz, meist den Doppeldactylus. * zeigt
Unregelmäßigkeiten an.
Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 9. 7
90 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
Hovyiov ngeoßvrepov ‘lego6oAvumv orıynodv Tüv ıß xoopytay
xal ‘Hoatov xal Davina Eyov Ev napadesscı tag Tüv ÖvVoyepe-
Orega@v Epumvelas.
“Eot wiv doyaiov tovro tots Deopdeorg To 6xovdaouc, oryndov
go ta noAld node thy THY pEhetmuevayv Oapivsıav tag o0g7-
teiag éxtiPeoPar, otra toryaooty bE piv tov David xıdagi-
Covta, tov [lagowmacriy Ot tag xagaBodds xal tov "ExxdAnova-
Ory tag xoogyretag éxdEwevor ota avyygagetoay thy ent
t@ Ioß PißAov' * obtm pequsPévra roig Oriyoıs ta Tüv kopdrov
&ouara. * nAnv aAdd xal ci d&nootodixiy BißAov obtm tivl ovyyea-
geioay etgwy ov uarnv Ev tais Övodcxe BiBhorg tev aeopytav
xal adros yxodovdyoc, GAM’ éxedt xoAdd piv tav doagar
N tav orliyov oapnviter Otaigecis Oddone: O& nal TÜV otty-
wav thy adndowmv xov Osi rarrsıv tag nAsiovag Gore xal cov
idiatny xal tov &yav Eriörnuova tevyijoa tw navros 7 pixgoy 7
uEeya TOD TOvymatos yorjoıuov. dedmxdrog Ot xal nag’ dEiav Tod
MVEVMATOS öneg Eorlv &yav advayxaiov tH pedetovte T00E-
Onxa ovvronoyv Öonv tiv tav dndgav 7) tvysy doapav N aad
dams cugipdAwmy EEnynowv, nagadels avriy rots Oriyoıs, * wore
äue ti avayvooe éemidapéodar Ts yvooens.
D. h. »es ist von Alters her Sitte, alttestamentliche Schriften (zag
roopnteies) in Sinnzeilen abgesetzt vorzulegen, damit der andäch-
tige Leser sie besser verstehen kann: das ist geschehen vom Vf. des
Psalters, der Proverbien, des Ecclesiastes, des Buches von den Schick-
salen des Job und des Canticum; und da ich sogar den »Apostolos«
so herausgegeben sah, habe ich mich zu einer gleichen Behandlung
der XII Propheten entschlossen. Und das ist keine vergebliche
Mühe, da schon die bloße Zeilenabteilung viele dunklen Stellen klar
macht und zugleich zeigt, wo man die meisten orıyuai &rogou!)
setzen muß, so daß sowolil der Laie wie der Fachmann mehr oder
weniger Nutzen davon hat. Außerdem hat aber der hl. Geist mir
Unwürdigen das dem andächtigen Leser Notwendigste verliehen:
so konnte ich denn eine knappe Erklärung aller irgendwie schwie-
rigen Stellen beigeben und zwar habe ich sie neben die Zeilen ge-
schrieben, so daß man gleich beim Lesen des Textes auch das Hilfs-
mittel zum Verständnis bei der Hand hat« ?).
1) Was das ist, weiß ich nicht. drögwv corrupt?
2) Vergleiche die Psalmencatene Vat. Reg. 40 s. XIV. Der Codex enthält
die Psalmen mit dem Hesychcommentar, dessen Erklärung jedesmal dem or/yog
folgt; um diesen Text steht am Rande eine Catene. Die sehr verstümmeltes=
Unterschrift f. 344% schließt mit den Worten: fa, dadce piv Povindg =
[dvayvarcı ?] parudr, va etedon EE Erolnov nal tiv vodsov Ev ovvdper [e]dei—
Hesychius Hierosolymitanus edidit Michael Faulhaber. 91
Das Werk sah also etwa so aus:
OPAZIZ ABAIOT
a’ rade Adyes xverog 6 Bede tH « tH vonf
"Wovpate
B &xoty ixoven maga xvelov B vids mage xareds N) are
naga viov* as ydag lony tiv
BovANv advarctPerae
y xal meguoyny sig ta Edvn y To evayyédiov’ wEQueyer yag
éEancorerdev Adyov thy OWTigLov
O avdornte xal dvaordipev & of rüs evoeBetag Endwral
é En’ avtiy elo noAsuov € obv rovtos yap 6 Bede waga-
TÄTTETOL
Der Bibeltext war in Sinnzeilen (natürlich ohne Worttrennung
und Lesezeichen) geschrieben, um das sofortige Verstehen zu er-
leichtern, die Erklärung direkt daneben. Hesych kannte das Ver-
fahren der Abteilung in Kola als altüberliefert bei den poetischen
Büchern des A.T. Neu war ihm die Anwendung auf prosaische
Bücher wie die Apostelgeschichte und die apostolischen Briefe,
ein Unternehmen, das unsres Wissens zuerst der heutzutage immer
noch zwischen Sein und Nichtsein schwankende Euthalius durchge-
führt hat. Das gab dem Hesych den Mut, nun auch seinerseits die
XII Propheten und — laut der Ueberschrift der Vorrede — Isaias
und Daniel in gleicher Weise zu behandeln. Er bezeichnet seine
Arbeit unzweideutig als Neuerung, gerade wie Hieronymus, der für
die lateinische Bibel das Gleiche gethan hat:
»nemo, cum prophetas versibus viderit esse descriptos (1. discriptos),
metro eos aestimet apud Hebraeos ligari et aliquid simile habere de
Psalmis vel operibus Salomonis; sed, quod in Demosthene et Tullio
solet fieri, ut per cola scribantur et commata, qui utique prosa et
non versibus conscripserunt, nos quoque utilitati legentium provi-
dentes interpretationem nouam »0u0 scribendi genere distinzimus<
(praef. in Isaiae translationem).
Durch diese Verbindung mit einer in Kola geschriebenen Text-
ausgabe erklärt sich von selbst die auffällig knappe und abgerissene
Redeweise des Commentars.
Nun existieren aber unter dem Namen des Hesych auch Inhalts-
angaben der einzelnen Capitel der XII Propheten und des Isaias.
F. hat es mit Recht befremdlich gefunden, daß in dem Prolog von
cav Epumveiav tod Belov 'Hfovjgiov Önöre 6’ lows Helnosı wlarvrég[ws] dpevrf-
oul ts thy krogovul[lvov v]& söglonn totro &v roig uerozloills]. Der Abdruck
Migne 27,649 ff. giebt eine deutliche Darstellung von der Stichenteilung.
7*
92 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
ihnen gar keine Rede ist, und versucht sie deshalb, durch folgende
Exegese darin doch zu finden (S. XIII):
»prologo saepius allegato Hesychius Hierosolymitanus memoriae
prodit libros Psalterii, Proverbiorum, Ecclesiastae, Job, Cantici Canti-
corum, librum apostolicum iam antiquitus pericopis (oriyoıs) distinctos
fuisse, duodecim autem libros prophetarum se ipsum, ut perspicuitati
consuleret, per commata divisisse. hoc ergo sensu illud vocabulum
oxynedy quod in titulo prologi occurrit, intellegendum est‘): textus
prophetarum in plura pauciorave capitula dividitur capitulorumque
summum argumentum compendiose indicatur<, dazu wird (als Beweis?)
der eben genannte Hieronymusprolog citiert. »eiusmodi capitula
Hesychii Hierosolymitani in prophetas minores publici iuris sunt
Migne 93, 1345—1370 ...«.
Nun, or/yoı sind Zeilen und keine Capitel’), orıynoov ist keine
Ausgabe mit Capiteliiberschriften, sondern eine in Versen, Paula und
Eustochius konnten nicht Gefahr laufen, die prophetischen Schriften
für Poesie zu halten, wenn sie in Capitel geteilt, sondern nur wenn
sie in Versen geschrieben waren. Nicht mit ‘uersus’, sondern mit
‘capitulum’ übersetzt Hieronymus zegcxor7 Transl. Origenis hom. in
Jerem. IV (t. V. p. 791° Vall.), Gregor von Nyssa teilt sein Werk
aeol xatacxevig Avdomnov nicht in ercéyous, sondern in xepddaa
(t. 1 p. 46°), um dem Bruder die Uebersicht zu erleichtern. Kurz, es
kann gar keine Rede davon sein, daß die erhaltenen Capitelsum-
marien in dem Prolog erwähnt seien.
Aber es schreibt sie ja auch keine Handschrift dem Hesych zu!
Daß sie in den Catenen hinter dem Prolog stehen, beweist ebenso-
wenig, wie der Umstand, daß sie genauen und wörtlichen Anschluß
an den Hesychcommentar zeigen. Dies weist nämlich F. sehr gründ-
lich auf S. XIVf. nach, er erklärt sogar ‘tantum abest, ut glossae
capitulis posteriores sint, ut etiam a capitulis supponantur’. So ist
es auch: sie sind auf Grund des Hesychcommentars erst gearbeitet.
F. meint S. XIV »glossae easdem textus sacri sectiones supponunt
quae capitulis efficiuntur; in codice Vatic. gr. 347 initia capitulorum
rubris coloribus signanture. Die Glossen würden selbst dann kaum
etwas beweisen, wenn an den betreffenden Abschnitten neue Lemma-
zahlen begönnen — wie es in F.s Ausgabe der Fall ist, wie es aber
jeder Handschriftencopist ebenso selbständig hätte thun können. Die
Hs. selbst beginnt neue Lemmazahlen nicht an den Capitelabschnit-
1) Das Richtige konnte F. aus dem von ihm (p. XIV, 1) nur aus Migne ci-
tierten R. Simon lettres critiques Basle 1699 S. 76 ff. lernen.
2) Auch nicht ‘pericopae’ von der Größe der durch die Lemmazahlen im
Text gebildeten Abschnitte, wie F. daneben anzunehmen scheint.
Hesychius Hierosolymitanus ed. Michael Faulbaber. 98
ten, sondern mit jeder neuen Seite (cf. S. VID. Daß der Bibeltext
der Hs. jedoch die Capitelanfänge rot markiert, beweist nur, daß
ihrem Copisten im XI Jahrh. die in den Summarien vorausgesetzte
Einteilung in 88 Capitel bekannt war, was niemand wunder nehmen
kann. Zudem sind in unserm Vaticanus Text und Randscholien von
verschiedenen Händen und aus verschiedenen Zeiten, wie ich glaube.
Es bleibt also zunächst für die Autorschaft des Hesych über die
Capitula kein anderes Argument, als das federleichte, daß sie ‘inter
omnes constat’ (S. XV). Dagegen fällt das Schweigen des Prologes
über eine Capitelteilung und ihre Anonymität in den Hss. schwer
ins Gewicht. Ihre Verbindung mit dem Hesychcommentar beruht,
soweit wir sicher sehen können, nur darauf, daß sie auf Grund seiner
Exegesen zusammengestellt sind. Wann diese Einteilung des Isaias
in 88 Capitel entstanden ist, bleibt also noch aufs neue zu unter-
suchen: der Verfasser des Prologs weiß noch nichts von ihr.
Hesychs Isaiascommentar ist also nach dem vom Jahre 396 datier-
ten Werke des Euthalius (s. jetzt v. Dobschütz in Herzogs R. E.? »Eu-
thalius<) entstanden. Daß Hieronymus ihn nicht nennt, ist also ganz
in der Ordnung. Die Anspielungen auf den Nestorianischen Streit
hat F. S. XXIII gesammelt, und die andrerseits noch vorhandene
Polemik gegen Ausplaudern der christlichen Arcana führt ihn zu
dem richtigen Schlusse, daß die Glossen ‘probabilius quinto quam
sexto saeculo’ geschrieben seien. F. hätte S. XXIII die chronologi-
sche Untersuchung gar nicht so ängstlich auf den Commentar zu
beschränken brauchen: das ‘neque mihi hoc loco de Hesychii tem-
pore fusius agendum est’ ist unberechtigt, denn wenn die Lebenszeit
des Hesych sich ermitteln läßt und mit dem aus den Glossen ge-
fundenen Saeculum übereinstimmt, so ist das doch eine recht er-
wünschte Bestätigung der hypothetischen Verfasserschaft des He-
sych. Nun berichtet Theophanes von einem Jerusalemer Presbyter
Hesych, der im Jahre 412, dem Todesjahr des Theophilus von
Alexandria, five reis didacxadlarg (p.83, 6 de Boor) und im Jahre der
Vermählung Valentinians III. mit Eudoxia (nach Socr. VII 44 a. 436
nach Theoph. 433 p. 92, 16) starb; das Kloster des hl. Euthymius
wird 428 von einem frommen Presbyter Hesych besucht (Cyrilli Scy-
thopolitani vita S. Euthymii Migne 114 p. 629): so haben wir allen
Grund, diesen — wie auch bisher meist geschehen — für den Ver-
fasser unserer Commentare zu halten.
Doch nun zu der Ausgabe selbst. F. hat jede Seite in zwei
Columnen geteilt, links steht der Isaiastext mit Auslassung der
nicht interpretierten und zum Verständnis des Zusammenhangs nicht
nötigen Stellen, rechts der Hesychcommentar, beide werden regel-
94 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
mäßig unterbrochen durch die Pseudohesychischen Summarien. Der
Herausgeber hat nicht geringe Mühe auf die zweifelsohne recht wich-
tige Frage verwendet, welcher Bibeltext seinem Commentar zu
Grunde liege (S. XXV); die Norm, nach der er schließlich seine
linke Columne gestaltet hat, ist folgende: Als fundamentum dient
der Text des Alexandrinus A, mit dem Hesych öfter stimmt wie mit
dem Vaticanus B; folgt die Glosse einem andern Wortlaut, so kommt
dieser in den Text: seine Bezeugung steht dann nebst der Lesart
von A unten am Rande. Ebendort sind regelmäßig alle hexaplarischen
Zusätze Grabes (= A?) angemerkt, weil die Glossen sie nicht selten
voraussetzen — in diesem Falle stehen sie natürlich im Text. Die
Lesarten entnimmt F. der Tischendorfschen LXX-Ausgabe'): weiß er
nichts von der Existenz der um vieles besseren, nun schon in zwei-
ter Auflage erschienenen von Swete, aus der er u. a. auch den für
ihn recht wichtigen codex Marchalianus Q hätte kennen lernen?
Zunächst muß bemerkt werden, daß der Herausgeber keines-
wegs einfach den Text von A zu Grunde legt, wie man nach p. XXVIII
annehmen wird. Ohne daß die Glossen ihm die geringste Handhabe
dazu bieten liest er 124 Ioga7A mit BSQ statt "TegovoaAnu A, 21 N ij
mit BSQ statt 7 yi adrov A, 513 didos mit BQ statt dépayv AS, 69
éxoveetée mit BSQ statt dxovenre A, 714 Ayeraı mit B statt ge: ASQ,
71 u. 6. “Paoty statt 'Paaoowov A, 9ı xagadtav mit BQ statt raedAoy
AS, 96 xaAsizae mit BSQ statt xadgoe: A, 911 Enavıorausvovs mit BS°Q
statt &ravıoravouevovgs AS* u.s.f. Es ist Kleinkrämerei, Varianten wie
210 eloeAdere >eloedBare BS, (217 weosive A weoeitar S!) 310 elxdy-
teg> einavres A. yevviuare> yevyuaca ABS überhaupt anzumerken,
zumal wenn anderweitig derartiges gar nicht beachtet wird, wie 3so,
wo die Glosse mit BSQ ovvdesıv bezeugt, ovveory A im Apparat
fehlt. Weglassung von orthographischen Kleinigkeiten und Conse-
quenz in der Durchführung der Lesarten einer Hs. wären also zu-
nächst sodann wünschenswert gewesen, daß der Verf. seine Aufgabe
im Ganzen praktischer angefaßt hätte.
Der Herausgeber war in der schwierigen Lage, zu seinen
Glossen einen Text bieten zu müssen, um die Lemmata daranzu-
hängen, weil sonst die knappen Worte des Commentars unverständ-
lich gewesen wären. Durch das Verfahren F.s gewinnt nun der
Leser den Eindruck, er habe links den so gut wie möglich herge-
stellten Text des Hesych, während in Wahrheit die Glossen in der
überwiegenden Mehrzahl der Fälle überhaupt nichts über den Text
aussagen und nur hie und da einmal diese oder jene Variante be-
1) Daher die falschen Angaben über B 3, S. 8 16, 8. 51.
Hesychius Hierosolymitanus ed. Michael Faulbaber. 95
zeugen. Es wäre also die Aufgabe des Herausgebers gewesen, die
Fälle, an denen er wirklich den Text des Hesych herstellen konnte,
deutlich zu kennzeichen, etwa durch Sperrdruck oder andere Typen,
und an diesen, aber auch nur an diesen Stellen die von Hesych ab-
weichenden Varianten am Rande aufzuführen. Im übrigen mußte ein
beliebiger Text, am bequemsten der des Vaticanus abgedruckt wer-
den, von dessen absoluter Bedeutungslosigkeit für Hesych der Leser
zu unterrichten war. Von einer Vorliebe des Hesych für A kann
gar keine Rede sein, und vollends die Beigabe der Lesarten Grabes
am unteren Rande ist ebenso störend wie überflüssig. Um zu zei-
gen, daß diese Anforderung keine übertrieben große ist, und der
Leser mit geringer Mühe ein Bild von dem sicher durch Hesych
Bezeugten hätte erhalten können, während er jetzt die Arbeit
selbst machen muß, setze ich die Stellen aus cap. 1—10 hierher,
an denen die Glossen beim Auseinandergehen der Hss. sich für
eine Lesart mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit entscheiden ).
lei lies nAYons xetoemsg xal aAndeiag S* nach (£) 7 wore dAndelas
girons: xa dAndeias om ABQS? (Faulh.). les af mdAsıs tudy xvel-
xavoroı A: om BSQ (Faulh. wohl mit Recht, weil die Glosse, die
alles benachbarte erklärt, diesen Satz nicht bedenkt). 24 és AS*.
(Faulh.) durch (sa) ovxerı bezeugt: om BS*Q. 217 dog ASQ (Faulh.)
sicher durch (ua): ößgıs B. 32 xal doyvovra zu streichen mit S*,
die jedes Glied erklärende Glosse überspringt die Worte: hab
ABS»Q (Faulh.). 3ıs xal werd tdv doydvrov a&dtod mit S* zu strei-
chen, die Glosse (8) kennt nur zesoßvreoo:; hab ABS**Q (Faulh.).
320 ta wegıdeın xal tovg daxtvdiovg AQS" (Faulh.) bezeugt durch (x)
(xa): om S*, rode daxrvilovs xal ra wegude&ia B. 323 PéQuoroa ABS"™Q
(Faulh.): + xal za S*. der Zusatz ausgeschlossen durch (A). 324
nösieg BSQ* (Faulh.) durch (Aa) gesichert: (@dtag AQ*. oyomıö S
durch (4d) ausgeschlossen. 44 ’IegovaaAnu S*Q"s (Faulh.) gesichert
durch (v8): om ABS?Q. xal nvevuarı xavosms BSQ (Faulh.) bezeugt
durch (a): om A. 55 ist ofxd A* und dıegmeynv (2°) A durch (x) und
(xa) ausgeschlossen. 512 lies tod feod S* nach (ıß) xocrjpata tov
Se0v: xveiov AB (S'Q) (Faulh.). 514 xal 6 dyakklımusvos Ev ur
nach 2’6’Q™ (Faulh.) gesichert durch (x): om ABSQ. 519 zoufaeı
ABSQ (Faulh.) sicher durch (8) 6 »gıris: org 6 Bedg SA. 520 of
zıdevres rd oxdros pag xal ro pag oxdrog ABQ (Faulh.) durch (y) (0)
sicher: umgekehrt S. 5a: &avröv AQ (Faulh.) durch (s) & Eavrav
bezeugt: adrayv BS. 526 adrovs B (Faulh.) vielleicht durchf(x«) xeAevee
empfohlen : adrots ASQ*. 527 od meıvacovaıv odd? BSQ (Faulh.) durch
1) Ich beschränke mich auf die Hss. ABSQ nach Swetes erster Ausgabe.
96 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
(xy) sicher: om A. 529 ögyıöcıw B wahrscheinlicher wegen |
nar vg dosBetag devovra: doumory AS*Q (Faulh.). mxageorrjxa
dg oxduvor B besser wegen (Ae) touréors Aedvt@y Fyovow dx,
E6vrov podvnua xal mapdarnua: x. ds oxduvog ASQ (Faul
das Lemma (As) gehört hinter Agovtog, wie der Wortlaut der Gl
zeigt. 580 ist der Zusatz von S eig tov odgavdv &vm xal durch (
wohl ausgeschlossen. 61s éxxéoy BSQ (Faulh.) sicher durch (i
&xoraodij A. Ts vlog BSQ (Faulh.) sicher durch (y): ddedqds
Tis abtdg A*BSQ (Faulh.) durch (£) sicher: avroig A*. Tis éxdcbae
mit BS* statt éxdggeras AS*Q. Tis tav duo Baocdéoy BSQ (Fau
durch (ty) &xdregog bezeugt: adr@v A. Tis wégog BS* gesicl
durch (is): wégovg AS°Q (Faulh.). 719 xal Ev zavı) EvAm ASQ (Fau
gesichert durch (x): om B. 720 18 uswodwuevp B sicher di
(*B): zo peyddm xal (TB Q) weuedvoutvo ASQ (td weydio
wepıodmuevo Faulh.). 730 ö gory AS*Q*: om B(Q™s) (Faulh.)
(xy). 81 gdgrov A: om BSQ (Faulh.) und (a). 82 toy legge
(Faulh.) sicher durch (2): om ABSQ 8 avrav Holmes 106 (Fat
durch (m) sicher: adtod ABSQ. 8 Jleyvonte zdAıv ABSen
(Faulh.) mit (ca): om S*. 81s péfog ABQ (Faulh.) mit (1): /
86g S. 818 eis omweia ASQ: onusta B (Faulh.) mit (6). 819 +
dxd cis vis povorvtas xal rods Eyyaorgıuddoug ASQ (Fat
sicher durch (e) (s): umgekehrt B. dd A (Faulh.). mit (¢): é E
9ı zie ABSQ (Faulh.) durch (a) sicher: more Qwe. 9 dmaırovv
ABS**Q (Faulh.) nach (18): dusıdovvrov S*. 96 Bavuaorös — ala
AS* (Faulh.) durch (cy) bis (xß) sicher: om BS*Q. #eög layugds
loyugds A (Faulh.)nach (18). eiprjvnv 2° AS*Q (Faulh.): om BS* und
Glosse (xd). 911 adrdv BS*Q (Faulh.) nach (6): abrovg AS*. 10s
éxcoxonijg BSQ (Faulh.) durch (xd) sicher: éxtoxomijg A. 1010 doy&s E
sicher durch (8) tag BaoıReiag: yugag ASQ (Faulh.). 1011 xal zoig &i
Aowg abrijg ABSQ™ (Faulh.) nach (cy): om Q. 1012 adrod ABS*Q (Far
nach (is): avray S*. 101 adrov BSQ (Faulh.) (xm): adrd A.
of Bovvol xa) of devpol BSQ (Faulh.) nach (x): umgekehrt A.
am Ende of éymdol AB (Faulh.) nach (1s): om SQ. 1054 lies
asoovvtat of üymAol SQ nach (cf): om A, xal xeoodvrae dyndc
(Faulh.). Das ist alles, was die ersten 37 Seiten der Ausgabe
den Text lehren: diese Stellen hätten kenntlich gemacht und mit «
oben beigegebenen Apparat versehen werden miissen, um dem Li
ein richtiges Bild zu geben, alle andern Varianten konnten wegfal
nur so weiß der Benutzer, worauf es ankommt, während er s
beständig die LXX-Ausgabe neben sich haben muß.
Ganz willkürliche Textänderung ist es, wenn F. 7s: mesty
jungen Hes. gegen xoıstv ABSQ einsetzt. 5s ist das od yenpy
Hesychius Hierosolymitanus ed. Michael Faulhaber. 97
der Glosse (xy) kein genügender Grund, um od runPf gegen AB (sic)SQ
od un rund zu schreiben. le ist odx for &v adrd ddoxAnola Q™*
aus Aquila keineswegs durch die Glosse (1) bezeugt, denn diese
(Tovreorıv trate nioav xAnyhy td tod Aanod tv "Iovdatwy dopm-
ornua) gehört hinter otte tA ny} pdsypatvovea. Umzustellen sind
auch S. 28 die Lemmata (c) und (€): (<) gehört hinter @averov,
denn die dxgoßvorie, von der (=) redet sind die x«roıxoüvreg ev
100g xal ond Paverov. Schwer ist die Entscheidung über die Lesart
von 7s, doch dürfte F. mit der Auslassung von Japacxod Recht haben.
Zum Text des Hesych ist wenig zu bemerken: er bietet dem
Herausgeber nur geringe Schwierigkeiten. S. 10 &, (xd) tag Evro-
Adg af obs lölovs olxovg xvßegväv exedevobyoav muß heißen ale.
S. 12 «, (ve) wird hinter dem beginnenden x«l etwas fehlen oder
dies selbst ist corrupt. S. 22 ca (18) lies & yde dyvosl ti caonl,
tovrov thy yvaow (and) tig Bedrnrog xéxrntar. S. 23 wa, (Ic) xa-
Atosı ta &dvn ta Alyintia, ineg wEQog rob Nethov xvevever* td
zAEov yao avtotis naga toig ’Ivdois gégerar; statt adrots lies
ebrod. Uebrigens fehlt die Stelle im Index s. v. Nilus, auch die
Inder als Bewohner des Niloberlaufs mußten notiert werden. S. 49
xé, (xB) wohl dxeg (en) adriv 6 dtéBodog Zonsıgev. S. 51 hat
Hesych 16s statt wsdi« gelesen zaıdia nach der Glosse (uß) ra rexve.
S. 53 war zu (4B) zu notieren Act. 26 44 S. 4 (4) xodow mug
avrov tig mAdvyns naver xal tig Andıng dpioryoy: lies avrovs, e8
ist von évy die Rede. S. 120 (we) zu Is 4028 ndvre ex’ dvdpate
xchéoer and tijg moAAns ÖdEns bemerkt die Glosse: xal &g nwelg odx
lopev ta dvduata;, durch die Aenderung ov wird das xavra erst ge-
nügend hervorgehoben. Eigene Aenderungen des Herausgebers fin-
den sich an 19 Stellen; meist sind sie durchaus berechtigt. Nur
S.6 in der Glosse zu Is 217 xal tywdroeree xverog wdvog Ev tH NWERR
éxetvy (up) xeéons EböNAov bxoxuatovens tig xoicems ist nicht mit
F. xadvre zu lesen, sondern xtrioens: tbxoxvdara heißt ‘sich ducken’,
nicht ‘ducken’. 5.11 heißt zu Is. 326 xal eis rw yay &dayısdnon die
Glosse (ud) eis td yijtvoy xarenyzdijon podvnua. F. corrigiert xata-
vırzdjon (von xataviccopa: = xaravicoucı, einem nur aus alexan-
drinischen Dichtern belegten Verbum ?), warum nicht das nächst-
liegende xateveydyjon? S. 59 A’ (8) wäre es vorsichtiger, das nicht
augmentierte Plusquamperfectum &vdgövro der Hs. stehen zu lassen.
Ebenso ist nichts zu ändern S. 129 v (9) rovrov yap avroy
dpıv xal éxddeoev: Hesych liebt verschränkte Wortstellung bis zur
Unerträglichkeit: F. stellt um ydpıv adrdv. S. 23 (xg) &Aoyov: lies
&doAov.
Bei den vielfachen Uebersetzungen hebräischer Eigennamen wäre
98 Gött, gel. Anz. 1901. Nr. 2.
ein Hinweis auf Lagardes Onomastica sacra zu wünschen gewesen,
ebenso der Nachweis, daß die topographischen Bemerkungen zu 79
(S. 21) 339 (S. 104) 36: (S. 111, vgl. aber p. XXIII.) aus Eusebs
Buch wegl tüv Tonıxav dvoperayv tüv Ev rij Fela yeapy stammen.
Was über Rhinokorura zu 2717 (S. 82) gesagt wird, stammt eben
daher, resp. aus des Hieronymus Quelle, der zu Amos 61: ff. be-
merkt: »usque ad Rhinocoruram, inter quam et Pelusium rius Nili
sine torrens de eremo ueniens mare ingreditur«.
Nach den Worten der Vorrede S. IX dürfen wir vom Heraus-
geber die Edition des Hesychcommentars zu den XII Propheten er-
warten: möge er die in dieser Anzeige gemachten Ausstellungen als
ein Zeichen aufrichtiger Teilnahme an seinen verdienstvollen Ar-
beiten betrachten und sie bei neuen Editionen in Erwägung ziehen.
Wie steht es denn mit dem Danielcommentar? Man ist zunächst
versucht, die anonymen Glossen des codex Vat. 347 dafür zu halten;
der Herausgeber würde sich Dank verdienen, wenn er mitteilte, ob
und warum diese nicht von Hesych sein können.
Bonn, September 1900. Hans Lietzmann.
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Hermannus Usener et Ludovicus
Radermacher. Volumen prius. Lipsiae in aedibus B. G. Teubneri 1899.
XLIV 438 S. Preis 6 M.
Seit Jahrzehnten war es auch den Fernerstehenden bekannt,
daß H. Usener eine Ausgabe der rhetorischen Schriften des Dionys
von Halikarnaß vorbereite, eine Anzahl von Abhandlungen in Zeit-
schriften und Universitatsprogrammen gab glänzende Proben von
seiner sorgsamen und umsichtigen Sammlung des Stoffes und seiner
eindringlichen und fruchtbaren Beschäftigung mit dem Rhetor, es
erschien auch eine Sammlung der Reste der Bücher über die Nach-
ahmung, und die Besucher der Kölner Philologenversammlung er-
freute eine Ausgabe der unter Dionys’ Namen gehenden Rhetorik
und erweckte in ihnen die Hoffnung, daß endlich die Ausgabe selbst
kommen werde, aber es vergingen noch wieder fast vier Jahre, bis
der erste Band erschien, in dessen Bearbeitung sich nun U. mit L.
Radermacher geteilt hatte. Die Verzögerung war leider verur-
sacht durch eine schwere Augenkrankheit Useners, die ihn über
zwei Jahre am Arbeiten hinderte und ihn nötigte, den Druck zu
unterbrechen, denn die erste Hälfte, Radermachers Werk, war schon
Herbst 1896 im Druck vollendet. Nun ist seit dem Erscheinen des
Bandes auch schon wieder geraume Zeit verstrichen , längst ist er
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 99
in den Fachzeitschriften angezeigt und überall mit Freude und wohl-
verdientem Lobe begrüßt worden, hier und da sind von ihm veran-
laßte Beiträge zur Herstellung des Textes erschienen, unter den
philologischen Lesern dieser Zeitschrift ist wohl keiner, der nicht
schon an der saubern Ausgabe seine Freude gehabt hätte, das Werk
hat schon die Meister gelobt — da brauche ich es hier nicht mehr, U.
ist ohnehin über alles Lob erhaben, und Freund R., dem U. p. XXXV
hohe Anerkennung spendet, dessen Konjekturen U. v. Wilamowitz
meisterhaft nennt, wird gern auf weiteres Lob verzichten. So wird
denn im folgenden viel mehr von dem die Rede sein, wo ich von
den Herausgebern abweiche, als wo ich mit ihnen übereinstimme,
ich wünsche nur, daß es mir gelingen möge, auch die Sache zu för-
dern und die Zustimmung der Herausgeber zu finden, von denen U.
das schöne Wort ausgesprochen hat: a nullo profecto libentius discas
quam a discipulo.
Die neue Ausgabe, in der Reihe der Gesamtausgaben nach der
Sylburgischen und der Reiskischen die dritte, ist mehrfach eine
editio princeps genannt worden, und mit Recht, es ist die erste, die
sich auf der gesamten handschriftlichen Ueberlieferung aufbaut.
Ueberraschungen allerdings erleben wir nicht, dazu ist die Ausgabe
zu spät gekommen, die hatte vorweggenommen, den Rahm sozu-
sagen abgeschöpft, Leon. Sadée in seiner äußerst sorgfältigen und
ergebnisreichen Dissertation De Dionysii Halicarnassensis scriptis
rhetoricis (Straßburg 1878), in der er über die beiden Haupthand-
schriften berichtete und anführte, was aus ihnen für die Herstellung
des Textes zu gewinnen sei; aus den übrigen Handschriften aber ist
leider nicht viel zu holen gewesen.
Ueber alle ihm bekannt gewordenen Hss. — es sind über 60 —
sowie über die frühern Ausgaben giebt Usener in der Vorrede einen
knappen, klaren Ueberblick. Mit deın größten Eifer ist er dem un-
gedruckten wie gedruckten Material nachgegangen, ist es ihm doch
gelungen, zwei Exemplare einer Aldina aufzustöbern, die den Anfang
der Schrift über Thukydides enthält, aber niemals vollendet und
herausgegeben ist (p. XXXII). Von den Handschriften kommen für
die in unserm Bande enthaltenen Schriften besonders in betracht ein
codex Florentinus bybliothecae Laurent. LIX 15 (F) und ein Am-
brosianus D 119 (M).
Für den Florentinus hat sich U. nicht mit einer Verglei-
chung A. Kießlings begnügt, sondern um ganz sicher zu gehen, hat
er sie von C. Dilthey revidieren lassen. Aber die Hs. ist vielfach
korrigiert, und so müssen denn trotz der »denkbarsten Genauigkeit«,
mit der Dilthey gearbeitet hat (Fleckeisens J. J. 1873, 154), hier und _
100 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
da Zweifel aufsteigen auf Grund der Angaben Sadées. Die Nach-
träge, die er zu Useners Kollation p. 10 giebt, hat R. zum Teil
berücksichtigt, aber leider nicht beachtet, oder doch anzugeben un-
terlassen '), daß sich auch sonst mehrfach Diskrepanzen finden, z.B.
grade an den zwei Stellen, die Sadee p. 40 bespricht, um den Kor-
rektor von F (F*) der Interpolation zu bezichtigen : p. 64, 7 ff. rods
dt ovuudyovz ... TE?) xal evegyeciars xetoaoda xarlysıv, Alla
un talc dvdyxaıs und: rats Bias habe er aus tats Biase gemacht ras
Bias, bei R. dagegen heißt es: tds Biag F', und 64, 17 habe er nach
evdaipoviay in den Text re eingeschwärzt, wovon R. nichts sagt.
Grade über die verschiedenen Hände, die die Hs. korrigiert haben,
gehen die Angaben auseinander: nach Sadée waren es 2, eine dritte
erkennt er nur in der Schrift über Deinarch an, während nach Dil-
they auch in den übrigen Schriften manche Aenderungen von einer
dritten Hd. herrühren ?), ein Widerspruch, den ich nicht lösen kann.
Aber auch die beiden andern Hände lassen sich nicht leicht unter-
scheiden, und doch ist die Sache von Wichtigkeit, denn F! ist der
Schreiber selbst, der seine Schreibfehler verbessert, und deren sind
nicht wenige, woher aber stammen die Lesarten von F?? U., der
J. J. a.a.O. 163 Anm. 20 die Frage gestreift hatte, geht in der Vor-
rede leider nicht darauf ein, Sadee handelt darüber p. 36 ff. und
meint, sie stammten aus einer andern Hs., während ich seinerzeit
(Rhein. Mus. 33, 363) vermutete, der Archetypos unserer Hss. habe
mancherlei Korrekturen gehabt, F habe den ursprünglichen Text
1) Zuweilen mag auch ein Versehen vorliegen, wie es bei der Zusammen-
stellung und Ordnung eines großen Apparats trotz peinlichster Sorgfalt nur zu
leicht vorkommt ; nach den Notizen, die ich mir einst aus Useners Kollationen
machen durfte, giebt z. B. auch Dilthey 34,15 eine Rasur nach ye/ an (govg war
doppelt geschrieben am Ende und am Anfang der Zeile), 37,11 bemerkt er, daß
&x wohl von F! übergeschrieben, von 2 Hd. in é» verwandelt sei, wie er auch
die Rasuren und Korrektur von »eıgaısi angiebt, ebenso 35, 18 é corr. F! in dz’,
87,15 slacroy F!, 38,12 die Korrektur in xedregor, 39, 21 dv sxodryrovs, 99, 18
Rasur hinter &loıövrwv (punct. del.), 100, 18 undels F, 108, 11 xegaxovoecfar F
(nach Sadée p. 120 xagaxovec#ar, wonach man mit v wagaxgovecd«ı schreiben
könnte).
2) ye Hss. eövol® setzte H. Wolf ein, Radermacher sagt guid desit non con-
stat, gewiß, aber vermuten darf man wohl Hegarelaus, 8. Is. 4,80 Hegamwedonres
air’ 06x üßelkovres rots "Elinvas = Dion. 62,7 tH Hegansdsıv xeocnyorro ras
zöltıs xual ro weldEeıv taig ebepyeoiaug uällov 7 tH BidfecPar toig Omloıg xar-
€iy0V.
3) Z.B. 35,4. 101,14. 17,16, wo man leicht öpoloynosıe vermuten könnte,
‘nach 200, 21 ob@sls gortv, Sg 06x Öuoloynosıev;, aber nach Sadée p. 35 hat F! selbst
geändert, und nötig wäre auch wohl, wie an der verglichenen Stelle, die Einsetzung
., yon a». _
eo ® .
e . . ©& .
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 101
und die Korrektur, die 2. Hssklasse gewöhnlich nur die Korrektur,
die aber nicht immer die richtige Lesart zu sein braucht, Sadée
p. 39, bisweilen finden sich auch in einzelnen Abschriften beide Les-
arten, z. B. 114, 19 unddv F! und’ &v F?M, undty dv BP, also stand
a
v
im Archetypos und:v; 43, 17 rovrav trois FG rovrov MPB, rich-
TOL
tig ist tovrors, also stand im Archetypos rovron). Doch woher auch
die Korrekturen von F? stammen mögen, der ist der charakteristische
Unterschied zwischen denen von F? und F?*, daß bei F! die Kor-
rektur die überlieferte Lesart bietet, das andre nur Schreibfehler
ist !): also ist 18, 1 nur éxdecEouae überliefert, wenn es wirklich
von F! geändert ist (Sad. p. 35), 13, 18 ist mit F’PG das einzig
angemessene otras (nach Sad. p. 25 aus ovr@s geändert) zu schrei-
ben, 41, 18 (= Lys. 32, 20) hat ray wiv fEagvos yevecheı keine
Berechtigung, da F! c@ in ra geändert hat (Sad. p. 114). Vielleicht
verdient auch in dem Isaiosstiick 119, 10 (= Is. 12, 9) 68, das nach
Sad. p. 119 von F! herrührt, Aufnahme in den Text, mag auch das
einfache éwevra das gewöhnliche sein. 300, 7 widersprechen sich die
Angaben: &@yvaiovg F) ut videtur, &dnvaioıs F? nach R., dInvaloıs
corr. F!, fust wy nach Sad. p. 36, das richtige ist Adnvaiov. Stand
dies etwa im Text und wurde von F? geändert? Denn so oft F*
das Richtige hat (Sad. p. 36 f.), es finden sich auch Lesarten, die man
nur als Schlimmbesserungen bezeichnen kann, so 17, 10 Adkeog F!
téemgo F?*) und die übrigen, 85, 1 auvsAßdvrss: ovv &Addvreg F?
üdövres F?, 86, 17 n000%x0v tocaira : xgoorxovros atta ta F!
2p007x0v abra ta F*, 114, 21 Evddunud ce: Evduunuarı F! évOvpnua
F119, 3 bxodlxovg huäs : bxodunuas F! ünodixovs F? u. 6. Man
muß deshalb auf der Hut sein und stets sorgfältig prüfen, ob F?
das Richtige bietet. R. hat denn auch grade auf die ursprüngliche
Schreibung seine Aufmerksamkeit gerichtet und sie zu Vermutungen
benutzt, nicht immer mit einleuchtendem Erfolge, z. B. 10, 15 &£14-
lactov tov idudtyy xal xacépevyov eis tiv xountixiy pedo. Da
Fit .. iöior.v hat, vermutet er thy ldıörıv, verweist aber selbst
1) Meine Vermutung éxopévey 34, 9 (== Lys. 32, 2) entbehrt also der äußern
Stitse, wenn die Aenderung von F? ist (Sad.), aber Dilthey bemerkt eivas ab
dia mane restitutum, und 17,7 ist xat &wegdegyos zu schreiben, wenn die Aende-
rng von F* stammt (Sad. p. 35).
eon wunderliches Versehen, nachdem so lange von der A¢ét¢ die Rede war,
rea cite nor Altes richtig ist, bedarf keines Wortes. P. Corssens Erklärung
vie ern (in dieser Zsch. 1899, 818) übergeht man am besten mit Schweigen;
ur das Part, Aor. éx@elg so ganz übersehen konnte
102 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
gleich auf 13, 9, und auch sonst wird ddıarng so gebraucht: 23, 1
N tho oOvvdtcsme rtaHv dvoudtrav Ndovn wiuovuevns rdv ddıarm,
414, 11 xgeirrova gory N xara tov (dvd@tyy nach Isokrates’ Vorgang
4, 11 Enırıuücı tov Adyar Tois brig tove (datas Eyovaı. — 117,
19 (= Isai. 12, 5) sucht R. mit Recht nach dem getilgten Wort,
aber Exovaiwz ist ungeeignet, was der Redner schrieb weiß ich nicht,
der Gedanke erfordert r«& ywevdn, vgl. Z. 3. 13 und gleich darauf
vevön pagtveiav. Dagegen hätte R. 47, 23 (= Lys. 33, 6) von
oteo7joda: KF! ausgehen und mit v &oregijodeı schreiben sollen statt
mit F? MBP orsgeicde:, denn diese Form kennt Lysias nicht (s. Wo-
chenschrift f. kl. Philol. 1898, 399). Beachtung verdient m. Er. auch
16, 10 zenoineeı yao avtd toüro to anointov die Lesart von F!
«brö, mag die Aenderung von F? (Sad.) oder F’ (Dilthey) herrühren,
vgl. im folg. &v atta ro un Öoxeiv, und 10, 10 odx Exi tovt@ pdvoy
Encıveiv adroy Äıov, wo avrov in F'G fehlt, könnte man versucht
sein &ıogs zu schreiben, denn diese persönliche Konstruktion ist
Dionys nicht fremd, 165, 21 7 Ac&tg . . todddy wiv Evexa Fave
die, wenn nur nicht Auslassungen so häufig in F wären. Deshalb
ziehe ich auch vor 17, 3 dtxaory te xal ExxAnsıaotij mit allen Hss.
gegen F! zu schreiben, denn grade dies Wörtchen hat der Schreiber
oft ausgelassen (z. B. 9,13, auch 26, 17 nach Sad. p. 35); auch scheint
mir 30, 21 dé richtiger als 07) F!, vgl. 26, 20.
Den Ambrosianus (M), den U. in den Anfang des 15. Jahr-
hunderts setzt, hält der Präfekt der Ambrosiana Msgr. A. Ce-
riani für etwas jünger, denn es ist ihm, wie er mir im Marz d. J.
freundlichst auseinandersetzte, höchst wahrscheinlich, daß er von der
Hand des bekannten Schreibers Johannes Rhosos aus Kreta (Gardt-
hausen Gr. Paläogr. 326 f.) geschrieben sei und in die 2. Hälfte
des Jahrhunderts gehöre. Sadee führt auch aus ihm sehr viele Les-
arten an, die z.T. von U. u. R. benutzt sind, aber ich sah bald, daß
doch öfter die Angaben nicht zusammen stimmen, und habe deshalb eine
Anzahl von Stellen selbst nachgeprüft. Darnach hat M 49, 5 &ionyr-
yato | 49, 6 tovg | 50, 1 &ereog M! corr. äoreng | 50, 13 dyes M!
corr. tpets | 51, 20 0” | 52, 4 xauAög M! corr. xaddg ut videtur | 56, 7
Övslv corr. ex Övoiv | 106, 18 od@év oe | 110, 8 gacly oy | 110, 10
&oıxe | 116, 15 vlot | 117, 5 eovetag M! | 118, 14 adrn, wie die
Vergleichung mit avroy ergiebt | 118, 17 aurüv | 120, 11 xaradır-
ınoav | 120, 19 ddmvaioı | 131, 15 éxdrega | 132, 19 oF | 133, 1
vsorego:cı M rubro, von derselben Hd. am Rand @eacvucyzov | 133,
12 diexıvövvov | 133, 15 &ydgav corr. ex &ydeus | 134, 14 xeeopy-
tegoe | 138, 1 in dAAnyopiag ist nach dem 2. a ein Buchstabe ra-
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 108
diert, ¢ nicht in Rasur, rs ist übergeschrieben | 138, 20 d% | 142, 9
T
éxioxonxov | 142, 14 ovdo || uevev | 142, 15 wayerov | 148, 6 ddovijow
| 149, 18 4} civ | 151, 13 rovigos, ws corr. ex es | 152 in dem Scho-
lion 66 xgea, über ı eine Rasur, wie es scheint | 172, 3 & von Zysı
in Rasur | 177,17 eionvevdusvov | 190, 12 einov | (fin. pag.) ra
&Ada | 201, 13 xarmpdmucra | 202, 9 xara | 203, 7 xard | 203, 17
etxdt@s | 205, 16 ndvn | 207, 4 slonxev | 207, 5 obtm müs | 209, 23
Gpuovia | 210, 1 zapeyouaı | 211,7 reaydrnee | 212, 7 Zxov | 213, 11
dxordAAnAov | 216, 18 psgoudva | 219, 23 fv | 228, 8 gv- | (fin.
vers.) gpvosı | 232, 15 stozjxe | 232, 20 orozeta | 235, 2 xageyor
| 237,2 &v &xaoroıg | 238, 7 re om. | 240, 12 bony | 243, 11 Ae-
Eiv | 244, 10 xadvmoxgıvauevorg | 244, 12 ravens dé | 247, 3 devo’
od’ andiıne | 249, 25 To yee | 330, 8 wegl om. | 330, 14 ebpemy Te
| 346, 15 otre | 349, 3 rate draddyorg | 349, 17 wAnGecer, das 2. &ı corr.
ex n M! | 360,8 xaddienuoovyny | 361, 15 Enta xal elnooaern | 372, 2
xcai om. | 378, 9 dedopevor | 394, 8 orn | 394, 16 wapayeodaı | 396,
5 of om. | 398, 5 dnoAwäsxdg | 399, 25 EHegikeıw | 403, 17 Nör-
Awotg | 418, 9 yvopnua. Schwierigkeiten macht es die Größe der
Lücken genau zu bestimmen, die in der Schrift über Demosthenes
so zahlreich sind; ich habe einige gemessen und unter Vergleichung
der nächsten Zeilen festgestellt, daß 133, 5 nach ovugo 17—18,
137, 19 6, 138, 1 14—15, 142, 17 7—10, 150, 16 9—10, 17 10—12,
18 10—12, 19 20—22, 151,1 20—23. 171, 10 10—11, 177,5 9—10,
188, 1 7,3 7,4 10—12, 203, 23 12—14 Buchstaben stehen können.
Aber auch in unmittelbarer Nähe sind die Buchstaben nicht immer
gleich groß, so daß ein gewisser Spielraum bleibt; übrigens ist die
Sache nicht allzu wichtig, da den Lücken, wie sich z. B. aus der
Schrift über Isokrates 80, 12 ff. ergiebt, ein sozusagen urkundlicher
Wert nicht zukommt.
Demselben Zweig der Ueberlieferung wie M gehören an ein
Vaticanus Palatinus (P), ein Parisinus (B) und für die Schrift über
Demosthenes ein Venetus, über den Usener p. XX fi. berichtet.
Erinnert hat er sich seiner erst, als es zur Benutzung zu spät war;
das ist für die Ausgabe höchst bedauerlich, denn hätte R. eine Kol-
lation von V gehabt, so hätte er sich m. Er. sehr wahrscheinlich
entschlossen, P und B ich will nicht sagen ganz beiseite zu lassen,
aber doch den Apparat von ihren oft gradezu abscheulichen Schreib-
fehlern zu entlasten, was vielleicht auch jetzt schon rätlich gewesen
wäre !). Ein kurzer Hinweis in der Vorrede hätte vollauf genügt.
1) Die Frage über den Wert von BP wird p. XXXVIf. doch etwas zu sum-
102 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
gleich auf 13, 9, und auch sonst wird ¢édvmrns so gebraucht: 23,
N tig ovvdécsms Tüv dvoudtmy dort) pwimovpévng roy idcarn
414, 11 xgsirrova gory N) xar& tov tédt@tyy nach Isokrates’ Vorgaı
4, 11 énitipdor trav Adyav roig bnte tovs (dımrag éyover. — 11
19 (= Isai. 12, 5) sucht R. mit Recht nach dem getilgten Woı
aber éxovoims ist ungeeignet; was der Redner schrieb weiß ich nich
der Gedanke erfordert r& Yevdn, vgl. Z. 3. 13 und gleich dara
vevön uoprvgiav. Dagegen hätte R. 47, 23 (= Lys. 33, 6) ve
orepjodeı F! ausgehen und mit v &orepjod«ı schreiben sollen sta
mit F? MBP orsgeicda:, denn diese Form kennt Lysias nicht (s. W
chenschrift f. kl. Philol. 1898, 399). Beachtung verdient m. Er. auc
16, 10 xsnoiman yag avid Toüro to anointov die Lesart von ]
avrd, mag die Aenderung von F? (Sad.) oder F! (Dilthey) herrühre
vgl. im folg. gy adr@ rq un doxetv, und 10,10 06x él rovro wd
Encıveiv aördv Übıov, wo avrov in F'G fehlt, könnte man versucl
sein &&ıog zu schreiben, denn diese persönliche Konstruktion ji
Dionys nicht fremd, 165, 21 n A&dıs . . noAAüv wiv Evexa Havudße
d&ie, wenn nur nicht Auslassungen so häufig in F wären. Desha
ziehe ich auch vor 17, 3 duxaory re xul ExxAnsıootii mit allen He
gegen F' zu schreiben, denn grade dies Wörtchen hat der Schreib
oft ausgelassen (z. B. 9, 13, auch 26, 17 nach Sad. p.35); auch schei
mir 30, 21 dé richtiger als ö7) F', vgl. 26, 20.
Den Ambrosianus (M), den U. in den Anfang des 15. Jah
hunderts setzt, hält der Präfekt der Ambrosiana Msgr. A. C
riani für etwas jünger, denn es ist ihm, wie er mir im März d.
freundlichst auseinandersetzte, höchst wahrscheinlich, daß er von dı
Hand des bekannten Schreibers Johannes Rhosos aus Kreta (Gard
hausen Gr. Paläogr. 326 f.) geschrieben sei und in die 2. Hälfi
des Jahrhunderts gehöre. Sadee führt auch aus ihm sehr viele Le
arten an, die z.T. von U. u. R. benutzt sind, aber ich sah bald, du
doch öfter die Angaben nicht zusammen stimmen, und habe deshalb eft
Anzahl von Stellen selbst nachgepriift. Darnach hat M 49, 5 s
yato | 49, 6 tovs | 50, 1 &oreog M! corr. korewmg | 50, 13 dpa |
corr. tpetg | 51, 20 0 | 52, 4 x«Aög M! corr. xaddg ut videtur | SO
Övelv corr. ex Övoiv | 106, 18 obdEV oe | 110, 8 gacly dy | 110
Eouxe | 116, 15 viot | 117, 5 &&ovaiag M! | 118, 14 aden, wie.
Vergleichung mit adroy ergiebt | 118, 17 aurüv | 120, 11
ınoev | 120, 19 ddmvaioı | 131, 15 &xdrega | 132, 19 be | 1
vsoreporcı M rubro, von derselben Hd. am Rand @eacvpdzou ls |
12 diaxıvövvov | 133, 15 éydeay corr. ex éxfeag | 134, 14
tegot | 138, 1 in dAAnyopias ist nach dem 2. « ein Bu
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 108
diert, ¢ nicht in Rasur, re ist übergeschrieben | 138, 20 ö2 | 142, 9
t
éxloxoxov | 142, 14 oddo || ever | 142, 15 mdyerov | 148, 6 ddovijow
1149, 18 9 civ | 151, 13 xovrigas, wg corr. ex eg | 152 in dem Scho-
lion 86 zgıe, über ı eine Rasur, wie es scheint | 172, 3 e von éye
in Rasur | 177,17 eögnvevduevov | 190, 12 etxav | (fin. pag.) z&
Hla | 201, 13 xarapPduara | 202, 9 xard | 203, 7 xar& | 203, 17
dixdrong | 205, 16 ndvn | 207, 4 elonxer | 207, 5 obtm mag | 209, 23
äpuovia | 210, 1 xagézyoucs | 211,7 toagdryta | 212, 7 éxov | 213, 11
dxardddndov | 216, 18 gegoueva | 219, 23 iv | 228, 8 gv- | (fin.
vers.) puoer | 232, 15 süpijxe | 232, 20 orogsta | 235, 2 magezov
237,2 éy éxderoug | 238, 7 z& om. | 240, 12 dom | 243,11 Ad-
iv | 244, 10 xaPumoxervapevorg | 244, 12 raveng d¢| 247, 3 devg’
Wündlıne | 249, 25 tH yde | 330, 8 xegl om. | 330, 14 ebpedy re
1346, 15 ofre | 349,3 rate draddyorg | 349, 17 wAndeieı, das 2. e corr.
en M!| 360,8 xaAdconuoovyyy | 361, 15 éxra xal elxooueri | 372, 2
wl om. | 378, 9 dedowévor | 394, 8 Zorn | 394, 16 nagazéodu | 396,
5 of om. | 398, 5 dmodmdends | 399,25 2Bepikeiw | 403, 17 Hdy-
Ang | 418, 9 yrdenua. Schwierfgkeiten macht es die Größe der
Lücken genau zu bestimmen, ie in der Schrift über Demosthenes
zahlreich sind; ich habe eifige gemessen und unter Vergleichung
der nächsten Zeilen festgestellt, daß 133, 5 nach ovupo 17—18,
137, 19 6, 138, 1 14—15, 242, 17 7—10, 150, 16 9—10, 17 10—12,
18 10—12, 19 20—22, pi, 1 20-23. 171, 10 10—11, 177,5 9—10,
188,1 7,3 7,4 10—1% 203, 23 12—14 Buchstaben stehen können.
Aber auch in unmittgfbarer Nähe sind die Buchstaben nicht immer
dich groß, so daß’ein gewisser Spielraum bleibt; übrigens ist die
Sache nicht allzyAvichtig, da den Lücken, wie sich z. B. aus der
Schrift über Isskrates 80, 12 ff ergiebt, ein sozusagen urkundlicher
Wert nicht kommt.
Demsellgn Zweig der Ueberlieferung wie M gehören an ein
Vaticanus Rylatinus (P), ein Parisinus (B) und für die Schrift über
mosthens ein Venetus, über den Usener p. XX ff. berichtet.
uert ‘at er sich seiner erst, als es zur Benutzung zu spät war;
ks ist f. (ie Ausgabe höchst bedauerlich, denn hätte R. eine Kol-
‘\ V gehabt, so hätte er sich m. Er. sehr wahrscheinlich
en, P und B ich will nicht sagen ganz beiseite zu lassen,
den Apparat von ihren oft gradezu abscheulichen Schreib-
fy entlasten, was vielleicht auch jetzt schon rätlich gewesen
Ein kurzer Hinweis in der Vorrede hätte vollauf genügt.
e Frage über den Wert von BP wird p. XXXVIf. doch etwas su sum-
104 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
Der Venetus muß unbedingt verglichen werden, hier und da hat er
vielleicht allein das Richtige erhalten; so hat er z.B., wie mir ein
gelegentlicher Einblick zeigte, 150, 17 zagıdvr« und in der folgen-
den Zeile &x&Asvoev, das ebenso gut ist wie éxglevev, 151, 5 Todrov.
Die Lücken in diesem Lysiasstück sind meist kleiner als in M an-
gegeben ; das Scholion zu 152, 1 fehlt, nicht die zu 168, 10. 178, 13.
Die Aufgabe der Recensio nun ist im allgemeinen einfach,
die Schrift über Deinarch ist nur in F,‘die Abhandlungen über De-
mosthenes und Thukydides und der Brief an Ammaios nur inM und
seiner Sippe enthalten, nur die Schrift über die alten Redner findet
sich in beiden Hss.-Klassen. Hier hat R. p. XXXVII f. mit Recht
F höhere Autorität zuerkannt, denn so flüchtig der Schreiber schrieb,
er schrieb ab was er vorfand (Rhein. Mus. 33, 363), vgl. z.B. zu
15, 2 den Apparat, und gegen den Vorwurf der Interpolation ver-
teidigt ihn R. gegen Sadée mit bestem Erfolg. Sadee stützte sich
besonders auf 63, 15 épois éev dvdowziv[elıs tod 68 mAovrov F,
während die andere Klasse nach éq’ oig eine Lücke hat. Unfraglich
ist von F auszugehen, ob aber Useners und Radermachers Aenderung
dp’ olg slow dvdpmnıva, oxovda’, so wunderschön sie ausgesonnen
ist, das Richtige getroffen hat, läßt sich bezweifeln, denn oxovdat
éxt (statt weol) erscheint anstößig, es mißfällt die Umschreibung statt
marisch abgemacht: für B, für den R. 2 Stellen anführt, will ich die Sache da-
hin gestellt sein lassen, obwohl ich vor allem gegen die Richtigkeit der Her-
stellung von 186,4 schwere Bedenken hege (250, 21 stimmt V mit MP), was aber
U. für P geltend macht: accidtt ut genuinam scripturam servet, veluti Bößlog non
semel in uno tllo relictum est ist doch allzu dürftig. In der Schrift über die
alten Redner (die andern habe ich nicht darauf geprüft) bat P allein das Rich-
tige 82,4 rav rüg xélews und 109,7 ov, 83,8 Tuäg mit Bmg und 89, 7 weds ply
&u& mit B®, aber steht wirklich so in P? Ich muß offen gestehen, daß ich es
bezweifle; an allen Stellen steht in der Stereotypausgabe die richtige Lesart, so
daß wie 82,4 (Rhein. Mus. 33, 342) auch an den andern Stelleg ein ausdrück-
liches Zeugnis nicht vorliegen wird (R. hat öfter Schlüsse ex silantio gemacht,
wie Angaben wie doxf 102,7, urxem 109,19 zeigen). Aber selbst. wenn P hier
allein das Richtige haben sollte, so ist seine Autorität nicht groß genug, daß
man darauf Konjekturen gründen und in den Text setzen darf, wie U. thut, der
275, 16 auf Grund von P ay dxofdy in den Text dijxov@ev setzt, WShrend mit
Sauppe d7) nach &v MB zu schreiben war, oder 408, 5 perolws wag ve;’mutet, weil
P durch Dittographie uergiog Fag hat. Warum denn nicht 277,1 mit P gedos-
xovvtov? Viel besser als mit P steht es übrigeus auch nicht mit B; ich halte
es für verkehrt, auf einen so offenbaren Schreibfehler hin wie rodro ¥ 182, 16
auch nur fragend rove) sd vorzuschlagen oder ebenda Z. 22 auf Grund von xal
&v adv, vgl. 181,20 &v] &v B, oder 247,9 auf seine Autorität hin 01,06 ye xal
deiy zu schreiben, was meines Wissens ganz unerhört ist.
gen,
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 105
oxovddfey (vgl. 149, 8) und &av ist doch wohl nichts anderes als
av. Ich stelle deshalb zur Erwägung, ob nicht éq’ oig dv ävdownoı
qyatomor, tov te wAovrov zu Schreiben ist, wie ich mir mit Benutzung
der Vermutung von H. Wolf vor langem angemerkt hatte. Natür-
lich läßt sich an einigen Stellen nicht entscheiden , welche Lesart
den Vorzug verdient, da beide gleich gut sind, wie 46,5. 59,1;
nichts einzuwenden ist auch glaub ich gegen oynudt@y 72,1, vgl.
73, 21, sonst aber wüßte ich nicht, daß F noch irgendwo den Vor-
zug verdiente '), denn 19, 10 f. tavryy uevroı (wEv HN) Sadée) xga-
tiornv te aoetiy xual yapaxıngızaordınv tig Avsiov Astkens Eymye
tideuaı verlangte xecfouct, das F hat, doch wohl den Zusatz von
sivaı. Dagegen finden sich einige Stellen, an denen R. M hätte fol-
gen sollen, z. B. 21, 20 of Adyot, 27,5 ueyaila xal cepa (vgl. Z. 4
uıxga xal xagddof« und 58,5 To wéya xal oeuvdyv), 27, 7 ovpBor-
Aeutix@y te xal navnyvorx@y, vgl. 26, 22, 28, 8 tiv nAcsovekiav tod
avrdixov, Ss. R. praef. p. XXXVII, 31,1 xal rd Fog xal 1rd nadog
nach dem iiblichen Schema (z. B. Syrian I 57), wie es die folgende
Ausführung 8. 21 bestätigt, vielleicht auch 31, 4 ägıorog elxaoriyes 6
vo, nach Thuk. I 138; 36, 2 ay pddvora dei tots bx’ olxetav
zooosuebouevors, nach Useners schöner Emendation, aber es war
mit MBP tate zu schreiben, da zxgoouudfeoda. nur aktivisch ge-
braucht wird u. a.
Verwickelt ist allerdings die Recensio der Schrift über Lysias,
die von dem Corpus losgelöst noch in einer Reihe von Hss. über-
liefert ist, als deren Vertreter U. eine Wolfenbiittler (G) herange-
zogen hat. Dieser Zweig der Ueberlieferung, der vielfach F nahe
steht (s. vor allem 15, 2, Usener J. J. a.a. O. 152 f.), ist unstreitig
nicht frei von Interpolationen, hat aber doch im einzelnen viel Rich-
tiges, dem auch R. die Aufnahme nicht versagt hat, man vgl. nur
21, 10. 23, 14. 25, 22. 27, 3. 30, 16. 32, 13. 33, 7. 38, 17. 19. 40, 2.
10. 43, 11. 44,1 u.s.w. Richtig ist meines Erachtens auch 38, 10
ixéceve in Verbindung mit nvrıßöisı, 39, 7 adrov, das ebenso nötig
ist wie 12, Radermachers ägrı ist falsch, denn es ist lange Zeit seit
Diodotos’ Tode vergangen und Kapitalien, die auf Seezins ausgelie-
hen waren, pflegte man doch nicht auf lange Zeit auszuthun, 43, 4
ist &BovAsto die bei Lysias übliche Form, 44, 4 ist émaoxer richtig,
wenn man nicht eine Lücke annehmen will, s. die Bemerkung zu der
Stelle (Lys. 32, 25) im Anhang der Rauchensteinschen Ausgabe. 51,
13 verstehe ich nicht tig td wArjder negıyevijocre:, da man owrnol«
1) Abgesehen von Quisquilien, wie 60,17, wo R. ohne Grund £orıv schreibt ;
daß er 67,8 dagegen pi» für vielleicht richtig hält, verstehe ich nicht.
Goth, gel. Anz. 1901. Nr. 2. 8
106 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
unmöglich ergänzen kann, G hat richtig ri, und ebenso wenig kann
ich 30, 14 navrös udAıora todro magexedevonpny aoxstvy td WEROS er-
klären, es war mit G und Krüger wagaxedevoniuny (av) zu schreiben,
vgl. 10, 1. 61, 8. 24, 16 schreibt R. reür« yap ei piv tr Övr Av-
olac Eyoawe, dıxalos av énitiurioems a&cotro mit der Aldine, FMBP
haben é&odre:, aber es scheint !) der Fall der Nichtwirklichkeit vor-
zuliegen, also 7&ovro und davon find ich eine Spur in a@&otro in
G. — Aber es bleibt bei G immer der Verdacht der Interpolation,
die offenkundig 9, 5 vorliegt, wo v nach G gelesen wird ray éncye-
voutvoyv ov noAlois rıcı xarddiner *) baxegBodAyjyv, &r’ Ev anaoas tats
ldenıs tev Adyar ual wa NM ot ti ye taig gavdotarag evdoxtpar,
denn ob te ye tate pavkordraıs wäre nur möglich nach &v zoddatls
oder ä., vgl. 166, 7. In FMBP fehlt evdox:udy und statt &r’ steht
ott’, R. schreibt otre xoAAois und nimmt hinter Adywy eine Lücke
an, die er AA’ Ev rıcı xal momtevder ergänzt, aber der Gegensatz
klingt nach dem vorhergehenden schwächlich und ist auch nicht üb-
lich. Der Gedanke, scheint mir, ist klar: Lysias ließ nur wenigen
die Möglichkeit ihn zu übertreffen und auch nicht in allen Arten der
Rede, also ovd’ Ev andsaıs taig ldenıs tHv Adywv, aber vor dem fol-
genden stehe ich ratlos, man könnte ja denken ‘und nicht eben den
bedeutendsten’, aber es steht grade das Gegenteil da, deshalb ist
auch mir der Ausfall einiger Worte nicht unwahrscheinlich, aber
nicht ein Gegensatz, sondern eine Begründung ist nötig.
Zum apparatus criticus gehören die Citate. Sie sind sorg-
fältig verzeichnet, auszusetzen habe ich nur, daß R. ein paar Mal
Maxim. Plan. oder Ioh. Sikel. anführt, wo auf ihre Quelle Syrian zu
verweisen war, so 11, 4 Syr. I 10, 12, 12, 18 Syr. I 11, 23 und Syr.
I 14, 3 statt W VII 880, 9 S. 127 u. 202°). R. brauchte auch loh.
Sik. 57, 9 gar nicht zu erwähnen, denn auch dies ist aus Syr. ausge-
schrieben und xal rag oxAngas!) rav Svupwvav geht allein auf Ioh.
zurück, der auch in dem Fragment bei Syr. I 28 außer anderm hin-
ter werapogä interpoliert hat un oxAno& (Deutsche Litteraturz. 1893,
969); zu 130, 1—2 hätte noch einmal auf W VII 1049 verwiesen
werden sollen, denn es liegt ein wörtliches Citat vor, zu 114, 18 auf
1) Es scheint, sage ich, mit gutem Bedacht, denn recht geheuer ist mir die
Sache nicht, ich halte es auch für möglich, daß duxedag 6n—dEıioüraı zu lesen ist.
2) Dionys hat in dieser Verbindung immer das Compositum, wie schon Isokr.
16, 34, der sonst (4,5. 110. 6, 105. 12,76) wie Dem. (3, 25. 23, 207) das einfache
Verbum gebraucht.
3) Uebrigens hat Syrian év me arm yapanıriomv.
4) Ioh. hat ta oxdnoc, denn er sagt ta otpqpora.
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 107
das yevog ‘Ioatov z. E.; 427, 12 fehlt der Hinweis auf das gleich-
lautende Scholion zu Thuk. — Nichts zu thun mit der Schrift über
Demosthenes hat die S. 127 angeführte Stelle W VII 96, 3 oder
Pseudosyrian (Phoibammon, Rhein. Mus. 51, 50) 1 99, 18 6 Jıovvoros
— roeig elvar yapaxıjods pyo, tov loyvov dv pwéooy Töv Köodr,
vgl. Sadée p. 26.
Wichtiger aber als die Stellen, an denen Dionys citiert wird,
sind seine eignen Citate. Beide Herausgeber verzeichnen sie sorg-
faltig') und geben die abweichenden Lesarten an, aber während
Usener mit peinlicher Genauigkeit alle Abweichungen erwähnt ’),
scheint sich R. im allgemeinen mit einer Auswahl begnügt zu haben.
Um das erste beste Beispiel herauszugreifen, so fehlt zu der De-
mosthenesstelle 109 außer anderm die Angabe, daß 17 2 Auußdvov
hat wie MBP, und in andern ist es nicht besser 5), wie ich nach
sorgfältiger Prüfung leider festellen muß*®). Diese Halbheit kann ich
nicht billigen, hier heißt es alles geben oder — gar nichts, denn
dann greift jeder, der sich für diese Fragen interessiert, zu dem
Schriftsteller selbst, während er jetzt leicht glaubt, das gesamte Ma-
terial vor sich zu haben. — Der bessern Uebersichtlichkeit wegen
hätte es sich vielleicht empfohlen , die abweichenden Lesarten zu-
sammenzustellen und vom eigentlichen Apparat zu sondern’).
1) Anzuführen war noch zu 63,8 Is. Phil. 118, 64, 9 geht eher auf de pace
37 f., 65,21 auf Areop. 20, 67, 14 auf Archid. 8. Zu 162,17 war zu erwähnen
Isokr. 15, 65, zu 815, 19 Dein. I 43, 425, 12 geoßevaıs hat Thuk. I 73, 837,
18—20 steht wörtlich ad Pomp. 773,10 ff, zu 282, 20 vgl. de comp. 8. — Da-
gegen ist zu 68, 20 das Citat zu streichen.
2) 348, 16 fehlt cj Ilelonovrioo 8.
8) 221,20 in der Herodotstelle ist dg&re unverständlich, aber Herodot hat
hoärs, also ist wohl &upäre zu schreiben.
4) Anführen will ich doch noch, daß in der Phaidrosstelle 140, 14 ff. die
zweite Hd. des Clarkianus (B) am Rande fast alle Lesarten aus Dionys verzeich-
net (15 réyatdv 16 &yovor, xd ad om., Eaveng (écvty B) 18 doodeisav, Inıdv-
play, doch wohl aus einer Dionyshs. heraus ? — In den Isokratescitaten brauch-
ten die Lesarten von E nicht mehr angeführt zu werden, da E (durch das Mittel-
glied 4) aus I’ stammt, Drerup de cod. Isocr. auct. 26 ff.
5) Verdienstlich ist es, daß auch die Anspielungen notiert werden, doch
bleibt hier noch einiges zu thun, 138,7 Eur. fr. 488 N, 189,7 Plat. Phaidr.
2884, 250,5 Philod. rhet. II 94 Sudh., 358,19 Arist. rhet. HI 14 1415 a 12. 22,
418, 19 Thuk. VII 14, Reminiscenzen am häufigsten an Demosth., so 12,19 c@
avy nöboow dsoxobyti—dqeoravar 9, 29, 138, 10 ottm anaıös und’ dvalsdntog
18, 120, 247, 1 u6vov ob Yarııv dyıdvva 1, 2 (an Pomp. 755,8 vom Eigenlob
5,4), vielleicht 396, 16 18, 204; ßaoxavov nal aanondes (411,20) stellt er 18, 108
zusammen, fdoxavov nogäyue sagt er 18, 317 in Verbindung mit oıeiv, das dar-
nach auch wohl bei Dionys einzusetzen ist.
8 *
108 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
Ich bleibe gleich bei diesen Citaten noch einen Augenblick
stehen. Wie sind sie zu edieren? Ich denke einfach so, wie sie
Dionys gelesen hat. Der Herausgeber des Dionys hat also die
Schäden, die die Texte im Laufe der Jahrhunderte bis Dionys er-
litten haben, ruhig zu belassen und nicht etwa aus der selbständigen
Ueberlieferung zu verbessern. Und so ist es auch bei den Stücken
zu halten, die in selbständiger Ueberlieferung nicht erhalten sind,
der Herausgeber hat sie so drucken zu lassen, wie sie Dionys aller
Wahrscheinlichkeit nach las, kann er dazu beitragen, den ursprüng-
lichen Text des Schriftstellers herzustellen, so hat er das unter dem
Text zu vermerken. Nach diesem Gesichtspunkt verfahren auch
unsere Herausgeber, R. allerdings führt ihn erst im Verlauf der Ar-
beit strenger durch; so schreibt er anfangs durchweg © ävöges dıxa-
orac — nach dem Sprachgebrauch der Redner!) — £zeaıdr statt
éxel, xooPvupet statt ngodvun, 102,11 (bei Isaios) EßBovAdunv statt
nßovAdunv und druckt doch bei Lys. 34, 7 nßovAndn, 43,4 ABovisro,
36, 10 ylvovraı — viol (aber bei Dion. selbst 63,11 yıyvöusde 17
yiyveodaı gegen FM) 103,;5 viois und nimmt selbst an awsdvoero
150,1 keinen Anstoß. Allerdings läßt sich nicht immer sicher fest-
stellen, was Dion. gelesen hat. Einfach liegt die Sache, wenn die-
selbe Stelle zweimal ohne Variante angeführt wird, z.B. aus Thuk.
Ill 82, 3 av vr Enıysıondeov megıreyvioce 374,4 und 128,20, wie
in den Hss. des Thuk. Hier kann über die Lesart kein Zweifel
herrschen. Wenn also in der Besprechung der Stelle 374, 20 trav
t’ éniyecorjoemy Emiteyvijoc steht, so ist das einer der gewöhnlichen
Assimilationsfehler, und daran ändert auch nichts, daß es 375,4 9
0 éxitéyvyotg heißt, gleichgültig, wie der Fehler entstanden ist, ob
in der Erinnerung an das obige éacreyvijoee oder ob sich der Schrei-
ber hier in der Abkürzung verlesen kat. M. Er. ist an beiden Stel-
len xegıreyvnoıs herzustellen, wie schon Sylburg urteilte, aber so
oft auch die Herausgeber grade Präpositionen verändern, hier sind
sie Sylb. nicht gefolgt, vermutlich weil &xıreygvnoıs ein griechisches
und von Thukydides gebrauchtes Wort ist, wäre ich will einmal sa-
gen zagareyvnoıs verschrieben, so würden sie wohl gebessert haben.
Wird aber eine Stelle nur einmal angeführt oder mehrfach, aber mit
verschiedenen Lesarten an den verschiedenen Stellen, so ist die Ent-
scheidung schwierig und man wird öfter verschiedener Meinung sein
können. So würde ich z.B. aufnehmen 79,16 &xAsEcı 80, 11 ra tev
veotég@y (wie vorher ta tay ngeoßvregwv) 82, 5 Tüv stato tis
1) In der Schrift über Deinarch 311, 15 heißt es nur lege & &vöges ’Adnvaioı,
mit Unrecht, wie jetzt ein Blick in Formans Index zeigt.
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 109
eloerjvng 82,14 Eıevas (nicht éeivor, das gar nicht so gebraucht
wird; wie oft ist ¢évae und eivaı verwechselt, z.B. 38,17) 84,5 &dv,
wohl auch 89, 20 og (= 91,19) 98, 14 xegoeevxdeno« (mit Buermann)
153, 24 éxavijAdouey aus M wie Dem. 155,14 ds xal Övoudkenv dx-
vicar (dv Ev vuiv) (vgl. bei Dem. A, mit dem Dion. am meisten
stimmt) 193,1 ndewg elxocev tuty av Außövres 198,1 dxovnzi 200, 7
xacaynpretofe (Tov)öl, huaeryxevar Ööbere 223,1 N 67 Tiuiwrden
eivaı voutterca (Hön Tumwrdınv 7) MBP) 245,11 adore und! ...
dadıov sivaı (mit Sylburg, denn bei 7 ist unde fehlerhaft) 351, 13
tis betegatag 407,12 Zonuov (wie auch einige Thukydideshss. haben),
auch wohl 34, 3 éxae’ aurovg plAoıg (vgl. 35,7 plAoıs Ta xaQdypara
erıtoenovres, wenn auch Lysias zoig plAoıs schrieb). Fraglich ist,
ob Dionys in dem freieren Citat 55,7 xal moAırıxöv, ebenso ob er
221,7 xal xogooextijoavto schrieb und 183, 3 roVroıs, es steht nur
in P, B hat es am Rande, M hat eine Lücke von 6 Buchstaben;
aber es fehlt Z. 9 und in M sind öfter Lücken, ohne daß etwas
fehlt, so 201, 2. 215,12. Unverständlich ist 193, 19, wo es éxipa-
vEeoregov (xoret tov) Eyovra heißen muß, wie 395, 8 duveépes und
416,17 7, das U. aus ef M eis P gemacht hat.
Damit bin ich denn schon zur Emendatio gelangt. Unter
sorgfältiger Benutzung ') ihrer Vorgänger haben beide Herausgeber
1) Contecturarum semper primos auctores indicare studusmus kann Us. p. XLI
mit Recht sagen, aber wie es so geht, auf dem langen Wege von der Durch-
arbeitung und Excerpierung der Litteratur bis zur Drucklegung und Korrektur
schleichen sich trotz aller Sorgfalt leicht wieder Versehen ein, die der Recensent
mühelos bessern kann, so 24, 15 öusig corr. Francken (comm. Lys. 221) 26, 12
xoloıw Blass (Att. Bereds.! I 393, Anm. 2) 28, 2 aörög schon bei Sylburg 42, 2
xal eig add. Scaliger 44, 21 waga Sylb. (mit Unrecht, vgl. Anhang zu Lys. 32, 27)
46, 17 xiotrmy 48,3 wegl Reiske 50,3 odre obofe schob schon Sauppe ein (der
Zusatz rg nwolıreiag ist hinter odod« störend und auch nicht unbedingt nötig,
vgl. Plat. Menex. 2384; übrigens ist Marklands ofte xlovrm ebenso gut, s. Eu-
polis 117,5 K. Plut. Perikl. 9, erwägenswert scheint mir auch Sluiters ézode-
nöwevog) 51,11 égotor Sluiter 54,17 xvegudrara H. Wolf (73, 1 zöroıg habe ich
bei Sylb. nicht gefunden) 97,3 corr. Reiske 105,7 slo«ysı und 180,4 roörov
Bodl. mg. 113,7 roöro 114,19 wooodger 118,8 &ravrag Sylburg 116, 20 eloayayov
Schömann 120,18 an aörois dachte schon Reiske, der aber «trol mit Recht
verteidigt, 142,6 @oa» Schneidewin 142,18 dAiAnyool« Sadée 143, 1 post Sylbur-
gium 149, 14 loyv6» ist als Lesart des Paris. bei Becker notiert 182,4 & Idéroy
Reiske 203, 1 Vliet post Reiskium 205, 4 hiatum detexit Sylburg, wieauch 211,11;
er vermutete auch schon 206,4 £nloövres 210,21 duoravaı und 215,18 abray
Reiske 244, 17 oyjuare <ra> Sadée 251,2 nach Blass 252,11 évfore trav Sadée
275,19 eloıv Morellus 278,5 xal—Nexavogae und 8 7 del. Reiske 299,9 odd%
derselbe 306, 6 ag Zucker 312,6 Kngyıooyürrog Sylburg, der auch 320,9 die
Lücke fühlte 321,3 tod ta Anolo» Reiske 346, 16 Kruegerus post Reiskium 353, 1
110 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
überall einen lesbaren Text herzustellen gesucht, beide sich gegen-
seitig unterstützend und fördernd mit schönen Emendationen, be-
sonders zur Herstellung der Schrift über die alten Redner hat U.
viel beigetragen, s. z.B. 22,22 uiuovwevns 25, 14 of Adyoe 30,15
éy rois 112,13 wedayloy u.s.w. Natürlich finden sich auch einige
Vermutungen, die weniger einleuchten, z.B. heißt es von Lysias 8, 9
Össrelssev adırddı moAıtevöusvos Ev sbrogla noAAjj xal were tis
Svupopäs tig xatacyovons ’Adnvalovg Ev Linedia, wo R. nach U.
schreibt xal (madevöusvog mage Tiola re xal Nixie): ich will gar
nichts davon sagen, wie bedenklich es ist Nikias hier einzusetzen
(Spengel artium script. 38), die Ergänzung ist so wie so unmöglich,
erst kommt doch das zadevecdu, dann das noAırevecdu,, und so
gut duerédsosy xoditevduevog zu dem folgenden paßt, so wenig
stimmt dazu dser. mardevdwevog. Bei Pseudoplut. 8354 xdxer die-
ueıve wardevdpevog naga Tile xal Nixia tolg Zvpaxovaloıg xtyoa-
wevds 7’ olxtav xat xArjoov tuyav énoditevoaro Ewg urd. ist soweit
alles in Ordnung. Der Ausfall eines Adjektivs nach zoAA7j ist nicht
wahrscheinlich (Sadée p. 197), auch wohl nicht eines Substantivs wie
zegiovaie, 80 daß xal am besten mit v gestrichen wird; die Partikel
ist ja oft eingeschwärzt, 47,11 ö2 xai F 98,2 xal dıxalos F 56, 1
xat del. Corais. Ein ähnlicher Fall liegt 91,9 vor: % re pdg ae-
olodog Exummvveroı xul . . . XEga tod dixavixod tedxov xal N ovv-
éecd7} und 6 &rne Sylburg, der auch 358, 7 droxempdusvov vorschlug 360,4
distinguebant <ante Kruegerum> 360, 19 die Lücke vermutete schon Reiske 362,1
Övouarıxög Krüger 377,3 suppl. Sadaeus 433, 12 sah Krüger schon das Richtige
436, 7 dpleo®aı Poppo. — Anschließen will ich gleich die Berichtigung der paar
Druckfehler und Versehen, die mir aufgestoßen sind: im Text 51,10 Kolon statt
Fragezeichen 81,22 diarideohe 142, 14 xevémory 183,1 Fragezeichen statt Punkt
213,4 edevßuo» und im Apparat zu 16,22 Matthaei, wie dieser erst neulich als
Dieb entlarvte Gelehrte auch sonst des einen t beraubt ist, wie Gomperz 186
damit beschenkt; 73 Philod. I 83,10 muß vor fyouey 11 gestrichen werden 93, 6
l. Idyou rıvav 95,16 obve év taig 98,4 ungenau und am besten zu streichen,
denn 596 (100, 10) haben alle Hss. und 100, 18 nicht bloß P! undelg (Sadée 121)
102,3 Sera ye ohne ody Dobree 110,15 1. ex iudicio de Dem. 113, 23 war vor
Blass Reiske zu nennen, der und’ ay wg schrieb, 122,14 führt die Angabe über
Nevoixedrns irre, so heißt er m. W. nur Plut. Kim. 19, wenn es derselbe ist
136, 8 d&vadxeotégany 141,19 1d adrod 144, 14 roıaüra 159, 12 1. 5] xad D, 186
zu Z. 11 1. 2478 200,9 odn £orıv, obx forey 214,14 Evveßnoav 224, 22 hinter
zgovota« fehlt D XI 15 226, 10 fehlt roig plAoıs 231,21 ist es grade umgekehrt,
Sylb. schrieb dmournperiouöv mit der Bemerkung: tn exemplari est drnournuen-
xnav: minus apte 236,15 zegıleındusvov nagalsınöusvov 237,11 p. 589, 247,2
-magévtervoy, 271,19 od 300 fehlt 9 vor tmogdpevog 13 Bodleiano 16 p. 310,
316,20 rob devagzetov 366,17 ngosbayaydusvor 426,13 +d vor wmeadvrog zu
streichen.
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 111
Deoıg Exer te vow xotntexov xtd., wo der symmetrische Bau der Pe-
riode es mir rätlicher erscheinen läßt mit H. Wolf «ai zu streichen
(vgl. 344, 2. 70,9. 58,21) als mit R. eine Lücke anzunehmen !).
Einige Vermutungen Useners hat R. in den kritischen Apparat
verwiesen und mit Recht, aber bei Usenerschen Konjekturen ergiebt
natürlich eine nähere Erwägung stets einen Gewinn. Ich nehme die
erste beste Stelle. Dionys will die lysianische Beweisführung dar-
legen und beginnt (30, 20) &e&oum dt dnd Tüv xalovusvov evréy-
vov mi6temv, Spricht aber eben nur von diesen &vrsyvor zioreıs,
ohne der äreyvor mit einem Wort zu gedenken; deshalb vermutet
U. dexéoopar 6: za rüv xrA., entschieden unglücklich, denn es müßte
dexesPyoouce heißen (170,17. 327,17. 27. 328, 24. 336,20 u.s. w.)
und Ady wäre auch wohl nötig, aber die Konjektur weist doch hin
auf die Schwierigkeit, die wirklich vorliegt; sie zu lösen giebt es
m. Er. nur einen Weg, man muß eine Lücke ansetzen, wie schon
Spengel Artt. script. 159 Anm. erkannte, und zwar ist die einzig
mögliche Stelle hinter dem Abschluß der Besprechung des künst-
lichen Beweises, also hinter &wı&nreiv xaga Avoiov 32,1, und sieht
man genauer zu, so weist hier auch der Zusammenhang auf eine
Lücke hin. Es kommt nämlich 1d dvaxspaiuımrındv tev Ontévrav
wEgos, von dem vorher gar nicht die Rede war, ganz unerwartet zur
Sprache; das wird viel klarer, nimmt man einen Ausfall an etwa des
Inhalts: Was den unkünstlichen Beweis angeht, so versteht er es
1) Schwierigkeiten macht xal auch sonst noch: 56, 20 7d re cages Exelvn (der
Sprache des Lysias) maperinoıov Eyeı nal 1d Evaoyss, Bin TE gore nal nıdann.
xual orgoyydin dt obx Eorıv interpungiert R. richtiger vor orgoyyvAn, zieht xed
zu dem vorhergehendeu und ergänzt zeéxovee (vgl. noch 95,1), aber ebenso gut
möglich ist ndsi«, vgl. 135,9, vielleicht aber ist auch xa) zu streichen, Zosimos
wenigstens, der die Stelle ausschreibt (Westerm. Bıoye. 257,21) hat nur caer tij
Aékee nézyonrar xal Aınj nal mıdavj, oreoyyvin d’ 06x Eorıv. Aehnlich ist auch
171, 23 f. radra (nagıoa u.s.w.) dd rüs doyüs Ews tEdevttis xdxd@: nal roowal di nel
peraBolal nal momıllaı oynuarov, & nepune Adery roy tis dıavolag xdxo0v, obda-
pod. Auch hier verdient R. Zustimmung, daß er xa) abgesondert hat, aber sei-
nem xexvxlwxe kann ich keinen Geschmack abgewinnen, der Satz ist ohne Ver-
bum viel nachdrücklicher, xdx4o erscheint mir durchaus angemessen und ent-
spricht im folg. oöd«uoö, xal wird darum auch hier zu streichen sein, wie es R.
225,12 nach B gestrichen hat. — Zur Bildung eines Perfekts benutzt R. xe
auch 23, 23, wo xaragıduei “al überliefert ist, aber das Perf. ist hier un-
passend, und da Marklands xaragıBusiraı wider den Sprachgebrauch ist (R. im
Rhein. Mus. 50, 475), so wird auch hier xa zu streichen sein. — Dagegen
nehme ich 170,11 aorzsg xal Baoleds 6 ueyas an xal keinen Anstoß, mag es
auch in der Isokratesstelle fehlen, es ist das bekannte xal des Vergleichs, das
man setzen oder weglassen kann. Anderseits will es Vliet 165, 22 ef tg Kin
mit Unrecht einsetzen, vgl. z.B. Plato Euthyphr. 164, Krüger im Ind. s. &AAos.
112 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. -
die Zeugenaussagen u.s. w. vortrefllich und klar zu rekapitulieren
(évaxepadcovv). — Mit Unrecht nimmt U. Anstoß an 47,2 (=
Lys. 33,3) dvdgdg dyatod xal noAltov noAAod dklov, er vermutet
statt xoAdod nmdAswg, aber xodAdod hat Lys. bei &ıos, das er absolut
nicht gebraucht, auch 10,3. 15,1, es müßte auch rig mdAsmg heißen.
— Auch 237,17 ist Useners ovdé yag unnötig, das argumentum ex
contrario wird häufig durch ov ydg dn eingeleitet, s. Gebauer de
arg. ex contr. form. p. 91 und bei Dionys selbst 241,17. Aber R.
hat durch die Interpunktion den Bau der Periode verschleiert, xAc-
oraı uty xal Eoypdpmv natdes entspricht Adyav df 238, 1, durfte
also nicht durch einen Punkt davon getrennt werden, und hat man
das richtige Zeichen gesetzt, so sieht man sofort, daß mit B &g« zu
schreiben ist, wie 241, 22, Gebauer a.a.O. 323 ').
Die Interpunktion läßt überhaupt einiges zu wünschen
übrig. Ich will gar nicht davon reden, daß öfter Zusammengehöriges
durch die stärkste Interpunktion auseinandergerissen wird, wie Lys:
c. 2 Schluß und 3 Anfang, aber man sehe Sätze wie 234, 16 ff., wo
die zwei von evguoxe abhängigen Glieder gy te tats wetaBodats (22)
und 6 re 07 (235, 1), und in dem nächsten Satz die korrespondie-
renden Sätze dxdre uty — dadre d& durch Punkte getrennt sind.
Durch solche Zeichensetzung wird das Verständnis erschwert statt
erleichtert. Ich füge noch ein paar Beispiele an: 304, 9 gehört
hinter éx@éo%a: ein Kolon, die folgenden Glieder (11. 16) werden
am besten durch Kommata getrennt ?), gradeso wie 306, 24 ein Kolon,
307,5 ein Kolon oder ein Komma stehen sollte. 318, 9 würde ich inter-
pungieren ‘Axohoyla aAnyav (Ede O° Enıysygdpdaı ‘Anodoyia bBgews)
und ähnlich mußte 161,5 der Satz 1d ydp dxgußts — dxocs?) in
Parenthese gesetzt werden, da ot d& zoAırıxo/ den vorhergehenden
Gliedern in Z. 2f. entspricht. Gradezu unverständlich ist der An-
fang der Schrift über Deinarch bei R., man schließe 297, 13—14
zavrav — 6ntogıxnv in Klammern ein und setze darnach ein Komma
oder meinetwegen ein Kolon, und alles ist in Ordnung *), wenn auch
der Satz nicht zum besten geraten ist. Von Radermachers Vor-
1) Umgekehrt ist 182,5 die Fragepartikel dee erforderlich, wie 235,21. In
&v ist &o@ verschrieben Plut. mor. 777> cf ody Ede Akysıv roy Ilavalnıov; ef
piv fs 7) Barov Iodvdevuns — — Gopevog &v oe xeocedebauny nal ovvijy:
éxel 6’ vldg uty Alpttlov Tlaviov — — obn &ea oor diadégopen ;
2) Z. 18 genügt es wohl wore in ag ye zu verändern.
3) Hier ist mir das zweite öyAneäs diaridnoı sehr verdächtig; wollte Dionys
ein Verbum setzen, konnte er z.B. &voyAlsiv (397,20) nehmen; &xooteémery rag
&xods ist schr gewöhnlich, z.B. 171, 11. 398, 13.
4) Nur daß vielleicht mit Reiske &vayxaıdrarov zu schreiben ist,
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 113
schlägen verdirbt eivaı statt ofua: den Gedanken und @smgay statt
dt Öe@v ist überflüssig und mit Rücksicht auf d9@v Z. 6 unwahr-
scheinlich !).
Doch es ist an der Zeit, auf Radermachers Gestaltung des Tex-
tes selbst einzugehen. R. besitzt bekanntlich neben großer Belesen-
heit und sicherer Kenntnis des Sprachgebrauchs hervorragenden
Scharfsinn und außerordentliche Leichtigkeit im Konjicieren ; diese
Eigenschaften sind denn auch dem Text des Dionys sehr zu statten
gekommen, indem er eine große Anzahl von Stellen aufs glücklichste
geheilt hat, um nur ein paar hervorzuheben 14, 13 ye Aevxüs 18,9
xan’ long ydéeug 68, 21 Taxıvöuvo 82, 9 xal goedu 100, 10 ro getilgt
151,6 udarıya Tiovg 177,23 dymyov *) u.8. w. Aber des Menschen
Stärke ist auch seine Schwäche, R. tastet öfter die Ueberlieferung
ohne genügenden Grund an. Z.B. 72,19 ueugerus tijg xevdrnrog
tavtnsg xal Tod Yogrıxodö schreibt er 7’ adrijg, was ich nicht ver-
stehe, während tavrng recht gut paßt: die xevdrns, von der hier die
Rede ist. — 74,18 dvrisıtar yag IN addy xdvradda streicht er
mit Unrecht yée, Dionys leitet seine Bemerkungen zu einem Citat
oft mit yég ein, vgl. auf derselben Seite 9. 14 oder 375, 25. —
96, 22 billige ich die Aenderung von Sdov in olov, aber x«l durfte
R. nicht in x«r« ändern, réde kann nur auf das folgende gehen, zu
dem Gebrauch von wéoog vgl. 106, 22; hält man aber x«i, so ist es
am einfachsten mit MBP 21 gyo¢ zu schreiben. — 133,12 in dem
Fragm. des Thrasymachos ist es üble Gleichmacherei, wenn R. &
roAkum yevéotor xal did nıvddvov in xal xvddvm ändert, sagt doch
Thuk. ähnlich dia pdBov eivaı VI 34. 59, Herod. dv? fovytng sivaı
I 206, u. 4.m. — 149,15 nimmt R. hinter $nAorov eine Lücke an,
weil auch zu sagen wäre cuinam £mAmrds, aber das Wort wird von
Dionys öfter absolut gebraucht, so 398,15. 418,1. — 158,14 row
6nTogıxod yEvovg tod ueraklv tüv äxgmv éxarégov schreibt R. &xare-
ewv; daran ist Sadée schuld, der sich p. 225 mit dem Ausdruck ab-
müht, natürlich hängt trav &xowv von werafv ab, zur Erklärung vgl.
de comp. 147,1 eire xara rim orégnow TÜV dxewy éxatégas, eite
1) Auch 423,5—8 (= 361, 22 ff.) xal abröv—Alynraı sind wohl in Klammern
einzuschließen, es ist eine nebensächliche Bemerkung, für die auch später keine
Beispiele beigebracht werden, dann braucht man darnach kein Part. einzuschieben.
Dionys schachtelt gern ein, das stärkste Beispiel ist 435, 4 ff.
2) Dagegen scheint R. im folgenden das Richtige verfehlt zu haben, denn
dr) ra» wird durch den Nachsatz 7 mov röre dxegqeées te nal deıvbv zofuu Tv
nl ro» éxetvov Ady geschützt, wozu hier ein Gegensatz verlangt wird,
av drdodrwy ist zudem ein müßiger Zusatz. Schrieb Dionys vielleicht éx) tay
yoanıar ?
114 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
xata ulEıv und 6 xal év Adyoıs 5 wéoos Exategov tüv a&xewy isov
dpeoınaev. — 168,4 haben die Bücher &x ra@v dvoiv, R. schreibt
&x toty Övoiv, aber dvotv ist gegen Dionys’ Sprachgebrauch, 8. Sa-
dee p. 65 n., es mußte also bei ray Öveiv v bleiben. — 179, 23 xal
EX avto IN ro&yoner to wépog und nunmehr wende ich mich u.s. w.,
warum also rod? für 62}? aber stärker interpungieren würde ich vor
wot. — 192,1 wird vetpat todg xagxovg geschützt durch das un-
mittelbar vorhergehende £Evsıusv aur«. — Unverständlich ist mir,
warum R. 206, 7 &xaydeis in dneydeis geändert hat, das gar nicht
zu xoAsuovg paßt, denn dazu kann man es doch nur beziehen. —
236,7 giebt Dionys auf die aufgestellten Fragen die Antwort olopaı
uty otras, xal Ödkev Enısıxij xegl tov &Ada@v éyo. R. schreibt statt
dessen olouaı piv ovv, d&g und verweist auf 107,19, aber die Stelle
ist grundverschieden, dort der Abschluß einer Erörterung, hier die
Antwort auf eine Frage, wo gewöhnlich keine Partikel oder yap,
niemals ovy steht. Für oörws kann ich kein Beispiel beibringen,
aber wenn Dem. 8, 18 sagt 2y& piv oiucı tovro, warum soll nicht
Dionys jenes gestattet sein? — 237,5 ei dx tig dg’ Evog rovrav dEıim-
Oe tov yapaxınoa oxomeiv Schlägt R. &p' vor, aber Dem. 2, 27 sagt
er’ avtayv tev Egyov xoivavras und Thuk. III 38,4 ta uellovsa
Eoya dad tay sv elxdvrmy oxoxodytes Os Övvara yiyvsodaı. — Den
Abschluß seiner Erörterung über den Vortrag Demosthenischer Re-
den beginnt Dionys 247, 6 ovx Zvssuv dddyou Emov wuz Eyovra
xrd., R. hätte keinen Fragesatz herstellen sollen durch die Aende-
rung ovxoty gory, Evearıv ist außerdem gesichert durch raür« éve-
or 246, 22. — Zu Zypape 249,19 vgl. 260, 12, woran U. keinen
Anstoß genommen hat. — 117,6 (= Isai. 12,4) ist viel herum ge-
ändert, Reiske schob &uoö hinter bua ein, Sauppe zur nach rip,
R. schreibt guot ydg ovGelg av, aber dadurch wird &uoö, das über-
dies in dem vorhergehenden Satze unentbehrlich ist, viel zu stark
betont. Es läßt sich am Ende doch die Ueberlieferung halten, vgl.
Dem. 18, 10 ei uty fore we torcodtorv, oloy ovtos Jruäto — pdt ga-
yyy dvaoynode. — 316, 11 ändert R. aurös in avrovs, aber 6 Agyav
erfordert kein Objekt und das Part. a» steht nach meinem Gefühl
so zu nackt. R. hat sich wohl daran gestoßen, daß es im folg. &r-
teou£vog!) zoAAdxıs aurög heißt, aber der Fehler steckt vielmehr
hier, man muß mit Reiske ag avrog schreiben.
1) Dies Part. gehört natürlich zu xal &v (dois xal Ev Snpoctorg dyacır, wie
iv Guacw Zinraousvog Eoyoıs &yaßois Archäol. IX 33,2. Ich führe dies nur an,
weil R. 122,2 déracty ixavyy év toig évaywviorg Sedwxdta loyors nicht versteht,
das ist aber nur ein etwas gespreizter Ausdruck für éénraopevoy ixavas bv trois
!vayavloıs Adyots.
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 115
Damit habe ich schon eine Stelle behandelt, wo R. durch eigne
Vermutung zu bessern sucht, während das Richtige schon gefunden
war; das ist noch öfter der Fall: so verdient 10,8, wo er &gunvel«
einsetzt, Sadées Adtıs den Vorzug, vgl. 14,10, Epunvei«x gebraucht
Dionys in weiterm Sinne 9,11. 13, 11. — 41,23 vermutet er unwahr-
scheinlich öxwg yodyeıs statt des technischen öroı toépere. — Statt
170, 2 Sylburgs orgoyyvA@regov aufzunehmen, will er zxovety statt
eineiv schreiben, während Dionys in solchen Fällen den Aor. ge-
braucht, 8.168, 4. 18. 169,7. — 176, 24 eirs tüv daıudvov avevnarı
evro ändert er in adröv, wogegen die Stellung spricht, deshalb war
es richtiger mit Sadée ra dauudvav zu schreiben, oder noch besser
(ta) tav. Auch die Lücke vor eire Axoıs ist unnötig. — 185,19
ist dvrixsıraı infolge des vorhergehenden zagaveos: in xagdxettar
verderbt (Sadée p. 233), R. aber schreibt dvrınagaxeıraı, was ich mich
nicht erinnere bei Dionys gelesen zu haben, so oft er auch dvrına-
oarıdevaı gebraucht. — 224, 3 änderte Sylburg das unverständliche
dınıg&oens in rpouıg£sens, R. zieht alpgéosmg vor. — 241,9 raüre
yao Evvondsin kv, el tug ein xouıdi; oxards 7) Övaegıs setzte Reiske
un hinter el ein, vgl. 94,7, R. verwandelt unwahrscheinlich ein in
die Negation. — 300, 1 mißbraucht er den harmlosen Schreibfehler
Öıereisxev dazu mitten in der Erzählung das Perf. diarereicxev
zu schreiben statt mit v dıerdAssev; die Fleckeisens J.J. 1895, 245
beigebrachten Stellen sind wesentlich anders, z. B. Isokr. 15, 128
zen Steatnydy ügıorov voulkev, obx ef tig pia rum tnAınoürdv
te xatogdtwmoerv Honxeg Avoavdgos, dAR Borg éxt noAlöv xal
xavrodanay xal dvoxdiov noayudtav deda¢ del nodırwv xal voüv
Eysvtmg Oraretéhexev, 8xeg Tıiuoden ovußeßnaxev oder Dem.
18,203 ovx Av tad®? wg fouxe rols ’Admvaloıs xeérge odd’ dvix
od Euquta, odd AOvyysy namore thy nod ovdels ex navrög
tov xodvou xeioar — GA’ dyavıfoucvn nepl xowreloy xal tips xal
ÖdEns xıvövvevovsa navıa tov al@va dOearertédexe oder —
doch die Stellen, übrigens alle aus Reden, sind zu lang, als daß
ich sie ausschreiben möchte, was R. selbst daraus anführt, genügt
nicht zur Beurteilung, ich kann nur sagen, daß es bei keiner ein-
zigen so liegt, daß das Perf. einfach mitten zwischen Aor. stünde, es
bezeichnet überall den Zustand der Vollendung der Handlung in der
Gegenwart. — 307, 7 hat F wevérmoay Ev roig Ösıvdgyoıs, ein ge-
wöhnlicher Assimilationsfehler, wofür v &v rots Asıvapyov hat, wie
Dionys auch sonst sagt (306, 16. 23), R. schreibt lieber &v rote de-
vopysiois. — 303, 18 dcovg zbgioxouev nosoßvregovg tovrov Tod
Eeyorros tovs Yegousvovg Eis aurdv Adyovs hätte es genügt mit
Reiske tovg zu streichen, vgl. 314, 10 of .. xgsoBuregoe Tg dxwis
116 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
avrod pepduevor Yevdeniygapoı elo adrdy Adyor ; hier tilgt allerdings
R. eis aurdv, aber die beiden Stellen stützen sich gegenseitig. Dazu
kommt, daß Adyovs geradezu unentbehrlich ist. Im folgenden war
dann das korrupte &v rolg odoivng mit Sylburg in &v rots yyneloıg
zu ändern, in eldvora: steckt wohl ei tg Hıjosraı. — Mit Sylburg
war auch 305, 4 Zorı wév zu schreiben, mit Sadée 308, 4 &v ebecoxowwto
u. dgl. m.
Auch sonst hat R. Besserungen seiner Vorgänger mit Unrecht
verschmäht, ja öfter gar nicht erwähnt. So 9,23 Sadées ravryy
(civ) doerhy, vgl. 12,2; 13,3 Marklands N udAıara i} ovdevds Arrov,
denn mag auch 7) udAıor« quam maxime heißen, so kann es doch
unmöglich in einem Atemzug mit oddevdg nrrov verbunden werden;
26,1 Sylburgs ye, denn daß xal — de so weit auseinander gerissen
werden können, ist erst zu beweisen. — 48, 14 wundert es mich,
daß R., der doch sonst mutig viele Lücken ausfüllt!), Baiters treff-
liche Konjektur zig yag ovx av (dyavaxınias)ev do@v nicht der Er-
wähnung für wert hält; auch war 318, 17 Meursius’ sehr wahr-
scheinliche Ergänzung (/Tpög ’Avrıpyavyv) xegl tod txxov zu erwäh-
nen. — 98, 20 lautete der Titel der Rede ündo Depevixov pl,
wie Bekker richtig schrieb, 312, 11 »egol trav ‘Aonadsimy. — 146,7
hätte Sylburgs éye Aufnahme verdient, 158,5 Reiskes «ör«, wie
Usener 273, 12 geändert hat. — 160,15 nimmt R. eine Lücke an, be-
achtet man aber den Schluß des Kapitels, der auf den Anfang zu-
rückweist, so ist es sehr wahrscheinlich, daß zu lesen ist tov yage-
ution poédvora drodsyouaı‘ el ÖE vis pw’ EZooıro thy alréav, wie schon
Reiske vorschlug, vgl. auch 123, 21. — So unsicher sonst die Her-
stellung von 210, 12 ist, Sylburgs wzdatéme ist richtig, ebenso wie
244, 1 tig bxoxgloems 7) xexdounxe, &s ist Dittographie. Aehnlich
scheint mir og auch 212, 21 raparinpauası tüv dvoudtoy ovx
dvayaaloıs oo mods thy Üroxeıuevnv Öıdvorav yoouevag aus der
vorhergehenden Silbe entstanden zu sein, vgl. 215, 20. — 230, 2 er-
klärt R. &v alg scil. dinynoscıv und ähnlich urteilte schon Reiske,
aber so bedenklich es ist einem so trefflichen Kenner des Sprach-
gebrauchs zu widersprechen, ich sehe keine Möglichkeit, wie sich
aig über das dazwischen stehende wioreıs hinweg auf dınyresıs be-
ziehen kann, es ist nur eine Assimilation an das vorhergehende
éyoveug und mit Sylburg in ois zu verbessern, entsprechend dem
ols Z. 7. — .235, 14 war Krügers sehr ansprechende Vermutung
1) Falsch 184,19 éxrvjoaro El copia, denn dvoue xrächeı sagt man nicht,
außerdem ist die Ergänzung zu groß, die Lücke in M faßt nach Sadée p. 219 11—12
Buchstaben, XXI bei R. scheint ein Druckfehler zu sein, ich habe mir seinerzeit
aus Useners Apparat 11 notiert, also ist wohl zu schreiben éfozev,
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 117
uaetvootvra wenigstens zu erwähnen. — In dem Bruchstück des
Philochoros 302 oben, über das U. v. Wilamowitz Herm. 34, 624 zu
vergleichen ist, läßt sich die eine Schwierigkeit am besten heben,
wenn man hinter ré dyum — mit Reiske, wie ich nachträglich sehe
— thy Eisvdegiav einschiebt, s. Diod. XX 46; anstatt des falschen
Baotdeds ist vermutlich ‘4vrıydvov zu schreiben. — 304, 4 läßt sich
dvodgioroy nicht verteidigen, es ist nicht von der ganzen Gattung
die Rede, daß überhaupt der Charakter schwer zu bestimmen ist,
sondern von dem einzelnen Deinarch, also dvodgiotos, wie schon
Sadée und vor ihm Reiske vermutet haben !).
Ein paar mal dagegen hat R. fremde Vermutungen in den Text
gesetzt, wo die Ueberlieferung zu halten war, z.B. ist in der schwie-
rigen, auch von R. nicht geheilten Stelle 12,5 nicht mit Recht mit
Taylor «xaıgoAoyiag statt dxvpoAoyiag geschrieben, denn davon ist
hier überhaupt keine Rede, während inc. 3 des längern auseinander
gesetzt ist, ein besondrer Vorzug des Lysias sei seine dıa tay x v-
gtav re xal xowdy Astıs. Unnötig ist auch in dem Lysiasfragm. *)
1) Inutili coniecturarum mole adnotationem onerare noluimus heißt es p. LXI,
aber die Auswahl ist doch immerhin subjektiv; ich hoffe im vorstehenden meh-
rere zu Ehren gebracht zu haben, die R. gar nicht erwähnt. Dagegen hätte er
andre fortlassen können, so 70, 22 Sylburgs rot xal Auzfjocı, die auf Mißver-
ständnis beruht, denn von Isokrates’ tropischem Ausdruck sagt Dion. 56, 20
aenparaı ovuuerems, dagegen von den Gorgianischen Figuren, den Anti-
thesen, Parisosen u. dgl. 58,2 Aunei nollaxnıs nv Alinv nataoxevi}y TEOOLOTE-
pevog tais &xocis.
2) = fr. 75 Sch. Dies treffliche Stück lysianischer Erzählungskunst hat
durch die Ungunst der Ueberlieferung besonders schwer gelitten, es enthält 6
größere Lücken, deren Ergänzung durch bloße Vermutung unmöglich ist. Nun
hat es aber I. Bekker in einem Kommentar des Iohannes Sikeliotes zu Hermo-
genes zeol edpfoewg entdeckt und daraus die Lücken vervollständigt. R. ver-
weist diese Lesarten zum größten Teil in den Apparat, er scheint ihnen nicht
zu trauen, und in der That 19 ddenjdn Tasıv abrdy dl xdpov, das Bekker und
Scheibe anstandslos aufgenommen haben, kann Lys. nicht geschrieben haben,
aber tilgt man aérdv, so sehe ich nicht, was noch Anstoß erregen könnte. Und
warum sollten die Lesarten nicht auf Ueberlieferung beruhen ? Mag Ioh. selbst
das Stück Dionys entlehnt, mag er einen ältern Mittelsmann benutzt haben, in
beiden Fällen kann doch die Hs. des Dionys unversehrt gewesen sein. Kleine
Fehler stecken allerdings fast überall: 15 ist nicht bloß wore einzusetzen, son-
dern mit Scheibe &0®’ dr’, dann aber ist natürlich im folg. 6a» unmöglich, doch
scheint mir eldev angemessener als Radermachers xar&luße, und zuletzt ist mit
Cobet ofxefov rleras zu lesen; dAlNloıs aber, das Ioh. Z. 17 hat, möchte ich
nicht mit R. in &AA7jloıv Ändern, denn diese Form ist m. W. den Rednern fremd.
Es wäre übrigens erwünscht, wenn jemand in die Schrift des Joh. (Par. 2922,
Walz Rhet. Gr. VI p. VIII) gelegentlich Einblick nehmen wollte.
Mit dieser Stelle korrespondiert offenbar c. 12 Anfang, wo auch eine sechsfache
118 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
150, 13 dxaddayele mit Scheibe in diaAdayels geändert, denn drai-
Adtteodaı giebt einen guten Sinn, es ist so viel wie mavsodaı tijs
dtapoeas, diaxgivsche:, vgl. Plat. Euthyphr. 7°, wo allerdings Hir-
schig mit alles nivellierender Kritik diaAdayetwev verlangt.
Doch die Schriften des Dionys sind schlecht überliefert und
Aenderungen sind vielfach nötig, es fragt sich nur, welche? Wie
könnte je ein Herausgeber auf allseitige Zustimmung rechnen! So
muß ich denn auch R. öfter widersprechen, wie mißlich es auch ist,
es ist ja dteyvio Boneg Oxıauaysiv xurnyogoüvre, doch es ist ein-
mal Sitte im kritischen Apparat keine Gründe anzugeben. Ich hebe
ein paar Beispiele heraus: 45, 14 ergänzt R. die offenkundige Lücke
mit Krüger rowürds ts 6 dvro gory, Ev dt toto énidecxtexois,
macht dann aber zu 20 auf die entstehende Schwierigkeit aufmerk-
sam, die ihn nötigt 7) Anuoo®evng zu tilgen, was sehr unwahrschein-
lich ist, denn der Vergleich mit Demosthenes mußte Dionys näher
liegen als mit Isokrates. R. macht aber selbst einen besseren Vor-
schlag, nur daß ich vorziehe &v 02 toig xavynyverxots TE xal ovp-
BovAsvrıxoig zu schreiben, weil Dionys gleich darauf zavnyvgıxds
sagt; im folg. ist dann natürlich, mit Matthäi, wagadetypata zu
ändern. — 65, 20 braucht man keine Interpolation anzunehmen,
Dionys giebt wie öfter den Inhalt recht frei an, nur muß es wohl
heißen tiv ra&ıv Acwetv. — 95, 6 heißt es von Lysias’ Sprache:
hdovn re xal yapırı noAATj xeyontar, R. vermutet scharfsinnig xexo-
eyyytar, nur paßt dies Verbum besser zu Personen, wie de vett.
cens. 435,4 Hypereides ovveosı moAATj xeyopniynraı oder 434,9 von
Aischines ; deshalb habe ich an xexgaraı gedacht, s. ebenda 432, 2
eben von Lysias peta xexgauevns tijg xara tiv yapıv doris, de
Isocr. 56, 20. — 225,5 sagt Dionys von einer Demosthenesstelle ra
ply Gade dvdpata advra evpavag TE ovyxertar xal NdEmg tH ovy-
xslodaı opddga xal padaxdg adtayv etvar tas aopoviag; hier ist
ovyxetofa. augenscheinlich falsch und unter Einwirkung des vorher-
gehenden ovyxetay entstanden, R. schreibt ovvezets, aber die Ver-
derbnis erklärt sich leichter, wenn ein Verbum dastand, zumal da
es im folg. entsprechend heißt duornos Tag dopovlag xal reayzelas
palvsodaı xovet, also ist unter Vgl. von 215,7, de comp. 165,5
ouveégofa: zu lesen, denn ovvnleipda: liegt weiter ab. — 233, 21
ändert R. mit Krüger worjrae in wovotto, aber Sadées zorjoacro ist
wahrscheinlicher, es paßt besser zu &vreivag »angenommen jemand
Lücke ist, in M später teils aus einer Demostheneshs. ergänzt, teils aus Ver-
mutung, nur Z. 10 war nicht so leicht zu helfen. R. hat im Text die Lücke zu
groß angesetzt, ich wüßte nicht, was anders fehlen sollte, als etwa aör/«« oder
uévoy; das noch zu findende Wort muß yelroves yao entsprechen.
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 119
hätte keine Rücksicht genommen«, wie es dvdoyoıro, xeovontecn,
oroyaocıro heißt; auch läßt sich dsap@econ 224, 2 ebenso leicht in
Öıapdeipuı ändern, wie mit Sylburg in diapdeigoı. — 237,11 hat M
éxt... état, R. schlägt dmıondoereı vor, aber das kann doch nur
heißen ‘sich hinreißen lassen’, der Gedanke aber fordert ‘sich täu-
schen lassen’, wie schon Sylburg bemerkte, also &nıopaAnosraı, das
freilich für die Lücke etwas zu groß erscheint. — 240,6 hat R. den
Zusammenhang verkannt, er behält org&peiv bei und ändert Z. 10 évag-
udzreıv in Evapudrrov, denn nicht das Hin- und Herwenden der
Redeteile ist die Hauptsache, sondern die Einfügung von Versmaßen
und Rhythmen in die politische Rede, also orgépmv — évagudrrery,
eine Vermutung, die durch de comp. 207,5 évagpdtray Ensıgäro
rovtoig tols tUxOLg TA non, oreépav va xal xdt@ ta dvduata be-
stitigt wird. — 245, 18 Zneıra gyoly ob Eysıv (?) égety rade
Gonxeg deva xal regan devav, Sums ddveetar addemy xatédoyoy xal
tayslav Avaigecıv dvegecowv. Um eine festere Verbindung der beiden
Sätze herzustellen ändert R. Zraıza in sit’ el xal, was mir unwahr-
scheinlich ist, einfacher ist es doch mit Reiske gyoag zu schreiben,
oder 6’ hinter dumg einzuschieben. Statt raysi«v schreibt R. mit
Usener redefav , dem Sinn gemäß und paläographisch nicht weit ab-
liegend, denn A und x sehen sich oft sehr ähnlich (wie Sadée 363, 5
in M &yaylorov verlesen hat, aber es ist ein A, wie der Vergleich
mit dem vorhergehenden &xönAdrar« lehrt), möglich aber erscheint
es mir auch, daß Dionys teazetay schrieb. — 251,21 verteidigt
Dionys die Pleonasmen des Demosthenes gegen einige Redelehrer,
die nicht geprüft hätten, warum er elodsı mAsovaßeıv Ev rots adtote
övduesıv. Hier macht adrots Schwierigkeiten, es kann schwerlich
bedeuten rd «drd noäyue ÖmAovcı, wie es Z. 10 hieß (rd adtad on-
pawvöusva sagt Tib. wegl oynu. VII 564 W, cay adv diver
£yovra Theon I 190 W), aber in Radermachers Konjektur so@e
nAsovdbeıv Evlore év toig Övduacıv verträgt sich &v/ore nicht mit
eiodsı. Kann man nicht mit der einfachen Aenderung tozovrocg hel-
fen? — 306, 10 will R. für das unhaltbare dgetiy Evdpysırv schrei-
ben, das dem Gedanken angemessen ist, aber zu weit von der Ueber-
lieferung abliegt; man könnte eher Sgav vermuten, vgl. 331, 15
éxitgeyer tig Hoa tots Epyoıs abrav xal ydpıs, 307,15 yapıs xal
@ea. — 310, 5 hätte R. nicht ovyyodpsıv aufnehmen sollen, sondern
ovyyedwor, wie ebenfalls schon ein Gelehrter im Bodl. mg. vermutet
hat, vgl. 303,13 &g&acdeı Adyovreg adrov Adyous ovyyedépey, nur
daß hier &p&acdaı durch xeatov ersetzt ist.
Zu thun bleibt noch viel für die Herstellung des Textes. Ein-
dringliches Studium, das jetzt erst ermöglicht ist, wird noch manche
120 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
Schäden aufspüren, die bis jetzt unbemerkt sind. So heißt es 13, 15
von Lysias, man könne öfter meinen, er habe brauchbare Argumente
übergangen, aber das thue er nicht aus Schwäche in der Erfindung,
sondern weil er die Zeit bemesse, zgös Ov £&deı yevéofar rove Ad-
yovs. Hier läßt sich ja yevéodou allenfalls verteidigen, aber zu
yiyvsodaı paßte besser ayüves, s. Isai. bei Harp. s. diaueusronuevn
nuega, durch eine geringfügige Aenderung (s. 35, 17 Agysodaı] ye-
veodcı F) läßt sich der eigentliche Ausdruck herstellen, 408, 18,
Arist. Staat d. Ath. p. 33, 30 ro Üölo]p Evyelovar, meöls 5 det Ae-
yey tag Otxag. — 121,4 faßt Dionys die Unterschiede zwischen
Lysias und Isaios zusammen, der eine trachte mehr nach der Wahr-
heit, der andre nach der Kunst xal 5 wiv oroydleodar tod yaguév-
toc, 6 dt tod deve. Ueber den Sinn kann kein Zweifel bestehen,
aber konnte denn Dionys so sagen ? Strebte er nach Kürze wie Ta-
citus, so müßte man sich wohl oder übel damit abfinden, aber wie
Dionys schreibt, das zeigen andre Stellen: 166, 8 oroyafouevn yee
tov cagpovs dhiymest woAkdxıg tov wergiov oder 57, 8 tod yAaupvgüg
Akysıv oroydberaı widdov N rod dpsAös. Darnach wird es sich wohl
empfehlen A&ysıv nach yagıevrog einzusetzen, der Ausfall eines Wor-
tes gehört ja zu den häufigsten Fehlern. Wer diese Unterschiede,
fährt Dionys fort, als klein und geringfügig übersehen wollte, der
wäre nicht fähig sicher über sie zu urteilen, denn, so erwartet man,
die Aehnlichkeiten werden ihn verwirren, aber das steht leider nicht
da, sondern dAA& pao, indessen ja, was ich nicht verstehe. Wie zu
helfen ist, weiß ich nicht, xgcr7¢ ist eine treffliche Besserung Krii-
gers aus xgarijoa:, daraus ist also noch ae überschüssig, in dAdd
wird ein Adj. stecken, ob etwa af moddai yap [al] duoudcnteg? —
Wie selbst der größten Sorgfalt und Aufmerksamkeit Fehler ent-
gehen zeigt 238, 19 7) öuoıa« napaiaußavovoa uerga xal dvdpords
reraywe£vovs, man braucht nicht eben viel in Dionys’ Schriften ge-
lesen zu haben, um zu wissen, daß allein megıAaußaveıv richtig ist,
wie gleich auf der folgenden Seite Z. 6 eunsgiAaußavsıv steht. Zum
Ueberfluß bemerke ich, daß das Richtige in der hier ausgeschriebe-
nen Stelle de comp. 196, 16 erhalten ist.
Ueber den von Usener bearbeiteten Teil kann ich mich glück-
licherweise kurz fassen. Nach der Lektüre nur weniger Seiten fällt
ein Unterschied zwischen den beiden Gelehrten in die Augen: wäh-
rend R. jedes oo in tr verwandelt, läßt U. ruhig z.B. pAwoonuat-
x6g neben yAwrrnuarıxds stehen und führt auch sonst keine Unifor-
mität durch, ja er duldet Zvgaxdaseg bei Thuk. 406, 1 und woddAcxe
bei Demosth. 417, 3, nur BvBdog wird streng durchgeführt und té-
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 121
$nxev, allerdings mehrfach aus der besten Hs.!). U. hatte insofern
einen Vorteil vor Radermacher, als die Schriften über Thukydides
vortrefllich von K. W. Krüger bearbeitet waren, aber wie viel hat
er trotzdem noch für die Säuberung des Textes zu thun gehabt.
Natürlich sind nicht alle seine Vorschläge gleich einleuchtend, manch-
mal steht es auch so, daß eine sichere Heilung überhaupt nicht
möglich ist, an einigen Stellen wird man auch die Ueberlieferung
halten können, nicht bloß, wo U. seine Vermutungen im Apparat
vorträgt, z.B. 269, 19 (der enge Anschluß an den Inf. ist doch allzu
häufig), 326, 4 (vgl. 349, 24), 332, 14 (vgl. 346, 15), 429, 18 (warum
soll man denn das zutreffende und überdies seltne Wort ändern ?
dvriustaratache. sagt Dion. Archaeol. III 25, 1), 433, 8 (ähnlich strich
Krüger 136, 6 wowodcıv) ?), sondern auch wo er sie in den Text auf-
genommen hat, so 327,4, wo er, wie schon Weil bemerkt hat,
den Gedanken mißverstanden hat, x«i odd’ ovrog hängt von éxt-
unioovrog ab und setzt ore roAu@uev fort, wie Z. 15 ravrag ÖN tag
Enıtıunosis beweist. — 268,6 ist die Ueberlieferung AAdev eig re
TahaAyyyy xal civ Borriciav, nur B! hat sis mv eig ce, U. schreibt
eis tiy te, aber IlaAAnvn kann ohne Artikel stehen, vor Borriaie
aber ist er gradeso unentbehrlich wie vor '4rrıx), U. hätte deshalb auch
Herwerdens falsche Vermutung gar nicht erwähnen sollen. 363, 15
dagegen xai ro éuBgrdic xal 1d devoy xal to Ypoßegdv klammert U.
den Artikel vor gofegdy ein, denn er fehlt in dem Br. an Amm.
425,6, dort aber ist er eher einzusetzen, gofegoy wird durch den
Zusatz des Artikels von devydy geschieden, vgl. 23, 7 ovd? ro nıxgov
N ro deıvov 7 To gopegdv. Verteidigen muß ich den Artikel auch
noch an einer andern Stelle 434, 6 avıl tHyv owudrnov noäyua yive-
tat, Wo U. avri omuarwv Schreibt; es heißt ja freilich in den allge-
meinen Angaben zgayuer« avri owmudtav, aber hier ist von dem
speciellen Fall die Rede, avri trav ewpcr@oy = anstatt der Personen,
die eben erwähnt waren, nämlich Z.2 uexgı wey ody tovrmv To oxo
tig Attewg ember tiv axolovdiav, og éxl NIEO0WTWV dUPOTEEWV xE-
uevov. Dagegen scheint mir 363,7 16 rs mergdodar ... xal Eru
zgo0dsyduevov te toy axgoatiy axovesoday xaraleinsıv der Artikel,
den U. vor Zrı einsetzt, entbehrlich, denn abgesehen davon, daß die
1) Ob man recht daran thut redeıxev überall zu ändern, vermag ich ‘nicht
zu entscheiden, aber nicht billigen kann ich es, daß es R. in dem Bruchstück
des Demetrios 298, 13 korrigieren will, in dem er Z. 19 sagıoravsıv unangefoch-
ten läßt.
2) 275,19 nimmt U. mit Recht eine Lücke an, nur hätte er nicht éxdedo-
kevoı vorschlagen sollen, das paßt zu Aoyoı, nicht zu dymveg, sondern rereis-
opévoe (303, 21. 313, 21) oder éxireredeouevos (277,7) oder signvraı (313, 3).
Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2. 9
122 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
Stelle auch 424, 19 gradeso überliefert ist, giebt es genug andre
Stellen, wo bei der Verbindung durch rs—xel das 2. Mal der Ar-
tikel fehlt; da R. erst kürzlich in dieser Zeitschrift (1899, 708 f.)
darüber gehandelt hat, führe ich nur ein paar Beispiele aus
Dionys an, 236, 21 ovrdgoury re xal misovaouds 266, 12 Tüv
dvahvrırav TE nol usBodixay xal Tonıxöv, wonach 264, 13 zegt
tis Avalvrınng xal petodixiis xeayparecag zu bessern ist, 136, 12
ulyua Exerepmv TÜV yapaxıromv, rod te byndod xal loyvod?),
303, 1 weol Tüv Adymv tev Te yvnoiov avrod xal un, 432, 10
t6 te ueroyıxdv Övoua td wEevdvt@ay xal advtovoucorixdy 1d Nucv,
wo die Apographa rd einsetzen?).. Ueberfliissig ist der Artikel
auch 260, 15 yagızorarog ündvrov Adyov, wo ihn U. mit Syl-
burg (wie 277, 3 nur Adyov zu ändern war), und Brief an Cn. Pomp.
782, 8, wo er ihn mit Herwerden eingesetzt hat, vgl. 15, 4. 17, 16.
29, 19. 334, 13, 335, 17. 417, 17, um nur ein paar Beispiele an-
zuführen. Ausgefallen ist der Artikel ja oft genug, eingesetzt hat
ihn U. auch 398, 21 tag — Önunyogias, ds dıedevro Kiemv al
Aiddorog (tag) Ev ti rein BvBAw, doch kann man auch diese Stel-
lenangabe als Bemerkung eines Lesers streichen. Daß aber U.
336, 14 xara tas Spas als Glossem einklammert kann ich nicht bil-
ligen; ist denn der Zusatz wirklich unnütz? liegt nicht in dem nach-
drücklich ans Ende gestellten die Begründung? non lucidior facta
est distributio eo quod secundum tempestates eam institut, um Krügers
Worte zu gebrauchen. — 341, 12 Gore undtv deiv axd Tovrwv
dornv moısiodeı schreibt U. un deiv, aber s. 358, 23 wore ovdiv
Ost nel adtay éut vuvi Adyev, 130, 20 u. öfter odddy deoua. —
365, 9 Av O° 7 negiogN) @peilun xaTeoxevaodaı un tovtov bx’ adtod
tov todmov, dAAR xoıvörepov uäidov xal @peiuußrepov. Warum U.
40° n meguoy? Spede piv ändert weiß ich nicht, vielleicht weil er
ogpeiiun mit @pediuoregoy für unvereinbar hält; aber gegen seine
Aenderung spricht mancherlei: daß ds sich auf das vorhergehende
bezicht, ist ja nicht unerhört, aber konjicieren darf man es wohl nicht,
was soll ferner wev? und wird das gradezu zu einer Wunschpartikel
gewordene gee so gebraucht? feuorrev sagt Dionys in einem ähn-
1) Also auch 762, 16 mit Herwerden rijg <r’> loyvüs “ul owns, nicht ris
mit P. Die Verbindung re xal erinnert mich übrigens auch an 754, 2 zevads
Eréem yovod nuparetels nosirrov TE nal zelowy edeloxerar, wo U. site xal an-
dert; aber re «af ist ganz richtig, es heißt: durch die Vergleichung wird der
größere und geringere Wert des Goldes gefunden, ähnlich wie Lys. 31,5 rovrosg
usyala ra diagégovta Eorıv ed TE noarreıv tHY nodıv rivde nal dvenırndelas.
2) Vielleicht gilt das gleiche auch von der Verbindung durch xal—xe) 371, 14
nal cd rar nor xual rar Öllyay civ abrıv sxdinpey Eger.
Dionysii Halicarnasei opuscula ediderunt Usener et Radermacher. 123
lichen Fall 431, 12; die Ueberlieferung dagegen giebt den guten
Sinn: es wäre vorteilhaft, wenn.
Zuweilen sähe ich gern eine andre Konjektur im Text als die
von U. aufgenommne. So schreibt er 414, 10 &x tijg wodituxijs xal
Suvvndovg rois xoddois anayyediag mit leichter Aenderung statt
zoAAns unter Verweisung auf 143, 11 roıavrnv xaradapoy rv molı-
tıxıv Ack, aber das Wort paßt hier nicht. Dionys will zeigen, daß
Demosthenes ein Nachahmer des Thukydides sei und führt Beispiele
an & wagd toy Gouxvdidov xarecxevactar yaguxtijon voy Ev ti Xoıvf
xai ovvide dvadextmo tiv eaddayny éyovta, wie er am Schluß des
Abschnittes 417, 10 sagt (noch deutlicher über Dem. 145, 6 ff.), das
besagt aber nicht woditixy dnapyedia, sondern xo}, wie Krüger
änderte; diese Besserung wird bestätigt durch 415, 5 xal ydg év-
ravGa néniextor piv 7) didvora modvmAduas, Achexrat O° ex tig x01-
vorntog eis thy dovvidn podow éxBeBnxdta, vgl. auch 372, 9. —
426, 8 trifft rd ovvrowor statt 1d Onucıvduevov nicht den Gedanken,
denn vom ovövrouov ist gar nicht die Rede, es mißfällt auch der
Wechsel des Subjekts. Was der Sinn ist, ergiebt die Vergl. von
423, 3, wie schon Krüger sah; die Herstellung ist natürlich un-
sicher, nötig ist jedenfalls övoue, also vielleicht td onuavdusvov
(sis Övoue ovvayav). — 435, 4 schiebt U. el yap ro od yarexds
éviorevro ein und muß dann doppelt ändern zgocrediv in ng00Ed7-
xev und oyruarıodtv in éoynpatioev, während sich doch nahezu von
selbst ergiebt rd yag ... xgoorediv, wie natürlich längst, von
Reiske, vermutet ist. Warum U. diesen Vorschlag nicht annahm,
ist freilich klar, es ist der Subjektswechsel im folg., weshalb Reiske
2.9 7 d& negeußoAn wollte, eine gewiß leichtere Aenderung als die
zweifache Useners, aber zu zenoinxev Z. 11 läßt sich denken Thuky-
dides, wie es 146, 13 ganz ähnlich heißt: oddity dy size aeolegyov
n AtEıs oddE axoAıdv, El Toürov EEiveyxs tov todnov, näml. De-
mosthenes.
Aufnahme verdient hätte m. Er. Herwerdens wagaxadet 260, 19,
wie Dion. stets das Präsens hat, Sylburgs onuactas 363, 12, wie es
an der andern Stelle steht. 403, 1 hat Sadée dy &v tO weils
&oriv 7 loyds emendiert &v t& ueAdovrı Eoriv, aber ist nicht weAAsıv
&oriv aus wéddovre entstanden? es ist die Umschreibung des thuky-
dideischen io Ev td dxdem % lozyvs 403, 14. 404, 15. — Unter den
fremdartigen, veralteten und schwer verständlichen Wörtern des
Thukydides wird 425, 10 6 &nıdoyıouös aufgeführt, das bei Thuk.
nicht vorkommt; U. vermutet &xnAvrns unter Vergl. von Marcel-
linus 52, aber da heißt es z& dt moınraig pede olov rd Enıkvykaı
wal ro éxndvras, ist also hier nicht zu gebrauchen. Ich schlage vor
9 *
124 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
dvoAoyıouds zu lesen (Thuk. III 36, 4), ein immerhin seltnes Wort,
von dem Pollux II 120 ausdrücklich zu bemerken für nötig erachtet,
daß es Thuk. gebrauche.
Zum Schluß noch eine Schwierigkeit. In der Disposition, die
Dionys im Eingang des Briefes an Ammaios über die Eigentümlich-
keiten im Ausdruck des Thukydides giebt, stellt er als ersten Punkt
auf: Eml rig Exkoyis av Övouaımv tiv Tgonımv xal yAwrrnwatinhy
xal d&xnoyarouevyny xal Eevnv Adkıv (422, 17), es finden sich dann
aber c. 3 nur Belege für veraltete Wörter, dann nicht etwa rgo-
mix, sondern roıntıx«, die vorher gar nicht erwähnt sind. Nun
wäre ja die Veränderung von roonıx7v in zomtanv leicht genug,
bedenklich macht nur, daß es auch 361, 5 überliefert ist, ebenso
wie eg 409, 20 heißt tiv goacıv tiv yAmrrnuarınıv te xal &xnozat-
auEvnv xal roonıxıv xıA. Halte ich aber 412, 8 tiv pAmoonuatixhy
xal annoyampéevyny xal oma xal Eevnv Adtıv und 412, 26 rd
xarayAmocov tijg Adkewo xal Edvoy xal xorntixdy dagegen und be-
riicksichtige, daß Dionys 363, 10 unter den vier Eigenschaften, die
gleichsam des Geschichtschreibers dgyava seien, an die erste Stelle
tO zoımtıxov t&v Övouarov stellt, 11,10 von der wountixh xaraoxevn)
des Thukydides spricht und 411, 9 fordert, des Geschichtschreibers
Darstellung solle auch etwas Dichterisches haben, während er von
dem tropischen Ausdruck, der ja in der That bei Thukydides nur
sehr vereinzelt vorkommt, überhaupt gar nicht spricht, so sehe ich
doch keinen andern Ausweg, als wenigstens an den zwei Stellen
422, 18 und 361, 5 tgonxexhy in zomtaNv zu ändern, 409, 20 ist
nicht unmittelbar von Thukydides die Rede und könnte deshalb eher
verteidigt werden.
Doch genug und übergenug von all diesen Einzelheiten! Möge
U. Lust und Muße, Kraft und Gesundheit vergönnt sein neben sei-
nen andern großen Arbeiten bald den zweiten Band fertig zu stellen!
Berlin, W, November 1900. Karl Fuhr.
Levi, La doctrine du sacrifice dans les Brähmanas. 125
Leri, S., La doctrine du sacrifice dans les Brahmanas, (Biblio-
théque de l’école des hautes études, sciences religieuses, XI vol.), Paris, Le-
roux. 1898. 8°. 181 S. Preis 5.50 M.
In diesem mir zur Besprechung angebotenen Werke hat der
Verfasser einen ersten Versuch gemacht, dasselbe für die Brähma-
nas zu unternehmen, was andere für die vedischen Hymnen versucht
haben: aus ihnen und nur aus ihnen diejenigen theologischen Le-
genden, Auslegungen und Speculationen über das Opfer zusammen-
zustellen, die sich in mehreren Brähmanas zugleich, wenn auch zu-
weilen in abweichender Redaction, vorfinden. Wenn sich eine Le-
gende oder ein Deutungsversuch von rituellen Handlungen in meh-
reren zu verschiedenen Schulen gehörigen Brahmanatexten zugleich
findet, so zieht der Verf. die im Allgemeinen wohl richtige Folge-
rung, daß man das Recht hat, die betreffende Lehre für die officielle
Brahmanistische zu halten. Freilich darf, nach meiner Ansicht, diese
Schlußfolgerung aur im Allgemeinen für richtig gelten, da es ja
sehr wohl denkbar ist, daß zwei Schulen spontan und unabhängig
von einander eine gleiche Erklärung, Lehre oder Deutung gefunden
haben, ebenso wie umgekehrt eine einzige Schule eine von altersher
überlieferte Legende sehr wohl allein bewahrt haben kann. Der
Verf. hat seine Untersuchung weislich auf die gedruckten Texte be-
schränkt 1), und auch so war seine Arbeit keine leichte. Nur ein
verhältnismäßig kleiner Theil dieser Texte liegt in Uebersetzung vor
und der Bearbeiter dieser oft spitzfindigen theologischen Speculationen
hat nicht blos viele Schwierigkeiten exegetischer Art zu überwinden,
sondern muß sich mit tüchtiger Energie und großer Ausdauer wapp-
nen, um die nicht immer erquickliche Lectüre zu Ende zu führen.
Die Einleitung (S. 3—12) enthält manche richtige Bemerkung. Tref-
fend ist z.B. die S. 9 gemachte Aeußerung: »le sacrifice est une
operation magique«, eine Bemerkung, die nach meiner Ansicht nicht
nur für das Opfer der Brähmanaperiode, sondern auch für das
ganze indische Opfer zutrifit. Mit Freuden bemerkt man, daß unter
den S. 6 behandelten Perioden der vedischen Litteratur die »Sütra-
periode< nicht mehr auftritt.
Was mir in dieser Einleitung zu fehlen scheint, ist eine für den
nicht Eingeweihten kaum zu entbehrende Würdigung und Kritik der
in den Brähmanas enthaltenen Legenden, Erklärungen u. s.w. Es
1) Das Taittiriya-Aranyaka hätte auch mit in Betracht kommen sollen. Sein
Iohalt ist ja zum größten Teil den späteren Partieen des Satapatha analog.
126 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
steht nämlich fest, daß nicht alles in unseren Brähmanas altererbt war,
sondern unsere Theologen, die jede Thatsache, jede Kleinigkeit des
Rituals zu erklären und zu motivieren bemüht waren, für ihre Er-
klärung auch manche Legende, manche Deutung ad hoc ersonnen
und aus den Fingern gesogen haben. Daß hierbei die Etymologie
4 la Varro ein wichtiger Factor war, ist bekannt. Die Legende
z.B. von der Entstehung der Heiligen (der rs:) beruht auf der Ety-
mologie (rsuyah ... tapasärisan, Levi, p. 13); ebenso die Legende
von der Entstehung des Pferdes (fud asvayat tato ’svah samabhavat,
Levi, p. 155). Es wird sogar den Thatsachen Gewalt angethan, um
eine Erklärung des Rituals zu suchen. Soll man wirklich glauben,
daß in rebus profanis der Inder den linken Zugochsen zuerst, den
rechten zuletzt anspannte (L. p. 86), daß er den linken Backenbart
zuerst, den rechten zuletzt kämmte, daß er die Nägel zuerst der
linken, dann der rechten Hand schnitt, daß er sich das linke Auge
zuerst salbte? Die einmal vorgeschlagene Deutung wird durch Dick
und Dünn angewendet, so z.B. bei der Erklärung der Thatsache,
daß der zum Soma-Opfer geweihte Opferer (der diksita) die Fäuste
ballen soll, daß er sich nicht mit der Hand kratzen soll (Levi, p. 104).
Daß man zwei Arten von Legenden in den Brähmanas zu unter-
scheiden hat, hat Oertel (The Jaiminiya Brähmana Version of the
Dirghajihvi Legend, Actes de l’onzieme Congr. Intern. des Orienta-
listes, Paris 1897, p. 235) richtig ausgeführt: erstens diejenigen Le-
genden, die für »purely illustrative purposes« mitgetheilt werden,
und zweitens die von Oertel als »exegetical legends< bezeichneten,
welche der Autor eines Brahmana »by additions and alterations of
his own makes completely suitable for his purpose«. Aus den hier
gemachten Bemerkungen erhellt, daß nicht jede Ueberlieferung in
unseren Brähmanas gleichen Werth hat, daß die Autoren ganz will-
kürlich e re nata das Ueberlieferte geändert oder Neues ersonnen
haben, und daß es gewagt erscheinen könnte, aus solchen Specula-
tionen die leitenden Gedanken herauszuschilen. Wie leicht man
irre geführt werden kann, beweist das folgende Beispiel. In einem
Brahmana wird als Motiv für das Umgürten der Gattin des Yaja-
mäna beim gewöhnlichen Opfer angegeben: »das was bei der Gattin
unterhalb des Nabels ist, ist unrein; diesen Theil von ihr scheidet
er also durch den Gürtel ab<. Dieses Motiv wird von Levi (p. 157)
dazu verwerthet, den Haß der Priester gegen das Weib und die
geringe Achtung, die ihm zuerkannt wurde, zu betonen. Auf eine
solche Aeußerung ist aber nicht allzu viel Gewicht zu legen, denn
wir sehen, daß sonst von dem Menschen im Allgemeinen dasselbe
gesagt wird: ürdhvam vai purusasya nabhyai medhyam, avacinam
Levi, La doctrine du sacrifice dans les Brähmanas. 127
amedhyam, yan madhyatah samnahyati, medhyam caiväsyamedhyam ca
vydvartayat: (Taitt. Samh. VI. 1. 3. 4, vgl. Maitr. Samh. II. 6. 7,
pag. 69, 8).
Wenn man also bemiiht ist den Sinn des Rituals zu finden, so
scheint es mir, daß diese theologischen Erklärungen der alten Bräh-
manas mit großer Vorsicht und stetiger Kritik gebraucht werden
müssen. Denn nicht alles was diese Ausleger im Ritual gesucht haben,
ist auch immer darin zu finden. Sehr oft ist das von ihnen angegebene
Motiv falsch, in vielen Fällen auch läßt sich vorläufig noch nicht
entscheiden, ob sie Recht hatten oder nicht, in vielen Fällen hatten
sie Recht. Levis Buch ist somit für den, der die wirklichen, ur-
sprünglichen Motive des Rituals sucht, von secundärer Bedeutung,
wer aber darauf ausgeht, die altindische Religion zu erforschen, wird
es mit Freuden begrüßen, weil es ihm die Kenntnis der Ideen einer
wenig bearbeiteten Periode theils erschließt, theils in vorzüglicher
Gruppierung vor Augen führt. Der Stoff ist mit großer Geschick-
lichkeit verarbeitet. Den von Barth im Bulletin des Religions de
l’Inde (Revue de l’histoire des religions, Tome XXXIX, pp. 29—32)
gemachten allgemeinen Bemerkungen füge ich die folgenden, einigen
Details betreffenden, hinzu. An der Uebersetzung der zahlreichen
Stellen wird nur wenig auszusetzen sein; ahar ahah svahäkuryad a
kästhat (S. 78) lautet in der Uebersetzung: »tous les jours on fait
les offrandes aux Dieux y compris le bois ä brülere, deutlicher wäre
gewesen: >si ce ne soit qu’un morceau de bois a brüler«, vgl. Taitt
Ar. II. 10. 2: yad agnau juhoty api samidham, tad devayajüuh samlig-
thate. Die Uebersetzung von tam proksya paryagnim kriva (S. 119):
»ils l’aspergerent d’eau, la menérent autour du feuc ist ein Ver-
sehen, statt: >»ils portérent autour d’elle un morceau de bois brü-
lant<; daß nidhana (S. 149) nicht »prélude<, sondern »finale d’un
saman< bedeutet, ist schon von Barth bemerkt. Ist in der Sata-
patha-Stelle II. 5. 2. 20 (S. 156) antahsulya richtig übersetzt durch
»avec une ‘piqire au coeur« ? In den zahlreichen langen Citaten sind
mir nur wenig Druckfehler aufgefallen: brah statt bhah (S. 22);
samstutäv statt samsutav (S. 37, no. 7); brahmaudam statt brahmau-
danam (S. 63, no. 2); brütva statt bhütva (S. 93, no. 3); ya statt
ye (S. 96, no. 1); aksitim statt äksitim (S. 109, no. 1); vittha statt
vettha (ib.); trbhir statt tribhir (S. 131, no. 2); napasyan statt nd-
pasyan (S. 148, no. 1).
Breda, 4. Dec. 1899. W. Caland.
QR
128 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
Cornelius, H., Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Leipzig,
B. G. Teubner 1897, XV und 445 3. Preis 10 Mk.
Es ist ein gedankenreiches, eigenartiges und darum lesenswertes
Buch, um welches Cornelius die deutsche Psychologie bereichert hat.
Dieser Eindruck hat den Ref. während der ganzen anstrengenden
Lectüre nicht verlassen, wie wesentlich auch seine eigenen Anschau-
ungen von jenen der Standpunkt-Psychologie Cornelius’ abweichen.
Was das Buch will, drückt der Autor im Vorworte (abweichend
vom Titel) wie folgt aus: »Dieses Buch soll nicht eine nach dem
heutigen Stande der Wissenschaft vollständige Aufzählung und Dar-
stellung der Thatsachen des psychischen Lebens und der zur Erkla-
rung derselben aufgestellten Theorien geben. Seine Aufgabe ist
vielmehr diejenige einer erkenntnistheoretischen Grund-
legung der Psychologie: die Begründung einer rein empiri-
schen Theorie der psychischen Thatsachen unter Ausschluß aller
metaphysischen Voraussetzungen<. Diese Aufgabe will der Autor
durch eine vollständige und einfachste zusammenfassende Beschrei-
bung lösen. — Erklärung, welche sich andere Psychologien zum
weiteren Ziele setzen, ist für ihn (wie für Mach und Kirchhoff) nur
‚Vereinfachung<« in der Beschreibung oder die Zusammenfassung von
Thatsachen »>mit anderweitig bekannten Thatsachen unter gemein-
schaftliche Gesichtspunkte<. Auch alle Feststellungen von Abhängig-
keiten und psychischen Entwicklungen gehen in diesen weiten Be-
griff Erklärung ein.
Damit stellt sich Cornelius bewußt auf den bekannten Stand-
punkt, daß die Aufstellung von Causalrelationen nicht zur erfah-
rungsmäßigen Erklärung gehören, daß also die Causalität bereits
hypothetische Annahme, natürliche Theorie, metaphysische Zuthat
sei. Cornelius vermeidet denn auch mit auffälliger Consequenz bei
seinen Beschreibungen die Worte »Ursache« und »Wirkung< und
setzt überall, wo sonst Psychologen diese Bezeichnungen unbedenk-
lich gebrauchen würden, »Bedingung< und »Bedingtes«.
Hierzu sei dem Ref. eine Bemerkung gestattet. Wenn der Herr
Autor die Causalität aus der grundlegenden Beschreibung des psy-
chischen Befundes ausschaltet, so sollte er mit der Relation »Be-
dingendes—Bedingtes« dasselbe thun. Es hieße der Begriffsbestimmung
unerlaubte Gewalt anthun, aus der Relation Bedingendes—Bedingtes
das Element des zureichenden Grundes, die Notwendigkeitsbeziehung
hinausinterpretieren zu wollen. Diese Relation ist so gut außer-
empirisch wie die causale; es liegt eben begrifflich mehr in ihr als
Cornelius, Psychologie als Erfahrungswissenschaft. 129
der Ausdruck zeitlicher Coexistenz oder Succession. Diese Schwie-
rigkeit schafft sich Cornelius selbst mit seinem freilich sehr ach-
tungswürdigen horror metaphysici. Für uns Anderen, die wir uns
mit der Forderung bescheiden, ein Weltmodell der psychischen Welt
mit Hilfe des kleinsten Maßes offen bekannter metaphysischer An-
nahme darzustellen sind die Gefahren nicht größer als für Anti-
metaphysiker, die in Wahrheit Kryptometaphysiker sind.
Andrerseits müssen wir dem Herrn Autor Dank dafür wissen,
daß er mit Entschiedenheit für den phänomenalen Dualismus ein-
tritt, was ihn über alle ihm sonst verwandten Psychologen hinaus-
hebt, welche die Doppelreilie der Erscheinungen durchaus nicht als
empirisch gegeben finden wollen. Cornelius sagt ausdrücklich: > Die
psychischen Erscheinungen sind zwar bis zu einem gewissen Grade
wenigstens sicher abhängig von den physiologischen Vorgängen
in der Nervensubstanz; aber sie sind mit denselben nicht iden-
tisch uud die Beschreibung der einen ist nicht gleichbedeutend mit
der Beschreibung der anderen<. So viel von der Einleitung.
Das erste Capitel des Werkes beginnt mit der Ausführung, daß
der Inhalt unseres Lebens das unmittelbar Gegebene sei. Jede Er-
fahrungspsychologie habe vom Vorfinden auszugehen ; vorgefunden
werden aber ausschließlich Bewußtseinsinhalte. Inhalt, Gegenstand,
Objekt, Erscheinung, Phänomen des Bewußtseins ist dasselbe (p. 13 f.),
Die weiters zum Befund zählenden elementaren Thatsachen des Be-
wußtseinsverlaufes lassen sich nach dem Rückblick des Autors (p. 81)
in folgender Weise zusammenfassen : »Die Unterscheidung größerer
und geringerer Aehnlichkeiten unserer Bewußtseinsinhalte, die That-
sachen der Berührungsassociation und das Uebungsgesetz, die Ab-
straction, die verschiedenen Arten der Symbolik, die Genesis der
Wahrnehmungsbegriffe und die darauf gegründete Prädication der
Bewußtseinsinhalte; als die primitivste dieser letzteren Begriffsbil-
dungen (?) hinwiederum trat uns diejenige entgegen, welche wir voll-
ziehen, wo wir von Gefühlsbetonung unserer Erlebnisse sprechen,
die ihrerseits in Combinationen mit den Thatsachen der Erinnerung
zur Entstehung eines weiteren fundamentalen Phänomens, des Wun-
sches oder Strebungsgefühles Anlaß gibt«. — Von den einzelnen Er-
örterungen dieses Abschnittes scheinen dem Ref. die über das Ge-
dächtnis und die Erinnerung, in der Cornelius den Begrift der
Vorbereitung (im Gegensatze zum Eindruck) herausarbeitet, die ge-
lungensten zu sein. Die hier bethätigte Gründlichkeit und Reinlich-
keit der Gedankenentwicklung ist wahrhaft verdienstlich. Dabei
hält sich Cornelius von der Neigung frei, eine eigene neue Termi-
180 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
nologie!), die nur Eingeweihten nach längerem Studieren und Ueben
verständlich zu sein pflegt, einzuführen und findet mit einigen Re-
ceptionen üblicher Namen sein Auslangen. Statt »bewußte« und
unbewußte« setzt Cornelius »beachtetec und »nicht beachtete«
Theilinhalte, ohne damit die Existenz von unbewußt Psychischem
(»dem Hintergrunde<, der nur als Beeinflussung bewußter Inhalte
in die Erscheinung tritt) leugnen zu wollen. In der Associations-
Lehre stellt Cornelius das Gesetz der Gewohnheit oder Uebung als
Grundgesetz auf und erklärt es aus einem Wahrscheinlichkeits-
Zuwachs, der durch die relative Oftmaligkeit derselben Reihenfolge
von Theilinhalten in Complexen entstehen soll. Eine ausführliche
Betrachtung widmet der Autor den Gestaltqualitäten, deren Be-
stehen er (mit Meinong, Ehrenfels und Höfler) anerkennt und legt
überzeugend dar, wie ein Complex von Theilinhalten neue Merk-
male aufweise, die nicht durch bloße Summierung verstanden werden
können. Die Ansicht, daß die Annahme von Gestaltqualitäten über-
flüssig sei, weil in ihnen Aehnlichkeitsrelationen der Theilinhalte vor-
lägen, weist er als Misverständnis ab. Den Schluß des Abschnittes
bildet eine kurze Charakteristik der Gefühle und Willensphänomene.
Gefühle sind nach Cornelius Prädikate (warum nicht Seiten?)
unserer Erlebnisse und stellen die >Gestaltqualitäten unseres je-
weiligen Gesammt-Bewuftseinsinhaltes« dar (p. 76). Zuin Willens-
phänomen leitet die Betrachtung über: »Wenn ein gegenwärtig vor-
gefundener Inhalt als ein mit oder im Gegensatz zu unserem Willen
vorhandener bezeichnet wird, so ist damit nichts anderes (?) ausge-
sagt, als daß wir beim Vorfinden dieses Inhaltes Lust oder Unlust
empfinden< (p. 78). Im allgemeinen meine man indes, wo von Wol-
len die Rede ist, den Wunsch, den gegenwärtigen annehmlichen oder
unannehmlichen Zustand festzuhalten oder wegzuräumen«. Dieser
Wunsch ist das primäre Phänomen, die Willenshandlung im engeren
Sinne dagegen ein Erfahrungsproduct.
Mit den soeben skizzierten Gedankengängen des ersten und
wichtigsten Capitels ist der Standpunkt des Verfassers bereits deut-
lich gegeben.
Er macht es sich zum Axiom, ausschließlich das psychisch Vor-
findliche, dem noch keinerlei theoretische Bearbeitung anhaftet, als
Bausteine der Psychologie zu verwerten. So voraussetzungslos und
methodisch unanfechtbar auch der »vorgefundene Inhalt« als Aus-
gangspunkt auf den ersten Blick erscheinen mag, so erweist er sich
1) Daß dem Buche ein Register fehlt, ist bei der großen Zahl definitorischer
Feststellungen immerhin zu bedauern.
Cornelius, Psychologie als Erfahrungswissenschaft. 181
doch bei näherem Zusehen — wie ein früherer Kritiker!) treffend
bemerkt hat — als ein Gebilde weitgehender Abstractionsarbeit,
welches sich jedenfalls nicht mit dem einer naiven Erfahrung primär
Gegebenen deckt. Von dem ausgesprochen gegenständlichen
Charakter der meisten Erlebnisse des nichtreflectierenden Empiristen
ist in diesen »vorfindlichen Inhalten< eben nichts zu finden. — Für
Cornelius ist es ferner eine Principienfrage, daß er (p. 137) Inhalt,
Gegenstand, Object und Erscheinung des Bewußtseins ausdrücklich
identificiert. Der Ref. kann sich dieser Gleichsetzung nicht an-
schließen und pflichtet vielmehr der (von Twardowski als unum-
gänglich und bedeutsam erwiesenen) Unterscheidung von Inhalt und
Gegenstand der Wahrnehmung bei.
Wichtiger als derartige Bedenken scheint jedoch dem Ref. ein
anderer Umstand: der erfahrungswidrige Intellectualismus in der
ganzen Grundlegung. In den Lehren von der Association, von den
beachteten Theilinhalten und von der Aufmerksamkeit ist keine Wür-
digung des betheiligten Gefühlselementes zu bemerken. Der Begriff
des Interesses bleibt außer Verwendung. Mit der Bezeichnung des
Gefühles als Prädicat oder Gestaltqualität unserer Gesammt-Erleb-
nisse ist die Rolle des Gefühles im Bewußtseinsverlaufe in intellec-
tualisierender Weise verwischt, umsomehr als eine explicierte Unter-
scheidung von actuellem Gefühl und Stimmung (welche das Seiten-
stück zur Gegenüberstellung von »beachtetem Theilinhalt< und
»Hintergrund« hätte bilden können) nicht verwertet wird’).
Im Berichte über das zweite Capitel des Corneliusschen Werkes
hönnen wir uns wesentlich kürzer fassen: Hier tritt die Aufstellung
und Würdigung eines obersten Princips oder allgemeinen psycho-
logischen Grundgesetzes in den Vordergrund, das der Verfasser
als Einheitsprincip bezeichnet. Die Formulierung des gewiß hoch-
wichtigen Oekonomie-Gesetzes durch Cornelius lautet: »Dieses Ge-
setz können wir dahin aussprechen, daß sich in unserem psycholo-
gischen Leben überall das Bestreben kundgibt, verschiedenartige Er-
lebnisse nach ihren Aehnlichkeiten unter gemeinschaftliche Symbole
zusammenzufassen, oder, was dasselbe sagt, überall so viel als mög-
lich das Gemeinsame des Verschiedenartigen durch ein zusammen-
fassendes Symbol zu bezeichnen. Solche Zusammenfassungen finden
1) Ed. Martinak in der Zeitschrift f. d. öst. Gymnasium. Wien 1899, S. 352 f.
2) In der objectiv gehaltenen Kritik dieses Werkes, welche Prof. W. Stern
(Breslau) geliefert hat, wird weiters mit Recht bemerkt, daß die Vernachlässigung
des Gefühles im System auch äußerlich hervortrete, indem nur ein Capitel und
zwar das letzte dem »Fühlen und Wollene gewidmet erscheint. (Zeitschrift für
Psych. u. Ph. der 8. 6, Leipzig 1899, 8. 181 ff.)
182 Gott. gel, Anz, 1901. Nr. 2,
sich nach Cornelius beispielsweise im Wiedererkennen (bei welchem
das gegenwärtige Gedächtnisbild zum Symbol eines früheren Erleb-
nisses wird), im Processe der Aehnlichkeitsassociation und in allen
Fällen des Erklärens und Begreifens. Von früheren Psychologen
und Naturforschern haben Berkeley, Kirchhoff, Mach (als Denk-
Oekonomie) und Avenarius (als Denken nach dem kleinsten Kraft-
maß) die Bedeutung des Einheitsprincipes gewürdigt. Herbarts
Apperceptions- und Verschmelzungs-Theorien, Benekes Gesetz der
Anziehung des Gleichartigen können wenigstens als Anläufe in die-
ser Richtung gelten. Alle natürlichen und wissenschaftlichen Theo-
rien überhaupt stellen nach Cornelius im Grunde nur praktische
Anwendungen jenes obersten psychologischen Gesetzes dar.
Von den sogenannten »natürlichen Theorien< bespricht Corne-
lius die Bildung des Dingbegriffes, die Ueberzeugung einer objec-
tiven Existenz und die Statuierung der Causalität mit besonderer
Ausführlichkeit. Der Dingbegriff wird in einer hier nicht wiederzu-
gebenden Weise mit Hilfe »des Mechanismus der Erwartung« ent-
wickelt (p. 91 ff.). Die dingliche Existenz (nämlich das Dasein nicht
gegenwärtig wahrgenommener Inhalte!) halt der Verfasser für »eine
Abbreviatur, einen zusammenfassenden Ausdruck für die auf Grund
früherer Erfahrungen thatsächlich gehegten, obzwar nicht einzeln
jedesmal beurtheilten Erwartungen über die Möglichkeit der
Wahrnehmung eines Inhaltes der betreffenden Art
bei Erfüllung bestimmter Bedingungen« (p. 106).
Im dritten Capitel beschäftigt sich der Autor mit der psycholo-
gischen Analyse des Successiven, des Gleichzeitigen, der Vorberei-
tung, der Gestaltqualitäten unanalysierter Inhalte, mit der Aufmerk-
samkeit und den Wahrnehmungs-Kategorien, im vierten Capitel so-
dann mit der Empfindung, dem Gedächtnis und der Phantasie. Das
fünfte Capitel ist der Besprechung der »objectiven Welt« mit den
bezüglichen Problemen des Dings an sich, des Innen und Außen,
des objectiven Raumes und der objectiven Zeit gewidmet, woran sich
noch kurze Betrachtungen über die psychophysischen Grundthat-
sachen schließen. Von den hier entwickelten Meinungen dürften die
Ablehnung des Nativismus bezüglich der Tiefenwahrnehmung und die
Verwerfung der Lehre von den specifischen Sinnesenergien (wie dies
schon Wundt gethan) das meiste Interesse beanspruchen.
Zu den Anschauungen des Verfassers über das Ding und dessen
Existenz seien dem Ref. einige Bemerkungen gestattet. Nach Cor-
nelius ist weder das »Ding« überhaupt noch seine Existenz etwas
primär Gegebenes, sondern ein Kunstproduct des erfahrungsmäßigen
Denkens. Das Gleiche gilt für die Entgegenstellung von Subject
Cornelius, Psychologie als Erfahrungswissenschaft. 188
und Object, welche für die Mehrzahl der Psychologen (unter den
neuesten auch fiir Jodl) eine grundlegende Voraussetzung aller Psy-
chologie ist. Danach wäre also der ungelehrte Empirist zunächst
im Ungewissen, ob Dinge und äußere Existenzen vorhanden seien
oder nicht und müßte erst durch ziemlich verwickelte Erfahrungs-
operationen zur Bildung dieser Begriffe gelangen, wenngleich auf
‚natürlichem Wege«. Die »vorgefundenen Bewultseinsinhalte< aber
mit ihrer skeptischen Färbung wären das ohne Abstractions- und
Associationsfunction »unmittelbar Gegebene<. So scharfsinnig auch
die Gedankenentwicklungen des Autors im Einzelnen befunden wer-
den müssen — solche »Standpunkte<« erscheinen dem Ref. eben im
Hinblick auf die Erfahrungs-Thatbestände einfach unannehmbar.
Was das sechste Capitel des Werkes anlangt, so hat es die
Erörterung von Wahrheit und Irrthum zum Hauptgegenstande,
wobei eine fruchtbare Sonderung des psychischen Verhaltens beim
Sprechenden und beim Hörenden zur Durchführung gelangt. Der
größte Theil der hier angestellten Untersuchungen ist übrigens aus
des Verfassers Schrift über die Existentialurtheile bereits bekannt.
Den Schluß des Capitels bilden einige Abschnitte über die Induc-
tion und das Causalgesetz, in denen eine trefiende Definition der ana-
lytischen Urtheile, sowie der synthetischen Urtheile a priori ent-
wickelt wird. Die »Naturnothwendigkeit< erweist Cornelius als einen
Ausdruck logischer Nothwendigkeit, bedingt durch die empirische
Begrifisbildung. Wie schwankend dagegen die Stellung des Verf.
zur Frage des Determinismus oder Indeterminismus im Wollen ist,
mag so manchen Leser überraschen.
Im letzten Capitel endlich behandelt Cornelius das Fühlen und
Wollen, den Wertbegriff, die Willenshandlung, das willkürliche Denken
und Aufmerken, (welches für ihn eine Willenserscheinung ist) und in
kurzen Andeutungen auch die moralischen Werturtheile, sowie den
Schénheitsbegriff. Cornelius sagt hier in charakteristischer Weise:
>Wir würden also hienach allgemein als moralisch positiv zu be-
wertende Wollungen (und entsprechende Handlungen) diejenigen zu
bezeichnen haben, deren Ziel nach dem Stande der jeweiligen Er-
fahrungen des wollenden Individuums als das relativ wertvollste er-
scheint, während als unmoralische Willensacte diejenigen betrachtet
werden müßten, die auf von demselben Standpunkte aus als minder-
wertig zu beurtheilende Ziele gerichtet sind<. Daraus fließt das
Moralgesetz: »Handle so, daß dein Ziel nach allen dir zur Zeit zur
Verfügung stehenden Kenntnissen als das positiv wertvollste unter
allen Zielen erscheint« (411). Daß dieser das fremde Wohl und
Wehe ignorierende Standpunkt mit jenem Kants verwandt ist, drückt
134 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
der Verf. selbst aus: »Hier wie dort zeigt sich als moralisch das
vernunftgemäße Wollen und Handeln im Gegensatz zum augenblick-
lichen sinnlichen Eindruck« (p. 412) Da bei diesem Erz-Intellec-
tualismus und Subjectivismus dem Verf. selbst bange zu werden
scheint, fügt er beruhigend hinzu: »Der consequente Egoismus muß
nothwendig zugleich Altruismus sein, weil sich als constante Wert-
begriffe mit fortschreitender Entwicklung der Erkenntnis nur die-
jenigen ergeben können, welche von individuellen Unterschieden un-
abhängig, also für jedes Individuum giltig sind«. Vonirgend einem
socialen Gesichtspunkt, vom Gefühl des ego und des alter, vom
Leben und seinen Bedingungen ist in allen diesen Constructionen
kein Sterbenswörtchen zu finden — so endet die Psychologie als
Erfahrungswissenschaft!
Wer jedoch das xa@ avréd vom xara ovußeßyxds zu sondern
weiß, wird darüber nicht vergessen dürfen, welche Fülle von wert-
vollen Anregungen die erkenntnistheoretische Seite der Psychologie
dem Verf. zu danken hat.
Wien, December 1899. Jos. Clem. Kreibig.
Gramzow, 0., Friedrich Eduard Benekes Leben und Philosophie.
Auf Grund neuer Quellen dargestellt. Bern, Steiger & Cie- 1899. VII u. 284 S.
Preis 2,50 M. (Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte. Herausg.
von Ludwig Stein. Band XIII).
Die vorliegende Schrift ist ein Beitrag zum Verständnis und zur
Würdigung eines Denkers, dessen Leben wegen fehlender Aner-
kennung von Seiten seiner Zeitgenossen einen tragischen Charakter
bekam. Beneke ist einer der interessantesten Vorgänger der mo-
dernen Psychologie und empirisch-analytischen Philosophie; er steht
daneben als einer der wenigen deutschen Philosophen der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in entscheidender Weise von der
englischen Schule beeinflußt waren. Aus beiden Ursachen ist er dem
Denken der Gegenwart ebenso sehr verwandt, wie er in seiner eigenen
Zeit einsam und isoliert stehen mußte.
Der Verfasser gibt, zum Teil auf der Grundlage eines bisher
nicht benutzten Materials, eine interessante Darstellung von Benekes
Leben und Persönlichkeit. Es lag eben auch (wie er in der Vorrede
sagt) in seiner Absicht, in der Biographie ein Stück angewandter
Psychologie zu geben, und dieser Teil des Buches ist nach meiner
Meinung besser als der rein philosophische. Besonders hebe ich die
Gramzow, Friedrich Eduard Benekes Leben und Philosophie. 186
gute Charakteristik und Erklärung der Haltung Benekes den Zeit-
bewegungen gegenüber hervor. Man hätte glauben können, daß Be-
neke als der geübte Psychologe die Zeiten und die Menschen be-
sonders gut verstanden hätte. Hier kommt aber der arge Unter-
schied zwischen Theorie und Praxis hervor. Doch leistete sein psy-
chologisches Beobachtungsvermögen (oder vielleicht richtiger: seine
Beobachtungslust) ihm in seiner Jugend einen guten Dienst im Kampfe
des Lebens. Er war als Freiwilliger in den Krieg 1815 gegangen,
und daß er im Kampfe keine Furcht gefühlt hatte, erklärte er dar-
aus, daß er immer sich selbst und seine Kameraden genau beob-
achtete, um die Wirkungen der ungewöhnlichen Eindrücke kennen zu
lernen. Der Eifer im Beobachten ließ ihn also in der Gefahr kalt-
blütig sein. Es wäre interessant gewesen, hätte er uns eine Be-
schreibung der beobachteten Wirkungen gegeben, damit wir sie mit
Goethes und Anderer Beschreibungen vergleichen könnten. — In
dieser Weise half ihm also die Psychologie doch in seiner Jugend.
Aber später ließ sie ihn ohne Hilfe im praktischen Leben. Ebenso
wenig wie er die ganze romantisch-spekulative Bewegung auf dem
Gebiete der Philosophie verstehen konnte, ebenso wenig verstand er
die Begebenheiten in 1848 und den folgenden Jahren. Er litt selbst
unter der Reaktion; aber er verstand weder sie noch die Revolu-
tion. Dr. Gramzow sagt mit Recht, daß, wenn er seine eigene Psy-
chologie benutzt hätte, er den Begebenheiten und Zeitverhältnissen
gegenüber nicht mit einem solchen Mangel von Verständnis gestanden
haben würde. Jetzt nagte diese Isolierung, verbunden mit der
Zurücksetzung, welche die herrschende spekulative Schule verur-
sachte, und mit seiner — zum Theil durch Ueberanstrengung be-
wirkten — Krankhaftigkeit, an seiner Lebenskraft. Sein rätselhaf-
ter, noch unaufgeklärter Tod ist vielleicht durch die Muthlosigkeit,
welche alle diese Ursachen bei dem hypochondrischen Manne hervor-
gerufen haben, bewirkt geworden.
Benekes Bestreben ging darauf aus, alle Philosophie auf Psy-
chologie, und alle Psychologie wieder auf Erfahrung zu bauen. Er
nannte sich selbst einen Schüler von Locke. Er stellt den richtigen
methodologischen Grundsatz auf, daß die zusammengésetzteren Be-
wußtseinszustände durch die einfacheren erklärt werden sollten. Das
Material für die psychologische Analyse holte er teils aus unmittel-
barer Selbstbeobachtung, teils aus Biographien und anderen Werken,
in denen die Menschennatur sich darstellt. Seine Methode ist also
teils subjektiv, teils soziologisch. Aber er legt sein Material für
die einzelnen psychologischen Sätze nicht ausdrücklich vor, so daß
man klar sehen könnte, welches das Verhältnis zwischen dem Ge-
136 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
gebenen und dem daraus Geschlossenen sei. Er arbeitet außerdem
mit verschiedenen Hypothesen, für die er keine nähere Begrün-
dung gibt.
Zur näheren Beleuchtung des Standpunkts Benekes vergleicht
der Verf. ihn mit Hume, Herbart und Leibniz. Diese Vergleichun-
gen sind gewiß das Werthvollste in dieser Darstellung der Philoso-
phie Benekes, und es ist in ihnen eine bedeutende Arbeit von der
Hand des Verfassers niedergelegt.
An Leibniz erinnert Beneke durch die Art, in der er die Meta-
physik und die Religion auf Psychologie gründet — nämlich durch
Analogie. Unser eigenes Seelenleben fassen wir unmittelbar auf;
das Materielle fassen wir dagegen nur mittelbar auf, und wir kön-
nen es uns nur dadurch verständlich machen, daß wir es als ein
Seelenleben in verschiedenen Abstufungen auffassen. Dieser Gedan-
kengang, der zuerst bei Leibniz hervortritt und später namentlich
von Lotze geltend gemacht ist, findet sich bei Beneke (zuerst in
seiner Schrift über das Verhältnis zwischen Seele und Leib, später
in seiner Religionsphilosophie) mit großer Klarheit. Er hat aber
nicht das Bedürfnis, das bei Leibniz so stark hervortritt, die Kon-
tinuität zwischen den verschiedenen Daseinsstufen festzuhalten. An-
dererseits geht Beneke so weit in seiner Würdigung der Bedeutung
der Psychologie, daß er meint, diese Wissenschaft könne eine Voll-
kommenheit erreichen, der die Wissenschaft der materiellen Natur
niemals fähig sein wird. Besonders meint Beneke, daß wir auf dem
psychischem Gebiete eine klare Einsicht in das Kausalitätsverhältnis
gewinnen können, während dieses Verhältnis nur hypothetisch auf
dem materiellen Gebiete angewandt werden könne. Hier zeigt sich
Beneke als Dogmatiker, und man sieht, daß ihm der Blick dafür
fehlte, wie unvollkommen sowohl die Methode als das Material war,
welche der Psychologie zum Gebote stehen.
In dem Vergleiche zwischen Beneke einerseits, Hume und Her-
bart andererseits, hebt der Verfasser, wie mir scheint, eine gewisse
Unklarheit, die sich hier bei Beneke findet, nicht hinlänglich hervor.
Hume und Herbart statuieren eine psychische Mechanik, und Beneke
erklärt sich hierin mit ihnen einig. Er meint, daß das Produkt
weder auf dem psychischen, noch auf dem materiellen Gebiete mehr
als die Elemente enthält. Andererseits meint er, daß qualitative
Aenderungen vorkommen, und sein Streben geht offenbar darauf aus,
die Entwicklung des Seelenlebens als ein organisches Wachsthum
aufzufassen. Die Empfindungen entstehen durch Wechselwirkung von
Reiz und »Urvermögen< ; — kann es nun aber dargethan werden,
daß die Empfindung nur enthält, was sich vorher im >»Urvermögen«
Gramzow, Friedrich Eduard Benekes Leben und Philosophie. 187
und im Reize fand? Beneke hat diese Frage gar nicht aufgeworfen.
Ferner. Durch die Assimilation der Reize bilden sich neue »Ur-
vermögen<; — aber kann man nun denken, daß diese neue Ver-
mögen nicht mehr enthalten, als was sich in anderen Formen wäh-
rend der Aufnahme der Reize und während der Assimilation fand?
— Besonders im Gegensatz zu Herbart tritt der morphologische und
deskriptive Carakter der Benekeschen Psychologie bestimmt hervor.
Wie der Verfasser richtig bemerkt, werden bei Herbart die psychi-
schen Elemente (die »Vorstellungen«) nicht geändert, wenn sie vom
Bewußtsein zum Unbewußtsein, oder umgekehrt, übergehen. Bei
Beneke dagegen sind die psychischen Elemente selbst Produkte noch
einfacherer Elemente (Reize und »Urvermögen«), und sie ändern sich
durch wiederholtes Zusammenwirken dieser Elemente. Hier ist also
die Analogie mit der Mechanik (oder Atomistik) nicht festgehalten,
wie bei Herbart. Benekes psychische Elemente sind den organischen
Zellen, nicht den physischen Atomen analog. — Es wäre von Be-
deutung für das Verständnis von Benekes Philosophie gewesen, wenn
der Verfasser diesen Punkt, und in Verbindung damit das ganze
Verhältnis Benekes der Naturwissenschaft gegenüber genauer unter-
sucht hätte.
Auf die speziellen psychologischen und pädagogischen Theorien
Benekes geht der Verfasser nicht näher ein. Doch wäre es inter-
essant gewesen, die Beiträge zur Theorie der Assoziation, der psy-
chischen Relationen und der Verschiebungsprozesse, die sich in Be-
nekes psychologischem Hauptwerke, den »Psychologischen Skizzen<,
finden, genauer zu studieren. Ich habe in meinem philosophischen
Seminar bemerkt, daß dieses Werk oft eine besondere Anziehung
auf philosophische Studierende ausübt. — Auch die vielen gesunden
Gedanken Benekes auf pädagogischem Gebiete verdienten eine aus-
führlichere Darstellung. Mit Recht hebt der Verfasser hervor, daß
Beneke eine Wechselwirkung zwischen Psychologie und Pädagogik
forderte. Er meinte nicht, daß die Pädagogik nichts Anderes wäre,
als angewandte Psychologie; die Psychologen hätten viel von den
praktischen Pädagogen zu lernen.
Ich habe nur noch eine kleine Notiz hinzuzufügen. Der Ver-
fasser giebt interessante Aufschlüsse über Benekes Berührung mit
englischen Forschern (Whewell, Herschel, Hamilton). Er hat über-
sehen, daß Beneke sich auch mit John Stuart Mill in Verbindung
gesetzt hat. Mill schreibt im Jahre 1844 an Bain: »Ich lese jetzt
das Buch eines deutschen Professors, Namens Beneke, das er mir
gesandt hat, nachdem er das meinige gelesen hat, und das mir vor-
her von Austin und Herschel als mit dem Geiste meiner Theorie
Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 2. 10
138 ' Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
stimmend empfohlen war. Dies ist es auch, obwohl es mehr psy-
chologisch ist, als es in meiner Absicht lag. Obgleich ich Vieles in
seiner Psychologie ungesund finde, weil er das Prinzip der Asso-
ziation nicht recht ergriffen hat (bisweilen ist er nahe daran) — 80
giebt es doch Vieles darin von suggestiver Wirkung«. (Vergl. A.
Bain: John Stuart Mill. London 1882. p. 79).
Obgleich das Buch von Dr. Gramzow verschiedene pia desideria
zurückläßt, ist es doch ein guter Beitrag zur Geschichte der Philo-
sophie und zur besseren Würdigung eines gründlichen und edlen
Denkers, dessen tragisches Schicksal bei weitem nicht die einzige
Ursache davon ist, daß sich ihm die Aufmerksamkeit immer mehr
zuwendet. Nicht nur als Vorgänger, sondern auch wegen des noch
immer bedeutungsvollen und lehrreichen Inhalts seiner Werke ver-
dient Beneke studiert zu werden.
Kopenhagen. Harald Höffding.
Harrisse, H., Découverte et Evolution cartographique de Terre-
Neuve et des pays circonvoisins. 1497—1501—1769. Essais de géo-
graphie historique et documentaire. Paris, H. Welter; London, Henry Stevens,
Son and Stiles. MDCCCC. Gr. 4. LXXII + 420 pages; avec 26 planches
hors texte et 162 extraits en facsimilés de cartes originales des XVIe et
XVIIe siécles; la plupart inédites. Prix 75 fres.
Seit einem vollen Menschenalter sehen wir Henry Harrisse un-
ermiidlich thätig in Herbeischaffung und Verarbeitung versteckten
Materials zur Geschichte der Geographie im Zeitalter der Entdeckun-
gen und darüber hinaus. Sein Vaterland Amerika steht dabei im
Vordergrund seines Interesses. Ausgehend von grundlegenden rein
bibliographischen Werken und der Herausgabe seltener Dokumente,
wie der Bibliotheca Americana Vetustissima (1866, Additions 1872),
der Excerpta Colombiniana (1887) etc. hat er sich anfangs mehr zur
Aufgabe gestellt, Leben und Thaten einzelner Entdecker in neues
Licht zu setzen, vor allem diejenigen des Columbus, Cabot, Vater und
Sohn, Cortereal etc. Im Jahre 1892 trat er dann mit einem monu-
mentalen Werk allgemeinerer Natur, History of the Discovery of
North-America, hervor, welche eine sehr wertvolle Cartographia
Americana Vetustissima enthielt und bereits den Eintritt in eine
neue Periode historischer Forschungen erkennen ließ, bei denen das
vergleichende Kartenstudium den Angelpunkt bildet.
Eine reife Frucht aus Jahre lang vorbereiteten und nun in glän-
zender Weise zum Abschluß gebrachten Studien bietet uns der Ver—
Harrisse, Découverte et Evolution cartographique de Terre-Neuve etc. 189
fasser in diesem neuen Werke. Es ist bezeichnender Weise dem An-
denken Humboldts, Peschels und J. G. Kohls gewidmet. Der Gegenstand
betrifft scheinbar eine engbegrenzte Einzelfrage: Entdeckung und kar-
tographische Entwicklung von Neufundland von Cabot bis Cook. Aber
ganz abgesehen von der Weite der Gesichtspunkte und der erstaunlichen
Belesenheit, sowie der Heranziehung der entlegensten Litteratur muß
das Unternehmen an sich als ein bedeutender Schritt vorwärts auf
einem noch viel zu oberflächlich behandelten Gebiet betrachtet wer-
den, nämlich der Forschung nach den Quellen und der gegenseitigen
Abhängigkeit kartographischer Produktionen jener ältern Zeit. Gewiß
fehlt es nicht an einzelnen erfolgreichen Versuchen in dieser Hin-
sicht. Nordenskiölds Periplus enthält ausgezeichnete Anfänge in be-
sagter Richtung, in dem er den Norden Europas, die Küsten Asiens
und Afrikas in großen Zügen und an der Hand zahlreicher im Bild
wiedergegebener Belege nach der Entwicklung kartographischer Dar-
stellungen an uns vorüber führt. Aber man muß Henry Harrisse
durchaus recht geben, wenn er in der Einleitung meint, daß die
Geographie »consideree comme science connexe de Vhistoire dowe étu-
dice dorénavant, dans ses origines et ses developpements<. Er verlangt
»la chronologie graphique des principales configurations; du cours
des grands fleuves; de l’emplacement des villes importantes a toutes
les époques, selon l’idée qu’en avaient concue les anciens géographes
et comme les exposent leurs oeuvres««.
Die Methode, die dem Verfasser hierbei vorschwebt, kann frei-
lich erschöpfend von einem Einzelnen immer nur für ein kleines Ge-
biet durchgeführt werden. Er will ein Beispiel dieses grundlegen-
den Verfahrens geben und wählt dazu Neufundland und die um-
gebenden Küsten.
Wenn sich Harrisse bei manchen seiner großen Sammelwerke
oft auf eine allseitig prüfende und kritisch beleuchtende Zusam-
menstellung der wichtigsten Dokumente litterarischer oder karto-
graphischer Natur beschränkte, so liegt, obwohl die Analyse des
herbeigeschafften Materials naturgemäß auch diesmal den größten
Teil des prächtig ausgestatteten Werkes ausmacht, doch dessen
Hauptwert nicht hierin. Ref. erblickt ihn vielmehr in den Dar-
legungen der nach Abschluß des Werkes geschriebenen, 70 Seiten
umfassenden Einleitung, zu der wir freilich manche Kapitel im Haupt-
text unmittelbar heranziehen müssen.
Diese Introduction, überschrieben » Les Sources: les Anglais, les
Portugais, les Frangais, les Espagnols, les Basques, les Hollandais et
les Italiens<« bietet in klarster Darlegung und knappem, nie ermü-
dendem Stil eine quellenmäßige Geschichte des Anteils, den alle die
10*
140 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
genannten Nationen an der Entdeckung und Aufschließung der nord-
östlichen Küsten Amerikas haben. Doch treten weniger die Einzel-
fahrten und deren Resultate, als die sie in Bewegung setzenden Mo-
mente im Vaterland in den Vordergrund. Meisterhaft werden so-
wohl die politisch-wirtschaftlichen Verhältnisse der sich an der Er-
forschung beteiligenden Staaten, als besonders der Auf- und Niedergang
aller der Hafenstädte oder Küstenstriche geschildert, von denen Ex-
peditionen ausgehen oder die sich in den Aufgaben ablösen.
Dabei fallen neue Schlaglichter auf die Entwicklung hydrogra-
phischer oder nautischer Institute in England, Spanien, Portugal,
Frankreich, den Niederlanden und auf die Zeiten, in denen hier oder
dort Seekarten von maßgebendem Wert und Einfluß entstanden oder
deren Herstellung in ganzen Schulen gepflegt wurde; die einzelnen
Autoren finden dabei eine gründliche Würdigung.
Indem der Verfasser es sich aber zum Ziel setzt möglichst
sämmtliche Darstellungen seines Forschungsgebietes im XVI. und
XVII. Jahrhundert in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und Beein-
flussung einer Prüfung zu junterziehen, wird das Werk zu einem
hochwichtigen Beitrag auch der binnenländischen Kartographie, ins-
besondere während der deutschen Renaissance.
Der Ausgangspunkt ist für Harrisse die Annahme, daß, entgegen
einer sehr verbreiteten Meinung, sich die Seefahrer des XVten Jahr-
hunderts sehr bald überzeugt hätten — Christoph Columbus nicht
ausgeschlossen —, daß die neu entdeckten Küsten nicht Cathay,
sondern ein bisher ganz unbekanntes, von Asien getrenntes Land,
ein neuer Erdteil seien. Diese Ueberzeugung läßt sich bereits für
die Zeit seit 1498 feststellen. Die Mehrzahl der Kartographen schloß
sich ihr freilich erst später an, um sie auch nachmals mehrfach zu
verlassen und wieder aufzunehmen. Treu blieben ihr im wesent-
lichen nur die Portugiesen und durch sie veranlaßt die Kartographen
von Dieppe (p. 145). Die Engländer haben in jenen Gegenden im-
mer nur den Weg nach Cathay gesucht. Der Punkt, an welchem
John Cabot die Küsten 1497 und 1498 berührte, läßt sich nicht
feststellen. (Die Darlegungen , durch welche Sebastian Cabots Be-
hauptungen eigener Entdeckungen in jenem Teil von Nordamerika
zurückgewiesen werden, sind uns aus den zahlreichen früheren Schrif-
ten des Verfassers bekannt). Nach einigen weitern unbedeutenden
Fahrten von Bristol aus traten die Engländer staatlicherseits für fast
zwei Jahrhunderte von diesem Schauplatz zurück. Bis zum Frieden
von Utrecht (1713) war Neufundland für England nur >une quantité
negligeable< (p. XIII).
Die Gesammtdarstellung des Werkes zerfällt in zwei Teile von
Harrisse, Découverte et Evolution cartogräphique de Terre-Neuve etc. 141
ungleichem Umfang; der erste behandelt die Zeit von Juan de la
Cosa bis Caspar Viegas (1200—1534), S. 3—134, der zweite von
Cartier bis Cook (1534—1769), S. 135—354.
Ausführlich verweilt der Verfasser bei Cosas bekannter Karte
von 1500; das nordwestliche Viertel der Karte ist in sauberem Facsi-
mile (Heliotypie) beigefügt, freilich stark verkleinert. Es ist, nach
Meinung des Referenten, mißlich, daß die europäisch-afrikanischen
Gegengestade bei dieser und andern Karten des Werkes nicht mehr
auf dem gleichen Blatt zur Darstellung kommen. Unbedingt ist dies
erforderlich, wenn auf die Gesammtauffassung eines Kartographen
vom »Weltbild« geschlossen werden soll. Harrisse versucht die geo-
graphische Lage der von Cabot entdeckten und auf Cosas Karten
dargestellten Küstenstrecke annähernd zu bestimmen, jedoch nach
eigenem Geständnis ohne befriedigenden Erfolg.
Hiebei geht der gelehrte Verfasser freilich meiner Meinung nach
von einer falschen Prämisse aus. Die Karte enthält bekanntlich
noch keine Breitenskala und selbstverständlich auch keine Meridian-
linien. Auf die erstere kann man jedoch mittelst der auf der Karte
gezeichneten Linien des Aequators und Wendekreises und des übli-
chen Meilenmaßstabes mit genügender Sicherheit schließen. Harrisse
nimmt das Spatium (division de l’echelle) von 50 Miglien zu 40 See-
meilen (minutes) an, was zulässig erscheint (da 50 M.ä& las km =
74 Kil. sind). Aber indem der Verfasser auch die Längengrade zu 40
Seemeilen rechnet, stempelt er die Karte ohne weiteres zu einer
quadratischen Plattkarte für den Aequator als Mittellinie (d.h.
als Berührungslinie des zugehörigen Cylinders). Das dürfte sicher ein
Anachronismus sein. Cosas Karte muß meines Erachtens noch als
eine Kombination mehrerer Plattkarten für verschiedene Mittel-
breiten zu einem Bilde aufgefaßt werden, ohne daß eine Uebertra-
gung in ein einziges (ideelles) Hauptnetz vorgenommen ward. Die
Karte John Cabots, welche Cosa gesehen haben soll, wird sicher
eine Plattkarte für die Mittelbreite von Südengland, sagen wir rund
für 48° Br. (für welche ein Längengrad sich zum Breitengrad wie
2:3 verhält), gewesen sein. In dieser wird Cabots nächster Fest-
landspunkt (Cavo da Inglaterra) in einem Abstand von rund 2000
Miglien (= 40 »divisions de l’échelle< von Englands Westküste ge-
zeichnet gewesen sein und etwa in gleicher Breite mit Bristol. Das
sind rund 3000 Kilometer oder 1600 Seemeilen (minutes) und dieser
Abstand bleibt für Cap Race nicht allzuweit hinter der wahren Ent-
fernung von England zurück. In diesem selben Maße ward das Bild
der Cabotschen Karte auf die Cosasche übertragen, ohne daß die ost-
westliche Entfernung, entsprechend einer Cylinder-
148 ‚Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
projektion für den Aequator als Mittelbreite, um
das erforderliche Dritteil (3:2) vergrößert worden
wäre (in 3000 Miglien = 4500 Kilometer). Die Beweise für diese
Auffassung der ersten Weltkarten im 16. Jahrh., daß sie nämlich aus
Plattkarten verschiedener Mittelbreiten zusammengesetzt sind, ohne
daß das Material in ein einheitliches Netz eines walzenförmigen
Kartenentwurfs gezeichnet worden wäre, kann hier nicht gegeben
werden. Es sollte durch diese Darlegung nur der Einwurf gegen
das Verfahren des Verfassers erhoben werden, daß er die geogra-
phische Länge der Cabotküsten auf Cosas Karte von Westen her
(vom Meridian von Venezuela aus) zu berechnen sucht, während die
zu Südamerika und zu jenen Küsten Nordamerikas gehörigen ge-
meinsamen Meridiane nicht als senkrechte gerade Linien, sondern
als stark nach Osten gebogene Linien gezeichnet werden
müßten. Cosa hat sich also das Cavo da Inglaterra gar nicht so
weit östlich liegend gedacht, wie seine Karte es scheinbar an-
zeigt, sondern jedenfalls viel westlicher als — auf moderne Längen
übertragen — auf dem 33° W., wie Harrises Rechnung (p. 20)
ergiebt.
Kehren wir nach dieser kleinen Abschweifung zum Hauptwerk
zurück, so kann es nicht Aufgabe dieser Anzeige sein, dem Verfasser
auf dem weiten Gang durch bekannteres und neues Material, wel-
ches er für seine Frage bearbeitet, zu begleiten. Bei seiner ausge-
breiteten Kenntnis der Fundstätten dieser alten wertvollen Doku-
mente, seinen nahen Beziehungen zu allen größern Bibliotheken und
Instituten Europas, am Sitze einer der reichsten Sammlungen dieser
Art in der Bibliothéque Nationale und andern Sammlungen zu Paris
bereichert er unsere Kenntnisse durch manchen Hinweis oder die Ana-
lyse bisher unbekannt geblisbener Karten. Die 26 Tafeln geben
meist außerordentlich klare Facsimilebilder in trefflichen Heliotypen
wieder, zuweilen freilich in zu kleinem Maßstabe, um die Legenden
lesen zu können. Eine mit dem Zweck des Werkes eng zusammen-
hängende Beigabe sind die mehr als hundert Skizzen von Einzel-
partien der Umrißlinien Neufundlands nach den verschiedenen Kar-
ten, um daran die Entwicklung der Bilder möglichst exakt nachzu-
weisen. Sie rühren, soviel dem Ref. bekannt, sämmtlich von der
kunstfertigen Hand des fleißigen Verfassers her, dem auch in seinem
71. Lebensjahr noch ein scharfes Auge zur Verfügung steht, ohne
das derartige vergleichende ,kartographische Studien kaum unter-
nommen werden können.
Was nun die Geschichte der Entdeckungen und Namengebung
betrifft, so gipfelt die Untersuchung einmal in dem Nachweis des
Harrisse, Découverte et Evolution cartographique de Terre-Neuve etc. 148
hervorragenden Anteils, den Portugal sei es von heimischen Häfen
oder von den Azoren aus seit den Zeiten der Cortereals an dem
Fischfang auf den Neufundlandbänken genommen hat, ohne daß
während eines ganzen Jahrhunderts die Tudors dagegen einen Pro-
test erhoben hätten (p. XXIV). Noch am Ende des XVII. Jahr-
hunderts erkannte England die Rechte Portugals auf gewisse Küsten-
striche der Insel an, woraus es sich erklärt, daß manche Namen
portugiesischen Ursprungs sich erhalten haben (p. 313). Erst im
Jahre 1541 erscheint auf der Karte Desliens’ von Dieppe die Insel
vom Festland getrennt. Die geringe Ausdehnung, welche die Kar-
ten portugiesischen Ursprungs den Küsten im Süden von Neufund-
land geben, führt Harrisse auf die Furcht der Portugiesen zurück,
damit in die Domaine der Spanier zu kommen, denn der bekannte
Vertrag von Tordesillas hatte ersteren in Nordamerika nichts be-
lassen, was südlicher als 44 !/s ° lag (p. 76).
Den Portugiesen wird auch das Verdienst zuerkannt, mindestens
bis 1541 Labrador zuerst erforscht zn haben.
Schon seit dem ersten Viertel des XVI. Jahrhunderts beteiligen
sich Schiffer aus den Häfen der Normandie, Bretagne, des Bordelais
am Fang des Stockfisches, woraus sich die Eigenartigkeit französi-
scher und später holländischer Küstenzeichnung für diese Gebiete
ergiebt (p. XXX).
Als Beispiel ‘der Gründlichkeit, mit welcher Herkunft und Be-
deutung einzelner Küstenformen oder Namen verfolgt werden, kann
die Erörterung über das Land (Fluß, Stadt) »Norembegue« oder
Anorambegue (p. 149 f.) gelten. Dem Verfasser des »discorso d’un gran
capitano di ‘mare Francese del luoco di Dieppa«, welchen Ramusio
(1565) erwähnt, nachzuspüren, war für den ausgesprochenen Forscher-
trieb und die Ausdauer von Henry Harrisse eine lohnende Aufgabe.
Er findet ihn in Uebereinstimmung mit Ch. Schefer (1883) in Pierre
Crignon von Dieppe, dem Freund und Gefährten der Parmentiers
(1529). Auf diesen wird die erste Erwähnung des Namens Norembegue
zurückgeführt (1539) und dann bis zu seinem Verschwinden verfolgt.
Die Diepper haben ihn also auf dem Gewissen. Es kann sich nur
um einen mißverstandenen Indianer-Namen handeln ’).
So ließen sich noch zahlreiche Beispiele minutiösester Forschung
1) Auf S. 156 unten muß es bei der Abreise der Capitäne Alfonse von
Saintonge offenbar heißen »le 16 avril 1542« statt le 16 aotıt 1542, da sogleich folgt
»apr&s Päques, qui tomba le 9 de ce mois«, und die Ankunft in Terre-Neuve auf
den 7 Juin 1542 gesetzt wird.
Hierbei mögen noch zwei Druckfehler korrigiert werden. S. IX. Z. 11 v. 0.
lies Sebastian Cabot statt Jean; S. XIV. Note 2 lies 1498 statt 1898.
144 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
anführen, die in die Darstellung eingewebt sind und von dem sich
in die Lektüre vertiefenden Leser mit steigendem Interesse gelesen
werden dürften. |
Doch es genügt um den Wert dieser gründlichen und reichhal-
tigen Arbeit zu kennzeichnen, die sich würdig den ältern Werken
anreiht. Ein ausführliches Resumé erleichtert die Auffindung der
einzelnen Neuheiten, die in dem Werke niedergelegt sind, indem
dabei zugleich auf die wichtigsten Belege hingewiesen wird.
Nicht ohne Interesse ist die am Schluß gegebene Uebersicht über
sämmtliche Schriften und Aufsätze des so ungemein produktiven
Autors. Durch seine langjährigen Beschäftigungen mit diesen al-
ten Urkunden ist er wie wenige befähigt ihre Echtheit zu prü-
fen und festzustellen. Seit sich in Folge der erhöhten Nachfrage
nach älteren Drucken und Handzeichnungen von Kartenwerken und
Pamphleten kosmographischer Natur aus dem Zeitalter der Ent-
deckungen und der Inkunablenlitteratur in Italien Werkstätten von
Falsifikaten erhoben haben, denen schon manche Liebhaber oder
auch tüchtige Kenner zum Opfer gefallen sind, ist es doppelt dan-
kenswert, wenn eine bibliographische Kraft ersten Ranges, wie Henry
Harrisse, sich in den Dienst der Entlarvung dieser Fabrikate stellt.
Er weist in dem besprochenen Werke nach, daß die 1899 durch
Jaques Rosenthal für 3000 Mark verkaufte Portulankarte eines (bis-
her unbekannten) Kartographen fra Bono Arigoni, Venetia vom Jahre
1511, eine Fälschung ist (p. LXX). Wir sehen daher auch der be-
reits angekündigten Schrift »Apocrypha americana« , in der zwei
gerichtliche Entscheidungen zu Gunsten eines für enormen Preis ver-
kauften Pamphlets, das als Falsificat nachgewiesen werden kann, be-
leuchtet werden sollen, mit Spannung entgegen.
Göttingen, Nov. 1900. Hermann Wagner.
Brandenburg, E., Moritz von Sachsen. Erster Band: Bis zur Wittenberger
Kapitulation (1547). Leipzig, B.G. Teubner, 1898. VIII 5588. 8° Preis 12M.
Brandenburg, E., Politische Korrespondenz des Herzogs und Kur-
fürsten Moritz von Sachsen. Erster Band: Bis zum Ende des Jahres
1548. Leipzig, B. G. Teubner, 1900. XXIV 761 S. gr. 8°. Preis 24 M.
I. Wir machen uns keiner Ungerechtigkeit gegen die älteren
Geschichtschreiber schuldig, wenn wir in diesem Werk die erste
wirkliche Biographie des viel umstrittenen Fürsten begrüßen ; und
dem Urteil, daß in ihr die bedeutendste Erscheinung der letzten
Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 145
Jahre auf dem Gebiet der Reformationsgeschichte vorliegt, thut selbst
die Klage keinen Eintrag, daß die Biographie reichlich belastet ist mit
Erörterungen über die allgemeine Reformationsgeschichte und die
besondere Geschichte der sächsischen Territorien. Denn was unter
dem Gesichtspunkt der Oekonomie einer biographischen Darstellung
zu bemängeln wäre, vertritt sich selbst durch seinen absoluten Wert.
Das ganze Buch zeugt von sorgfältigster Arbeit und besonnener
Durchdringung des Stoffes. Freilich auch von großer Nüchternheit,
wie denn künstlerische Mittel der Disposition auch an Brennpunkten
des Interesses gänzlich verschmäht sind. Wir dürfen ja wieder litte-
rarische Ansprüche stellen an die gelehrte Darstellung. So weit sie
auf Reinheit und Klarheit der Sprache gehen, werden sie durch den
Verf. vollauf befriedigt; soweit sie sich auf Lebendigkeit und Fluß
der Gesamtdarstellung erstrecken, bleibt etwas zu wünschen. Uebri-
gens gleichen sich Vorzüge und Mängel der schriftstellerischen Per-
sönlichkeit aus. Für den Reichtum des Materials und die unermüd-
liche kritische Wachsamkeit nehmen wir schon einige Nüchternheit
mit in den Kauf; nur hätte der Verf. sein Buch durchweg etwas
mehr vom Detail im eigentlichsten Sinne befreien sollen; er hätte
das um so mehr, als er sich in der gewiß beneidenswerten Lage be-
fand, gleichzeitig eine Sammlung von Urkunden und Akten zur Ge-
schichte des Herzogs und Kurfürsten Moritz für die Sächsische hi-
storische Kommission herauszugeben (über deren ersten Band unten
noch des näheren berichtet werden soll). Durch strengere Sichtung
und Handhabung des Stoffes hätte das Werk an Wert und an Le-
SEIN gewonnen.
Die Erzählung des vorliegenden Bandes begleitet den Herzog
Moritz bis auf die Höhe seines Lebens, bis zum Erwerb der Kur-
würde und der Kurlande. Was von seinem Leben noch aussteht,
soll in einem zweiten Bande dargestellt werden: sechs inhaltreiche
Jahre, erfüllt von dem Bemühen, das nur zu leicht Gewonnene im
Spiel der Politik und des Feldes zu behaupten ; ein Bemühen, das
jene denkwürdigen Vorstöße und Kompromisse erzeugte, die so sehr
im Mittelpunkte der allgemeinen Geschichte stehen, daß ihre Dar-
stellung sich mit Fug und Recht zur Reichsgeschichte wird erweitern
müssen. Für die frühere Periode gilt das Gegenteil. Bis zur Wit-
tenberger Kapitulation ist Moritz’ Geschichte fast ganz aus den klei-
neren Verhältnissen seiner Lande zu begreifen und (das ist Bran-
denburgs Grundgedanke) erst aus dieser Geschichte auch das Wer-
den der Persönlichkeit des jungen Herzogs. Ranke hat einst
(Ref.-Gesch. V 238) im Rückblick auf das spätere Wirken des Kur-
fürsten Moritz die Persönlichkeit als Ganzes hingenommen und die
146 | Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 2.
Charakteristik gegeben, die sich im ganzen bis auf Bezold be-
hauptet hat, ob ihr auch Cornelius längst den schärfsten Wider-
spruch entgegengehalten hatte. Ranke schrieb: »eine Natur deren-
gleichen wir in Deutschland nicht finden, so bedächtig und geheim-
nisvoll, mit so vorschauendem Blick in die Zukunft und bei der Aus-
führung so vollkommen bei der Sache, — durch sein Dasein als
eingreifende Kraft bedeutende. Brandenburg findet die geheimnis-
voll treibenden Kräfte nicht in der Person seines Helden. Sein
Moritz ist ein Mensch von einfacher Psychologie, eine Natur von
derbem Realismus, gutem Intellekt, etwas vorschnellen Entschließun-
gen, aber keineswegs von Haus aus bedeutend, — erst durch Glück
und Erfahrung gewitzigt und emporgebracht. So wird der Mann
des öfteren auf diesen Blättern mit kühlem Realismus hingezeichnet.
Er verliert als Persönlichkeit. Umgebung und Verhältnisse gewinnen
an Interesse.
Die Geschichte der albertinischen Lande in der ersten Hälfte
des XVI. Jahrhunderts ist thatsächlich der Hauptinhalt dieses Ban-
des. Wir können für die eingehende Darstellung der territorialen
Verhältnisse nicht dankbar genug sein. Es verschlägt auch nicht
viel, wenn über der Entwirrung realer Bestrebungen und Interessen-
gegensätze in der einzelnen Darstellung die große religiöse Bewe-
gung zu kurz zu kommen scheint. Wir werden schließlich die Stärke
der religiösen Impulse um so reiner schätzen lernen, je rücksichts-
loser zunächst einmal die wirtschaftlichen und politischen Motivie-
rungen herausgestellt werden. Ein leichtes Mißverhältnis liegt in
unserem Falle nur darin, daß doch nur Moritz’ Bedeutung für die
allgemeine Reformationsgeschichte zu einer so eingehenden Biographie
und damit zur Darstellung auch seiner Territorialregierung veran-
laßt, während für die Territorialentwicklung als solche die vorher-
gehende Regierung seines Oheims Georg und die folgende seines
Bruders August vielleicht von größerer Wichtigkeit gewesen sind.
Außerdem bedürfen an sich wirtschafts- und verwaltungsgeschichtliche
Darstellungen längerer Perioden. Es ist wohl ein Zugeständnis an
diese Thatsachen, daß Brandenburg in der Schilderung der Terri-
torialverhältnisse weit ausholt. Seine Darstellung greift noch über
die Zeiten Georgs zurück. Wir werden bekannt gemacht mit den
Gebieten der Wettiner, ihren geographischen und wirtschaftlichan
Verhältnissen, mit den glänzenden Aussichten des Hauses, die aber
frühzeitig durch die Teilung von 1485 und die zunehmende Rivalitit
der Linien wieder in Frage gestellt wurden. Die Rivalität äußerte
sich auf wirtschaftlichem Gebiet in Ansehung der Handelswege unc
Verbindungen, auf politischem in dem Verhältnis zu den schwächeren
Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 147
Reichsständen, Geistlichen und Städten, sogar auf kulturellem Ge-
biet in der Eifersucht zwischen den Universitäten Leipzig und Wit-
tenberg. Zur Darstellung des Hintergrundes wird hingewiesen auf
die ohnehin im Reich vorhandenen ständischen, sozialen und Bil-
dungsgegensätze, auf die Reibungen der Stände, wie der weltlichen
und kirchlichen Organe aneinander, auf den Ausgleich oder die Ver-
stärkung aller Gegensätze durch das Auftreten der religiösen Frage.
Wir treten den handelnden Persönlichkeiten näher, dem Kaiser, sei-
nem Bruder Ferdinand, den altgläubigen und den lutherischen Reichs-
fürsten; der schmalkaldische Bund führt auf Landgraf Philipp, die
leidige Doppelehe und den ihr folgenden Regensburger Vertrag. Für
Moritz sollte ja beides von bestimmender Bedeutung werden; der
junge Fürst war als Eidam Philipps bereits >in eine höchst gefähr-
liche Richtung hineingedrängt worden, als er die Regierung der al-
bertinischen Lande antrat< (105).
Streit und Verwirrung in den eigenen Familien, Interessenpolitik
und gefährliches Paktieren, nicht die schwungvolle Stimmung der
Frühreformation bestimmten Moritz’ Anfänge. Am 21. März 1521
in dem Teilfürstentum seines Vaters zu Freiberg geboren, prote-
stantisch erzogen, ohne doch von seinem Glauben tiefer ergriffen zu
werden, erhielt Moritz (1541, August 18) die Regierung der
lange katholischen, von seinem Vater Heinrich nur hastig und unge-
nügend reformierten Lande Herzog Georgs. Die Lande waren eben
in der Entwicklung begriffen zum Beamtenstaat. Georgs Regierung
war in ihrer Art musterhaft gewesen, aber eine rationell eingreifende
Centralverwaltung hatte sich doch noch so wenig wirksam gezeigt,
daß dem Fürstentum durchaus die bunteste Vielgestaltigkeit das
Gepräge gab. Schon äußerlich war das Gebiet vielfach zerstückelt
und mit Nachbargebieten vermengt.
»Zu Beginn des sechszehnten Jahrhunderts war Sachsen noch
vorwiegend Ackerbauland. Industrie und Handel begannen erst all-
mählich sich zu entwickeln< (109). Der grundbesitzende Adel war
noch weitaus der wichtigste Stand des Landes. Mochten auch wirt-
schaftliche Anlagen auf dem Lande, wie Brennereien, bei dem star-
ken Widerspruche der Städte nicht aufkommen, — die Stellung zum
Fürsten einerseits und das wirtschaftliche Uebergewicht über die
eigenen Arbeitskräfte und Zinsbauern hielt den Landadel allen an-
dern Elementen des Landes weit überlegen. Eigentliche Industrie
gab es nur im Erzgebirge und zwar schon seit dem XII. Jahrhun-
dert; zunächst ein Raubbau, dann rationellere Wirtschaft unter Be-
teiligung des »fremden Mannes<, vor allem des oberdeutschen Kauf-
manns; hier zuerst ergab sich aus den Bedürfnissen des Großbe-
148 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
triebes ein Geschäftsleben, das tiber den lokalen Marktverkehr hinaus-
wirkte. Zu den Silbergruben, deren sich noch im XV. und XVI.
Jahrhundert neue aufthaten, gesellten sich Zinn-, Eisen- und Stein-
kohlenbergwerke. Das Silber wurde zunächst in der herzoglichen
Kammer gesammelt; es ging guten Teils aufler Landes zum Aus-
gleich eines geringen Imports. Wichtiger als dieser oder gar als ein
Produktenexport war der aufblühende Durchgangshandel. Leip-
zig als Stapel in der Richtung gegen Norden und Osten für alle
Ladungen von Niirnberg und Frankfurt bliihte sichtlich auf; immer-
hin stand es (wie Dresden) mit seinen 4000 Einwohnern noch gegen
Freiberg (mit 5000) zurück. Dem günstigen wirtschaftlichen Ge-
samtzustand des Landes entsprachen auch die herzoglichen Finanzen.
Das Einkommen des Herzogs, vornehmlich aus den Ueberschiissen
der Aemter, den Erträgnissen der Bergwerke und aus indirekten
Steuern, berechnet Brandenburg für die letzten Jahre Herzog Georgs
auf etwa 140000 fl. Die Ausgaben für die Landesverwaltung
(grofenteils ja bereits in Natura bestritten), für das Reich und für
fürstliche Apanagen (im weiteren Sinne) beliefen sich auf einige
52000 fl., für den Hof blieben also etwa 88000 fl. übrig, mehr als
Schmoller für diese Zeit als Gesamteinkommen des Kurfürsten von
Brandenburg berechnet (S. 132).
Für die öffentliche Sicherheit war unter Herzog Georg nicht
schlecht gesorgt. Die sonstigen Polizeiangelegenheiten, zu denen ja
Kleidung, Essen, Trinken, Waffentragen, wohl auch das Münzwesen
gezogen wurden, waren geregelt durch die Landesordnungen von
1446 und 1482. Doch fehlte es bei dem Mangel einheitlicher Ver-
waltung noch sehr an wirklicher Handhabung einer innern Poli-
tik. Das Land hatte außer landesfürstlichen Aemtern mit adeligen
Amtmännern (und deren bürgerlichen Gehilfen: Schösser und Ge-
leitsmann) noch bischöfliche, gräfliche und herrschaftliche Gebiete.
Selbst in den Acmtern hatten der »schriftsissige< Adel und die größe-
ren Städte wieder ihre Privilegien. Die Macht des Adels war groß,
wenn auch die einzelnen, selbst ganze Geschlechter, gegen die Will-
kür des Fürsten nicht mehr aufkamen, wie sich in dem leidigen
Prozesse gegen Anton von Schönberg grell genug zeigen sollte
(S. 171 ff., 208 f.). Immerhin nahm der Adel auch in der Central-
regierung noch die erste Stelle ein; die »wesentlichen Hofräte« so
gut wie die zur Disposition stehenden »Räte von Haus aus< ent-
stammten in erster Linie dem Landadel und nur neben solchen von
Adel wirkten bürgerliche Doctores. Von den vornehmen Aemtern
war nur das des Kanzlers (im XV. Jahrh. noch vielfach ein Geist-
licher) im XVI. Jahrhundert durchweg mit einem gelehrten Rate
Brandenburg , Moritz von Sachsen. Erster Band. 149
besetzt; aber der Kanzler stand zurück hinter dem Vorstand der
Hofverwaltung, dem Marschall, und den jeweils einflußreichsten Hof-
räten.
Die Bedeutung der Geistlichkeit als Stand war überaus gering.
Nichts von dem gewaltigen Einfluß, den die alten Reformatoren am
Hofe der Ernestiner ausübten! Theologen von Gewicht hatte man
überhaupt nicht. Die altgläubige Geistlichkeit war in ihrer Bethä-
tigung vollends gebunden. Geringe Macht und die Notwendigkeit
einer Anlehnung hatten die kleinen Bischöfe dieser Gegend über-
haupt nicht zur vollen fürstlichen Stellung gelangen lassen. Sie be-
suchten die Landtage der Wettiner und ohne viel Federlesens wurde
ihnen bei den Versuchen einer Reformation (1539 in Meißen und Mer-
seburg, 1542 in Naumburg) und dann regelmäßig auf den Reichs-
tagen die Reichsunmittelbarkeit abgesprochen; papierne Proteste
und Zugeständnisse des römischen Königs änderten daran nichts.
So hat auch der altgläubige Kultus nicht so sehr an den Bischöfen,
als an dem mächtigen Landadel seinen Schutz gefunden. Je weniger
irgend ein anderer Stand im Fürstentum zu Bedeutung gelangte, um
so mehr äußerte sich zumal in der Politik des Tages direkt und in-
direkt der Einfluß dieses Adels auf die fürstliche Regierung.
Moritz also sah sich in seinen einzelnen Entschließungen zwi-
schen den entgegengesetzten Einflüssen seiner protestantischen Glau-
bensgenossen und seines mächtigen, mehr oder minder altgläubigen
Landadels. Drüben Philipp von Hessen, wenn schon durch den Re-
gensburger Vertrag gelähmt, doch im Herzen stets auf Aktion und
Bündnispolitik bedacht ; hüben Georg von Carlowitz, weiland Berater
Herzog Georgs, Schwager des spätern Bischofs Julius Pflug von Naum-
burg, der kluge Führer des Adels, altgläubig und gut kaiserlich,
ängstlich besorgt um den Frieden und um die Sonderinteressen des
Territoriums.
Gegenüber dem Widerstreit solcher Gegensätze bedeuteten im
ersten Jahre der Regierung Moritzens die Familienhändel mit dem
Bruder August und der Mutter Katharina nicht viel, so ärgerlich sie
sich auch anließen. Auch nachbarliche und persönliche Irrungen mit
den Ernestinern gewannen erst nach und nach ihre Schärfe. Dagegen
mußte über die Richtung der Gesamt-Politik im Sinne Philipps oder
Carlowitz’ die Entscheidung zeitig fallen: sie lautete zunächst auf
völligen Sieg des alten Rates, so sehr sich auch Moritz beim Re-
gierungsantritt zunächst an den Landgrafen angelehnt und von die-
sem Ratschläge erbeten und erhalten hatte. In der Hauptsache
(vielleicht nicht ganz in dem Maße, wie Brandenburg bei seiner ge-
ringen Schätzung von Moritz’ Eigenart es darstellt) bestimmte Carlo-
150 'Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
witz’ Programm (S. 159 ff.) den Kurs der Regierung: »möglichste
Absonderung von den Schmalkaldenern, Emanzipation vom Einflusse
des Landgrafen; zugleich vorsichtige Anknüpfung mit den Habs-
burgern, Streben nach einer neutralen Stellung zwischen den Par-
teien, damit man bei ernsten Verwickelungen nicht in Mitleidenschaft
gezogen werde< (Pol. Korresp. I, 284). Vor allem in der Frage des
Beitritts zum schmalkaldischen Bund wußten die Räte dem jungen
Herzog klar zu machen, seine einst (1537) in allgemeinster Form
mit dem Vater abgegebene Erklärung verpflichte ihn zu nichts.
Alle Vorstellungen der Schmalkaldischen blieben dagegen fruchtlos;
Moritz versprach den Verwandten Hilfe in allen Fällen, lehnte aber
das politische Zusammengehen und die Uebernahme bündischer
Pflichten hartnäckig ab. Auch bei der persönlichen Zusammenkunft
zu Naumburg, Oktober 1541, erreichten Philipp und Johann Friedrich
von Moritz nur die ferne Aussicht auf eine Beteiligung an dem Zuge
gegen Braunschweig; und selbst das dünkte Carlowitz schon zu weit
gegangen; er bemühte sich zunächst um Aufschub, dann verhinderte
er überhaupt die Beteiligung seines Herrn; mit einer Geldsumme
kaufte er sich (auch noch widerstrebend) los. Dagegen instruierte
die Regierung zum Entsetzen Philipps von Hessen ihre Reichstags-
gesandten 1542 zu unbedingter Bewilligung der Tiirkenhilfe. Ja noch
mehr; Moritz ließ dem Könige Ferdinand bei vertraulichem Empfang
seiner Räte mitteilen, er werde gern persönlich mit ins Feld gehen
und würde es gern sehen, wenn der König seinen Bruder August
für längere Zeit zu sich an den Hof nehme. Beides nahm begreif-
licher Weise der römische König freundlich auf.
Gleichzeitig erweiterte sich die Kluft gegen die Häupter der
Schmalkaldischen durch die Wurzener Fehde. Der Kurfürst Johann
Friedrich hatte eigenmächtig das bischöflich meissnische Amt Wurzen
besetzt, obwohl die Schutzherrschaft über das Bistum beiden Sachsen
gemeinsam zustand. In seinem fürstlichen Selbstgefühl verletzt, fuhr
Moritz auf, rüstete, zog ins Feld, knüpfte nach allen Seiten Verbin-
dungen an und ließ sich schließlich nur mit Mühe durch den Land-
grafen wieder beruhigen; zum UebertluG kam Moritz auch noch eine
gegen ihn gerichtete Epistel Luthers zu Gesicht, was die übelste
Wirkung hatte.
Moritz ging gleich danach über Jie Meinungen nicht blos Phi-
lipps sondern auch seiner Umgebung weit hinaus, wenn er darauf
bestand, den Türkenfeldzug des Sommers 1542 persönlich mitzuma-
chen. Das militärische Interesse an der Campagne war und blieb
gering; das Lagerleben und die Feinde erschienen dem jungen Für-
sten anziehend; er hatte auch Gelegenheit, seinen tollen Mut zu zei-
Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 151
gen und sich einen gewissen Namen zu erwerben; aber das wichtigste
für seine Entwicklung war doch die nahe persönliche Fühlung zu
König Ferdinand, die er damals gewann. Freilich, die Versuche
Georgs von Carlowitz, diese Beziehungen für eine religiöse Vermittlung
zu verwerten, scheiterten völlig; doch sahen sich die Sachsen von
beiden Seiten täglich mehr umworben. Johann Friedrich hatte so-
gar einmal den törichten Gedanken, den schmalkaldischen Bund
durch ein Sonderbündnis mit Philipp und Moritz zu ersetzen. Auf
der andern Seite wurde ein wachsendes Interesse der kaiserlichen
Räte an dem Albertiner rege. Granvelle (den man übrigens doch
auch bildlich nicht als »Spanier<, S. 238, bezeichnen darf), suchte zu
Nürnberg 1543 den jüngeren Carlowitz, Georgs Neffen Christoph, fest
in seine Netze zu ziehen; Mitte Februar scheint von ihm zuerst die
Idee einer Uebertragung der Kur an die Albertiner hingeworfen
zu sein; er forderte dabei, daß man solche Dinge nur in Chiffern
nach Hause melde, damit solches wider E. F. Gn. noch ime nicht eu
nachteil gereichete (Korresp. I 550), und Christoph von Carlowitz
fühlte sich durch so fremdartige Bräuche erst recht in seiner Ver-
trauensstellung. Moritz freilich stellte mit einer Unverschämtheit,
der zur Größe einstweilen nur noch die Konsequenz fehlt, so exor-
bitante Forderungen, daß sich die Verhandlungen zunächst zerschlu-
gen; er wollte für einen schlichten Reiterdienst gegen Frankreich
(und Cleve ?) nicht weniger als die vier obersächsischen Stifter auf
einmal haben. Immerhin zog Granvelle aus den Verhandlungen die
Lehre, daß mit Moritz etwas zu machen sei, wenn nur der Preis
recht hoch gegriffen werde. Von König Ferdinand forderte Moritz
noch im selben Herbst für seine Türkenhilfe gleich die Oberlausitz ;
als er sie nicht bekam, gab er die Hilfe ungeschmälert unentgeltlich.
Das Liebeswerben bei den Habsburgern, ganz im Sinne der
Carlowitze, ging fort. Als der Kaiser selbst nach Deutschland zu-
rückgekehrt war, fand Christoph von Carlowitz am Hofe so freund-
liche Aufnahme, daß Moritz sich entschloß, persönlich nachzukommen.
Ende Oktober 1543, einige Wochen nach Karls Sieg über Cleve er-
schien Moritz im Hauptquartier vor Landrecy. Eine Reihe denk-
würdiger Begegnungen: mit dem Kaiser, mit Heinrich von Braun-
schweig, mit Markgraf Albrecht von Brandenburg-Kulmbach ! Von
dieser Probefahrt zu Hofe brachte der junge Fürst freilich nur
ein Danaergeschenk nach Hause: den Auftrag, in der braunschweigi-
schen Sache zu vermitteln. Pflichtschuldigst machte er sich daheim
ans Werk; natürlich ohne jeden Erfolg; er mußte dem Kaiser ge-
stehen, er verstehe sich nicht auf derlei Dinge.
Mit Mißtrauen folgten die Schmalkaldischen diesem Spiel des
152 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
jungen protestantischen Fürsten. Die Eifersucht wegen des vorwal-
tenden Einflusses und der späteren Herrschaft in den benachbarten
Stiftern verstärkte immermehr die Besorgnis und die Abneigung der
Ernestiner. Johann Friedrich suchte durch einen (nicht ohne Lu-
thers Beihilfe zustandegebrachten) Schutzvertrag mit Halle in den
Stiftern festen Fuss zu fassen; dagegen stand die Dresdener Regie-
rung seit längerem mit dem etwas fragwürdigen Faktotum des Car-
dinals Albrecht, dem Kanzler Dr. Türk, in Verhandlungen wegen Ab-
findung des Cardinals und Verwaltung von Magdeburg und Halber-
stadt durch Moritz. Der Kaiser sollte den Handel gestatten. Es
fehlte nicht an ernstlichen Bemühungen, aber sie blieben selbstver-
ständlich zunächst ohne Erfolg. Moritz ließ sich (ähnlich wie im
Vorjahr für den Türkenkrieg) schließlich ohne jeden höheren Preis
für den Feldzug nach Frankreich gewinnen. Am 15. Juni 1544
musterte er seine Scharen in Metz, rückte mit ein nach Frankreich ‘),
schlug sich ohne große Thaten mehr mit den kaiserlichen Zahlmei-
stern als mit dem Feinde herum, kehrte aber immerhin bereichert
um neue Erfahrungen in die Heimat zurück. Am 11. Oktober
weilte er wieder bei Philipp von Hessen in Kassel.
Man darf sich über all diesen politischen Vorgängen das per-
sönliche Verhältnis des jungen Moritz zu seinem Schwiegervater
nicht ernstlich gestört denken. Die gute zarte Herzogin Agnes hat
freilich das Verhältnis zwischen dem Gemahle und dem Vater ganz
und gar nicht gefördert ; sie spielte weder in der Politik noch an
den Höfen eine Rolle (S. 359 ff... Dagegen hing Moritz persönlich
an dem Landgrafen von jeher mit einer gewissen Bewunderung ; beide
berührten sich mit verschiedenen Seiten ihres Wesens sympathisch.
Fehlte es Moritz auch völlig an der politischen Uebersicht und an
der Glaubensfrische, die des Landgrafen politische Haltung bestimm-
ten, so war doch auch Moritz weit entfernt, sich in seinem Lande
von den altgläubigen Räten in die religiösen Angelegenheiten hin-
einreden zu lassen; wenn er hier überhaupt unter einem Einfluß
stand, so war es derjenige Philipps von Hessen. Die Berufung Bu-
zers, von Philipp angeregt, unterblieb zwar; aber der hessische Pfar-
rer Greser aus Gießen kam nach Sachsen und wirkte zum Heile des
Landes bis an sein Ende als Superintendent zu Dresden. So ver-
1) Hier erfolgte wohl auch die erste Anknüpfung mit den Engländern, auf die
ich hinweisen möchte. Ein Diensterbieten von Seiten Moritz’ beantwortete Heinrich
VIII. in einer sehr bemerkenswerten Instruktion für Beauclerk und Dr Christ. Mont
von Ende November 1544 [State papers, Henry VIII, foreign corresp. X, 222—
227. Vgl. auch Froude, History IV, 236]. Die Berichte Monts vom Dezember
1544 und Januar 1545 bringen nichts über Moritz (ib.).
Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 153
diente sich auch Moritz durch seine kirchliche Administration die
Anerkennung seines Schwiegervaters. Den Verkauf der größten
Masse der geistlichen Güter setzte der Herzog gegen seine Land-
schaft nach mancherlei Verhandlungen durch, und in den Jahren
1543, 44 und 45 wurde unter seiner lebhaften persönlichen Mitarbeit
die Uebernahme der alten kirchlichen Kulturaufgaben an den Staat
vollzogen. Wohl ging von dem Erlös der Güter einiges an die
Räte und an das herzogliche Gut; eine namhafte Summe wurde
auch zur Bestreitung zufälliger Tagesbedürfnisse, wie des Braun-
schweiger Krieges verwandt, aber der größte Teil des Barertrages,
der sich auf mehr als 150,000 fl. belief, ward doch für die Seel-
sorge, den Unterricht und die soziale Praxis verwertet. Man muß
die Maßregeln für die Stadt- und Landpfarren, für die Visitationen,
das oberste Kirchenregiment und die Universität, für die Landes-
schulen Meißen und Pforta, für Hospital und Armenpflege bei Bran-
denburg des näheren nachlesen. Als Rat für diese Dinge war neben
Carlowitz vorzüglich Dr. Komerstadt des Herzogs Gehilfe. Freilich,
erst nach Carlowitz’ Abschied gelangte man mit der Errichtung der
Konsistorien, statt des von diesem gewünschten bischöflichen Regi-
ments, zum Abschluß.
Neben der Administration von Kirche und Schule im eigentli-
chen Fürstentum gingen die Versuche weiter, die Reformation über
die Bistümer auszubreiten. Verhältnißmäßig leichtes Spiel hatte man
mit Bischof Johann von Meißen, während Sigmund von Merseburg
sich (hier entgegen den Wünschen der Ritterschaft) lange erfolgreich
straubte; aber am 4. Januar 1544 starb der Bischof, und nun setzte
die sächsische Regierung alle Hebel in Bewegung, wenigstens die
Wahl eines ihr geneigten Nachfolgers zu erlangen; der naive Ver-
such, das Stift einfach herzoglich zu machen, war auf das Mahnwort
des Kaisers hin unterblieben. Es erreichte denn auch Moritz durch
persönliches Erscheinen bei dem Wahltermin die Wahl seines Bru-
ders August, der mit ihm den längst protestantisch gesinnten Dom-
herrn, den Fürsten Georg von Anhalt, als Koadjutor für die geistlichen
Funktionen bestellte. Freilich war damit Augusts Versorgung im Sinne
fürstlicher Abfindung noch keineswegs erreicht, und die »brüderli-
chen Sonderungen« mit neuen Abreden gingen noch durch die fol-
genden Jahre hin, — Sorgen und Aerger, wie sie allenthalben die
jüngeren Brüder machten.
Die gesamte innere Kirchenpolitik hatte nun für Moritz’ Regi-
giment eine höchst bedeutende rein politische Folge. Die Saekulari-
sationen machten ihn unabhängiger von der Landschaft und die un-
geheure Ausdehnung der Staatsaufgaben machte ihn mächtiger und
Göts. gel. Ans. 1901. Nr. 2. 11
154 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
selbstbewußter. Die historische Bedeutung der albertinischen Rit-
terschaft und der aus ihr hervorgegangenen Räte ist demnach so zu
bestimmen, daß sie den jungen Herzog zu Beginn seiner Regierung
reichs- und kirchenpolitisch auf eine Bahn gelenkt hatten, die dem
Fürsten nach und nach als bequem und gewinnbringend erscheinen
mußte und deshalb von ihm auch weiter festgehalten wurde; daß sie
aber an nachhaltigem Einfluß einbüßten, als der Fürst zu seinen
Jahren gekommen war. Immer unbehaglicher fühlte sich der nach-
gerade 75jährige Carlowitz; er nahm seinen Abschied, um es nicht
zu erleben, daß man seiner eines Tages nicht mehr bedürfe (gegen
den Frühling 1545).
Die folgenden Jahre 1545 und 1546 sollten die entscheidenden
in Moritz’ Leben werden. So erregen die letzten Kapitel in Bran-
denburgs Darstellung: »Die Zeit des Schwankens« und »Der schmal-
kaldische Krieg in Sachsen< von dem ganzen Buch doch das un-
mittelbarste Interesse. In der gründlichen Durchforschung der Vor-
gänge dieser Jahre liegt auch der Schlüssel für Brandenburgs Ge-
samtauffassung des Herzogs. Da er in diesen Zeiten der Krisis
nichts von kluger Leitung des Schicksals, nicht einmal etwas genial
Niederträchtiges in Moritz’ Verhalten fand, vielmehr nur eine Kette
von Verlegenheiten, Unwahrhaftigkeiten und schlechten Aushilfen, so
ist er geneigt, die ganze bisherige Schätzung der Persönlichkeit als
verfehlt zu betrachten. Nicht mit Unrecht. Moritz’ politisches Ur-
teil erwies sich als eng und völlig abhängig von seinen individuellen
Erfahrungen; die Türkengefahr hielt er für das Schlimmste; den
Kaiser fürchtete er nur wegen der geistlichen Güter; in Sachen des
Glaubens, meinte er, wisse niemand mit Sicherheit was recht und
unrecht sei; da müsse man die Lösung Gott anheimstellen. Als die
Auseinandersetzung mit dem Kaiser immer näher rückte, zeigten
sich zwar Fürst und Räte darin einig, daß man schon wegen der
Saekularisation der geistlichen Güter gemeinsame Interessen mit den
andern Protestanten habe; aber die Parteien gingen darin auseinan-
der, daß die einen die Kriegsgefahr durch den Hinweis auf die Ge-
samtmacht und auf die versöhnliche Stimmung der Protestanten
glaubte abwenden zu können (so urteilte wohl Moritz mit Dr. Ko-
merstadt), während die andern (Chr. v. Carlowitz und Dr. Fachs)
schon jetzt daran dachten, an dem unvermeidlichen Siege des Kai-
sers teilzunehmen; sie leugneten offen jede Gefahr und intriguierten
beständig gegen die Ernestiner (S. 383 f). Da Johann Friedrich
der Dresdener Regierung an territorialer Engherzigkeit nichts nach-
gab, war alles Bemühen des Landgrafen, die Vettern dauernd zu
versöhnen, umsonst.
Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 155
Im Herbst 1545 kam die erste große Probe. Der Kaiser war
bedrohlicher geworden gegen Hermann von Wied. Heinrich von
Braunschweig rüstete sich zur Wiedererlangung seines Fürstentums.
In beiden Vorgängen sah der Landgraf die Einleitung der großen
Abrechnung mit den Protestanten. Als sein Gesandter Günderode
nach Dresden kam, war Herzog Moritz noch unpäßlich infolge eines
allzu kräftigen Gelages mit Johann Friedrich. Die hessische Bot-
schaft, ihm durch Komerstadt übermittelt, beantwortete er nach
dem alten Rezept: man solle dem Kaiser Religionsvergleichung an-
bieten; im Kriege werde man doch den Kürzeren ziehen. Bald
danach mahnte Landgraf Philipp um eilende Hilfe gegen Heinz von
Braunschweig, und — plötzlich und unbedachtsam stürzte sich Moritz
ins Feld. Freilich stutzte er sofort, als er in Mühlhausen erkannte,
daß von unmittelbarer Gefahr für seine Verwandten nicht die Rede
sein konnte; er versuchte deshalb die Dinge so zu wenden, daß man
ihm die Vermittlung zwischen Philipp und Heinrich gestattete. Er
verstrickte sich aber aufs neue in üble Verpflichtungen und schließlich
war niemand mit ihm zufrieden; die Schmalkaldischen entbehrten
die unbedingte Bundesgenossenschaft und die Braunschweiger sagten
offen, daß Moritz ihren Herrn hinterlistig gefangen genommen habe.
So war das Ende vom Liede, daß sich Moritz über diesen Dingen
noch im Winter 1545/46 auch mit seinem Schwiegervater überwarf.
Da er gleichzeitig mit seinem Vetter Johann Friedrich wegen
der Stifter Magdeburg und Halberstadt immer ernstlicher aneinander
geriet, schwand jede Aussicht auf eine Verständigung zwischen Mo-
ritz und dem Schmalkaldischen Bunde. Der Kardinalerzbischof Al-
brecht war am 24. September 1545 gestorben; der bisherige Koad-
jutor, Johann Albrecht von Brandenburg folgte ihm als Erzbischof.
Mit diesem aber hatte der Kürfürst von Sachsen sich bereits ver-
ständigt, während Moritz nichts erlangte, als vom Kapitel die Aus-
sicht auf die spätere Wahl seines Söhnchens Albrecht. Als dieses
einzige Söhnchen am 12. April 1546 starb, mußte Moritz auf andere
Mittel sinnen, zu den Stiftern zu gelangen.
Ueber diesen Händeln war an Moritz die zweite Probe heran-
getreten. Er sollte sich wenigstens den Bitten der Schmalkaldischen
zu Gunsten Hermanns von Wied anschließen. Carlowitz erhielt in
der That einen entsprechenden Auftrag, nur sollte er seine Fürbitte
vor derjenigen des Bundes beim Kaiser anbringen. Es ging nach
Wunsch, und die kaiserlichen Räte lobten den Herzog wegen seiner
reinlichen Absonderung. So war denn einer schmalkaldischen Ge-
sandtschaft, die Mitte März 1546 nach Dresden gesandt wurde, um
nochmals wegen des Zusammengehens zu sondieren, die Ablehnung
11*
156 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2,
von vornherein sicher. Als später zu Regensburg die protestanti-
schen Stände ihre Antwort auf die kaiserliche Proposition gesondert
übergaben, »stand kein albertinischer Vertreter in ihrer Mitte« (439).
Mittlerweile steigerten sich des Kaisers Ansprüche. Nicht nur,
daß er den Fürsten, auch Moritz, durch seine Verhandlungen mit
der niederen Ritterschaft im Reiche zu nahe trat; Granvelle ver-
langte zu Regensburg von Carlowitz als Mindestes, daß sein Herr
sich nicht einem beliebigen, sondern diesem eben begonnenen Trienter
Konzil unterwerfe; und als es gar zu den eigentlichen Verhandlun-
gen mit dem Herzoge selbst kam, da lautete sein Geschäft mit
dürren Worten auf Rückkehr zur alten Kirche und Kampf wider
Johann Friedrich gegen Zuwendung der Kur und der Schutzherr-
schaft über die Stifter (Juni 1546). Auf solche Dinge war Moritz
keineswegs gefaßt; vielleicht wären seine halbkatholischen Räte leich-
ter mit sich fertig geworden; er aber wollte seine Religion behaup-
ten und die Neutralität, die er ohnehin einzuhalten für das sicherste
hielt, sich möglichst teuer bezahlen lassen. Die Unklarheit seiner
Stellung und die versteckte Begehrlichkeit wurde von der kaiserli-
chen Regierung richtig erkannt. Es gelang ihr, den Herzog durch
den Regensburger Vertrag vom 19. Juni 1546 auf eine ganz neue
Bahn zu bringen. Zwei Verträge wurden geschlossen‘); der erste
wegen Freundschaft, Bündnis und Anerkennung des Trienter Konzils
(illustrissimus dux eiusmodi concilit determinationi sese submittere pro-
mittit), wofür der Kaiser, damit Moritz obedientiae suae fructum ali-
quem consequelur, eidem duct Mauritio protectionem praefati archie-
piscopatus Magdeburgensis et episcopatus Halberstatensis committet at-
que decernet. Dieses jus protectionis über die Stifter, nebenbei an
allerlei Bedingungen gebunden, soll nach Meinung des Kaisers zu-
nächst ?) ad suae voluntatis beneplacitum dauern, und erst wenn alle
Dinge, auch wegen des Konzils, das der Kaiser beiläufig zur Beson-
nenheit zu ermahnen versprach, geordnet sein würden, wollte der
Kaiser ınit sich reden lassen. Mündlich fügte der Kaiser am 20.
zwar noch einige Versprechungen hinzu über die glimpfliche Durch-
1) Wie es oft geht, hat Brandenburg die von ihm schon einmal vortrefflich
dargestellte Vertragshandlung [Historische Zeitschrift, 80, 1] nicht noch einmal
in voller Ausführlichkeit vorführen wollen; man ist deshalb leider gezwungen,
jenen Aufsatz neben der Biographie, die (S. 440) den Inhalt der Verträge nur
flüchtig skizziert, zu Rate zu ziehen.
2) Brandenburg hat zu dem damals üblichen Ausdruck in presentiarum die
Anmerkung gemacht: „soll wohl heißen vi praesentium“; das ist auch sachlich
verfehlt, da die Ausfertigung in einer besondern Urkunde erst später an Mo-
ritz kam,
Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 157
führung der Konzilsbeschlüsse und über die Anerkennung der Saeku-
larisation (die im Vertrage nur auf quoad fieri poterit gestellt war),
aber die Kur und die ernestinischen Lande wurden mit dem Orakel-
spruche abgethan: Kommet es dazu, so schaue ein jeder zu dem
seinen; wer etwas bekomme der habs. Nicht minder hinterlistig ver-
fuhr man mit dem Dienstvertrag, in dem von Ausnehmung der Erb-
einungsverwandten nur in dem Revers die Rede war, den Moritz sei-
nerseits dem Kaiser übergab, nicht aber in dem Schriftstück, das
man ihm in Händen ließ.
In unbehaglicher Stimmung kehrte Moritz heim. Nach keiner
Seite stand er frei, da er sich nach beiden Seiten hatte sichern wol-
len. »Indem er dem Landgrafen auch jetzt noch versicherte, er
werde ihm helfen, machte er einen Wortbruch unvermeidlich ; blieb
er neutral, so handelte er gegen dies Versprechen; half er dem
Schwiegervater wirklich, so brach er den Regensburger Vertrag.
Nur völlig ratloser Verlegenheit und der Scheu, dem Schwiegervater
die Wahrheit zu gestehen, konnte eine solche Handlungsweise ent-
springen«. Es war ein fauler Schutz gegen sich selbst, daß Moritz
zusammen mit Kurfürst Joachim von Brandenburg Vermittlungsver-
suche machte. Eine letzte Gesandtschaft der Schmalkaldischen, die
zu Chemnitz am 11. Juli empfangen wurde, nahm bereits die feste
Ueberzeugung mit sich, daß auf Hilfe hier nicht zu rechnen sein
werde. Zwei Tage darauf eröffnete Moritz seinen Landtag, der im
ganzen die Politik des Fürsten billigte; im einzelnen aber, wie zu
erwarten, viel zu klagen hatte.
Noch immer glaubte Moritz wenigstens seine Neutralität behaup-
ten zu können. Aber auch aus dieser Position, die er mit morali-
schen Opfern schon zu teuer erkauft hatte, brachte ihn die Staats-
kunst der königlichen Räte heraus. » Wer etwas bekomme, der hab’s«.
Ferdinand und seine Räte in Prag rückten immer deutlicher mit dem
Ansinnen heraus, Moritz solle die Acht gegen Johann Friedrich voll-
strecken. Aber Moritz konnte sich um so schwerer zu dem treulo-
sen und nicht ungefährlichen Angriff gegen die Erbeinungs- und Kon-
fessionsverwandten entschließen, als ihm der Preis, die Kur, stets
nur von fern gezeigt wurde. Erst als er sich bei den persönlichen
Besprechungen mit König Ferdinand zu Prag (30. Sept. bis 5. Okt.)
überzeugte, daß der König zum Feldzuge nach Sachsen fest ent-
schlossen war, willigte er ein, da er einerseits die Schädigung des
Gesamthauses vor Augen sah und anderseits wenigstens zunächst,
sich und der Welt gegenüber, den Schein des Beschützers der Lande
annehmen konnte. Am 19. Oktober wurde der Prager Vertrag ge-
schlossen. Moritz nahm teil am Kriege. Brandenburg zieht die
158 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
Summe mit den Worten, daß Moritz »nicht seine Hilfe in diesem
Kriege dem Meistbietenden verkauft hat, daß er vielmehr unpolitisch
genug dachte, neutral der Entscheidung zusehen und, wer auch
siege, unangegriffen bleiben zu können; daß aber der Zwang der
Umstände und die überlegene politische Kunst der Habsburger ihn
schließlich aus dieser unklug gewählten Stellung hinausmanövrierte
und zum Eingreifen in den Kampf zwang< (S. 492).
Die sächsischen Städte ergaben sich fast ohne Schwertstreich ; sie
hofften durch Moritz vor den Bohmen und in der Religion geschiitzt
zu werden. Mitte November hatte der Herzog ganz Meißen und
Sachsen bis auf Wittenberg in Händen. Im Dezember anerkannte
ein erzbischöflicher Landtag die Schutzherrschaft über die Stifter.
Ein Teil des Heeres besetzte Thüringen (bis auf Gotha, Eisenach
und Coburg) und führte den Bischof Julius Pflug nach Naumburg. —
Es ist keine Frage, daß uns Brandenburg Moritz’ Haltung zu
Beginn des schmalkaldischen Krieges nicht nur viel genauer, als bis-
her geschehen, sondern auch in einer wohl begründeten neuen Auf-
fassung dargestellt hat. Eine zweite wichtige These seines Buches
ist die, daß nicht erst Moritz’ Einfall in Kursachsen den Krieg an
der Donau entschieden habe, sondern der Geldmangel und der in-
nere Zwiespalt im schmalkaldischen Lager längst mit Notwendigkeit
zu dem bekannten Ergebnisse habe führen müssen. Max Lenz hat,
wie auch Brandenburg hervorhebt, seit langem eine ähnliche Mei-
nung vertreten, und lebhaft ist der Meinung beizupflichten, daß eine
Darstellung des Donaukrieges (nach den schmalkaldischen Akten;
die kaiserliche Kriegsführung kennen wir durch Druffel und Kan-
nengießer erheblich besser) ein dringendes Bedürfnis ist. Branden-
burg muß sich, seinem Thema entsprechend, mit Andeutungen be-
gnügen. Lange vor dem Eintreffen der Nachrichten aus Sachsen
verhandelte man über die Auflösung des Heeres und den Abzug der
Bundeshauptleute nach Norden. Die Städte wollten kein Geld mehr
aufbringen; daß sie es gut hätten können, sollte sich später traurig
genug zeigen. Gleichwohl hielt man die Truppen noch zusammen,
auch als die Besetzung der ernestinischen Lande durch Moritz ruch-
bar wurde. Man wies den Kurfürsten mit Recht darauf hin, daß Mo-
ritz die Lande, die er zu behalten gedächte, auch schonen würde;
zur Wiedergewinnung wolle der Bund helfen. Noch am 15. Novem-
ber erklärte Johann Friedrich bleiben zu wollen. Erst als die Trup-
pen nicht mehr zu halten waren, brachen Kurfürst und Landgraf
auf, in der Nacht vom 21. auf den 22. November.
Inzwischen hatte der Landgraf durch Bing und Dr. Faust den
Herzog Moritz zu Vermittlungsvorschlägen veranlaßt; er legte ihnen
Brandenburg, Moritz von Sachsen. Erster Band. 159
um so größere Bedeutung bei, als nach Wirtembergs trauriger Hal-
tung die Unterwerfung des Oberlandes unaufhaltsam schien. Moritz
bewilligte Unterredung zu Leipzig fir den 21. Dezember. Es kam
auch schon zu Besprechungen der Rate, aber der ganze Handel
wurde gestört durch den Einfall Johann Friedrichs (der in Mainz
und Fulda »Geld gemacht< hatte) in das albertinische Sachsen. So
leicht sein eigenes Land verloren war, so leicht gewann er jetzt dem
Vetter seinen Anteil ab; nur Leipzig setzte ihm hartnäckigen und
erfolgreichen Widerstand entgegen; die reiche Stadt wollte nicht
als Zahlsäckel für das Kriegsvolk dienen. Moritz’ Verlegenheit war
gleichwohl groß; es kam ihm zu statten, daß er trotz des habsbur-
gischen Drängens noch den Kurtitel nicht angenommen hatte; er
konnte immer noch unter gutem Schein mit dem Vetter Frieden
machen. Vor allem sandte er Botschaft auf Botschaft an den Kai-
ser und an den König, aber von beiden trafen erst nach langem
Warten ungenügende Hilfen ein. Auch die Verbindung mit Kurfürst
Joachim, der die Gelegenheit wahrnahm, seinem Hause im Vertrage
von Aussig (20. Februar 1547) die Nachfolge in den Stiftern und
des Schutzherrn Moritz’ Hilfe gegen Magdeburg zu sichern, wollte
zunächst nicht viel besagen. Johann Friedrich dagegen hatte nach
Aufhebung der Belagerung von Leipzig noch einige namhafte Er-
folge, wie die Gefangennahme des Markgrafen Albrecht Alcibiades
beim Ueberfall von Rochlitz; er hätte noch größere haben können,
wenn er die lockere Verbindung mit den rebellischen Böhmen zu
festigen gewußt hatte. Aber er benahm sich in allen Dingen unge-
schickt; glücklich über die Kapitulation der kleinen Städte, legte er
in jede ein Häufchen Soldaten und schwächte sein ohnehin durch
Abtrennung Thumshirns sehr reduziertes Hauptheer. Von Vermitt-
lungsversuchen ist kaum noch ernstlich zu reden; der Kaiser rückte
heran und verlangte bedingungslose Unterwerfung.
Die bald folgenden Katastrophen von Mühlberg, Wittenberg und
Halle hat Brandenburg nach den Forschungen von Lenz, W. Wenck
und Issleib dargestellt. Nur des Zusammenhanges halber weise
ich auf die Hauptmomente hin. Am 11. April brach Moritz mit
Herzog Alba aus der gemeinsamen Versammlungsstellung in Eger
auf; zwei Tagemärsche eilte Moritz dem Hauptheere voraus, um den
Durchzug des: gewaltigen vereinigten Kriegsvolks für das Land und
das Heer möglichst glimpflich zu gestalten. Man rückte nordwärts,
dann östlich, bei Rochlitz über die Mulde, auf Meißen. Da Johann
Friedrich weiter nach Norden abgezogen war, folgte man ihm. Am
24. April, morgens, erreichte der Kaiser mit den ersten Reitern die
Elbe bei Schirmenitz. Gegen Mittag, als der Nebel gefallen, begann
160 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
der Kampf um die Brückenboote; dann erfolgte der berühmte Ueber-
gang; Moritz war vorn an. Erst gegen Abend überraschte die
Avantgarde das sächsische Heer, schon einige Meilen nördlich Mühl-
berg. Der Kurfürst wurde gefangen, während Moritz und Alba noch
die ganze Nacht über die versprengten Teile des Heeres verfolgten.
Es ist bekannt, daß der Kaiser den gefangenen Kurfürsten zum
Tode verurteilen ließ und dann in Vertragshandlung ‘mit ihm ein-
trat. DBeharrlich lehnte der fromme Mann die Unterwerfung unter
das Konzil ab; sonst war er zu allem bereit. Es entsprach durch-
aus dem Verlauf der Dinge, daß der Kaiser Moritz nicht ohne wei-
ters die ernestinischen Lande überließ; Wittenberg und Gotha wollte
er zunächst selbst behalten; der westliche Teil des Landes sollte
außerdem den jungen Ernestinern verbleiben, denen Moritz beiläufig
ein Gesamteinkommen von 50000 fl. gewährleisten mußte. Auch
sonst gab es noch allerlei Irrungen, bis am 19. Mai 1547 die Wit-
tenberger Kapitulation unterzeichnet werden konnte. Am 4. Juni
erhielt Moritz die Urkunde über die Verleihung der Kur und die
Zuweisung des größten Teils der ernestinischen Lande.
Der trübste Handel sollte noch folgen. Dem ritterlichen Land-
grafen wollte es lange nicht in den Sinn, einen Sondervertrag abzu-
schließen, so viel sich auch Moritz um die Vermittlung bemühte.
Erst in der größten Not ließ er sich auf gütliche Handlung ein und
erklärte sich auch zur Ergebung an den Kaiser bereit gegen Siche-
rung der Religion und eine genügende Erklärung der Worte >»auf
Gnade und Ungnade«. Eine solche Erläuterung erhielten nun die
vermittelnden Kurfürsten Joachim und Moritz von den kaiserlichen
Räten dahin gehend, daß ihm solche ergebung weder zu leibstraf
noch zu ewiger gefengnis reichen solle. Sie erweiterten bei der Mit-
teilung an den Landgrafen in gutem Glauben, aber leichtfertig den
Sinn dahin, daß er über die artikel weder an leib noch gut, mit
gefengnis, bestrickung und Abtretungen nicht belästigt werden solle
(S. 551). Am 18. Juni traf Philipp in Halle ein; am 19. abends
fand der Empfang beim Kaiser statt. Philipp hoffte auf Verzeihung.
Den Vermittlern war weniger zuversichtlich zu Mute, aber auch sie
dachten, die Sache werde gut ablaufen. Der Landgraf und sein
Kanzler knieten, während der letztere die Abbitte verlas. Seld gab
die kaiserliche Antwort: Aufhebung der Acht und allerlei Zusagen,
auch die Sicherung gegen ewiges Gefängnis. Der Kaiser zögerte mit
einer Aeußerung. Philipp erhob sich. Da ging Alba auf ihn zu und
lud ihn mit den beiden Kurfürsten zum Abendessen in die Moritz-
burg. Nach Aufhebung der Tafel ward der Landgraf einer spani-
schen Wache übergeben; der Kurfürsten Protest war ohnmächtig.
Brandenburg, Polit. Korrespondenz d. Herzogs u. Kurf. Moritz von Sachsen, I, 161
Daß Moritz aufs neue betrogen war, kann nicht bezweifelt werden.
Wir brechen ab, wie der Verfasser. Nur eins sei zum Schlusse
noch hervorgehoben, obwohl es dem aufmerksamen Leser ohnehin
nicht entgangen sein dürfte. Brandenburg behandelt seinen Helden
durch das ganze Buch hin mit geringer Sympathie, mit unausge-
setzter Kritik, aber er befreit ihn dafür von dem schwersten Makel,
den auch die Bewunderer bisher nicht von ihm zu nehmen wagten:
von dem Vorwurf des wohlüberlegten bewußten Verrates. Indem er
ihn lernen läßt, seine Erfahrungen sich zu nutze machen, indem er
ihn von den Habsburgern mehrfach hintergehen und an der empfind-
lichsten Stelle verletzen läßt, bereitet er uns vor auf den Moritz, der
sich langsam wandelt, der den Kaiser mit den eigenen Waffen schlägt,
der durch Umsicht und Energie schließlich doch zum Retter deut-
scher Nation geworden ist.
II. Der Aktenband umfaßt nur einen Teil der Zeit, die in dem
ersten Bande der Biographie behandelt wird, und zwar die minder
wichtige. Dünkt mich auch hier des Guten reichlich viel geboten,
so wird man mit Recht entgegnen, daß wir uns jedes so bequem
zugänglich gemachten Aktenstückes freuen sollen. Die historische
Kommission und die Verlagshandlung haben es an vortrefflicher Aus-
stattung nicht fehlen lassen.
Ich berichte kurz über die Einrichtung der Publikation. Die
Anordnung ist chronologisch. Ausgeschlossen sind alle rein terri-
torialen Irrungen, die nicht von größerer Bedeutung für die Gesamt-
politik gewesen sind; ferner die Angelegenheiten der Landes- und
Kirchenverwaltung sowie die Landtagsakten. Dagegen soll man in
der — auf drei Bände berechneten — Publikation ein möglichst
vollständiges Material finden für die auswärtige Politik und für die
Kenntnis der Persönlichkeit des Herzogs und Kurfürsten, sowie seiner
vornehmsten Räte.
In der »Darbietung< der Akten folgt Brandenburg fast ganz
den von Felix Stieve für den Historikertag formulierten Grund-
sätzen; auch in der Beibehaltung der direkten Rede für die Aus-
züge. Es ist besonders gegen diese Praxis vieles eingewandt wor-
den; — daß sie bequem ist und auch das Lesen der Akten außer-
ordentlich erleichtert, lehrt Brandenburgs Publikation aufs neue.
Ueber die in den Anmerkungen versteckten Briefe und Akten orien-
tiert ein chronologisches Verzeichnis am Schluß (eine dankenswerte
Einrichtung, die ich lebhaft bedaure nicht auch bei dem IV. Bande
der Druffelschen Beiträge eingeführt zu haben). Was den Druck
betrifft, so ist alles was nicht wörtlich aus der Vorlage abgedrukt
162 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 9.
ist, in Kursive gesetzt; Zusätze des Herausgebers sind in eckige
Klammern eingeschlossen. Recht glücklich ist die Anwendung ge-
sperrten Satzes für eigenhändige Korrekturen. Für die Erläuterung
ist durch kurze Regesten und eine Fülle von Anmerkungen gesorgt;
der Publikation kommt natürlich sehr zu statten, daß bei ihrer
Bearbeitung die Darstellung schon vorlag. Endlich gehen den jahr-
weise in Gruppen geordneten Akten jeweils kurze Einleitungen vor-
aus, die wenigstens für den Recensenten recht bequem sind. Ich
lasse mich von ihnen leiten und mache auf den Hauptinhalt der
schönen Publikation und auf einige Stücke von besonderem Interesse
aufmerksam.
Aus der Zeit bis zum Regierungsantritt ist alles zusammenge-
tragen, was irgend zur Charakteristik des jungen Herzogs dienen
kann. Seine eigenen Briefe sind fast durchweg wenig ergiebig; um
so mehr diejenigen der Herzogin Elisabeth von Rochlitz, einer schar-
fen Beobachterin, die oft mit erschrecklicher Offenheit zu plaudern
weiß. In ihren Briefen verfolgt man ziemlich gut die Verhandlungen
mit den Sachsen in Sachen der Doppelehe Philipps und der hessi-
schen Heirat des jungen Moritz; über diese Heirat finden wir natür-
lich auch die Originalakten und Korrespondenzen, darunter eine end-
lose Reihe von Briefen Moritzens an die zürnenden Eltern mit der
Bitte um Verzeihung. Am Tage vor der Hochzeit (10. Januar 1541)
schreibt er aus Marburg an die Mutter, daß er sich zu kindlichem
Gehorsam schuldig bekenne, daß aber die Eltern selbst früher die
Heirat gewünscht, und hetten uns zu E. Gn. genzlichen vertrostet,
sie wurden uns zu dem, so nicht alleine christlich und erlich, sondern
auch zu unser selen heil und seligkeit, landen und leuten zum besten
gereichet , aus mutterlichem herzen ihrem anbringen nach hulflichen er-
scheinen und von uns folge zu leisten erfreuet sein. Dass aber E. Gn.
nunmals darob gross klagen, bemuhet uns nit wenig [83].
Neben Moritz’ persönlichen Angelegenheiten interessiert weitaus
am meisten Auffassung und Haltung Georgs von Carlowitz, der sich
bei Zeiten um Moritz bekiimmerte. Herzog Morycts yst im nich
gram schrieb Elisabeth schon 1539 an Johann Friedrich; er yst
vorwar eim hern wol zu halten, das mus ich ym nachsagen, weywol
mir auch nich alweg hatt das best gedount [42]. Carlowitz liebte es,
sich über seine kirchlichen Anschauungen breiter auszulassen; dem
Landgrafen führte er einmal aus, daß die Protestanten von ihrer
Konfession abstehen müßten und eine Reformation nach den ersten
vier Konzilien leiden sollten und wie es also tausend jahr nach der
himmelfahrt Christi ın der kirchen gehalten ıst worden; dann das
seind sie zu thun schuldig wo sie anders vor christen wollen geachtet
Brandenburg, Polit. Korrespondenz d. Herzogs u. Kurf. Moritz von Sachsen. I. 168
werden; dann in der kirchen haben wir das evangelium und den
christenglauben erkannt und angenommen ; wer wider die kirchen hand-
let, der handlet wider Gottes ordnung [17].
Aus der Zeit nach dem Regierungsantritt begegnen zuerst Akten
über die Fragen der Landesteilung, die Anton von Schönberg mit
der Herzogin Mutter gegen die Hausordnung durchzusetzen ver-
suchte. Es schließt sich einiges Material daran über den Prozeß
gegen Schönberg, zumal dieser Prozeß zuerst zu einer Entfremdung
zwischen Moritz und den Ernestinern führte, zu denen Moritz anfangs
persönlich gut gestanden hatte. Am wichtigsten sind für uns die
Akten über die Ablehnung des schmalkadischen Bundes durch die
Dresdener Regierung; man sieht da in Gutachten und Entwürfen
die Räte recht bei der Arbeit, den Herzog von dem Landgrafen ab-
zuziehen. Philipp blieb das keineswegs verborgen und es war nur
eine unwesentliche Veranlassung, wenn die Frage der Heimführung
der Herzogin Agnes zu einem Austausch eigenhändiger Schreiben
führte, die in der That höchst bemerkenswert sind. Philipp schrieb
am 20. September 1541 seinem Schwiegersohne: dass ich mit eigner
hand schreibe, verursacht mich, dass ich mich dunken lasse, dass et-
liche ba E. L. der grossen Hansen die sach gern dahin richten woll-
ten, dass E. L. und ich nit viel bei einander [wären] oder uneins
würden; — — ist mein treuer rath und erinnerung: E. L. wolle sich
wol fürsehen und die alten papisten nit su ganz gewinnen und sich
regieren lassen; dann st ja noch im glauben nit bestendig; — —
E. L. bedenk ja, dass Gott der allmechtig Herzog Jorgen und seinen
erben das leben und land genommen und E. L. geben, ja, on zweifel,
nur um seines unglaubens willen [211]. Moritz antwortete um-
gehend, am 26. September: Wir haben auch E. L. treue warnung
des heilig waren seiligmachenden wort Gottes halben zu gemuit gezogen
und wollen uns mit hulf und sterkung Gottes davon nicht leiten las-
sen; — dass aber Carlwitz an dem ort da er itz ist, teglich mess
halten lesst, konnen wir ihm nicht weren; bei uns aber dulden wirs
nicht. E. L. mogen wir vorwar schreiben, dass sich die reth noch zur
seit deshalben wol halten [215].
Der Vertrag über den gemeinsamen Zug gegen Braunschweig
vom 26. Oktober 1541 ist S. 225—231 zum ersten Male gedruckt ;
es schließen sich daran die Verhandlungen über den Aufschub des
Zuges und über Moritz’ Anteil. Was hier im stillen und versteckt
wirkte, trat in der Reichstagsinstruktion vom 6. Januar 1542 zum
ersten Mal ganz deutlich hervor, das Streben der Räte nach öffent-
licher Absonderung des jungen Herzogs von dem Landgrafen und
den Schmalkaldischen Ständen [269]. Die Berichte der Reichstags-
164 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
gesandten illustrieren den Erfolg. Dazwischen stehen die Akten der
Wurzener Fehde, des ersten kriegerischen Zusammenstoßes mit den
Ernestinern. Die Reichstagsgesandten sind auch die Träger der er-
sten Anknüpfung mit den Habsburgern [295. 305. 354. 400].
Nicht übermäßig ergiebig sind die Briefe des jungen Fürsten
aus Ungarn. Sie sind geschäftlich und langweilig. Um so persön-
licher erscheinen die väterlichen Schreiben des alten Carlowitz mit
Vorstellungen zu gunsten der verlassenen Herzogin, mit Ermahnun-
gen zur Sparsamkeit und Rechtlichkeit. Auf einem besondern Zettel
zum Brief vom 10. August 1542 schreibt der alte Rat: Ich kann
nicht underlassen, ich bins auch zu thun schuldig, E. F. Gn. anzu-
zeigen, was ich befinde, das schimpflich, nachteilig und auch unrecht
ist. Darum wollen nurs E. F. Gn. auch gnedigst zu gute halten,
dann ich mein es gut. E. F. Gn. haben Euer gemahl allhie ver-
lassen und E. Gn. habens doch also bestallt, dass J. Gn. nicht viel
wilpert zu essen hat. Zu deme so kummert sich J. Gn. sehr; und
man hat ihr kein lust zu machen, darmit sie die zeit vertreibe, dass ste
zuweilen naus reiten oder farn mocht; wann ir E. F. Gn. doch sovil
gulisse, dass man ir doch mocht an den orten, do es unschedlich, eine
jagd oder zwu bestellen; und ob man gleich nichts funde, dass mans
doch nur auf die tucher jagte, dass sie's nur laufen sege; — — so hat
man die armen leute aus der hutwede holz lesen, darvon sie zuvor ir
underhaltung gehat haben, auch ausgetrieben. Zu deme allem so ver-
beut man nun den vogel in der luft zu fahen, — — und wehe dem,
der davon redt, der soll des todes sean! Nun kann. ichs nit lassen
und muss darum reden; dann ich hore von dem gemeinen volk eine
solche verfluchung uber E. Gn. und Euer regiment, dass kein wunder
wer, dass uns Gott strafte. — Ich habs E. Gn. im besten angezeigt,
als ich vor Gott schuldig bin. — Und wollet Euch huten vor deme
viel vergeben, einem hie, dem andern da; wird E. Gn. aber nicht fol-
gen wollen, so muss ich E. Gn. Gott und der zeit befelen; die zeit
wird E. Gn. wol folgen lernen [383]. Nach der Katastrophe Hein-
richs von Braunschweig schrieb er an seinen Herrn: Nun muget Ihr
fursten und grossen herren ein cxempel darvon nehmen, dass einem
tden auch also geschehen kann, der do nicht friede helt oder seine
underthanen also regiert, dass thme nicht hold sein [390]. Nach
solchen Proben brauche ich kaum zu betonen, wie anziehend der
zusammenhängende Briefwechsel des alten Carlowitz in Sachen der
Religionsvergleichung und der Ordnung im Reiche ist. Mit »Kom-
promisskatholizismuse wird man bei dieser starken Persönlichkeit
wohl auch nicht auskommen.
_ Oede und unerfreulich sticht dagegen die ganze Masse der Ak-
Brandenburg, Polit. Korrespondenz d. Herzogs u. Kurf. Moritz von Sachsen. I. 165
ten über Magdeburg und Halberstadt ab; ein notwendiges und
schätzenswertes Material, nicht mehr. In engem Zusammenhange
mit diesen Stiicken stehen diejenigen, welche Herzog August und
dessen Versorgung betreffen.
Aus dem Jahre 1543 betreffen die wichtigsten Aktenstiicke den
Niirnberger Reichstag und die Verhandlungen der Gesandten mit
König Ferdinand und Granvelle. Hier begegnet zum ersten Male
der jüngere Carlowitz in verhängnisvoller Mission; freilich arbeitet
er noch ganz nach Anweisung des Oheims. Die Berichte der Ge-
sandten sind zahlreich und ausführlich. Das ganze kluge Spiel
Granvelles liegt vor unsern Augen. Es hieße die Biographie noch
einmal schreiben, wollte man davon eine Vorstellung geben. So ver-
zichte ich auch darauf, Proben zu geben aus den Korrespondenzen,
die Moritz’ niederländische Reise zum Kaiser betreffen ; über seine
Besprechungen mit Philipp nach der Rückkehr unterrichtet ein aus-
führliches Protokoll [No. 546]. Die Hauptmasse der Akten kommt
wieder auf Rechnung der Auseinandersetzungen mit den Ernestinern,
zumal über die Stifter. Erfrischend wirkt in den endlosen Händeln
nur die unermüdliche Sorge des Landgrafen um den Frieden unter .
den eigenen Freunden und eins seiner Mahnschreiben, in dieser
Sache an Johann Friedrich ergangen [S. 639, Note], mag unsre Aus-
lese beendigen. Der Landgraf schreibt am 12. Juli 1543: Und gegen
E. L. vertreulich und wolmeinlich zu schreiben, so dechten wir, wann
E. L., herzog Moritz und wir so evangelisch weren, wie wir das auf
den ermeln furen, so wurden wir um solch geringer sachen willen mit
einander nicht so sehr zanken, wie uns dann Christus und Paulus
solchs lernen, sondern wir sollten wol mehr bedenken die geschwinden
leuft, die wzo vor augen sind, desgleichen die vilfachen feindschaften,
welche wir haben; — — dann wir besorgen warlich, dass es mit die-
sem zanken ergehen werd, wie es der maus und frosch im krieg er-
ging, da sie der weihe all beid hinwegnahm und frass. Es sind sorg-
liche zeiten, darum wir, so lange wirs thun mogen, zu Singen geden-
ken: da pacem, domine, in diebus nostris.
Marburg i. H., 12. August 1900. Brandi.
166 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
Ulmann, H., Russisch-preußische Politik unter Alexander I. und
Friedrich Wilhelm Ill. bis 1806. Urkundlich dargestellt. Leipzig,
Duncker & Humblot 1899. VI u. 318 S. Ladenpreis 7 M.
Fast zwei Jahrzehnte sind verflossen, seit Bailleus Actensamm-
lung es unternahm die urkundliche Grundlage für die Geschichte der
preußisch-französischen Beziehungen von 1795 bis 1807 zu liefern.
Die bedeutungsvollste Seite der preußischen Politik der Zeit war
damit bloß gelegt und man kann wol sagen, daß die gesammte seit-
herige Forschung zur deutschen Geschichte um die Wende des 18.
und 19. Jahrhunderts an dieses Buch angeknüpft hat und von ihm
befruchtet ist. Immerhin, es war nur die eine Seite der damaligen
Politik Preußens, die Bailleu beleuchtete. Eine sein Werk ergän-
zende Sammlung, welche die Geschichte der preußisch-russischen Be-
ziehungen des gleichen Zeitraums erläuterte, sind uns die »Publica-
tionen aus den preußischen Staatsarchiven« bisher schuldig geblieben.
Für die erste Hälfte des Zeitraums (—1801) verspricht uns künftig
Hüffers soeben begonnene Publication (»Quellen zur Geschichte des
Zeitalters der französischen Revolution<) einen Ersatz zu liefern.
Die zweite Hälfte (1801—1806) behandelt Ulmanns vorliegendes Buch.
Bailleus Sammlung gründete sich gleichmäßig auf Berliner und
Pariser Material. Die gegenseitigen Beziehungen beider Länder
kamen auf diese Weise voll zur Anschauung: dem was der preußi-
sche Gesandte aus Paris schrieb, entsprachen die Berichte des fran-
zösischen aus Berlin u.s. w. Ulmanns Darstellung verfügt nicht über
eine so breite Actenunterlage. Er hat das Berliner Staatsarchiv be-
nutzt und ergänzend das Wiener herangezogen, eine Benutzung des
Petersburger Archivs vermissen wir, obwol es, wie neuere Erfah-
rungen beweisen, auch für die in Rede stehende Epoche fremden
Forschern keineswegs unzugänglich ist. Freilich lagen eine Reihe
wichtiger russischer Quellen gedruckt vor: neben dem, was Martens
Recueil bietet, Czartoryskis Memoiren, Wassiltschikows Werk über
die Rasumowskis, Tratschewskis Publication im Magazin der Peters-
burger historischen Gesellschaft, das Woronzow-Archiv u. & Und
Ulmann hat sich diese Quellen nicht entgehen lassen, wie denn über-
haupt eine hervorragende Beherrschung der gedruckten Litteratur
seinem Werke nachgerühmt werden muß. Aber ein entscheidender
Mangel, das ist nicht zu leugnen, ist und bleibt für ein Buch, das
es versucht die russisch- preußischen Beziehungen für eine be-
Ulmann, Russisch-preußische Pol. unt. Alexander I. u. Friedr. Wilhelm IMI. 167
stimmte Epoche darzustellen, der Verzicht des Verfassers auf die
eine Hälfte seines archivalischen Materials. Er verurteilt sich auf
diese Weise dazu da, wo er aus dem Vollen hätte schöpfen können,
vor fremden Thüren betteln zu gehen.
Gleich im ersten Capitel macht sich das fühlbar. Von dem,
was in Berlin bis in den Herbst 1802 zwischen beiden Mächten ver-
handelt wurde, erfahren wir bedenklich wenig — eben aus dem
Grunde, weil dem Verfasser die Berichte des russischen Gesandten
in Berlin Krüdener nur bis zum Sturze Panins (in den von Brückner
herausgegebenen Panin-Materialien) vorlagen. Und durch Krüdener,
nicht durch die Hände des preußischen Gesandten in Petersburg
Lusi gingen diese Unterhandlungen. Die Depeschen Lusis, über des-
sen parfaite nullité sein eigener Minister Haugwitz einmal dem Kö-
hig gegenüber spottete!) und dem es aus eben diesem Grunde direct
untersagt wurde sich in die Verhandlungen zu mischen), konnten
darum dem Verfasser herzlich wenig bieten. So ist er gezwungen
gelegentliche Andeutungen in den Depeschen Markows, den Weisun-
gen Kotschubeis, den Briefen Woronzows u.s.w. zusammen zu tra-
gen, ohne doch auf diesem Wege zu einem vollen Bilde zu ge-
langen.
Nicht einmal über die Genesis der Zusammenkunft von Memel
weiß er uns ein Wort zu melden. Ganz unvermittelt wird sie
(S. 33/34) eingeführt. Ebenso bleibt die dort angeregte Angelegen-
heit des Hildesheimer Tausches (S. 40/41) im unklaren, wenigstens
die Frage, ob Lombard im Namen des Königs Versprechungen ge-
macht hat, die diesen nachher den Hannoveranern gegenüber ins
Unrecht setzten ?).
Aber auch das ihm für die ersten Jahre zu Gebote stehende
Material hat der Verfasser nicht immer ausgenutzt. Im Centrum
der preußischen Politik nach dem Lüneviller Frieden stand die große
Entschädigungsfrage.e. Um sie drehten sich naturgemäß auch die
Verhandlungen zwischen Preußen und Rußland während dieser Zeit.
Der Verfasser konnte nicht den Versuch machen diese Frage im
1) Vortrag vom 15. April 1801: Geh. Staats-Archiv Berlin.
2) Weisung an Lusi vom 17. Juli 1801: ebendort. Er ward auf die bloße
Berichterstattung beschränkt und klagt wiederholt vergeblich darüber (z.B. in
den Depeschen vom 31. Juli und 24. November 1801).
8) Sollte es sich nicht gelohnt haben die Sache mit Hilfe der Petersburger
Depeschen des Grafen Münster (Hannover St. A.) nachzugehen ? Gewiß war
Münster kein unbefangener Zeuge, aber er war zum mindesten in der Lage ge-
nau unterrichtet zu sein.
168 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
Rahmen der preußisch-russischen Beziehungen zu erschöpfen. Doch
hätte man erwarten dürfen, daß er die Haltung, die Rußland ihr
und speciell den preußischen Ansprüchen gegenüber einnahm, durch-
aus klargestellt hatte. Das ist aber keineswegs der Fall. Sein Ur-
teil greift vielmehr bedenklich fehl, wenn er Richtung und Ziele der
Paninschen Politik mit der Isolierungspolitik seines Nachfolgers
Kotschubei mehr oder minder gleichsetzt (S. 7) und ihr nachsagt,
daß sie sich »die deutschen Dinge am liebsten als gleichgültig vom
Leibe gehalten hätte« (S. 17). Auch ist es in solcher Allgemein-
heit nicht richtig, daß Panin das Zusammengehen mit Oestreich
dem mit Preußen vorgezogen hätte. Panins staatsmännisches Ziel
lag im wesentlichen in der Richtung der Politik Katharinas. Wäh-
rend Kotschubei Rußland wo möglich aus aller Verbindung mit den
europäischen Händeln lösen wollte, sollte es nach Panin ganz im
Gegenteil überall ein entscheidendes Wort mitsprechen und zwar im
Sinne jenes lebhaften Antagonismus gegen die französische Republik,
der auch die letzten Jahre Katharinas beherrscht hatte. Auch die
deutsche Entschädigungsfrage war ihm darum nichts weniger als
gleichgültig. Mit Recht erblickte er in einer allgemeinen Säculari-
sation des deutschen Kirchengutes sowol einen Ausfluß des revolu-
tionären Geistes wie eine weitere Stärkung der französischen Posi-
tion in Europa. Beides war ihm gleich zuwider. Eben deswegen
begünstigte er den östreichischen Standpunkt in dieser Sache, trat
den preußischen Vergrößerungsplänen entgegen. Daß er aber, was
Ulmann einer Weisung an den russischen Vertreter in Paris Ka-
lytschew entnimmt, >auch an Einvernehmen mit Frankreich zur Nie-
derhaltung preußischer Usurpationen« gedacht haben soll (S. 17),
beruht auf der vollkommensten Verkennung seiner Politik und einer
unzureichenden Interpretation seiner Worte.
Freilich schreibt Panin wirklich in obigem Sinne an Kalytschew,
aber jene Weisung, die erste, welche nach Pauls Ermordung und
dem Wiedereintritt Panins ins Ministerium nach Paris abging, ent-
hält die Gedanken des leitenden Ministers in einer wolberechneten
Verhüllung. Sie hält fest an der Fiction der russisch-französischen
Intimität, wie sie sich in den letzten Monaten Pauls ausgebildet
hatte. Sie entwickelt aber eine Reihe von Voraussetzungen dieser
Intimität, welche eben das Programm der neuen Regierung enthal-
ten. Als wichtigste steht voran eine Verständigung beider Mächte
in der deutschen Entschiadigungsfrage. Ein weiteres Zusammen-
gehen, das ist der Sinn, ist nur möglich, wenn Frankreich sich dem
russischen Widerspruch gegen eine allgemeine Säcularisation an-
Ulmann, Russisch-preußische Pol. uot. Alexander I. u. Friedr. Wilhelm IL 169
schließt und den vues ambitieuses der deutschen Mächte (auch Oest-
reich wird genannt) entgegentritt. Natürlich erwartete Panin nicht,
daß Bonaparte um der russischen Freundschaft willen seine deutsche
Politik aufgeben werde, er gab sich nur den Anschein, als sei er
von der Identität der russischen und französischen Grundanschau-
ungen in dieser Frage überzeugt, — er hielt mit andern Worten
jene dehors de la confiance aufrecht, die er in einem Rescript von
demselben Tage!) auch Kalytschew dringend einschärfte und durch
die sich nun unser Verfasser zu seinem Schaden hat irreführen las-
sen. Die Weisung, auf die sich Ulmann beruft, ist also nicht so
sehr auf den eigenen Gesandten als zur Mitteilung an das französi-
sche Cabinet berechnet und dem entspricht es, wenn sich in der Tat
im Archiv des Auswärtigen Ministeriums zu Paris ein Auszug jener .
Depesche vorfindet, den Kalytschew Talleyrand überreichte. Ueber
das eigentliche Ziel aber, das Panin in der deutschen Frage ver-
folgte, hätte Ulmann unschwer in der (auch von ihm citierten)
großen Instruction für Kalytschews Nachfolger Markoff Aufschluß
finden können. Es läßt sich dahin zusammenfassen, daß Rußland
und Oestreich sich zuerst untereinander, alsdann mit Preußen über
einen allgemeinen Entschädigungsplan verständigen, mit dem fertigen
Plan aber Frankreich gegenübertreten und seine subversiven Ab-
sichten auf diese Weise vereiteln sollten). Für ein gegen Preußen
gerichtetes russisches >Einvernehmen mit Frankreich< bleibt in dem
Rahmen dieses Programmes, wie mir scheint, kein Platz.
Man kann der Ulmannschen Forschung im allgemeinen nicht
leicht einen ungerechteren Vorwurf machen als den, daß sie achtlos
an den Aussagen ihrer Quellen vorbeigehe. Das gilt ganz speciell
auch für das Buch, das uns hier beschäftigt. Gerade in der nüch-
ternen sachlichen Einzelkritik liegt seine Stärke. Eben darum glaubte
ich einen an sich nicht unwichtigen Einzelpunkt herausgreifen zu
dürfen, in dem der Verf. sich m. E. im Irrtum befindet, ausdrücklich
aber habe ich zu bemerken, daß der Nachdruck des vorliegenden
Buches nicht auf den Partien liegt, an die sich meine obigen Be-
merkungen knüpfen.
Sowol diese Partien nämlich wie auch die weitere Darstellung
bis etwa Ende des Jahres 1803 (Cap. 1 und 2) sind augenscheinlich
für den Verfasser nicht viel mehr als eine Art erweiterter Einlei-
tung und treten wie an sachlichem Wert so auch an Umfang hinter
den folgenden vier Capiteln, welche zeitlich die kleinere Hälfte des
1) Magazin (Sbornik) der Kais. russ. Gesellschaft Bd. 70, S. 137.
2) A.a.0. 8. 209.
Gött, gel. Ans. 1901. Nr. 2. 12
170 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
Buches behandeln, zurück. Ich will mit dem Verfasser nicht dartiber
rechten, daß er dies Verhältnis im Titel nicht deutlicher zum Aus-
druck gebracht hat, Tatsache ist jedenfalls, daß seine Darstellung
ihr eigentliches Thema erst erreicht mit der Krisis, welche die Ver-
handlungen über Preußens Eintritt in die Coalition des Jahres 1805
‘begleitete. Diese Verwicklung, während der die Geschichte der
preußisch-russischen Beziehungen dieser Jahre ihren dramatischen
Höhepunkt erreicht und fast zur Geschichte Europas wird, hat den
Verf. offenbar ursprünglich und am meisten gelockt. Hier liegt
jedenfalls sein Verdienst. Er führt uns die Geschichte der preußi-
schen Politik während der Jahre 1804 und 1805 in aller Ausführlich-
keit vor.
Das Neue, was er uns zu bieten hat, ruht im wesentlichen auf
dem neuen Material, das er herangezogen hat, eben jener gedruck-
ten russischen Quellenlitteratur, daneben (außer auf den Berichten
des preußischen Gesandten in Petersburg) ‘vor allem auf den De-
peschen des Ostreichischen Militärbevollmächtigten bei Alexander, des
Obersten Stutterheim. Die Benutzung dieser Quellen hat ihn in den
Stand gesetzt die Abwandlungen der russischen Politik dieser Jahre
im einzelnen genauer zu verfolgen, als das bisher möglich war. Nach
dieser Richtung hin liegt eine positive Bereicherung unserer Er-
kenntnis vor. Freilich Ulmanns Verzicht auf das Petersburger Ar-
chiv hat ihm die Möglichkeit zu einem vollen Einblick zu gelangen
abgeschnitten. Wesentlich neue Gesichtspunkte haben sich ihm aus
seinen Quellen auch über die russische Politik nicht eröffnet. Etwas
Abschließendes vermag er nicht zu geben. Wie wäre das auch mög-
lich ohne Benutzung der Depeschen des russischen Gesandten Alopeus
aus Berlin und der Weisungen, die er empfing? Was dem Verfasser
von diesen Papieren zu Gebote stand, beschränkt sich auf im Ber-
liner Archiv ruhende ostensible Stücke und einzelnes, was Martens
gedruckt hat. —
Ausdrücklich tritt Ulmann an einer Stelle seines Buches (S. 292)
in Gegensatz zu Rankes Auffassung, der eben im Hinblick auf die
damalige preußische Politik darauf hinwies, wie bedingt doch eigent-
lich die Wirksamkeit des persönlichen Factors im geschichtlichen
Leben sei. Er selbst kennt kein anderes bewegendes Princip in der
Geschichte als das Individuum. Als leitende Grundüberzeugung
durchzieht sein Buch der Gedanke, daß die russische und preußische
Politik dieser Jahre das persönliche Werk Alexanders und Friedrich
Wilhelms gewesen sei. Mit einseitiger Consequenz ist dieser an
sich ja nicht neue Gedanke durchgeführt und das historische Pro-
blem in ein psychologisches aufgelöst.
Ulmann, Russisch-preußische Pol. wat. Alexander I. u. Friedr, Wilhelm III. 171
So wenig ich mich mit einem so kurzen Maßstab einverstanden
erklären kann, wo es gilt »das erdrückende Wachstum des Ueber-
gewichts Napoleons« zu erklären (S. 1), se gern erkenne ich an, daß
im einzelnen viele gute und feine psychologische Beobachtungen
in dem Buche stecken. Sehr hübsch ist die Rolle Czartoryskis
herausgearbeitet. Gut ist die Bemerkung über Alexander nach Au-
sterlitz: »Die treibende Kraft seines Innern blieb zunächst eine mit
Eifersucht versetzte Animosität gegen Napoleon« (S. 315). Haug-
witz’ eitle Selbsttäusehung ist treffend geschildert (S. 309/310). Auch
Friedrich Wilhelms Persönlichbeit ist mit gutem Verständnis seiner
menschlichen Vorzüge und Schwächen aufgefaft. Sympathisch be-
rührt vor allem die Ruhe des Urteils, das verständige Abwägen und
das Bestreben auch complicirten Charakteren gerecht zu werden.
Manche landläufigen Urteile (so Alexander gegenüber bei der Scene
in der Gruft Friedrichs : S. 279) sind hier gemildert.. Auch das
sachliche Urteil ist "nüchtern und unbefangen. Mit Recht erklärt
sich Ulmann gegen die Annahme, als habe es Alexander im Jahre
1805 auf eine Beraubung Preußens abgesehen gehabt (S. 197). Auch
darin kenn man ihm nur beistimmen, daß die Annahme einer münd-
lichen Geheim-Instruction des Königs an Haugwitz (November 1805),
auf alle Fälle den Frieden zu wahren, nicht notwendig und darum
unwahrscheinlich sei (S. 285 ff.). Seine vorsichtigere Fassung deckt
sich im wesentlichen mit der von Bailleu’) gegebenen. Ebenso ist
mir mit ihm zweifellos, daß in Berlin die ernste Absicht in den
Krieg einzutreten selbst noch nach Austerlitz bestanden hat (S. 290).
Nach einer Richtung möchte ich aber doch den Vf. einer star-
ken Befangenheit zeihen. Ich wiederhole: sein ernstes Bestreben
gerecht abzuwägen ist unverkennbar, es kommt auf jedem Blatt sei-
nes Buches zum Ausdruck. Wenn dennoch sein Maßstab nicht nach
allen Seiten der gleiche ist, so ist dafür ein Factor verantwortlich
zu machen, der ihm selbst offenbar unbewußt seine Anschauungen
entschieden beherrscht: sein preußischer Standpunct. In dem Con-
flict zwischen Preußen und Rußland, von dem er uns zu erzählen
hat, nimmt er lebhaft, ja fast erbittert Partei. Wenn Rußland und
die andern Verbündeten der neuen Coalition gegen Frankreich
den Gedanken fassen keine Neutralität in diesem Kriege zu dul-
den, de forcer la main & la Prusse, so ist ihm das eine »An-
maGung<, eine »verhängnisvolle Abirrung von aller gesunden An-
sehauung«, gegen die er das Völkerrecht wie die »geschichtliche Er-
fahrung< anruft (5.187). Er weiß einen solchen Anspruch nur als
i) Preußen und Frankreich I, LXV.
172 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
»hochmütige Unterschätzung der Daseinsbedingungen der Andern«
zu werten und fragt: »wo liegt der Unterschied zwischen diesem
Anspruch und dem Verfahren der Aufständischen im großen Bauern-
krieg, wenn sie sich gegen Widerwillige ein Zwangsrecht beilegten ?<
(S. 174).
Es liegt mir fern mich für die dilettantische Gefühlspolitik Alex-
anders zu erwärmen, ich kann aber nicht umhin mich zu der per-
sönlichen Anschauung zu bekennen, daß es Europa möglicher Weise
viel Elend und Blutvergießen erspart hätte, wenn der Plan Preußen
damals so oder so in den Kampf gegen Napoleon mitzureißen ge-
glückt wäre. Jedenfalls aber wäre es für die Förderung des histo-
rischen Verständnisses ersprießlicher gewesen, wenn unser Verfasser
von Vorwürfen an die russische Adresse abgesehen und sich darauf
beschränkt hätte jenen Gedanken des forcer la main & la Prusse als
die bittere Frucht der preußischen Neutralitätspolitik zu begreifen.
Ich meine, seine eigene Darstellung läßt es klar genug erkennen,
welchen Anteil einerseits das Mistrauen gegen die Aufrichtigkeit der
preußischen Politik und andererseits die, wie er selbst sagt >un-
glaublich gefallene Wertschätzung der physischen und moralischen
Wehrhaftigkeit Preußen« (S. 194) an der Genesis des Gedankens
hatten. Wer sich aber selbst einer solchen Erkenntnis nicht ent-
zieht, wie kann der uns mit einer so matten Weisheit abspeisen
wollen, wie sie in der folgenden Sentenz niedergelegt ist: »Auch
die Staaten müssen wie die Menschen unterweilen eben Geduld üben
mit einander< (S. 187)? Als ob nicht die politische Sittenlehre stets
und zu allen Zeiten Geduld und Rücksicht nur gegenüber der ihrer
selbst gewissen Kraft gekannt hätte? Freilich Ulmann spricht von
einer »Unterschätzung des preußischen Staatsgeistes< durch die Ver-
bündeten. Aber hat ihnen nicht Jena und der furchtbare Zusam-
menbruch des alten Preußens schneller und vollständiger Recht ge-
geben, als sie es damals noch ahnen mochten?
Ich breche hier ab, obwol ich noch manches zu sagen hätte.
Nur andeuten will ich noch, daß die patriotische Befangenheit des
Autors auch an anderen Stellen zu Tage tritt. Die schöne kräftige
Entschiedenheit, mit der Lehmann über Friedrich Wilhelm urteilt,
darf man bei ihm nicht suchen. Nicht daß er ein Apologet des
Königs wäre. Gut spricht er einmal von den »unköniglichen Ele-
lementen seines Wesens< (S. 95). Er macht sie einzeln namhaft
(S. 15, 169, 239, 279 u. ö.). Aber im ganzen hat er doch eine Nei-
gung ihn zu schonen und statt seiner seine Umgebung, das Cabinet,
die >kleinen Menschen«, die »Zitterer«, die »Freunde des Stille-
sitzens< anzuklagen. Es ist einleuchtend, daß er auf diese Weise
Pfister, Aus dem Lager der Verbündeten 1814 und 1818. 178
zu seiner eigenen Ansicht, wonach im Grunde der König die preu-
ßische Politik gemacht habe, in einen gewissen Gegensatz tritt.
Ulmann selbst nennt sein Buch gelegentlich eine Studie. In
der That giebt er weniger eine Darstellung als kritische Studien zu
einer solchen. Kritisch setzt er sich mit Personen und Dingen, die
er schildert, mit seinen Quellen und seinen Vorgängern auseinan-
der. Kritisch muß sich auch der Benutzer mit seinem Buche ab-
finden‘). Wenige werden es ohne Widerspruch, niemand ohne För-
derung und Anregung empfangen zu haben aus der Hand legen.
1) Einige nicht uninteressante Berichtigungen und Ergänzungen z. T. aus
Londoner archivalischem Material bringt J. Holland Rose: English historical
Review XV, 597—599. — Auch in Bailleus soeben erschienener Sammlung: Brief-
wechsel Friedrich Wilhelms III. und der Königin Luise mit Alexander I. steckt
wichtiges (oben noch nicht verwertetes) Material zur Kritik Ulmanns.
Leipzig (Oktober 1900). G. Buchholz.
Reue
Pfister, A, Aus dem Lager der Verbündeten 1814 und 1815.
Stuttgart und Leipzig. Deutsche Verlags-Anstalt. 1897. XII. 480 S. gr. 8°.
Preis 7 Mk.
Das Buch ist eine Fortsetzung des von demselben Verfasser
kurz vorher herausgegebenen Werkes, das unter dem Titel »Aus dem
Lager des Rheinbundes 1812 und 1813« die Ereignisse bis zum
Winter 1813 behandelt. Wie dieses gründet es sich auf würtember-
gische Akten, die in reichem Maße herangezogen und mit Sorgfalt
ausgebeutet sind. Hierin besteht der Hauptwert der Arbeit, die zu-
gleich eine Art Publikation ist, da sie viele von den Aktenstücken
fast unverkürzt zum Abdruck bringt. Die neuen Ergebnisse, die
daraus zu entnehmen sind, sind allerdings nicht allzu zahlreich, es
finden sich deren weniger, als in dem früher erschienenen Bande.
Das wichtigste ist, daß die Persönlichkeit des Königs Friedrich
von Würtemberg jetzt deutlicher erkennbar gemacht ist und dadurch
z. T. in andern Lichte erscheint als bisher. Der König hat durch-
aus nicht aus Anhänglichkeit an Napoleon sich in der Unterstützung
der Verbündeten so lässig gezeigt, ist ihren Ansprüchen so wenig
entgegengekommen oder hat sich ihnen sogar schroff widersetzt. Er
haßte vielmehr Bonaparte und sein ganzes Haus auf das heftigste
infolge von persönlichen Kränkungen, die er von dem Gewalthaber
hatte erdulden müssen. Er wünschte deshalb auch seinen Sturz
und war einer von den wenigen, die während des Feldzuges von
174 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 2.
1814 von Anfang an für eine energische Kriegführung mit dem Ziel
der Entthronung des Franzosenkaisers eintraten. Der Beweggrund
für seine Politik war überhaupt allein das dynastische Selbstgefühl,
das ihn beseelte. Förderung der Macht seines Hauses und seines
Staates war sein Ziel, und er verfolgte es mit allen Mitteln einer
rücksichtslosen Diplomatie. In der Verbindung mit Napoleon hatte
er die Königswürde und mancherlei bedeutende Vorteile erlangt, jetzt
wo dessen Stern erblich, sollte ein anderer Protektor an seine Stelle
treten und weiter helfen. Dazu ersah er den Zaren aus, mit ihm
suchte er ein enges Einvernehmen herzustellen. Von der weit ent-
fernten russischen Macht brauchte er nicht so leicht Gefahren für
seine souveräne Selbständigkeit zu befürchten und konnte er noch
am ehesten Unterstützung bei seinen Eroberungsgedanken erhoffen.
Man muß die Schärfe und Klarheit seines politischen Blickes, seine
treffende Beurteilung der fremden Staatsmänner bewundern; in die-
ser Hinsicht war er ein würdiger Schüler Friedrichs des Großen.
Sein Gegensatz gegen Oesterreich und sein Widerstand gegen die
durch österreichische Vermittlung an ihn herantretenden Wünsche
der Verbündeten in den Jahren 1813 und 1814 gingen aus der Er-
kenntnis hervor, daß er von Oesterreich niemals Förderung oder
Zustimmung zu seinen auf Vergrößerung seines Landes gerichteten
Plänen erwarten dürfe. Ueberdies wurde er in seinem stolzen, hoch-
mütigen Auftreten bestärkt durch die Mißachtung, mit der er auf
die Fähigkeiten der verbündeten Monarchen und ihrer Feldherrn und
Diplomaten herabsah. Die Art, wie er sich 1815 durch einen
Kriegszug, den er persönlich unternahm, kurzer Hand in den Besitz
Kehls zu setzen suchte, ist bezeichnend für den selbstherrlichen Cha-
rakter seiner Politik. Er war in der That nicht nur in der innern,
sondern auch in der äußern Politik ein Napoleon im Kleinen. Auch
einen Napoleon suchte er seinen Zwecken dienstbar zu machen, nur
so lange hielt er an ihm fest, als er sich Nutzen von ihm verspre-
chen konnte, und persönliche Feindschaft wie politischer Scharfsinn
ließen ihn erkennen, daß seit dem Herbst 1813 nichts mehr von ihm
zu hoffen sei.
Außer diesen neuen Aufklärungen über die Politik des ersten
Königs von Würtemberg ergeben sich aus den Berichten der wür-
tembergischen Bevollmächtigten hin und wieder lehrreiche Bemer-
kungen über die politischen Ziele der andern Mächte, die zur will-
kommenen Bestätigung und Erweiterung der historischen Auffassung
dienen können. Diese Berichte sind wertvoll, weil sie von umsich-
tigen, tüchtigen Männern niedergeschriehen und bei den hohen An-
sprüchen, die der Herrscher an seine Beamten stellte, mit Sorgfalt
Pfister, Aus dem Lager der Verbündeten 1814 und 1815. 175
abgefaßt sind. Von Einzelheiten sei hier erwähnt, daß man darauf
bingewiesen wird, wie Metternichs Politik auch 1815 durch die Rück-
sicht auf Galizien bestimmt wurde, durch seine Abneigung, die alte
Stellung Oesterreichs am Rhein wieder einzunehmen, durch sein Be-
streben in Süddeutschland keine kräftige Selbständigkeit aufkommen
zu lassen (vgl. S. 401).
Leider ist die Ausbeute, wie gesagt, nicht allzu groß; und dabei
hat das Bestreben des Verfassers, auf der einen Seite doch alles
irgend wie Brauchbare aus seinen Archivstudien mitzuteilen, und
andrerseits seine Darstellung unter große allgemeine Gesichtspunkte
zu ordnen, die Form seines Buches nicht günstig beeinflußt. Denn
es wird weder eine fortlaufende Erzählung des großen Ganges der
Ereignisse gegeben, sondern diese sehr häufig durch Einflechten der
würtembergischen Berichte oder durch breitere Behandlung einer
Episode, bei der die Würtemberger beteiligt waren, mit ermüdenden
Wiederholungen unterbrochen ; noch sind der Anteil der Würtem-
berger, ihre militärischen und diplomatischen Leistungen, da wieder
zu oft andere allgemeinere Gesichtspunkte hineinspielen, besonders
klar herausgearbeitet. Die hat Pfister selbst früher in seinem Buche
über König Friedrich von Würtemberg und seine Zeit zwar weniger
eingehend, aber viel anschaulicher dargelegt.
Der Verfasser will das voranstellen, »was sich für das deutsche
Volk aus den Leistungen und Zuständen als Resultat ergeben, was
die Stimmung der Zeit geschaffen und den Gang unserer Volksge-
schichte erleichtert oder behindert hat<«. Aber die Auswahl der Er-
eignisse, die er darstellt, entspricht nicht immer ihrer Wichtigkeit.
So verweilt er, um ein paar Beispiele zu nennen, mit behaglicher
Breite bei der Schilderung der Reise Napoleons von Fontainebleau
nach Frejus, die gar nichts Neues enthält und zudem recht zweifelhaft
begündet ist; von der Bedeutung des Rechtsabmarsches der schlesischen
Armee am 23. Februar, der den Feldzug rettete, ist dagegen nicht
die Rede, von der Schwierigkeit und Tragweite der Frage nach dem
Schicksal Sachsens bei den Verhandlungen des Wiener Kongresses
erhält der Leser kaum einen Eindruck. Erwähnt muß doch auch
werden, daß die Methode des Verfassers nicht einwandsfrei ist. Er
druckt z.B. eine längere Stelle aus den Metternichschen Memoiren
ab (S. 58), von der Bailleu, dessen Kritik er übrigens selbst an an-
dern Orten zitiert, gerade speziell nachgewiesen hat, daß sie un-
glaubwürdig sei. Er stellt ferner den Grundsatz auf (S. 206 und
sonst), daß in diesem Feldzug 1814 der persönliche Entschluß im
Guten wie im Bösen von jeher viel zu viel betont sei und die ge-
setagebende Lage, von der man sich abhängig fühlte, mehr Bertick-
176 Gott. gel. Anz. 1901. No. 2.
sichtigung verdiene, dann würden Verdammung und Lobpreis, Schuld
und Verdienst sich mehr ausgleichen und gleichmäßiger auf die ver-
schiedenen Persönlichkeiten verteilen, und verwendet ihn vor allem
dazu, Schwarzenbergs Kriegführung zu erklären und gegenüber ihren
Kritikern zu rechtfertigen. Ob der Grundsatz, wenn er so formu-
liert wird, zu verteidigen ist, erscheint sehr zweifelhaft, daß seine
Anwendung in diesem Falle besonders geglückt sei, kann man nicht
behaupten. Denn um wirkliche Beweise für die Apologie des Ober-
feldherrn, die ja nicht neu ist, zu geben, wäre doch ein etwas ge-
naueres Eingehen in die Einzelgeschichte des Feldzuges nötig ge-
wesen. So werden die Gründe der Gegner nicht widerlegt, wirken
die eigenen Behauptungen nicht überzeugend.
Doch genug von solchen Ausstellungen. Der Historiker muß
dankbar sein für die Erschließung neuer Quellen über eine so wich-
tige Epoche, wenn er auch nicht verschweigen kann, daß das höhere
schöne Ziel, welches das Buch sich außerdem gesteckt hat, nicht er-
reicht ist.
Göttingen. L. Mollwo.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen.
März 1901. Nr. 3.
Grtineisen, C, Der Ahnenkultus und die Urreligion Israels. Halle
M. Niemeyer 1900. XV. 287 S. Preis 6 Mk.
Die Arbeit ist die Erweiterung einer Preisaufgabe, in der der
Verfasser die exegetische Grundlage der Ahnenkulthypothese von Stade
und Schwally untersucht hat. Im vorliegenden Buche verfolgt er jene
Hypothese auch auf den Lebensgebieten, in denen Stade und Andere
Spuren des Ahnenkultus als der Urreligion Israels gefunden zu ha-
ben glauben. Die Einleitung bietet eine geschichtliche Entwickelung
des Begriffes Animismus und eine Begrenzung der vorliegenden Auf-
gabe dahin, zu untersuchen, ob, nicht die animistische Weltanschauung,
sondern die animistischen Religionsformen des Totenkultus und der
Ahnenverehrung im alten Israel vor dem Jahvismus als Urreligion ge-
herrscht haben. In drei Teilen behandelt der Verf. seine Aufgabe.
Im ersten Teil: Die Vorstellungen von der Seele und vom Zustande nach
dem Tode werden in 2 Abschnitten die anthropologischen Vorstellun-
gen des alten Israel und die israel. Vorstellungen vom Zustand nach
dem Tode besprochen. Wenn auch die altisrael. Vorstellung von
©») Aehnlichkeit mit der ‘Seele’ des Animismus hat, so ist sie doch
darin eine ganz andre, daß die ‘3 den Körper nur im Tode verläßt
und daß es dann aus mit ihr ist. Ebenso zeigt sich im Glauben
an die XD wohl die Vorstellung von einer gewissen Fortdauer des
Toten (nicht der Seele!), aber gerade die Schilderung der So legt
Protest ein gegen jede höhere Wertschätzung, geschweige religiöse
Verehrung, der Toten. Der zweite Teil, Totenkult im alten Israel,
hat 3 Abschnitte: Trauergebräuche, Begräbnis und Totenopfer, To-
tenbeschwörung in Israel. Für die Trauergebräuche wird ein ge-
meinsamer Grund gesucht und im Anschluß an J. G. Frazer darin
gefunden : Der Mensch will sich durch die Entstellung (in der Trauer)
unkenntlich machen, um sich vor der drohenden Gefahr zu schützen.
Diese Gefahr drohte ursprünglich von Gott; doch spielen auch hier
animistische Vorstellungen insofern hinein, als das laute Trauerg&heul
Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 13
178 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3,
wohl zur Abwehr des Totengeistes dienen soll. — Die Bestattungs-
gebräuche zeigen keine Spur von kultlicher Verehrung der Toten, wohl
aber geben auch sie von dem Glauben an Totengeister Kunde. Die
»Totenopfer< die man Jerem. 16, 7 finden will, sind keine Spenden
an die Toten, sondern Speise und Trank, die man den Trauernden
in das Haus schickt, um sie vor dem Genuß des unreinen im Haus
befindlichen sogen. Trauerbrotes (E18 Dr) zu bewahren; auch die
Totenspenden, von denen Deut. 26, 14 und öfter in den Apokryphen
die Rede ist, sind keine Zeichen göttlicher Macht der Toten, son-
dern eher das Gegenteil. Der 3. Abschnitt bespricht die schwer zu
vereinigenden Notizen im A. T. über 218 und 397° und schließt eine
exegetische Behandlung von I. Sam. 28 an, deren Resultat ist, daß
der Autor hier gar keine »typische Totenbeschwörungsscene« schildern
will. Jedenfalls hat die Totenbeschwörung nichts mit einem Kultus
der Toten zu thun, sondern gehört in das Gebiet der Zauberei und
ist vielleicht kanaanäische Sitte. — Der letzte Teil, Ahnenkultus, be-
handelt die von Stade u. a. angeführten Spuren der animistischen Ver-
gangenheit Israels 1) in der Verehrung der Eltern, 2) in dem häus-
lichen Kult, 3) in der Organisation der israel. Familie, 4) in der
Bildung und Verfassung der Stämme. Auf allen vier Gebieten zeigt
sich keine Spur von Ahnenkultus, wohl aber manche Anzeichen für
das Gegenteil, wie die Thatsache, daß der nachweislich älteste häus-
liche Kult bereits Jahve galt, das zweifellose Vorhandensein matri-
archalischer Eheformen, und das Entstehen der hebr. Stämme nicht
aus der Familie.
Das ist ein kurzer unvollständiger Auszug aus dem reichhalti-
gen Inhalt des Buches. Man wird gern anerkennen, daß der Verf.
über die Probleme nachgedacht hat, das zeigt hauptsächlich der 3.
Teil. Aber gerade mit so allgemeinen Betrachtungen, wie er sie
uns dort bietet, ist praktisch wenig gethan. M.E. hätte eine gründ-
liche exegetische Behandlung einzelner Stellen mit den nothwendig-
sten historischen Ausblicken vollständig genügt, um das Unrecht je-
ner Anschauung darzuthun. Auf die Methode kommt’s nicht dabei
an und an den Gegner braucht man sich auch nicht zu binden, wenn
man nur was Rechtes zu sagen hat. Jedenfalls war auf die Erklä-
rung der einzelnen Texte der Hauptnachdruck zu legen, denn alle
andren Lebenserscheinungen, die man herbeigezogen hat, wie Wesen
und Entstehung der Familie und des Stammes, sind z. Z. noch außer-
ordentlich vieldeutig und das Philosophieren darüber bringt uns
nicht weiter. Sparen können hätte sich m. E. der Verf. auch die
zahlreichen Parallelen, die er zu den Sitten und Gebräuchen Israels,
meist von den sogen. Naturvolkern anführt. Er will ihnen zwar
Grüneisen, Der Ahnenkultus und die Urreligion Israels. 179
keine eigentliche Beweiskraft zugestehen, sie sollen nach seinen
Worten nur ein Maßstab sein für das, was religionsgeschichtlich
möglich ist und so als Korrektiv und Kommentar wirken. Ich
glaube aber weder, daß die Sitten der >»Naturvölker« der Natur nä-
her stehen und ursprünglicher sind, als die altisrealitischen, noch,
daß sie uns so gut bekannt sind wie die im A. T. Und schließlich,
wer weiß nicht, wie oft Erscheinungen mit einander verglichen wer-
den, die, äußerlich ähnlich, ganz verschiedene Herkunft, also auch
Bedeutung haben; so lange wir die Genesis jener nicht kennen, dür-
fen wir sie nicht zum Vergleich heranziehen, denn jene nicht die
äußerliche Aehnlichkeit auf einem Punkte der Entwicklung, ist das
allein Entscheidende. Was uns in seiner inneren Bedeutung noch
so fremd und unbekannt ist, wie Sitten und Gebräuche geschichts-
loser d. bh. in ihrer Entwicklung unkontrollirbarer Völker, darf man
nicht zum Maßstab machen für das, was >religionsgeschichtlich mög-
lich« (!) ist, oder als Korrektiv und Kommentar anziehen bei einem
Gebiet, das so lange und so gründlich durchgearbeitet ist wie das
alttestamentliche.
Ich werde mich aus diesen Gründen hauptsächlich auf die Bespre-
chung der exegetischen Partieen des Buches beschränken. Die Sätze,
auf denen der Verf. im ersten Teil die Ausführungen über de) und
mn basiert, sind zwar allgemein anerkannt, aber doch falsch. " u.
'a bezeichnen keineswegs beide ursprünglich dasselbe, nämlich den
Atem als den den Körper belebenden Faktor. ‘ ist der Atem, der
durch die Nase geht, ') dagegen ursprünglich der heiße Hauch der
Gier, den man fühlt, wenn ein Tier den Rachen öffnet und im
Hunger nach etwas schnappt, vgl. Job 41, 12f. Die Atemtätig-
keit, mmm geht durch die Nase (BYEx), die ’; dagegen fühlt man in
der jappenden Gier (SNX%) des geöffneten Rachens oder Mundes, vgl.
Jer. 2, 24. So ist wp: Bezeichnung der Gier nach Speise und Trank,
überhaupt des Hungergefühls geworden und in dieser Bedeutung ist
es in der alten Literatur durchweg, auch Gen 27,4 — vom Verf.
mißverstanden — gebraucht. Dies Hungergefühl galt dem Hebr.
als das deutliche Zeichen des Lebens, daher ‘3 oft = m°n, und sein
Fehlen als Beweis, daß das, was er mo nennt, eingetreten ist. Ganz
verkehrt ist die Anschauung, die auch der Verf. als althergebrachte
vertritt, als ob von Haus aus der Begriff des Individuellen an-
hafte und es deshalb später oft zum Ersatz der Pron. diene; den
Begriff des Individuellen bekommt es ja (vgl. "wa, "nox etc. in
den Psalmen) erst durch das Suffix! Vielmehr ist ‘ nichts anderes
als das ganz allgemeine, in allen Lebewesen vorhandene Verlangen nach
Speise als natürliches Zeichen des Lebens. Das Charakteristische
13 *
180 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
am Toten ist das Aufhören dieses Triebes — wir würden sagen die-
ses Bedürfnisses. Darum heißt es, wenn der Mensch »stirbt«, die
‘p> »stirbt< d. h. hört auf, sich zu betätigen, und darum stellt man
dem Toten Speise und besonders Trank auf das Grab: man kann
ja nicht wissen, ob die ‘3 sich nicht mal wieder regt; denn den ab-
soluten Gegensatz zwischen Leben und Tod giebt’s natürlich für das
naive Empfinden nicht, leben heißt kräftig sein (m), tot sein heißt
schwach sein (ep). Erst in späterer Zeit ist ’, die Atemtätig-
keit, Kennzeichen des Lebens geworden, vgl. » 146,4. — Freilich,
wenn '3 mp oder ‘5 rmpnm hieße: den Atem aushauchen, wie der Verf.
frischweg übersetzt, wäre die Sache klar genug; aber diese fehler-
hafte Uebersetzung, die weder Jerem. 15, 9 noch Job. 11,21. 31, 39
paßt, hätte man schon längst nach den Uebersetzungen berichtigen
sollen. — Daß der Verf. sich nicht von der herkömmlichen An-
schauung losgemacht hat, ’) wäre eine >»persönliche Potenz<«, ist in
der Folge für seine Stellung zum Animismus verhängnisvoll gewor-
den; er ist in animistischen Vorstellungen hängen geblieben, wenn
er ihnen auch keine religiöse Sonderexistenz zuerkennt.
Mit seiner Deutung der Trauergebräuche im zweiten Teil der Arbeit
wird der Verf. schwerlich Zustimmung finden. Er macht die rich-
tige Beobachtung, daß die sogen. Trauergebräuche auch bei andern
Gelegenheiten, z. B. an Kriegsgefangenen vollzogen werden, zieht
aber daraus den unrichtigen Schluß, daß die Vollziehung dieser Ge-
briiuche an den Besiegten eine religiöse Bedeutung habe; durch die
Kriegsgefangenschaft treten nämlich die Besiegten in »Beziehung
zur Gottheit«. Aus I Reg. 20,42 wird nämlich herausgelesen, daß
jeder Feind unter dem oun Jahwes stand; hat denn der Verf. die
Begründung für I Reg. 20, 42, die derselbe Autor in v. 28 ib. giebt,
gar nicht gelesen?! Nicht weil er weiß, daß er es mit Jahwe zu
thun hat, erscheint Benhadad in dem Aufzug I Reg. 20, 31 vor
Ahab, sondern um durch seine klägliche Erscheinung des Königs
Mitleid zu erregen. Er trägt selbst den Strick, wenn ihn der Sie-
ger etwa fesseln wollte, ähnlich wie Dobais gebunden, mit Schwert
und Leichentuch, vor den Chalifen geführt wird, vgl. Barhebr. chron.
syr. ed. Bedjan S. 295 und S. 274. Die Grausamkeiten gegen die
Besiegten, die sich in der Ausübung der »Trauerriten« an ihnen
zeigen, gehen nicht aus religiösen Motiven hervor, sondern aus den
ganz ursprünglichen Gefühlen des Hasses und der übermütigen
Freude. Es sind ganz naturwüchsige Gefühle, die in dem Glatze
scheeren , Haarabschneiden, nackt ausziehen, barfuß gehn lassen,
Hintern entblößen etc. an dem besiegten Feind ihren Mutwillen üben.
Das alles sind Schändungen und Entehrungen, die der Sieger in
Grüneisen, Der Ahnenkultus und die Urreligion Israels. 181
wilder Freude an den gefangenen Feinden vornimmt, aber wahr-
haftig keine kultlichen Handlungen! Für unrichtig halte ich auch die
Erklärung, als ob der Aussätzige Lev. 13 oder Thamar 2. Sam. 13
deshalb die dort beschriebenen »Trauergebräuche« anwenden, weil
sie unrein sind. Nicht weil sie vergewaltigt und dadurch unrein ge-
worden ist, legt Thamar die Hände jammernd auf’s Haupt, sondern
weil ihre Bitte v. 16 abgeschlagen und sie schändlich hinausgejagt
wird. Dieselbe Bewandnis hat es mit der Bublerin Jer. 2, 37; sie
hat eine schändliche repulsa ihrer Anträge erlitten, daher der Gestus
des moa. So legt Besus jammernd die Hand auf das Haupt, als
sie die Schmach hört, die ihr in der Beleidigung ihres Gastes zuge-
fügt worden ist, Abulfed. hist. anteisl. ed. Fleischer S. 138. — Die
Deutung vollends der Trauerriten, als ob sich der Mensch durch sie
unkenntlich machen wollte, um sich vor der — von Gott — drohen-
den Gefahr zu schützen, hat im A. T. keine Spur von Berechti-
gung; daß der Verf. auf sie gekommen ist, erklärt sich nur daraus,
daß er sich von den angeblichen oder wirklichen Ergebnissen der
religionsgeschichtlichen Forschung auf anderen Gebieten hat beein-
flussen lassen. Schon die Gottesvorstellung legt gegen diese Auf-
fassung den schärfsten Protest ein. Ueber die Vorstellung des Kin-
des, das sich die Decke über den Kopf zieht und sich nun geborgen
wähnt, sind wir im A.T. längst hinaus — wenn diese Vorstellung
überhaupt jemals vorhanden gewesen ist. Die Vorstellung von Gott,
die sich aus den ältesten Texten erschließen läßt, macht eine solche
Deutung der Trauergebräuche unmöglich. Zu Gott kommt man, um
im Dunkel Licht zu haben, wo menschliche Augen nichts mehr sehen,
da soll Jahwe den Schuldigen, den Dieb, den Räuber finden. Diese
unheimliche Fähigkeit Gottes, den Schuldigen zu treffen (xxx), ist
bei den Verehrern der Grund ihrer Schauer und ihrer Furcht. Der
Gott, den Israel seit den ältesten Zeiten verehrt, ist kein unter-
menschliches Wesen, das sich durch solch Versteckenspiel foppen läßt.
Unfaßbar ist mir jene Deutung, da doch das A.T. selbst deutlich
genug den Zweck der Trauerriten giebt. Trauerzeiten sind Zeiten
der Gefahr für den Menschen. In Hunger und Krankheit, Not und
Tod spürt der Mensch schauernd die Gegenwart Gottes, sein Vor-
übergehen oder Hindurchgehen durch das Volk. Unglücksfälle sind
ein warnendes cave adsum der Gottheit, die ihr Angesicht zürnend
auf den einzelnen und seine Umgebung richtet und ibren Arm noch
drohend ausgestreckt hält zu weiteren Schlägen. Den Demütigen
giebt Gott Gnade. Um Gottes Zorn abzuwenden und seinem erho-
benen Arm Einhalt zu thun giebt’s kein andres Mittel als »sich
demütigen«, d.h. sich erbärmlich stellen, sich entehren, erniedrigen
182 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
und sich schänden, damit durch solch jammervollen Aufzug Jahwes
Mitleid erweckt werde und sein zomig Antlitz sich glätte, vgl.
2 Sam. 12,15 ff. Jes. 58,3 ff. Natürlich unterblieb in solchen Zeiten
des Interdiktes jede fröhliche Lebensäußerung ; der Schrecken der
göttlichen Gegenwart wirkt gleichsam lähmend, das geschäftliche und
häusliche Leben steht still, alles konzentriert sich auf die Beschwich-
tigung des göttlichen Zornes, vgl. den Traktat razor der Mischnah.
Die Gebräuche, die hierbei zur Anwendung kamen, nennt man sehr
irrtümlicherweise »Trauergebräuche< ; sachlich sind es nichts andres
als Selbstdemiitigungen, die auf Jahve einwirken sollen, wie die
jämmerliche Erscheinung Benhadads auf Ahab, vgl. auch I Reg. 21, 27 ff.
Von der Thatsache, daß die meisten sogen. Trauergebräuche zugleich
Entehrungen sind, muß man ausgehen, wenn man sie recht deuten
will. -— Daß das Grauen der Hebräer vor dem Leichnam und allem,
was damit zusammenhängt, seine Wurzel hat in der Furcht vor den
Totengeistern, wird dem Verf. niemand glauben, so lange er für das
Vorhandensein jenes Glaubens keine bessern Gründe anführen kann,
als sein Mißverständnis der Bestimmung Num. 19, 15. Diese »schein-
bar spitzfindige« Bestimmung erklärt sich doch wohl nicht aus der
Angst, daß die »Seele< in das offene Gefäß geschlüpft sein könnte,
sondern aus der Befürchtung, es könnte etwas von der Leiche oder
was damit zusammenhängt hinein gefallen sein, vgl. Lev. 11, 33 und
den Traktat mi5mx der Mischnah. Ebenso wenig kennt das A.T. in
der Trauer oder beim Begräbnis ein »wüstes Geschrei< um die Gei-
ster zu vertreiben; die Rufe, die beim Begräbnis ertönen, sind
letzte Grüße an den Toten, Lobpreis seiner Tugenden, Klagen über
den schweren Verlust etc., aber in der alten Zeit niemals wüstes
sinnloses Lärmen. Das laute Klagen ist eine Ehre der Toten Je-
rem. 22,18 f., aber keine ängstliche Abwehr der Geister; für »See-
lene und Totengeister haben die alttestamentlichen Vorstellungen
überhaupt keinen Platz. — In dem Abschnitt über Begräbnis und
Totenopfer unterzieht der Verf. Jerem. 16,7 einer exegetischen Be-
sprechung. Seinem Resultat, hier sei die Sitte bezeugt, den Trau-
ernden Brot in das Haus zu schicken, wird schwerlich zuzustimmen
sein; denn diese Sitte ist sonst im A. T. nicht bezeugt und Tob. 42, 11
spricht ausdrücklich dagegen. Wenn er aber meint, D’sıX um> wäre
das unreine Brot im Trauerhause und Do; '>, wie er Ez. 24, 17. 22
jener fraglichen Sitte zu liebe beibehält, bezeichne das (reine) Brot,
das die »Leute<, d.h. die Freunde und Verwandten dem Trauern-
don schicken, damit er jenes unreine Trauerbot nicht zu essen
brauche, — so ist das sicher falsch; jedes Brot, das der Trauernde "7x83
genießt, ist unrein und D>. Die D15C m: des Trauernden schicken
Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Untersuchungen. 2. Bd. 183
ihm kein Brot, sondern sie gehen in sein Haus, essen dort mit ihm
und trösten ihn; und zwar ist das Trösten nicht etwas, was sich so
mit dem Senden des p°w:x’> »verbunden hat«, sondern eine Haupt-
sache. — Zum Schluß noch eine sonderbare Exegese von I. Sam. 28
im Kapitel »Totenbeschwörung in Israele. Das Weib, das der König
bei Nacht und Nebel aufsucht, ist eine Betrügerin. Sie macht auf
das Verlangen des Unbekannten hin ihren Hokus pokus, in der Ge-
wißheit, daß der zitierte Geist nicht kommen wird — er kommt
aber doch und über die Erscheinung erschreckt, kreischt sie laut
auf! Nein, sie schreit, weil sie aus den Gebärden Samuels gegen
den Unbekannten den König erkannt hat. Nicht ein besondrer Wil-
lensakt Jahwes hat den Toten gegen das Erwarten des Weibes auf-
geführt, sondern die Zauberei hat ihre Wirkung gethan; v. 15 spricht
ja Samuel deutlich aus, daß ihn Saul (gegen seinen Willen) durch
ihre Zauberkünste hat aufsteigen lassen: fva tf xaonv@yAnods wor
dvaßival we?
Louisendorf (Hessen-Nassau). Frankenberg.
Funk, F. X., Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Unter-
suchungen. Zweiter Band. Paderborn (F. Schöningh); 1899. V und
483 5. 8°,
Der erste Sammelband von ehemals in Zeitschriften verstreuten
Abhandlungen zur Kirchengeschichte, den Funk 1897 veröffentlichte,
ist von mir an dieser Stelle 1898, S. 1—15 besprochen worden; er-
freulicherweise ist ein zweiter, in dem etwa die litterargeschichtlichen
Untersuchungen so bevorzugt erscheinen, wie im ersten die archäo-
logischen, bald gefolgt, und das Urteil wird, da Funk ein fertiger
Mann ist, über die neue Abteilung seiner Sammlungen genau so
lauten, wie über die ältern.
Von den 22 Stücken, die der Band bringt, sind weitaus die
meisten der Theol. Quartalschrift entnommen, und zwar den ver-
schiedensten Jahrgängen von 1871 bis 1898, drei waren in dem Histo-
rischen Jahrbuch 1881 und 1889 zuerst erschienen, eins, m. E. das
wertvollste von allen, (Nr. XV) im Compte rendu des internationalen
katholischen Gelehrtenkongresses von 1897 gedruckt; dies wird aller-
dings bisher wenigen von Funks Mitforschern bekannt gewesen sein.
Wohl nirgends hat F. sich mit einem einfachen Abdruck begnügt,
wenigstens Zusätze und Verbesserungen hat er angebracht, mehrfach
auch eine vollkommene Umarbeitung vorgenommen. Daß er in der
184 Gott. gel, Anz. 1901. Nr. 8.
Revision nicht so weit ging, die lebhaftere Stimmung des Augen-
blicks, in dem die Aufsätze entstanden sind, zu unterdrücken, auch
wo er jetzt eine andere Darstellung bevorzugen würde, weiß ich zu
würdigen, aber gehören Zeitbestimmungen, wie jüngst, in den letz-
ten Jahren, bisher, in der jüngsten Zeit, wie wir sie nun 1899 und
1900 lesen, während sie nur 1876, 81 oder 82 angebracht waren,
mit zu dieser Stimmung? Der Abhandlung über den Verfasser der
Philosophumenen verleiht die breite Aufzählung der einschlägigen
Schriften von 1851—80, die sich S. 163 als Uebersicht über den
Stand der Frage giebt, von vornherein den Charakter des Greisen-
haften; diese Listen hätten vervollständigt werden oder fortbleiben
müssen. Actuelles Interesse hat dies Thema überhaupt kaum noch,
die Abfassung durch Hippolyt unterliegt keinem Zweifel mehr, aber
als einen Beitrag zur neuesten Kirchengeschichte wird man auch
diesen Aufsatz wertschätzen, weil er zeigt wie schwer es hält, in der
Kirche die Anerkennung der Thatsache durchzusetzen, daß ein or-
thodoxer Christ wie Hippolytos um 220 so leidenschaftliche An-
griffe gegen einen römischen Bischof richten konnte, ohne das Ver-
trauen der katholischen Kirche, zu deren Heiligen er bis heute zählt,
zu verlieren. Lediglich gleichen Wert hat Nr. 17 »zu den Ignatius-
Akten<; Funk hatte mit allen Urteilsfähigen das sog. Martyrium
Ignatii Colbertinum für eine spätere Fälschung erklärt und war
darum von einem Luzerner Chorherrn Düret und einem Dr. B. Sepp
angegriffen worden als Helfershelfer protestantischer Hyperkritik,
dabei war der reizende Satz gefallen: »Wir sind zwar weit entfernt,
an irgend jemanden einen Vorwurf um deswillen zu richten, denn
wir befinden uns da nicht auf dogmatischem oder autoritativem Ge-
biete, sondern auf dem Terrain historisch-patristischer Wissenschaft,
wo ein gewisses Maß von Freiheit und objektiver Kritik be-
rechtigt ist. Daß sich Funk gegen die Torheit dieser Angriffe
rechtfertigen muß, nicht wie er es thut, ist das Interessante, und
mit Wehmut habe ich den Schluß seiner Apologie (S. 347) gelesen,
wo er fast laudabiliter se subjiciens, statt für die Ergebnisse objek-
tiver Kritik schlechthin Annahme zu verlangen, eine Duldung für
seine Zweifel erbittet: »Nach den Erörterungen von Düret und Sepp
könnte man glauben, als ob in der Frage keinerlei Zweifel möglich
sei. Die vorstehende Ausführung dürfte zeigen, daß wir von diesem
Ziele noch weit entfernt sind. Im übrigen wird das Dokument in
einigen Kreisen auch fortan als echt sich behaupten, da es, wenn es
seinen späteren Ursprung auch nicht verleugnet, doch durch Schlicht-
heit und Einfachheit vor zahlreichen anderen Akten sich vorteilhaft
auszeichnet. Die Vertreter der entgegengesetzten Auffassung werden
Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Untersuchungen. 2. Bd. 185
dem Umstand Rechnung tragen (?). Man möge aber auch gegen
sie gerecht sein, und wenn sie mit einem Schriftstück sich nicht
zurechtfinden können, das die Kritik so sehr herausfordert, nicht von
Hyperkritik reden«.
Ich will nicht wiederholen , was ich 1898 über die Vorzüge von
Funk als Forscher und Darsteller gesagt habe. Auch die knifflich-
sten Detailuntersuchungen lesen sich bei ihm bequem, nie bleibt man
im Zweifel über seine Meinung, und die Umständlichkeit, die bis-
weilen, wo er besorgt ist dem Gegner vielleicht Unrecht zu thun,
allerdings weitgeht, wird doch nie langweilig. Gewisse Provinzialis-
men wird er sich nicht mehr abgewöhnen, einzelne häßliche Aus-
drücke wie Akoluthat, Exorcistat, Selbstverdemütigung, allenfalsig,
ausziiglich — als Adverb und Adjektiv S. 323 — wären leichter zu
vermeiden gewesen. Stilfehler sind selten; mit gleicher Sorgsamkeit
hat der Verf. seine Feder wie den Druck überwacht, die paar Druck-
fehler, die ich bemerkt habe, verdienen keine Erwähnung, außer
etwa in Citaten, wie wenn S. 50 n. 2 xgocxagrepécers st. -Naeıs,
S. 69 n. 1 Z. 2 peccator st. negotiator, S. 292 m. concinnata st. con-
cinnatum und credis st. credes steht, oder wenn S. 352 Z. 21 vide vor
6 Adyos, S. 271 Z. 16 reydels vor @vduaore, S. 70 n. 3 Z. 2 ettam
Iiberti vel vor propter hoc, S.69 n.1 Z.4 ein , bene vor mthi ausge-
lassen sind. Die Bezeichnung der Citate läßt am ehesten zu wünschen
übrig, ein Hinweis z.B. p. 57 auf Clem. strom. II 18 ist beinahe
unbrauchbar, da cap. 18 ganze 19 Paragraphen umfaßt. Wenn F.
doch manchmal die Seitenzahlen der Potterschen Ausgabe (und übri-
gens auch die §§ziffern, z.B. S. 50 n. 2. 3) beifügt, warum geschieht
das nicht durchweg? Auch Fehler giebt es hier häufiger zu ver-
bessern, schon S. IV Z. 19 1. 112* st. 112, S. 64 n. 4 1. Divin. in-
stit. V 17,32 st. V 18, ebenso 66 n. 3 V 17,10—13 st. V 18,
S. 155 Z. 27 VIII 39 st. VIII 54, S. 341 Z. 34 Philad. 3,1 st. 7,1
und S. 353 Z. 1 1. I Cor. 8,6 st. Rom. 8, 9.
Für Funks gründliche und wahrheitsliebende Hingebung an die
alten Quellenschriften bringt auch dieser Band wieder eine Fülle von
Belegen, nur scheint er mit philologischen Kenntnissen nicht immer
ausreichend gerüstet zu sein, als Uebersetzer ist er mindestens nicht
geschickt. S. 334 Z. 4 wird &xidsıkıs mit »Beweis« wiedergegeben,
genau wie S. 333 Z. 37 Zvdsıfıs, obwohl es sich um verschiedene
Begriffe handelt; wer wird ohne den Grundtext die Stelle 330, 10 ff.
verstehen : >»so daß sie, indem sie den Menschen und das innere
Bild entfernen, nur das AeuGere reinigen und sich selbst wider-
sprechen, indem sie u.s. w.<? S. 253 wird die fundamentale Stelle
bei Basilius de spir. s. XVIII 45 dem Leser nicht klar, teils weil
186 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
ihm der Schlußsatz vorenthalten bleibt: 6 ody gory Evraüda (näm-
lich in dem angeführten Bilde oder Gleichnis) wıuntixös 9% elxav, toüro
éxeét (nämlich im metaphysischen Verhältnis zwischen den Personen
der Trinität) mveixas 6 vids, teils weil im Hauptpunkte der Ueber-
setzer fehlgreift. Basilius will veranschaulichen, daß sic xal eis
(Vater und Sohn) da sein können und doch nicht dvo Heol. »orı
Bacıleds Asysraı xal 1 tod Pacılens elxcov xal ov dvo Bactdetcc.
Nach Funk: »Weil man auch König sagt und Bild des Königs«, in
Wahrheit: Weil man König auch das Bild des Königs nennt, ohne
daß es deshalb 2 Könige gäbe. Und wenn gleich darauf Funk otro
xual 7) ap’ judy dokodoyla uta wiedergiebt, >so ist auch die bei uns
übliche Doxologie eine<, so macht er mindestens den Leser ver-
gessen, daß wir uns hiermit noch im Gleichnis befinden, die zag’
nua Ödo&oAoyie unsere Ehrenbezeugungen vor dem Kaiserbild be-
deutet wie vorher 7 xgatotea judy Key xal n Ekovaia die über uns
verfügende kaiserliche Gewalt. Und gewiß legt die Stelle kein Zeug-
nis für die Bilderverehrung im 4. Jahrhundert ab, aber als solches
haben sie auch die Alten größtenteils nicht verwendet; daß der Ge-
danke außerordentlich geeignet war, die kirchliche Doxologie der
Heiligen- und Christusbilder zu rechtfertigen, kann Niemand läugnen.
Seltsam ist S. 53 die Wiedergabe von Clem. strom. VII 12, 70 udvov
yoöv Eavrod xnödusvos (der Unverheirathete) „rräraı zepös tov
dAmoAsı vonEvov uty xara thy Eavrod Smryolav, wepirrsdovrog dé
Ev th xara tov Blov olxovoule: »daernur für sich allein zu sor-
gen hat (vielmehr »sorgt«), so wird er weniger gestört in der Sorge
für sein eigenes Heil, jener aber überragt ihn durch seine Stellung
im Leben<«. Von den Schlußworten des Satzes, die F. sich wohl zu
übersetzen scheute, erfährt man gar nichts: eixdva areyvag owfovtos
dAiyny ti tis dAndeiag noovoie. 8.56 findet xoıvovi« (neben werd-
docıs) in Funks »Geselligkeit« doch ein etwas mehr als modernes
Aequivalent, S. 57 aber ist es sicher falsch, wenn F. Clem. strom.
II 18,84 #sbo yao 6 xrlorng tordgde ydpırog (nämlich mit offe-
nen Händen an die Bedürftigen auszuteilen), dn d& 5 weradorıxös
xal téxovg dEioAdyovs Aaupdver td tipiorata tay Ev dvPedxors,
hucodtnra, yonordéryra deutet: »denn Gott hat solchen Erweis der
Liebe befohlen. Auch ermangelt der Wohlthätige nicht bemer-
kenswerter Zinsen, er empfängt, was die Menschen am höch-
sten schätzen, Sanftmut, Rechtschaffenheit etc. Von der
naiven Folgerung, die F. aus jenen Worten zieht, Clemens verbiete
den Zins nicht schlechthin, will ich schweigen, aber den @ed¢ 6 xti-
orng hätte er als den Gott, der die Reichtümer dieser Welt ge-
schaffen hat zum Zweck guter Verwendung, erkennen müssen,
Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Untersuchungen. 2. Bd. 187
und das Kostbarste, was man unter Menschen, d.h. auf Erden —
beachte 4d7 ö& — haben kann, ist leider nie das gewesen, was >die<
Menschen am höchsten schätzen. S. 64 schiebt F. seine Vorstellun-
gen dem Lactanz unter, wenn er dessen Verbot, aurum parvo emere,
deutet, der Käufer solle nicht etwa Gold als unedles Metall in Em-
pfang nehmen, aurum parvo heißt: Kostbarkeiten für Schleuder-
preise. S. 297 soll nach F. Eunomios in seinem Apologeticus mit
den Worten c. 27 tovray dé ndvrov sdxgivads wiv xal xdariregoy
Ev Er£poıs july dnodedsıyucvov, év Boayst O& viv (hier setzt F. ganz
verkehrt ein Komma) zed¢ tuds duodoynpévay evysuefa durchaus
nur auf den ersten ausführlichen Teil des Apolog. c. 1—25 hin-
weisen, wie der kürzere c. 26 ja anhebe: ’444’ iva un to prjxer tadv
Adyav Anoxvnonusv tovs dxovovras, näcav Ev Boayzet tov Onter-
tay nepiAaßövres tiv Övvaulv pausv;, die Geschichte berichte nichts
von einer bedeutenden früberen litterarischen Thätigkeit des Euno-
mios! Trotzdem Funk für seine Auffassung J. Garnier ins Feld füh-
ren kann, bleiben hier J. A. Fabricius und auch einmal J. Dräseke
im Recht, die a.a.O. einen Hinweis auf ältere Schriften des Euno-
mios mit eingehender Behandlung der einschlägigen theologischen
Fragen finden. Die öwoAoyi«, von der c. 27 als einer gegenwärtigen
(viv) die Rede ist, ist im Grunde bereits vollendet (@uoAoy.); als
öuoAoyia giebt sich aber der Apolog. von Anfang an, nicht als éxd-
devEig vgl. c. 1: @idmuev... eis tuts exPéofar rig Eavraov ÖdEng
tiv Önokoyiav, mit dem iva un vo unxeı etc. c. 26 erinnert sich der
Verfasser blos lebhaft an seine Pflicht, sich kurz zu fassen, ganz wie
er es schon c. 4 gethan hatte: dAA tye ye un tovzoıg éxl nAclov
Evösarpißovres xéga tod pétgov unxvvapev toy Adyov, Ex’ adriy
dn tospaueta tig alérems thy duodoytay; sein Temperament zog
ihn eben immer wider seinen Willen vom Bekennen zum Beweisen
(darum auch c. 9 xara tiv ngoAaßovcev drodsıkıv) hinüber, aber es
war das wider seinen Vorsatz; als edxgıvös und wiarvregoy geführten
Beweis kann er, der c. 4 geschrieben hatte, diesen öwodoyie-Auf-
satz nicht tituliert haben.
Fast noch erstaunlicher ist mir, daß S. 295f. Funk sich von
J. Garniers Exegese nicht trennen kann, wo es doch nicht erst der
Einwände Dräsekes bedurft hätte, um den richtigen Weg zu zeigen.
Ps.-Basil. adv. Eunom. IV 1 (p. 287C) steht: uovöxtiorog xvgıo-
tégov ay Atyoıro, xrloua wry dAndüs xar’ Ebvduov Gy, yEvvnua dd
pevdaviuas xadovuevos. Da soll der Verf. dem Eunomios die
Lehre zuschreiben, der einzig wahre Name für den Sohn sei xr/aue,
yevynuc sei ein ihm nicht gebührender Titel. Auch wenn wir nicht
aus dem Munde des Eunomios das Bekenntnis zu Christus als yev-
188 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
vnue besäßen, würde ich diese Auslegung verwerfen, das wevdavi-
pao giebt sich ebenso wie dAndög als Urteil des Verfassers über die
eunomianischen Theologen, und die zweite Satzhälfte ist der ersten
logisch subordiniert: bei Eunomios ist in Wahrheit der Sohn nur
xtioun, wenn er auch mit falschem Namen yevvnua genannt wird.
Nur dann paßt die Folgerung zu dem Vordersatz: ef wovoyerns 6
vids dia tb ubvog Ex uovov yeyevvijefa:, dies ist ein arianischer
Satz, den es aus seinen Consequenzen zu widerlegen gilt. Wenn Ihr
Euch den povoyservys, weil ihn die Schrift bezeugt, gefallen laßt und
ihn zu einem primus inter pares degradiert durch die Näherbestim-
mung, er sei eben uovog &x udvov gezeugt wurden, so verlange ich
der Ehrlichkeit wegen von Euch den Verzicht auf jenes Prädikat;
nur wovöxtıorog darf er Euch heißen, weil er trotz aller Accommo-
dation an orthodoxe Formeln bei Eurem Eunomios eben nur xtiopa
ist. Noch eben hatte Ps.-Basil. (286 D) den Satz der Gegner yé»-
vnua 6 vlds mg Ev tdy ysvvnudıov, näv ÖE yEevvnua xrioun
(vgl. 286 E »tadröv xrikev xal yevväv roy Sedov) angegriffen, jetzt
sollte er mit dem yévynua xaAsioheı plötzlich sich angegriffen füh-
len? Nein, über den Namen yevvnu« für Christus ist er mit seinen
arianischen Gegnern einig, er versteht nur darunter etwas Einzig-
artiges, während er für jene eins von Vielen ist; da sie yevvnu«
und xtisu@ gleichsetzen , beschuldigt er sie eines fälschlichen Ge-
brauchs des Ehrentitels yevvnua.
Doch ich will nicht über der Debatte um einzelne Stellen ver-
gessen, Bericht über den reichen Inhalt des Buches zu erstatten.
Nur die 3 letzten Aufsätze behandeln Fragen aus der mittleren und
neueren Kirchengeschichte, XX und XXI eng zusammen gehörig;
»Gerson und Gersen<« und >der Verfasser der Nachfolge Christi<
führen in Uebereinstimmung mit der großen Mehrheit der deutschen
Gelehrten unter Ablehnung von windigen Einfällen und Hypothesen,
soweit möglich, den Beweis, daß das Buch de imitatione Christi erst
im 15. Jahrh. und von Thomas a Kempis verfaßt worden. N. XXII
»Zur Galilei-Frage< ist zur Orientierung vorzüglich geeignet ; in wür-
diger Form räumt F. die von der kirchlichen Indexkommission im
Proceß Galileis begangenen Fehler ein und warnt vor dem anmaß-
lichen Hineinziehen der göttlichen Vorsehung bei Erklärung mensch-
licher Irrungen und Leidenschaften.
N. I bis XIX sind der alten Kirchengeschichte gewidmet. I bis
III ursprünglich akademische Reden, über Constantin d. Großen und
das Christentum, Johannes Chrysostomus und den Hof von Constan-
tinopel, Clemens von Alexandrien über Familie und Eigentum. Nach
Form und Inhalt scheint mir N. II die hervorragendste; es verdient
Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Untersuchungen. 2. Bd. 189
Erwähnung, daß auch F. (S. 37 n. 1) die Worte: »Wiederum rast
Herodias< , obschon die mit diesem Anfang überlieferte Homilie ein
späteres Machwerk sein dürfte, von Chrysost. unvorsichtigerweise ge-
sprochen glaubt. In Nr. I tritt F. mit treffenden Gründen denen
entgegen, die Constantins Hinwendung zum Christentum lediglich
aus staatsmännischer Berechnung ableiten, aber von dem persönlichen
Christentum dieses Kaisers bekomme ich auch durch F. keine glän-
zende Vorstellung, vollends daß ihm wohl mehr als irgend einem
der Ruhmestitel des Großen gebühren soll, bleibt eine, zwar durch
Dankbarkeit einer Kirche entschuldigte, Uebertreibung. In Nr. III
macht sich die kirchliche Befangenheit des Verfassers aber doch
peinlicher bemerkbar. »Der göttliche Stifter des Christentums<
strug über die geschlechtlichen Verhältnisse überhaupt eine Lehre
von solcher Reinheit und Erhabenheit vor, daß sie zu dem, was das
Heidentum in dieser Beziehung dachte und that, den denkbar größ-
ten Kontrast bildet« (S. 46) — wo mag wohl Jesus diese Lehre
vorgetragen haben? Auch weiß ich nicht, wo der »Stifter« die
Liebe zum Menschen als solchen ein neues Gesetz genannt haben
soll, doch nicht Joh. 13, 34 f.? Bei Clemens bemüht sich F. redlich
den verschiedenen Tendenzen des Mannes gerecht zu werden, und
er zwingt nicht etwa entgegengesetzte Aussprüche gewaltsam in eine
Einheit, aber er findet, zumal bei der Ehe, nicht das entscheidende
_ Wort: die Anschauungen des Kirchenvaters über Ehe und Familie
hängen ab von denen über die Geschlechtslust — freilich eigneten sich
diese nicht zum Thema einer akademischen Rede.
Nr. IV »Handel und Gewerbe im christlichen Altertum< ist eine
interessante Skizze, die sich leicht erweitern ließe, die Untersuchungen
Nr. V und VI über die Zeit des Barnabasbriefs und über die Di-
dache, ihre Zeit und ihr Verhältnis zu den verwandten Schriften ent-
halten wenig Neues; Aehnliches gilt von Nr. XI >die Schrift adv.
aleatores« und Nr. VIII >die Zeit des Wahren Wortes von Celsus«,
wo man aber gern die besonnene Feststellung des Wahrscheinlichen
durch Funk wiederum verfolgen wird. Von Nr. IX, XIII und XVII
war oben die Rede. Nr. VII Zur Chronologie Tatians bringt noch
immer nicht genügend gewürdigte Gesichtspunkte bei; mich erfreut
insbesondere die Ablehnung der Hypothese, wonach Justins 2. Apo-
logie in Wahrheit nur ein Nachtrag oder gar blos der Schlußteil
der ersten, einzigen sein soll S. 143. Die Frage, ob Tatian sein
Diatessaron nur als Häretiker oder als Mitglied der Großkirche habe
schreiben können, darf gar nicht gestellt werden; sollte ein Austritt
Tatians aus der Kirche (S. 151) je stattgefunden haben ?
Nr. X »Die Pfaffschen Irenaeus-Fragmente< ist eine recht dan-
190 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
kenswerte Arbeit; Funk findet die Argumente gegen die Echtheit jener
berühmten 4 von dem späteren Tübinger Kanzler Pfaff angeblich in
Turiner Catenenhandschriften gefundenen und 1715 veröffentlichten
Fragmente aus verlorenen Schriften des Irenaeus überwiegend, meint
aber über jedes von ihnen eine besondere Untersuchung anstellen zu
sollen; beim wichtigsten 2ten muß er die Unechtheit bestimmt be-
haupten, beim Isten und 3ten spricht er minder energisch als er es
durfte, obwohl die ay:@tdty zistıs dort und die Klage über die
aus Anlaß von Ceremonien entstandenen Kämpfe und Spaltungen hier
ihn bedenklich machen, nur gegen das 4te hat er nichts einzuwenden.
Sein Schlußurteil: >»im ganzen steht es mit der Echtheit nicht gün-
stig<, ist aber wohlbegriindet, und wenn Funk (S. 204) noch »weit
entfernt ist, bei Pfaff an eine Fälschung zu denken<, so wird er um so
gespannter auf Harnacks demnächst bevorstehende Untersuchung war-
ten, der laut Sitzungsber. d. Akd. d. Wiss. zu Berlin 1899 p. 880
n. 1 Pfaffs Fragmente als dessen Fälschung erweisen will’).
Mit Funks Resultaten in Nr. XII »die apostolische Kirchen-
ordnung kann ich mich im Wesentlichen einverstanden erklären,
sie ist nach ihm wohl nicht vor 340 compiliert worden, möglicher-
weise doch in Syrien. Das éméyew (TE nAnde tov dyyeiov) kann
zwar gewiß nicht mit Harnack als darreichen (sc. die Schalen) ge-
faßt werden, aber doch auch nicht mit Funk S. 242 einfach als vor-
stehen. Es heißt wie sonst öfters beobachten, beaufsichtigen, wie in
der Anwendung auf die Laien ein xgovosiodh« tod xAjPovg Sams
edoradrjon xal dd6pvßov 7 ihm entspricht. Die Presbyter zur Lin-
ken will nun F. als Diakonen verstehen, weil ihnen eine Aufgabe
zugewiesen werde, die sonst die Diakonen zu verrichten hätten. In-
deß in dieser Kirchenordnung haben die Diakonen c. 20 den Wan-
del der Gläubigen zu überwachen, für die Ordnung beim Gottes-
dienst sorgen die & dgroteg@v ngeoßvregoı: ebenso wie ihre Func-
tionen unterscheiden sich die an sie gestellten Ansprüche — dort
aNEYOMEVOYS TIS QOS yuvaixag Ovvelcvoews, hier uovdyauor, TEXVo-
todpoı. Ganz dunkel ist mir, wie F. sich die Begründung der For-
derung: nicht 2, sondern 3 Presbyter, durch die 2mal 12 Presbyter
der Apokalypse denkt. Wenn das rgeis c. 17 echt ist, wofür schon
die Parallele c. 20. 21 spricht, so kann die Apokalypsenstelle wohl
nur herangezogen worden Sein, um eine Mehrzahl von Presbytern
auf jeder Seite des Bischofs als notwendig erscheinen zu lassen.
Die autoritative Macht ihres einstimmigen Handelns in einem disci-
1) Diese Untersuchung ist inzwischen (Texte und Unters. z. Gesch. d. alt-
christl. Literatur N.F. V 3 1900) erschienen und dürfte jeden Zweifel an der
Fälschung beseitigt haben.
Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Untersuchungen. 2. Bd. 191
plinaren Fall — 1d &v xowjoavreg ol éxl tH Bvoveorynoim dv tol-
odrov wera long Bovis ... Oixacaetwoay — wächst durch die Exi-
stenz eines Collegiums; zu einem solchen sind mindestens 3 Köpfe
erforderlich. Also nicht der erste Satz hinter @AA& roeis, der auf
die Apokalypse verweist, enthält die Begründung, sondern aus die-
sem apokalyptischen Stück werden die verschiedenen Functionen der
xosoBuregoe abgeleitet und zur Ausübung dieser Functionen in Not-
fällen die Existenz eines mehrgliedrigen Collegiums als erforderlich
bewiesen: folglich kommt man mit 2 Presbytern nicht aus. Ein so
künstlicher Zusammenhang ist aber nur verständlich, wenn ver-
schiedene Quellen zusammengearbeitet wurden.
In Nr. XIX tritt F. wiederum zu Gunsten seiner Datierung der
Apostolischen Constitutionen auf. c. 400 oder noch etwas später ein;
ich habe wie früher das Gefühl, daß er etwas zu sicher auftritt,
wenn auch die Zeit um 400 mehr für sich hat als 350 oder ein
noch friiheres Datum. Unter den irgendwie den Apollinarismus be-
rührenden Abhandlungen XIV—XVI und XVIII scheint mir nur die
letzte, diese aber auch vollständig, misglückt zu sein. F. will durch-
aus den Fälscher der Ignatianen zu einem Apollinaristen stempeln.
Das eine ßanrritsv ... eis tosis Öuoriuovg Phil. 2 entscheidet ihm
alles, denn öudrıuos habe kein Arianer je gebraucht oder brauchen
können, es sei das Aequivalent für öwoova.os und, wie er mit reich-
lichen Belegen darthut, ein im 4. und 5. Jahrhundert allenthalben
bekanntes dogmatisches Schlagwort der Nicäner. Nun gehören aber
die Belegstellen alle dem Ende des 4. oder dem 5. Jahrh. an, sie
beweisen nicht, daß öudrıuos von jeher Stichwort der Orthodoxen
war. Warum ein Arianer, zumal ein halber wie Pseudoignatius,
nicht Vater, Sohn und Geist als öudrıuo:, d.h. gleicher Ehre teil-
haftig, in gleichem Maß Gegenstände unsrer Anbetung, hätte be-
zeichnen können, ist nicht abzusehen. Daß es bei Antinicänern
nicht ein einziges Mal gebraucht wird, bedeutet wenig, da die Litte-
ratur der Antinicäner, vor allem die semiarianische, nahezu völlig
verloren gegangen ist. Und dies entscheidende Schlagwort sollte der
Apollinarist nur ein Mal, trotzdem er so oft Gelegenheit hatte, es
anzubringen, verwendet haben, das gleichbedeutende duoovcrog kein-
mal? Das Richtige ist doch wohl, das Hauptinteresse des Autors bei
seinen massenhaften trinitarischen Kundgebungen festzustellen, dies
aber ist durchweg die Betonung der Differenz zwischen Vater und
Sohn, der ézegoy7j des Vaters; läßt er doch Christum Phil. 12 sel-
ber bekennen: 00x eiuı dvrideos, dpoloyd tiv bxegoyyy. Auch die
Nachweise, daß ein Nicäner, ein Apollinarist vom Vater 6 udvog &Ay-
Hıvds aussagen durfte, nutzen nichts, da doch Phil. 7 eine Teufelei
192 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
darin erblickt, wenn Jemand den vom Vater gesandten Christus mit
dem éxl xdvrmv Beds, 6 Hv, 6 Xavroxpdrop verwechselt, oder
ein yeyevvjodeı: von dem dy&vvnros — das ist ihm also das Cen-
trale im Gottesbegriff — aussagt, wenn er Christum old« roy Eva,
Exioraueı toy udvov Phil. 12 ausrufen läßt, und ihm ein yropy
oder égovove eines Anderen eixeıw Phil. 7 zuschiebt. Daß er Phil. 5
Christum auch den Herrn der Herrlichkeit, roy ty pice ärgexrov
tituliert, ist kein Gegenbeweis, denn das soll nur die Unmöglichkeit
einer xagevoude bei ihm darthun, ein Blick auf das diabolische xa-
xitsıv thy pvow tig xagPevov und ry pvow adr draBdddew ds
uvaspdv: téte ylveras aloyedy te Stay xagavouia OuvxavOy, von Na-
tur ist alles sehr gut und Christus ist eben nichts anders geworden
als er von Natur war. — Phil. 5 nennt Ps.-Ign. Christum auch rd»
dvdpwrivnv pvyhy odx Eyovre. Apollinarios hat dem Gottmenschen
aber nicht die menschliche Seele, sondern nur den menschlichen voöc
abgesprochen. F. behilft sich damit, andere Apollinaristen könnten
die dichotomische Auffassung des Menschenwesens bevorzugt haben,
und die Arianer hätten die menschliche Seele Christo nicht abge-
sprochen, um seine Sündlosigkeit zu erklären, sondern laut Theodo-
ret, ive raven (scil. der Hedrng) ta ransınva xal tov Imudeov xal
tay xoaypdtayv xgooeyworv. Also solche verleumderischen Unter-
stellungen eines erbitterten Gegners sind maßgebend für unsere Be-
urteilung der Motive bei den Arianern? Fast noch übler fährt F.
bei Smyrn. 4, 2, wo er die Unterdrückung des reAsıos &vdpwzog
durch Ps.-Ignat. als Beleg für den Apollinarismus faßt und gegen-
über Duchesne, der ihn daran erinnert, daß Apollinaristen wohl mit
diesem Terminus hätten fertig werden können, nur ein Arianer nicht,
behauptet, im physischen Sinne könnten weder Apollinaristen noch
Arianer den Ausdruck gebrauchen, aber im ethischen Sinne habe ihn
Apollinarios gebraucht (xatd pégog rlarıs): tédevov xal &yıov xal dv-
audprntov Ävdomnov Ovvıorag Eavröv, und so habe auch ein Arianer
sprechen dürfen; daß wir keinen Beleg in ihren Schriften dafür fän-
den, sei ein Zufall. Aber zum Unglück für F. hat er S. 334 uns
belehrt, daß die Apollinaristen wohl von einem vollkommenen Men-
schen in Christus redeten, indem sie die Vollkommenheit dadurch
entstehen ließen, daß an der Stelle des menschlichen Geistes der
Logos mit dem menschlichen Fleisch und der menschlichen Seele
sich verband, und als Beleg die eben erwähnte Stelle aus xara pégos
zlorıs angeführt, die er S. 355 von dem ethisch vollkommenen
Menschen deutet. In Wahrheit zwingt uns der Zusammenhang, bei
Apollinarios den reAsıos &vdgwnog im physischen oder logischen
Sinne zu nehmen, somit ist für Meister und Jünger dieser Partei
Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlnngen und Untersuchungen. 2. Bd. 198
erwiesen, daß sie keine Bedenken trugen, in Christus den vollkom-
menen Menschen zu verehren; hat Pseudo-Ign. an diesem Ausdruck
Anstoß genommen und ihn aus seiner Vorlage weggestrichen, so hat
er da nicht als Apollinarist gehandelt.
Auf ein einziges nicänisch klingendes Öudrıuos neben zahllosen
arianisierenden Wendungen die Hypothese von der nicänischen Partei-
stellung des Verf. zu gründen, ist doch mehr als unvorsichtig ; selbst
wenn duooverog dort stünde, was nachweisbar ein Schlagwort der
Orthodoxie schon vor 350 gewesen ist, würde man vielmehr bei sol-
chem Thatbestand eine spätere Emendation anzunehmen haben, es
konnte ursprünglich dagestanden haben eis reeis Öumvvuovg — dies
mit Rücksicht auf den Singularis Baxtifew eis Td dvoue Tod xareds
xat tod viow etc. —, aber dem Herrn der Herrlichkeit, dem Adyos
eds durfte ein Semiarianer auch die gleiche teu wie dem Vater
zusprechen.
Mehr Zustimmung verdient Funks Standpunkt in der Frage nach
den dem Gregorius Thaumaturgus zugeschriebenen zwölf Kapiteln
über den Glauben (Nr. XVI). Dräsekes Vorschlag, diese Kapitel mit
dem Glaubensbekenntnis des Apollinaristen Vitalis, von dem wir durch
Gregor von Nazianz wissen, zu identificieren, wird m. E. zutreffend
zurückgewiesen, S. 332 das Bedenkliche in Dräsekes Beweisverfahren
gut gekennzeichnet, und Spuren antinestorianischer Tendenz, die das
Schriftstück in die Zeit um 450 herabdrücken würde, hat F. ein-
leuchtend aufgezeigt. Keinenfalls sind diese Anathematismen das
Glaubensbekenntnis, das Vitalis einreichte, gewesen ; daß aber die
Cap. 10 und 11 von einem Apollinaristen überhaupt nicht — ohne
Hintergedanken ja natürlich nicht! — hätten geschrieben werden
können, wage ich nicht so bestimmt wie F. zu behaupten.
Unbedingte Annahme erhoffe ich für die Ergebnisse von Funks
Forschung in Nr. XIV. Dräseke hatte die kürzere Fassung der
pseudojustinischen expositio rectae fidei in die Hinterlassenschaft des
Apollinarios einreihen wollen; in musterhafter Darlegung beweist F.
die Haltlosigkeit dieser Hypothese, schon der eine Punkt würde ent-
scheiden, daß der Anonymus für die dvo mvoes schwärmt, während für
Apollinarios das Gegenteil feststeht. Weiter aber zeigt F. noch, daß
der kürzere Text jener expositio unmöglich der ursprüngliche sein
kann, er ist nur ein ungeschickter Auszug aus dem längeren, und
den letzteren wird Niemand mit Apoll. in Verbindung bringen. Drä-
seke hat verkündigt, er werde sich an der Untersuchung nicht wei-
ter beteiligen. Ich bin wie Funk der Meinung, daß es dessen auch
nicht bedarf, denn diese Angelegenheit ist durch Funks Abhandlung
erledigt.
Gott. gel. Ans, 1901. Nr. 8. 14
194 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
Von hervorragendem Wert für die Patristik und für die Dogmen-
geschichte ist endlich Nr. XV »die zwei letzten Bücher der Schrift
Basilius des Großen gegen Eunomius<. Von den 5 Büchern adv. Eu-
nomium, die unter dem Namen des Basilius umgingen, hatte man
längst die beiden letzten mehr oder minder entschieden dem Basilius
aberkannt, Dräseke hatte auch sie seinem Apollinarios, der ja als
Verfasser einer antieunomianischen Schrift bezeugt ist, gutgeschrieben.
F. beginnt nun damit, die Mängel in Dräsekes Argumentation und
die Unhaltbarkeit seiner Ergebnisse aufzuzeigen, dann aber geht er
dazu über, die nahen Beziehungen der fraglichen Bücher zu Schrif-
ten des Didymos, der ebenfalls litterarische Fehde mit Eunomius
und den andern Häretikern geführt hat, aufzudecken; er will indeß
den Text der beiden Bücher nicht schlechthin mit einem von Didy-
mos herausgegebenen gleichsetzen, der Charakter des Excerpts sei
stellenweise unverkennbar. Interessant ist sein Nachweis, daß im
7. Jahrh. die Bücher bereits den Namen des Basilius trugen, sehr
ansprechend seine Vermutung, daß die Umnennung (vielleicht auch
zugleich die Verkürzung) im Zusammenhang mit den origenistischen
Kämpfen um 553 stattgefunden hat.
Der zweite Teil dieser Arbeit S. 310-329 kann geradezu als
Muster einer litterargeschichtlichen Untersuchung bezeichnet werden
in der Reichhaltigkeit des beigebrachten Materials, der durchsichti-
gen, ruhigen Art des Fortschreitens und in der Vorsicht des ab-
wägenden Urteils; bisweilen erscheint F. fast zu ängstlich darauf
bedacht, alle Möglichkeiten, alle denkbaren Einwände gegen seine
Thesen in Betracht zu ziehen. Die wörtlichen Uebereinstimmungen
zwischen Didymos und Buch IV u. V adv. Eunom. sind so zahlreich und
so weitgehend, daß ein ganz naher Zusammenhang, entweder Gleich-
heit des Verfassers oder grobe Ausplünderung des Didymos durch
einen Unbekannten außer allem Zweifel steht, Apollinarios ist für im-
mer abgethan. Funk hat sich gleichwohl der Mühe unterzogen, von
S. 295—310 die Argumente Dräsekes für seine Apollinarios-Hypothese
im Einzelnen erst noch zu widerlegen. So sehr ich ihm auch da in der
Hauptsache beistimme, scheint mir dieser Teil des Aufsatzes doch
nicht so hervorragend wie der zweite. Daß F. bei Punkt 1 und 2
falsch exegesiert, wurde schon besprochen, bei 4—6 wäre ein ge-
naueres Eingehen auf die Dinge sehr erwünscht gewesen; daß F.
über das Vorkommen von termini wie Heoıs = viodesdia, viodereichn:,
éxxouxy und vollends yevvnua in den trinitarischen Erörterungen
des 4. (und 5.) Jahrhunderts so wenig, wie auf S. 299 und 301 steht,
zu sagen weiß, lehrt uns, wie viel in der Dogmengeschichte noch zu
thun übrig geblieben, welche Verdienste sich da fleißige Sammler
Funk, Kirchengeschichtliche Abhandlungen und Untersuchungen. 2. Bd. 195
erwerben könnten. S. 300 hätte F. nicht blos constatieren sollen,
daß Dräseke Zeitschr. f. Kirchengesch. XI S. 48—51 wohl eine Kritik
einiger Gründe bietet, mit denen Garnier seine These weiter er-
härtet, daß diese aber, soweit sie auf Apollinarios gehe, einer größeren
Bedeutung entbehre, sondern er hätte die Verkehrtheit der dort von
Dräseke pathetisch — >so erlaube ich mir zu erklären< — aber
recht wenig sachverständig vorgenommenen Exegese beleuchten sol-
len. Wenn Dräseke bei 306A noch ‘etwas von 304D gewußt hätte,
würde er wohl auf sein Fündlein verzichtet, insbesondere nicht
Psalm 32, 6, wo nur von xvgcog und zveüue die Rede ist, als Schrift-
beleg für das ovvdotatesd«ı des Geistes mit Vater und Sohn procla-
miert haben. Auch bei 7 und 8 fände man gern durch Beispiele
die richtige Behauptung belegt, daß, was Dräseke als Beweise für Ab-
fassung durch Apollinarios anbringt, weil es dort Parallelen hat, ebenso
bei anderen Nicänern vorkommt. Wer die von Funk mitgeteilten
Didymus-Parallelen mit den von Dräseke zusammengesuchten Apolli-
narios-Parallelen vergleicht, wird freilich den Unterschied zwischen
dem bedeutsamen und dem nichts beweisenden consensus handgreif-
lich finden. Am wertvollsten in diesem polemischen Theil von Funks
Abhandlung erscheint mir der Schluß, in dem er klarstellt, daß jene
beiden pseudobasilianischen Bücher gar keine Streitschrift gegen
Eunomius und keine Antwort auf dessen Apologeticus sind, sondern
allgemein die Arianer widerlegen und das orthodoxe Trinitätsdogma
rechtfertigen sollen, daß Eunomius in ihnen nur gelegentlich erwähnt
wird, übrigens als eine schon allgemein bekannte Persönlichkeit, und
daß sowohl deshalb wie wegen der ziemlich fortgeschrittenen Lehre
vom h. Geist in diesem Stücke sich ihre Ansetzung vor 375 schwer-
lich halten läßt.
Für die dringend notwendige Erledigung der Aufgabe, die Ueber-
reste von den Werken des Laodiceners zu sammeln und zu sich-
ten, und auf Grund dieser und der später noch aus den Kreisen
seiner Anhänger hervorgegangenen Litteratur seine Ideen darzu-
stellen und ihre Geschichte zu verfolgen, liefern Funks gediegene
Untersuchungen wertvolle Beiträge; sie enthalten auch sonst genug
des Guten, das nicht so rasch, wie es Zeitschriften-Artikeln gewöhn-
lich ergeht, vergessen werden sollte.
Marburg, im Februar 1900. A. Jülicher.
14*
196 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
Wiegand, Joh, Das altchristliche Hauptportal an der Kirche der
hl. Sabina. Trier 1900. Verlag der Paulinus-Druckerei. 145 S. 21 photo-
typische Tafeln und 6 Textillustrationen.
Während Mgr. de Waal in Rom die Sonderpublikation des
Bassus-Sarkophags vorbereitete, über die im I. Heft berichtet worden
ist, hat einer der jungen Gelehrten, die derzeit in dem von de Waal
geleiteten Collegium Pium Campi Sancti weilten, sich ein anderes
frühchristliches Werk zur Behandlung ausersehen, das an Bedeu-
tung jenem Sarkophage keineswegs nachsteht. Die Holzthür der
Kirche S. Sabina auf dem Aventin ist zwar nicht wie der in den
Grotten von S. Peter verborgene Sarkophag den Blicken der Rom-
fahrer entzogen, aber eine genaue Betrachtung der Einzelheiten an
der über 5m hohen Thür ist dem Untenstehenden unmöglich. W.
hat mit Hülfe von Leitern die Reliefs äußerst sorgfältig untersucht
und auch die photographische Aufnahme überwacht, wobei dafür
gesorgt worden ist, daß die Reliefs von drei Seiten künstlich be-
lichtet wurden, um allzutiefe störende Schatten zu vermeiden. In
Folge dessen geben die phototypischen Tafeln ein sehr deutliches
klares Bild des Originals. Eine Doppeltafel bietet zunächst eine
Gesamtansicht der Thür von der Vorderseite, die folgende Tafel
zeigt die verschiedenen Kerbschnitzmuster der Holzplatten, die auf
der Innenseite der Thür den Rücken der Reliefplatten decken, 18
weitere Tafeln enthalten je ein Relief. Ursprünglich besaß die Thür
12 hohe Reliefs, die eine Ausdehnung von ungefähr 80 >< 35cm
haben, und 16 niedrigere, die nur etwa 25cm hoch sind’), aber von
jenen Reliefs sind nur 8, von diesen nur 10 erhalten.
W.s Abbildungen zusammen mit seinen musterhaft exakten Be-
schreibungen, die auch über ergänzte Teile genaue Auskunft geben,
bilden eine feste und sichere Grundlage für die Erklärung und
kunsthistorische Verwertung des Monuments. Die Deutung einer
der kleinen Platten war bisher sehr schwankend gewesen. Die einen
haben darin die Verklärung gesehen, andere die auf Sarkophagen
oft wiederholte Szene, da Christus dem Petrus das Gesetz einhändigt;
1) Der Wechsel hoher und niedriger Platten, der von Strzygowski (Jahr-
buch der Kgl. Preuss. Kunstsamml. XIV 1893 p. 63) als ein Merkmal byzan-
tinischer Thüren hingestellt wurde, dürfte eine uralte Erfindung der Holztechnik
sein, die frühzeitig dazu führen mußte, Platten, in denen die Fasern vertical
laufen, einzufügen in solche mit horizontal laufenden Fasern. Auch an der Thür
von S. Sabina, obwohl hier die Reliefplatten in Rahmen eingespannt sind, zeigen
die hohen Platten verticale, die niedrigen horizontale Faserung.
Wiegand, Das altchristliche Hauptportal an der Kirche der hl. Sabina. 197
wieder andere nahmen an, daß das Relief Christus und die zwei
Jünger auf dem Wege nach Emaus darstelle, aber auch als Daniel
zwischen den beiden Aeltesten sind die drei Figuren erklärt worden.
Ausschlaggebend ist ein rundlicher Gegenstand in der Hand der
Mittelfigur, der früher unbeachtet blieb oder falsch aufgefaßt wurde.
Er kann, wie W. richtig gesehen hat, nur ein Brot sein und deshalb
haben wir in dem Relief die Begegnung des Auferstandenen mit
den beiden wandernden Jüngern zu erkennen, wobei das Brot pro-
leptisch in die Hand Christi gelegt ist.
Nur bei zwei Reliefs bleibt auch nach W.s Behandlung noch
für Zweifel Raum. Das eine derselben habe ich in meiner Be-
sprechung des Codex Rossanensis (GGA. 1900 p. 416) angeführt als
Beispiel der Compositionen, die ihre Figuren, die auf einem Niveau
zu denken sind, auf mehrere über einander liegende Streifen ver-
teilen. Im obersten Streifen des Thürreliefs sehen wir ein Haus
mit Giebeldach, in dessen Mitte sich ein mit Edelsteinen besetztes
Kreuz erhebt. Im Hintergrunde ragen zwei Türme über das Haus
empor. Vor dem oftenen Eingang, dessen Velum gerefft an den
Seitenpfosten angebunden ist, steht ein bärtiger Mann in Beamten-
tracht. Er trägt eine kurze gegürtete Aermeltunica, hohe Stiefel
und die Chlamys, den auf der r. Schulter zusammengehaltenen
Mantel. Beide Hände streckt er in Elienbogenhöhe seitwärts aus,
die offenen Handflächen dem Beschauer zukehrend. Neben ihm vor
der Seitenwand des Hauses ist ein Engel dargestellt, der im Begriff
steht nach rechts fortzuschreiten und seine Linke nach oben, seine
Rechte abwärts streckt. Im mittleren Streifen stehen drei Männer
in Senatorentracht, im untersten Streifen drei mit der Paenula be-
kleidete Männer, beiderwärts ist die links stehende Figur in Rück-
ansicht gegeben, die übrigen sind in Vorderansicht. Die Männer
heben alle die geöffnete Rechte in die Höhe.
Die älteren Erklärer hatten die Hauptfigur für Abraham ge-
halten, dem der Engel erscheint, oder für Zacharias, der nach der
Verkündigung dem Volke im Tempelvorhof andeutet, daß er ver-
stummt ist. Die zweite Erklärung hatte allgemeine Geltung, bis
Pater Grisar im Vorjahre auf die Aehnlichkeit hinwies!), die zwischen
dem christlichen Bildwerk und mehreren profanen Darstellungen der
Acclamatio besteht. Die Aehnlichkeit ist besonders. frappant bei
einem Vergleich des Holzreliefs mit einem Marmorrelief des Con-
1) Civilt& cattolica 1899 Ser. XVII vol. 5 p. 224 und später in der Ge
schichte Roms und der Papste. I p. 257.
198 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
stantinbogens, das eine Geldverteilung des Kaisers vorführt'). Con-
stantin sitzt dabei auf erhöhtem Throne, von den Unterthanen, die
ihm nahen, um die Spende in Empfang zu nehmen, erheben viele die
Rechte und sie sind auch hier durch das Kostüm in zwei Klassen
geschieden; die dem Throne zunächst stehenden haben die Sena-
torentracht, die ferner stehenden die Paenula. Zur Aehnlichkeit
der Reliefs trägt außerdem noch bei, daß auch auf dem Marmor
die rechts vom Kaiser befindlichen Figuren alle in Vorderansicht
erscheinen, auf der anderen Seite aber einige dem Beschauer den
Rücken zukehren ?). Constantin selbst hat in dieser Szene die gleiche
Tracht wie die Senatoren, dagegen auf dem benachbarten Relief des
Bogens°), das ihn auf den Rostra eine Rede ans Volk haltend zeigt,
ist sein Kostüm identisch mit dem der Hauptfigur auf dem Thür-
relief. Grisar hat deshalb auch in dieser Figur einen Kaiser sehen
wollen und angenommen, daß das Ganze die Idee des christlich-
römischen Kaisertums versinnbilde. W. schließt sich dieser Auf-
fassung an und sucht sie näher zu begründen.
Der Mangel des Diadems bei der vermeintlichen Kaiserfigur ist
W. nicht entgangen, aber er glaubt sich darüber hinwegsetzen zu
können. Das ist falsch. Wie sollten die alten Betrachter der Thür
in einem Manne, der keines der Herrscherabzeichen hat, weder
Reichsapfel, noch Szepter noch Diadem, einen Kaiser erkennen’?
Wollte anders der Künstler auf Verständnis seiner Schöpfung rechnen,
so mußte er einer Figur, die einen Kaiser darstellen sollte, minde-
stens das ständige Attribut, das Diadem, geben. Die Tracht, in
der die Figur des Thürreliefs erscheint, war zahllosen Beamten ge-
1) Abb. Rossini, Archi trionfali Tab. ultima; Daremberg et Saglio, Diction-
naire des antiquités s. v. diptychon; beide Abb. sind ungenau, eine zuverlässige
nach Photographie in Wilperts vortrefflicher Studie, Un capitolo di storia del
vestiario, L’Arte 1898 p. 91.
2) Bei der vom Rücken gesehenen Figur in Senatorentracht des Marmor-
reliefs und bei einer entsprechenden Figur des Probianusdiptychons hatte Wilpert
a. a. O. angenommen, daß die Künstler ein Detail des Gewandes falsch wieder-
gegeben hätten. Wir sehen nämlich auf dem Rücken jener Figuren einen breiten
Streifen auf den Untergewändern liegen wie er ebenso auf der Vorderseite andrer
gleichgekleideter Personen erscheint, aber nach Wilperts Meinung ist der vorn
sichtbare Streifen nichts anders als der zusammengelegte Anfang der Toga, die
hinten keinen analogen Streifen bilden könnte. Da das Relief von S. Sabina
mit den beiden andern Monumenten übereinstimmt, glaubt W., daß der Fehler
von dem Holzschnitzer übernommen sei, aber ich sehe in der Uebereinstimmung
vielmehr einen neuen Beweis, daß Wilperts Ansicht über jenes Detail nicht richtig
ist. Vgl. dazu Strzygowski in der Byzant. Zeitschrift VIII 490.
8) Die beste Abb. wiederum bei Wilpert a. a. O. p. 89.
Wiegand, Das altchristliche Hauptportal an der Kirche der hl. Sabina. 199
meinsam bis herab zu den Schreibern in den Gerichten'). Es ist
nun möglich, in dem Relief eine Huldigung für einen Beamten zu
sehen, der irgend welche Beziehung zum Bau oder zur Ausschmückung
der Kirche gehabt hat. W. erhebt gegen solche Annahme den Ein-
wurf, daß es schwer sein dürfte, näher zu bezeichnen, wer der Be-
amte sein sollte, da der Liber Pontificalis und die Mosaikinschrift
im Innern der Kirche nur von einem Priester Petrus aus llyrien
berichten, der das Gotteshaus auf seine Kosten erbaut habe. In
der That läßt sich heute gar nicht sagen, wer dieser Beamte ge-
wesen sein mag, aber es läßt sich sehr wohl denken, daß ursprüng-
lich ein Feld der Thür, das verloren ist, gleichwie an vielen späteren
Bronzethüren eine Dedikationsinschrift enthalten hat, die über die
Stiftung der Thür Auskunft gab und damit das fragliche Relief er-
läuterte. Zur Zeit der Abfassung des Liber Pontificalis kann diese
Inschrifttafel schon verloren gewesen sein. Die Anwesenheit des
Engels neben einem Beamten würde nicht minder vereinzelt dastehen,
als seine Anwesenheit neben dem Kaiser. Der Engel macht es je-
doch für mich wahrscheinlicher, daß wir zur alten Deutung des
Reliefs zurückkehren müssen ?).
Die Verwendung der Beamtentracht für den Zacharias ist gewiß
sehr auffallend, aber man muß sich gegenwärtig halten, was ich in
meiner Besprechung des Codex Rossanensis darzulegen versucht
habe, daß in der Entstehungszeit der Thür die später typisch ge-
wordene Tracht der jüdischen Priester in der Kunst noch nicht aus-
gebildet war. Wenn auch in den Mosaiken von S. Maria Maggiore,
die ungefähr gleichzeitig mit der Thür geschaffen sind, schon die
Vorstufe jener späteren Priestertracht auftritt, so ist dadurch keines-
wegs ausgeschlossen, daß damals an einer andren Stelle Roms in
andrer Weise versucht ist, die jüdischen Priester zu charakterisieren.
Thatsache ist, daß auf einem der niedrigeren Thürreliefs, das Christi
Verhör durch Kaiphas darstellt, der Hohepriester eine Chlamys
trägt. W. glaubt zwar, daß hier der Schnitzer aus Unkenntnis die
Lacerna und Chlamys confundiert habe, denn rechts von dem Saume,
der von dem die Chlamys auf der Schulter festhaltendem Knopfe
abwärts laufe und den Mantel hier abschließen müßte, gehe noch
eine breite Bahn weiter unten über den rechten Arm, die einen
Knopf auf der Brust voraussetze, wie er der Lacerna eigentümlich
1) Vgl. das Probianusdiptychon, Meyer, Zwei antike Elfenbeintafeln etc., Ab-
handl. der kgl. bayer. Akademie I. Cl. XV. Bd. 1879 Taf. 2; Molinier, Histoire
générale des arts appliqués & l’industrie, I. Ivoires pl. IV; Wilpert a.a.O. p. 93.
2) Oben im Jahrg. 1900 p. 416 habe ich selbst mich zu der Meinung be-
kannt, daß auf dem Relief eine Acclamatio dargestellt sei.
200 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
ist. Eine solche Confusion liegt nicht vor. Das Probianusdiptychon
belehrt uns, daß unter der Chlamys von manchen ein bis zu den
Enkeln reichendes weites ärmelloses Gewand getragen wurde, das
sich bei den betreffenden Diptychonfiguren ganz ebenso wie bei dem
Kaiphas über den rechten Arm legt. Auf dem Diptychon unter-
scheidet dieses Untergewand die hohen Würdenträger von den
Schreibern des Vicarius Urbi, die unter der Chlamys nur die kurze
gegürtete Tunika tragen. Müssen wir daraus nicht den Schluß
ziehen, daß derselbe Unterschied in den Thürreliefs beabsichtigt ist,
daß dadurch der Hohepriester in Gegensatz gestellt werden sollte
zu dem simplen Priester Zacharias ?
Die Handbewegung der Figur, die vermutlich den Zacharias
darstellt, ist der Situation, in der er sich beim Austritt aus dem
Tempel befindet, vollkommen angemessen, während sie bei einem
Repräsentanten des Kaisertums schwer zu deuten wäre. Das An-
drücken der Oberarme an den Körper und das seitliche Ausstrecken
der geöffneten Hände ist ein Gestus, den man ausführt, wenn man
in Verlegenheit ist, nicht weiß, was man sagen soll, und dieser
Gestus paßte gut für den verstummten Zacharias. Auch die Hand-
bewegungen der übrigen Personen sind wohl verständlich, denn die
geöffnet erhobenen Rechten, die bei einer Huldigungsszene die Bei-
fallsrufe begleiten), drücken in anderen Fällen das Staunen aus,
z. B. auf dem Diptychon der Collezione Carrand ?), wo der Oberst
Maltas erstaunt über das Wunder des Paulus, der die Giftschlange
abschüttelt.
Wenn der Künstler, um die jüdischen Priester ihrem Range
nach zu differenzieren, die verschiedene Tracht der römischen Be-
amtenklassen benutzte, kann es uns nicht weiter Wunder nehmen,
das er das Kostüm zweier Stände in Rom wählte, um zwei ver-
schiedene Klassen des jüdischen Volks zu bezeichnen. Die Paenula,
die in der Spätzeit das Kleid des gemeinen Mannes in Rom war,
ist allgemein in den Thürreliefs und in vielen anderen Kunstwerken
auf die Juden übertragen worden, die drei Männer in römischer
Senatorentracht, die auf unserem Relief oberhalb der Paenulaträger
stehen, sollen wahrscheinlich Pharisaeer sein im Gegensatz zu der
Masse der übrigen Juden. Die Verwendung dieser Senatorentracht
für Juden steht nicht vereinzelt da. Der Chludhof-Psalter, dessen
Dlustrationen teilweise auf frühchristliche Vorlagen zurückgehen,
1) Auf dem Probianusdiptychon erheben die Rufenden nicht die geöffnete
Rechte, sondern sie machen mit dieser Hand den üblichen Redegestus, indem
sie Zeige- und Mittelfinger ausstrecken, die übrigen einbiegen.
2) Abb. Garrucci, Storia dell’ arte cristiana Taf.451,452; Molinier a.a.O.pl.V.
Wiegand, Das altchristliche Hauptportal an der Kirche der hl. Sabina. 201
bietet in einem seiner Kreuzigungsbilder') eine Gruppe Hellenen
und eine Gruppe Juden. An der Spitze der zweiten Gruppe steht
ein Mann in der Senatorentracht und er gilt mir als Gewähr dafür,
daß wir auf dem fraglichen Relief der Sabina-Thür die Juden zu
erkennen haben, die im Tempelvorhof den Austritt des Zacharias
aus dem Heiligtum erwarteten.
Für seine Erklärung des Reliefs als einer symbolischen Dar-
stellung des christlich-römischen Kaisertums fand W. eine Stütze in
einem anderen Relief der Thür, dem er ebenfalls eine symbolische
Bedeutung zuschreiben zu müssen glaubte. In dessen oberen Teile
sehen wir einen Kranz, in dem Christus steht, die Rechte aus-
streckend, in der gesenkten Linken eine Rolle haltend mit den
Buchstaben IX YOCK. Zu beiden Seiten Christi sind die Buchstaben
Aund 2 angebracht, in den Ecken außerhalb des Kranzes die Köpfe
der Evangelistenzeichen. Der Kranz ruht auf dem Himmelsgewölbe,
das einer halbkreisförmigen Nische gleicht, an deren Decke die
Sonne, der Mond und fünf Sterne schimmern. Unter dem Gewölbe
stehen auf der Erde drei menschliche Figuren, in der Mitte eine
Frau in Orantenhaltung, den Kopf mit einem Schleiertuch bedeckt,
die Blicke aufwärts gerichtet. Links und rechts von ihr stehen
ebenfalls nach oben blickend Petrus und Paulus, die über dem
Haupte der Frau einen merkwürdigen Gegenstand halten. Er be-
steht aus einem Ringe mit einem Kreuze darin, dessen vertikale
Leiste oben über den Ring hinaus verlängert und zugespitzt ist.
Das Relief kann nicht, wie einige Gelehrte angenommen haben,
die Himmelfahrt vorstellen, denn sie bildet den Vorwurf einer an-
deren Thürplatte, auf der Christus von Engeln zum Himmel empor-
gezogen wird, während die Jünger erschreckt und trauernd dem
Vorgange zuschauen. Jenes Relief führt uns keine Handlung, son-
dern einen Zustand vor, den Herrn in der Glorie über dem Himmel
und unten auf Erden seine Verehrer. Die Frau zwischen den
Apostelfürsten hat man allgemein als Personifikation der Kirche auf-
gefaßt, und W. meint, daß keine andre Person in der Weise wie
de Orans des Reliefs mit Petrus und Paulus zusammengestellt
sin könne. Die Kirche in Doppelgestalt, als »Ecclesia ex circum-
äsione<« und »Ecclesia ex gentibus< erscheine ja auch im Mosaik
des Inneren und sei hier ebenfalls ursprünglich begleitet gewesen
von den Apostelfiirsten. Mir scheint, daß gerade die Verschieden-
keit zwischen dem Mosaikbilde und der Reliefigur deren Deutung
als Personifikation der Kirche widerstreitet.
Lange ist man gewohnt gewesen, in zahlreichen Oranten der
1) Abb. Tikhanen, Die Pealterillustrationen im Mittelalter p. 58.
202 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
Sepulkralkunst ebenfalls Personifikationen der Kirche zu sehen, aber
der jetzige beste Kenner der römischen Katakomben, Mgr Wilpert,
hat schon vor Jahren diese Ansicht als irrig erwiesen‘). Daß die
Orans der Holzthür die Kirche vorstelle, wird erst dann glaubhaft
werden, wenn aus frühchristlicher Zeit Parallelen beigebracht werden
können, die die Kirche in derselben Weise personificieren. In dem
Mosaikbilde von S. Sabina trägt sowohl die Judenkirche als auch
die Heidenkirche ein Buch im linken Arme und erhebt die Rechte
in einem Gestus des Redens oder Lehrens. Vor allem wichtig ist
aber der Unterschied zwischen dem Mosaik und dem Relief, daß dort
die beiden Hälften der Kirche durch gesonderte Personen dargestellt
sind; eine Personifikation der Gesamtkirche durch eine einzige weib-
liche Figur kommt m. W. in frühchristlichen Bildwerken nicht vor °).
Auf den Weg zum richtigen Verständnis der fraglichen Figur
weisen uns mehrere frühchristliche Monumente, die eine dem unteren
Teil des Reliefs analoge Gruppe enthalten. Eine Reihe von Gold-
gläsern nämlich zeigt zwischen Petrus und Paulus ebenfalls eine
weibliche Orans, der einige Male der Name Maria°), häufiger der
Name Agnes beigeschrieben ist‘). Andere Goldgläser stellen in die
Mitte der beiden Apostel eine Säule, die das Monogramm Christi
trägt, andere wieder bilden die Apostelfürsten sitzend und zwischen
ihnen das Monogramm Christi in einem Kranze oder auf einer Scheibe,
die von den Aposteln gehalten wird®). Das Monogramm ist hier
ein Symbol des Evangeliums, das die Apostel verkünden, der Lehre,
die sie vertreten.
Auf Goldgläsern also finden wir die Elemente, aus denen der
Thürschnitzer, der zeitlich jenen Erzeugnissen der Kleinkunst nicht
fern steht, seine größere Composition aufgebaut hat. Die Vertau-
schung des Monogramms mit dem Kreuze hat vielleicht darin ihren
Grund, daß der Kreuzesbalken verlängert werden sollte, um gleich-
sam eine nach oben weisende Zunge zu bilden, die wie W. treffend
1) Ein Cyclus christologischer Gemälde (1891) p. 36ff.; Römische Quartal-
schrift 1899 p. 28.
2) O. Weber, Geistliches Schauspiel und kirchliche Kunst (1894) p. 9 ff. will
noch für zwei andere weibliche Figuren aus frühchristlicher Zeit die Deutung
als Ecclesia gelten lassen, nämlich für die Frau, die im Codex Rossanensis den
Evangelisten Markus inspiriert, und für die, die in der Wiener Genesis den aus
dem Paradiese vertriebenen Voreltern tröstend zur Seite steht. Daß jene Figur
vielmehr die göttliche Weisheit darstellt, ist von Haseloff erwiesen, bei der
Genesisfigur deutet nichts auf eine Personifikation der Kirche.
3) Abb. Garrucci a.a.O. Taf. 178, 6,7.
4) Abb. Garrucci a.a.O. Taf. 190, 1, 3, 4, 6.
5) Abb. Garrucci a.a.O. Taf. 180,2,8; 188, 6,8; 184, 2, 4.
Wiegand, Das altchristliche Hauptportal an der Kirche der hl. Sabina. 208
bemerkt, eine engere Verbindung der unteren Gruppe mit der oberen
herstellt. Der Sinn des Ganzen ist, eine Gesellschaft von Heiligen
vorzuführen, die gläubig und andachtsvoll zu dem aufblicken, was
den Inhalt ihres Glaubens ausmacht.
Die Goldgläser mit ihren Beischriften bezeugen uns, daß schon
im vierten und fünften Jahrh. Heilige im Bilde vereint wurden,
deren Lebenszeiten weit auseinander liegen, denn ebenso wie Maria
ist auch die hl. Agnes, die im Jahre 394 das Martyrium erlitt, den
Apostelfürsten beigesellt. Die zwischen den beiden stehende Orans
des Thiirreliefs wird niemand anders sein als die hl. Sabina, die
während der Regierungszeit des Hadrian den Märtyrertod starb und
der man später auf der Stelle ihres Wohnhauses die Kirche er-
baute!). Die hl. Agnes erscheint in den Bildwerken ab und zu
mit einer Kopfhülle, im allgemeinen aber wird sie barhaupt darge-
stellt, weil sie eine jungfräuliche Märtyrerin ist. Die hl. Sabina
war eine römische Matrone und mußte daher mit bedecktem Haupte
abgebildet werden, wie wir sie in dem Relief sehen.
Mein alter Glaube, daß die Orans die hl. Sabina sei, ist zur
Gewissheit geworden, seit mich W.s gründliche Untersuchungen
überzeugt haben, daß die Thür für ihren jetzigen Platz von Anfang
an bestimmt gewesen ist. Er wirft in dem Kapitel, das der Einzel-
interpretation der Reliefs zunächst folgt, die Frage auf, wie viel
Hände an dem Werk beteiligt gewesen sind, und verteilt die Reliefs
auf drei verschiedene Künstler. Das V. Kap. wendet sich gegen
diejenigen Forscher, die den römischen Ursprung der Thür in Zweifel
gezogen haben, das VI. gegen diejenigen, die die Thür einer spä-
teren Zeit als die Kirche selbst zuschreiben wollten. Es folgen noch
zwei weitre Kapitel. Das erste versucht eine Reconstruction der ur-
sprünglichen Anordnung der Reliefs, das zweite vergleicht die Thür
mit mittelalterlichen Kirchenthüren und gelangt zu dem Resultat,
daß ein direkter Einfluß der Thür von S. Sabina nirgends spürbar ist.
W.s Buch bildet eine willkommene Ergänzung zu de Waals
Publikation des Bassus-Sarkophages, der uns den Maßstab giebt zur
Beurteilung der christlichen Skulptur um die Mitte des IV. Jahrh.
Die Thür von S. Sabina zeigt uns, was die christliche Reliefbildnerei
etwa zwei Menschenalter später zu leisten vermochte, denn die von
W. im V. und VI. Kap. vorgebrachten Beweise stellen es außer
Zweifel, daß die Thür in Rom selbst gleichzeitig mit der zwischen
422 und 432 erbauten Kirche entstanden ist.
“ 1) Vgl. Acta SS. Bollandiana ad d. 29 Aug.
Hannover, im August 1900. H. Graeven.
204 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
Palestinian Syriac texts from palimpsest fragments in the Taylor-Schechter
collection ed. by Agnes Smith Lewis and Margaret Dunlop Gibson.
London, C. J. Clay & sons, 1900. XXII u. 112 S. 4° mit 8 Tafeln. geb.
Sh. 10. 6 d.
Die vorliegenden Texte im sog. syrisch-palästinischen oder
christlich-palastinischen Dialect stammen fast alle aus der großen,
durch die Sirach- und Aquilafragmente berühmt gewordenen Hand-
schriftensammlung, die in der Geniza der Synagoge von Alt-Kairo
entdeckt und im J. 1897 von S. Schechter in Cambridge erworben
wurde. Schechter selbst fand unter den zahllosen hebräischen Frag-
menten einige Palimpseste, in deren unterer Schrift er Christlich-
Palästinisches zu erkennen glaubte; von ihm und Taylor, sowie von
der Cambridger Universititsbibliothek wurden die beiden Damen,
die sich bekanntlich schon durch die Herausgabe eines Lectionars
und eines Evangeliars um die Kenntnis dieser Literaturüberreste
verdient gemacht hatten, mit der Entzifferung und Bearbeitung die-
ser neuen Texte betraut. Es sind ihrer 30 Fragmente; dazu kom-
men noch weitere 4, die die Herausgeberinnen selbst in Kairo er-
warben und die übrigens ebenfalls aus jener Geniza stammen sollen.
Wir erhalten hier von Bibeltexten: Num. 22,41—23,9 (p. 110f,
dies die richtige Identification von Nöldeke in den unten zu be-
sprechenden »Addenda et corrigendac). Dt. 31, 3—14. 20—29.
Ps. 118,10. 119,109. Jes. 50,4f. Jer. 12, 12—14. 17—13, 4. 14,
4—7. 29,32. 30,1—10. 31,4—15. 35°—32,2. 32, 35°—39. 421.
Hos. 14, 4—Joel 1, 6. 2,10°—20. Sir. 18, 18—33. Joh. 14, 15 £.
Rom. 5, 6—9*. 2 Cor. 3, 2—4, 10%. 1 Thess. 3, 1—13. 4, 1—14.
2 Tim. 2, 16—20. 22—26. Tit. 3,3*—12. Von anderer Litteratur:
Fragmente des Nicänischen Symbols (deren Entzifferung laut Ein-
leitung in der Hauptsache Rendel Harris’ Verdienst ist), Fragmente
einer Uebersetzung der Vita Antonii und ein Fragment der aus
Land’s Anecdota 4,169f. bekannten Uebersetzung des Martyriums
des Philemon (vgl. ZDMG. 53, 713). Außerdem haben (aus welchem
Grunde, ist nicht recht ersichtlich) zwei in edessenischem Syrisch
verfaßte Stücke Aufnahme gefunden, nämlich Ez. 20,9—15 und
Sir. 13, 1—14, 1, dies zweite iibrigens von den Herausgeberinnen nicht
erkannt (p. 94—97). Bei den meisten biblischen Fragmenten ist der
griechische Text gegenüber gedruckt, für Jeremia nach dem Cod.
Chisianus, den Guidi zu diesem Zweck copierte, ebenso bei denen
aus der Vita Antonii (nach der alten Kölner Ausgabe). Weitaus
das Meiste von diesen Texten ist neu; bekannt war Jes. 50,4 (8.
Palestinian Syriac texts ed. by Smith Lewis and Dunlop Gibson. 205
Lectionar p. 113), Joel 2, 10f. (Lect. 44). 12—20 (Lect. 45 f.),
Joh. 14,15 f. (im Evangeliar an 3 Stellen), Rom. 5,6—9 (Lect. 114),
1 Thess. 4,3—14 (Anecd. Oxon. vol. I, pars 5, p. 12 ff., die Verse
13. 14 auch im Lect. p. 77), übrigens mit allerlei kleineren Ab-
weichungen. Wichtig ist, daß, wie in der Einleitung richtig hervor-
gehoben wird, wenigstens einige von den biblischen Fragmenten er-
wiesenermaßen nicht aus einem Lectionar stammen, sondern, gleich
den von Gwilliam in den Anecd. Oxon. publicierten Texten, Teile
einer fortlaufenden Uebersetzung sind; das ergibt sich aus dem Feh-
len einer auf ein Lectionar weisenden Pericopenüberschrift zwischen
dem Schluß von Hosea und dem Anfang von Joel, und aus den
Buchüberschriften wef. bezw. {Aut vor dem Titus- bezw. dem
2. Timotheusbrief. |
Der Zustand dieser Palimpseste ist verschieden; während die
einen leidlich lesbar sind, konnten andere nur mühsam unter An-
wendung von Reagentien entziffert werden, mit wieder andern war
gar nichts anzufangen (No. XXVII, XXVIII). Mit welchem Scharf-
blick und welcher Geschicklichkeit die Herausgeberinnen, unterstützt
von Rendel Harris, sich der schwierigen Aufgabe entledigten , zeigt
eine Vergleichung der 8 beigegebenen Tafeln. Die Resultate ihrer
Bemühungen verdienen das größte Lob, und dieses Lob soll durch
die Bemerkung, daß ein allzu scharfes Auge da und dort einmal mehr
oder Anderes zu lesen glaubte, als nachweislich dasteht, nicht ein-
geschränkt werden. Wie unsicher übrigens die Lesungen oft sind,
haben die Damen in den nachträglich versandten »Addenda et cor-
rigenda« selbst indirect zugestanden, nachdem ihnen Ryssel durch
die Identificierung etlicher von ihnen nicht erkannten Stücke die
Möglichkeit verschafft, die Texte mit den griechischen Vorlagen zu
vergleichen. Eine genaue Prüfung der Facsimilia liefert immerhin
allerlei Verbesserungen. So hat p. 12,17 (Jer. 14,6) die Hs. paojs,,
wie zu erwarten, nur daß das » nicht mehr erkennbar ist und beim
Schlußalaf < der Querbalken teilweise verblaßt erscheint. 20°, Z. 8
Hs. 9 ‚go, nicht „oo. 68°, 12 Hs. Lauda, nicht Lada (!); ob
vorher „y oder wu, ist nicht sicher. 90%, Z 8 gS.»: Hs. deutlich
> bau; 11 foo...0): Hs. fopus fom; 12 w.3: Hs. was; 13
eho: Hs. deutlich „wos. Ebenda col. ®, 2.4... mw: Hs.
qe ead ns; 11 Jyraa (sic): Hs. logascp, Umgekehrt vermag
ich p. 68°, Z. 7 im Facsimile auch nicht die geringste Spur von LA zu
entdecken. Es ist also jedenfalls zu bedauern, daß nicht die Facsimilia
sämtlicher Fragmente beigegeben worden sind. Aber auch so können
wir noch da und dort eine Verbesserung anbringen; z.B. p. 4, 11
(Dt. 11, 38) apm: anam (zgeoßvrepoı). 6, 11 ‚come: |.
206 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
I (xAngoı). 20,13 wawudo: |. woawhs (dv zapuxiraeı).
52,13 ist ~S..Akso wol mit Pe3. in opps zu ergänzen; 56, 18
is pis: lies Sa 0,2: dpsuxtov; zu {,® als Uebersetzung des
griech. « privat. vgl. Mt. 28, 14, Luc. 1,6, Eph. 1,4 (Lect. 79),
Hebr. 9, 14 (Lect. 15. 120). 68,6 ist 9 omaso uy für rosoürog in
dessen regelmäßiges Aequivalent » ma, (~)2 zu ändern; p. 64, 13
Lasse: 1. {lake (wmode); p. 77 (Ps. 117,10) agse: 1.
(éxtxAmoov). 79, 14etsans: |. wisanso; 81, 7 {Asan} 07.0: |.
(raw popie’ (Sir. 18, 24), und ebenda ;a.: 1. ;2,. 100 ult. ist
0.20... ebenso sicher in dank zu ergänzen; dieses Verbum
steht auch anderswo für oxvAAsıv. Schließlich wäre auch in der
Corrigendenliste noch Einiges zu bessern. Was jlsaa@ (zu 74, 14) soll,
ist mir so dunkel als das Jasaa im Text; oSa co (zu 74, 16) ist wol
Druckfehler statt a0; 74,15 ist natürlich Lu> in LNNo zu
ändern (orépavor). 74, 10 zeigt der griech. Text, daß Js zauo viel-
mehr KAs;auo d. i. Lius;sas xußepviensg zu lesen ist. Nicht blos
60, 1.3, sondern auch 58, 11 ist {> st. {5 gemeint, u.s.w. — In-
dem wir minder Wichtiges auf sich beruhen lassen, schließen wir
diese Anzeige mit dem Dank an die Herausgeber dieser Texte für
ihre mühevolle Arbeit und mit dem Wunsche, sie möchten in Zukunft
noch oft Gelegenheit finden, ihr Interesse christlich-palästinischen
Literaturüberresten zuzuwenden.
Göttingen, 13. Oktober 1900.
Friedrich Schulthess.
Bülow, O., Das Geständnisrecht. kin Beitrag zur allgemeinen Theorie
der Rechtshandlungen. Freiburg, Leipzig, Tübingen, 1899. J. C. B. Mohr.
XII 811 S. Ladenpreis 6 Mk.
Die Lehre von dem gerichtlichen Geständnis hat im Lauf der
letzten Jahrzehnte eine Reihe von Bearbeitungen erfahren, die, wenn
auch zum Teil in ihren Grundgedanken nicht unanfechtbar, doch
nach mancher Richtung zur Klärung der behandelten Materie beige-
tragen haben. Nachdem bereits im Jahre 1827 Bethmann-Hollweg
(in den »Versuchen über einzelne Teile der Theorie des Civilpro-
zesses« S. 250 ff.) in grundlegender Weise die Ansicht widerlegt
hatte, als sei das gerichtliche Geständnis ein Beweisgrund, hat sich
trotz vereinzelter Angriffe mit immer wachsender Entschiedenheit
die Auffassung entwickelt und behauptet, welche in dem gericht-
lichen Geständnis einen Dispositionsakt der Partei erblickt.
Bülow, Das Geständnisrecht. 207
Allgemein wird gelehrt, das gerichtliche Geständnis sei nicht
ein durch seine Ueberzeugungskraft wirkender Beweisgrund, vielmehr
eine Handlung, durch welche die Partei den Richter nötige, eine be-
stimmte Thatsache, ganz unabhängig von ihrer Wahrheit, der Ent-
scheidung zu Grunde zu legen. Gerade darin, daß die Partei ge-
wisse Umstände, ohne daß ein weiterer Beweis darüber erforder-
lich oder auch nur zulässig wäre, durch das bloße Geständnis
dem Streit entrückt und der Kognition des Richters entzieht, wird
eine Disposition (Verfügung) über die Urteilsgrundlagen gefunden.
Wegen dieser besonderen Wirkungskraft rechnet man das gericht-
liche Geständnis zu denjenigen prozessualen Thatbeständen, welche
die Urteilsgrundlagen formell feststellen, und von denen der Prozeß
eine ganze Reihe zeitig. Auch spricht man mit Rücksicht auf die
im Geständnis liegende Disposition und auf die Unmittelbarkeit der
daran geknüpften Wirkungen von einem >prozessualen Rechts-
geschäft«e. Andere Schriftsteller wiederum legen das Hauptge-
wicht auf einen im Geständnis angeblich liegenden Verzicht. Ueber-
all kehrt also, wenn auch mit etwas verschiedenen Wendungen, der
Gedanke einer durch das Geständnis bewirkten Verfügung wieder.
I.
Gegen diese Vorstellung wendet sich Bülow in einer umfang-
reichen Monographie über »das Geständnisrecht«, deren ersten Teil
er bereits in Band 88 des Archivs für die civilistische Praxis (1898)
veröffentlicht hatte. Nach dem Vorwort soll das Werk einen Bei-
trag bilden zu der »neuen Prozeßrechtswissenschaft«, deren Bestreben
darauf gerichtet sei, sich von dem »Banne der mittelalterlichen Wis-
senschaftsmethode, in dem sie noch vor wenigen Jahrzehnten be-
fangen war«, in welchem sie aber vielfach und gerade in der Lehre
vom Geständnis noch heute befangen sei, zu befreien. Es soll das Pro-
zeßrechtsinstitut des Geständnisses >von Grund aus anders, in einer
weniger künstlichen, den wirklichen Verhältnissen besser entspre-
chenden und daher auch für die Rechtsprechung weniger verfäng-
lichen Weise< aufgefaßt werden. Zu diesem Behufe will der Ver-
fasser eine neue Lehre von dem gerichtlichen Geständnis aufstellen,
die er gelegentlich selbst (— im Gegensatze zu der herrschenden
‚subjektivene —) als die objektive Geständnistheorie bezeichnet
(5.246), und zu der er auf Grund folgender Gedankengänge gelangt.
Das gerichtliche Geständnis sei nicht, wie von Planck und im
Anschluß an ihn von einer Reihe neuerer Schriftsteller behauptet
werde, die Aeußerung eines Verzichtswillens, sondern lediglich, wie
das außergerichtliche Geständnis, eine ernstlich gemeinte Wahrheits-
208 Gött. gel. Aus. 1901. Nr. 3.
versicherung. Die Erklärung, nicht bestreiten zu wollen, sei daher
kein Geständnis. Durch sie werde die »gegnerische Behauptung
nicht zugegeben, sondern im Gegenteil eine Aeußerung darüber ver-
mieden. Wer »nicht bestreiten< wolle, erkläre seine Neutralität,
nicht sein Einverständnis (S. 9 ff... Gestehen und Nichtbestreiten
seien von dem Gesetze selbst sehr deutlich unterschieden (§ 288
verglichen mit $ 138 Abs. 2 C.P.O.). Während der Verzicht auf
die Zukunft gerichtet sei, beziehe sich das Geständnis lediglich auf
die Vergangenheit. Während jener sich als ein rein negativer Be-
griff, nämlich als die Aufgabe eines Rechtes darstelle, sei das Ge-
ständnis seiner Natur nach positiv, die Bejahung einer Thatsache
(5.26 f.). Verzichtet könne nur auf Rechte werden. Ein Recht zur
Bestreitung gebe es nicht, am allerwenigsten zur Bestreitung wah-
rer Thatsachen, sondern lediglich eine entsprechende Handlungsb e-
fugnis. Diese könne aber aus dem Grunde nicht aufgegeben wer-
den, weil sie einen Teil der unverzichtbaren Rechtspersönlichkeit des
Einzelnen bilde (S. 37f.). Vor allem aber könne von einem Verzichts-
willen keine Rede sein, wie denn überhaupt das Geständnis nicht
die Erklärung eines Wollens enthalte. Demgemäß sei auch die so-
genannte Feststellungswillenstheorie von Wach unzutreffend (S. 48 ff.).
Diese Ablehnung des Willensmomentes in dem gerichtlichen Ge-
ständnis bildet den bei Weitem umfangreichsten Teil in dem be-
sprochenen Werke, und wird das ganze Buch hindurch in der mannig-
fachsten Form wiederholt. Dabei wird namentlich Folgendes aus
geführt. Die Partei gestehe regelmäßig nicht in der Absicht,
Urteilsgrundlagen zu schaffen, sondern bloß, weil die zugegebene
Thatsache wahr sei. Ueber die Wirkungen mache sie sich keine
Gedanken. Der Fall, daß eine Thatsache im Bewußtsein ihrer Un-
richtigkeit zugegeben werde, sei außerordentlich selten und für die
Begriffsbestimmung unwesentlich. Jedenfalls sei die Wirksamkeit
der Geständniserklärung durchaus unabhängig von dem Wollen
ihrer Wirkung. Sonst müßte ein derartiger Rechtsfolgewille, der in
Wirklichkeit kaum jemals gegeben sei, in jedem Einzelfalle als vor-
handen noch besonders nachgewiesen werden. Wo er in Wirklich-
keit vorliege, gehöre er nicht zum Geständnis, sondern laufe neben
diesem als besonderes Gebilde einher. Geständnisse würden auch
nicht dadurch zu Dispositionsakten, daß sie ganz vereinzelt in der
Absicht einer Verfügung über Privatrechte erfolgten. Denn hier
wirke nicht das Geständnis selbst, sondern erst das darauf gegrün-
dete Urteil auf das materielle Recht ein.
Nicht zufrieden damit, den sogenannten »erklärten Willen« —
den er mit dem Rechtsfolgewillen für gleichbedeutend erachtet —
Bülow, Das Geständnisrecht. 209
aus dem Geständnis ausgeschieden zu haben, wendet sich dann der
Verfasser S. 98 ff. in einem umfangreichen, mit seinem eigentlichen
Gegenstande nicht unmittelbar zusammenhängenden Exkurse dem
Privatrechtsgeschäfte zu, um den Nachweis zu versuchen, daß es
auch hier lediglich auf den sog. Erklärungswillen ankomme. Der
Rechtsfolgewille könne nur als eine flüchtige Phase in der Ent-
stehung des Rechtsgeschäftes betrachtet werden. Für das Wesen
des letzteren sei nicht maßgebend die Beziehung zu einem vorhande-
nen Wirkungswillen, sondern die Richtung auf einen herbeizuführen-
den künftigen Erfolg. Das Rechtsgeschaft sei konkretes Rechts-
gebot, keine Wollens-, sondern eine Sollenserklärung.
Demgemäß könne das in einer Wahrheitserklarung sich er-
schöpfende Geständnis auch kein Rechtsgeschäft sein, zumal es
keine Rechtsveränderung schaffe, sondern im Gegenteil den Prozeß
seinem bestimmungsmäßigen Ende zuführe.
Wenn aber der Wirkungswille nicht einmal ein Erfordernis der
Privatrechtsgeschäfte sei, so könne er für das Geständnis noch viel
weniger verlangt werden. Namentlich spreche gegen die Annahme
eines Feststellungswillens die weitere Erwägung, daß das ge-
richtliche Geständnis nichts feststelle, vielmehr die zugegebene That-
sache gerade der Notwendigkeit einer Feststellung enthebe. Das
Geständnis habe schon deshalb keine feststellende Kraft, weil es,
wie überhaupt alle Prozeßhandlungen, nicht durch sich selbst, son-
dern erst vermöge seiner Verwertung im Urteile des Gerichtes
wirksam werde.
So gelangt der Verfasser zu dem Ergebnis, das gerichtliche Ge-
ständnis sei begrifflich nichts anders als eine Wahrheitserklä-
rung. Demgemäß unterscheide es sich von dem außergerichtlichen
Geständnis nicht in dem Inhalte, sondern nur in der Erklärungsforın
(S. 45) und in der prozessualen Wirkung. Diese Verschiedenheit
der Wirkungen stehe aber in gar keinem Zusammenhange mit dem
Inhalt der Erklärung, sondern sei lediglich die Folge davon, daß
das gerichtliche Geständnis eine Prozeßhandlung sei. Die Wir-
kung bestehe lediglich darin, daß die zugegebene Thatsache keines
Beweises bedürfe, vielmehr, unangesehen ihrer Richtigkeit, dem Ur-
teile zu Grunde gelegt werden müsse. Dem Richter werde nicht,
wie ganz allgemein angenommen werde, und wie der Verfasser selbst
noch bis vor einem Jahre geglaubt habe, die faktische Unmöglichkeit
zugemutet, eine Thatsache für wahr zu halten, von deren Unrichtigkeit
er überzeugt sei. Eine derartige bloß »formelle« oder >juridische«
‘Wahrheit gebe es nicht. Der Grund, weshalb zugestandene Be-
hauptungen Urteilsgrundlagen würden, liege nicht in ihrer nunmehr
Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3. 15
210 Gött. gel. Anz. 1901. No. 3.
festgestellten Richtigkeit, sondern in dem Umstande, daß für das
Gebiet des Privatrechtes der Staat kein Interesse daran habe, nach
der Wahrheit von Thatsachen zu forschen, über welche zwischen den
Parteien Einverständnis herrsche.
Im Uebrigen erörtert der Verfasser, abgesehen von einem kur-
zen Ueberblick über das außergerichtliche Geständnis (S. 172—190)
noch die einzelnen Merkmale seines Geständnisbegrifts, insbesondere
das Erfordernis der Rechtsnachteiligkeit der zugestandenen
Thatsache und ihrer Behauptung durch den Gegner. Endlich
zieht er in einem fünften Teile aus seiner Auffassung des Geständ-
nisses als einer Wahrheitsbekundung die Folgen für die Recht-
sprechung, und behandelt zum Schlusse der Arbeit in eingehender
Weise das zuvorkommende Geständnis.
Dies der wesentliche Inhalt des zu besprechenden Werkes.
Wenden wir uns nunmehr seiner Würdigung zu.
Il.
Nach der oben mitgeteilten Definition des Verfassers soll das
Geständnis die Erklärung der Wahrheit einer Thatsache sein.
Daß sich nun das Geständnis äußerlich in der Regel als eine solche
Erklärung darstellt, ist durchaus richtig und auch bisher allgemein
anerkannt worden. Der Verf. selbst führt S. 6 Anm. 2 eine ganze
— übrigens leicht zu ergänzende — Reihe von Schriftstellern auf,
die sämmtlich davon sprechen, durch das Geständnis werde eine
Thatsache >als wahr anerkannt<, »eingeräumt«, >für richtig erklärt«,
»bejaht« u.s.w. Vergl. etwa noch v. Canstein, Zeitschrift für Deut-
schen Civilprozeß I S. 259; Renaud 2te Aufl. S. 270; Koch Preuß.
Civilprozeß 2te Aufl. S. 415; Hellmann Lehrbuch S. 267.
Die angeführten Gelehrten begnügen sich aber, anders als der
Verfasser, nicht mit einer solchen rein äußerlichen Umschreibung
oder Schilderung des Geständnisvorganges, sondern sind bestrebt, das
rechtliche Wesen und die prozessuale Bedeutung dieses Vorganges
tiefer zu erfassen. Und zwar mit gutem Grunde. Denn Rechtsbe-
griffe sind nicht damit klargestellt, daß ihre äußere Erscheinungs-
form referierend dargelegt wird. Der Kaufvertrag z.B. läßt sich
nicht als die Erklärung definieren, eine Sache oder ein Recht gegen
eine Geldsumme umzutauschen, der Rücktritt nicht als die Erklä-
rung, von dem Vertrage zurückzutreten. Vielmehr gehört zu dem
Begriff der genannten Handlungen überall die von ihnen geäußerte
bestimmte Rechtswirkung hinzu, durch welche sie sich von anderen
Handlungen ähnlicher Art unterscheiden. So definiert z.B. das Bür-
gerliche Gesetzbuch die einzelnen obligatorischen Verträge, den Rück-
Bülow, Das Geständnisrecht, 211
tritt u.s. w. in der Weise, daß es die dadurch hervorgerufenen spe-
zifischen Verpflichtungen darlegt; § 433: »Durch den Kaufvertrag
wird der Verkäufer einer Sache verpflichtet ...<; § 346: »Hat
sich in einem Vertrag ein Teil den Rücktritt vorbehalten, so sind
die Parteien, wenn der Rücktritt erfolgt, verpflichtet... .
Nicht anders verhält es sich mit den Prozeßhandlungen; insbe-
sondere mit dem gerichtlichen Geständnis. Dessen rechtliche Be-
deutung ist schlechterdings nicht zu erfassen, ohne daß Art und
Grund seiner prozessualen Wirksamkeit zur Bestimmung seines We-
sens mit verwendet werden. Denn gerade diese Wirkung ist es,
welche dem gerichtlichen Geständnis sein eigenartiges und charak-
teristisches Gepräge verleiht. Für dessen rechtliche Natur ist nicht
maßgebend, wie es sich äußerlich darstellt, sondern die Bedeutung,
die ihm für den Prozeß und für das Urteil zukommt.
Dies kann umsoweniger zweifelhaft sein, als sich sonst eine
scharfe begriffliche Abgrenzung des gerichtlichen gegenüber dem
außergerichtlichen Geständnis nicht gewinnen läßt, welches ja, äußer-
lich betrachtet, auch eine Erklärung des Inhaltes ist, daß eine dem
Zugestehenden nachteilige Thatsache wahr sei. So kommt denn auch
der Verfasser dazu, beide Arten des Geständnisses zu einem ein-
heitlichen Gattungsbegriff zusammenzufassen, obgleich doch, wie auch
er nicht zu leugnen vermag, zwischen beiden Rechtsgebilden ein
tiefreichender Gegensatz obwaltet. Diesen Gegensatz zu erklären
ist nun aber die erste Aufgabe jeder wissenschaftlichen Darstellung
der Lehre von dem gerichtlichen Geständnis, dessen Definition denn
auch vor Allem entsprechend gefaßt werden müßte. |
Zu einer derartigen klaren Entscheidung und Begriffsbestimmung
war die Prozeßtheorie gelangt, indem sie das gerichtliche Geständ-
nis, im Gegensatze zu dem außergerichtlichen, welches einen bloßen
Beweisgrund bilde, als einen Dispositivakt bezeichnete. Damit ist Fol-
gendes gemeint. Das Geständnis schafft unmittelbar kraft Partei-
thätigkeit eine inhaltlich genau bestimmte Grundlage für das Urteil.
Sie versetzt den Richter in die Notwendigkeit, bei seiner Entscheidung
die zugegebene Thatsache zu berücksichtigen. Indem also z.B. der
Beklagte die Klagethatsachen zugiebt, und sie dadurch zur Entschei-
dungsgrundlage macht, »verfiigt< er über den Urteilsinhalt. Und
zwar, anders als etwa bei der Behauptung, mit unmittelbarer
Rechtswirkung. Während nämlich die Behauptung zwar ebenfalls in
der Absicht erfolgt, dem Urteil zu Grunde gelegt zu werden, aber
in dem Bewußtsein, daß die bloße Behauptung unter normalen Um-
ständen dazu nicht ausreichen, sondern erst noch zu beweisen sein
werde, nötigt das Geständnis für sich allein, ohne weiteren Beweis
15 *
212 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
oder sonstige Voraussetzungen, den Richter zur Verwertung der zu-
gegebenen Thatsache im Urteil. Diese bestimmte, unmittelbare Wir-
kung des Geständnisses rechtfertigt es, von einer Dispositionshandlung
zu sprechen, wobei das Wort Disposition (Verfügung) als ein Vor-
schreiben, ein Gebot, eine für Andere (hier für Richter und Parteien)
bindende Aeußerung verstanden, also in einem ähnlichen Sinne
gebraucht wird, wie z.B. bei den Redewendungen: ich verfüge, daß
etwas geschehen soll; ich treffe eine bestimmte Disposition u. s. w.
Gegen diese Ansicht macht nun der Verfasser hauptsächlich gel-
tend, ein Wille der Parteien, Urteilsgrundlagen zu schaffen, liege
beim Geständnis regelmäßig nicht vor, brauche jedenfalls als vor-
handen nicht nachgewiesen zu werden.
Der erste Teil dieses Einwandes trifft nun für die meisten Fälle
nicht zu. Das Geständnis wird regelmäßig in dem Bewußtsein seiner
Wirkungen, und daher auch mit dem Wollen derselben abgegeben.
Ueberhaupt alle Prozeßhandlungen werden zu einem bestimmten
Zwecke, mit der Willensrichtung auf einen bestimmten Erfolg vorge-
nommen. Selbst die zur Begründung von Anträgen vorgetragenen Be-
hauptungen sind nicht rein historische Erzählungen, sondern werden
mit der Tendenz aufgestellt, in der Entscheidung verwertet zu wer-
den. Dies gilt noch in weit höheren Maße von dem gerichtlichen
Geständnis. Die Partei, welche eine gegnerische Behauptung zugiebt,
weiß größtenteils recht wohl, welche Bedeutung und welche Wirkung
ihrer Erklärung zukommt. Sie handelt in dem Bewußtsein, daß die
zugegebene Thatsache nunmehr für den Prozeß festgelegt sein wird.
Sie ist mit dem Eintritt jener Wirkungen einverstanden. Sie führt
sie, in der Terminologie des Strafrechtes ausgedrückt, vorsätzlich
herbei.
Dies ergiebt sich ohne Weiteres aus der ganzen Situation, in
welcher das Geständnis abgegeben wird, und ohne deren Beachtung
eine Würdigung desselben gar nicht möglich ist. Zugestanden wird
in dem Rechtsstreit, unter dem Druck der Klage, angesichts des
drohenden Urteils, eine zur Begründung dieses Urteils vom Gegner
geltend gemachte erhebliche Behauptung. Sollte sich hier die Partei
wirklich über die Folgen ihrer Erklärung keine Gedanken machen?
Oder will sie nicht vielmehr diese ihr wohl bewußten Wirkungen ein-
treten lassen?
Die Motive für diesen Willen können nun sehr mannigfaltige
sein. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle gesteht allerdings
die Partei eine gegnerische Behauptung aus dem Grunde zu, weil
sie von deren Wahrheit überzeugt ist. Darf aber daraus mit dem
Verfasser gefolgert werden, daß hier der »Feststellungswille« fehlt?
Bülow, Das Geständnisrecht. 213
Mit nichten! Gerade weil die Partei die zugegebene Thatsache als
wahr kennt, ist sie mit ihrer Verwertung im Urteil einverstanden.
Gerade weil nur richtige Behauptungen zugestanden zu werden pfle-
gen, ist regelmäßig der Feststellungswille vorhanden. Man müßte
denn annehmen wollen, daß die Parteien grundsätzlich so unehrlich
sind, gerade die Thatsachen, von deren Wahrheit sie überzeugt sind,
von der urteilsmäßigen Feststellung ausschließen zu wollen.
In manchen Fällen wird nun aber auch aus anderen Motiven
eine Thatsache zugestanden, von deren Wahrheit der Gestehende
nicht überzeugt, deren Unrichtigkeit ihm sogar wohl bekannt ist.
Hier kann das Vorhandensein eines Feststellungswillens erst recht
nicht bezweifelt werden. Indem die Partei eine bewußt unrichtige
Behauptung zugiebt, offenbart sie besonders deutlich ihre Absicht,
sie als Urteilsgrundlage verwendet zu sehen. Denn es stände ihr
ja frei, durch bloße Bestreitung der unrichtigen gegnerischen Auf-
stellung dieses Ergebnis zu vermeiden. Hier ist schlechthin nicht
abzusehen, welche Bedeutung ihrer Geständniserklärung sonst zu-
kommen würde, wenn sie nicht mit der Tendenz einer Berücksichti-
gung im Urteil abgegeben würde.
Diese Gedanken sind alle so einleuchtend und so häufig wieder-
holt worden, daß auf sie nur verwiesen zu werden braucht. Indem
aber der Verfasser aus dem regelmäßigen Vorhandensein eines Wahr-
heitsbewußtseins das Fehlen eines Feststellungswillens ableiten will,
zieht er einerseits einen falschen Schluß, und verwechselt er anderer-
seits den Willen mit den ihm zu Grunde liegenden Motiven.
Besonders lehrreich ist in dieser Beziehung ein Vergleich mit
dem im Prozeß abgegebenen Anerkenntnis, zu welchem das
Geständnis, wie mit Recht allgemein gelehrt wird, in der engsten
Begriffsverwandtschaft steht. Daß nun aber das Anerkenntnis, obgleich
es sich, rein äußerlich betrachtet, nur als die Erklärung darstellt,
daß der gegnerische Anspruch begründet sei, seinem inneren We-
sen nach eine Verfügungshandlung ist, wird wohl auch der Ver-
fasser nicht bestreiten können. Und doch werden die Anerkennt-
nisse, genau wie die Geständnisse, regelmäßig nur aus dem Grunde
abgegeben, weil die Partei von der Begründetheit des gegen sie gel-
tend gemachten Rechtes überzeugt ist. Daß durch ein solches Motiv
die Eigenschaft des Anerkenntnisses als eines Dispositivaktes nicht
aufgehoben wird, liegt auf der Hand. Warum sollte es sich bei dem
Geständnis anders verhalten ?
II.
Da nach den obigen Ausführungen Geständnisse der Regel nach
214 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
mit dem Willen erfolgen, daß die zugegebene Behauptung dem Urteil
zu Grunde gelegt werde, so würde im Einzelfalle der Nachweis, daß
ein solcher Wille thatsächlich besteht, der Partei nicht allzu schwer
fallen können. In Wirklichkeit bedarf es aber eines solchen Be-
weises nicht. Das Geständnis äußert seine Folgen unabhängig da-
von, ob die Partei innerlich den oben geschilderten Wirkungs- oder
Rechtsfolgewillen gehabt hat. Es genügt die gewollte Abgabe der
Erklärung und es kommt nicht auf einen außerhalb derselben liegen-
den besonderen Willen, auf eine damit verbundene, einen bestimmten
Rechtserfolg erstrebende Absicht an. Das gerichtliche Geständnis
ist lediglich nach den Regeln der sogenannten Erklärungstheo-
rie zu beurteilen.
Dieser von dem Verfasser mit besonderer Lebhaftigkeit verfochtene
Grundsatz ist rückhaltlos anzuerkennen. Er ist aber einerseits nicht
neu, andererseits in seiner Einschränkung auf das gerichtliche Ge-
ständnis viel zu eng gefaßt. Er gilt nämlich, wie schon längst in
der Prozeßwissenschaft anerkannt ist, für alle Handlungen des
Rechtsstreites.
Allerdings war früher der Versuch gemacht worden, den Begriff
des Prozesses als Ganzen aus den ihm zu Grunde liegenden
Zwecken und Absichten (insbesondere Wiederherstellung eines ver-
letzten Rechtes, Entscheidung eines Streites u.s.w.), zu definie-
ren. Diese ganze Auffassung hat durch A. S. Schultze in seinen
Grundlagen des Deutschen Konkursrechtes (10ter Abschnitt) eine so
gründliche Widerlegung erfahren, daß sie wohl als abgethan gelten
kann. Dort ist überzeugend nachgewiesen, daß der Wille, von dem
die Partei bei der Klagerhebung getragen ist, daß insbesondere
die ihr dabei vorschwebenden Zwecke und Absichten für den Begriff
des Prozesses und für die Wirksamkeit der Klage gänzlich uner-
heblich sind; daß es vielmehr lediglich auf die formell ordnungs-
mäßig vollzogenen prozessualen Akte ohne Rücksicht auf einen da-
neben herlaufenden besonderen Wirkungswillen ankommt.
Daß aber auch für die Wirksamkeit einzelner Prozel-
handlungen das Vorhandensein und der Nachweis eines derartigen
inneren Rechtsfolgewillens nicht erfordert ist, hat die Prozeßrechts-
wissenschaft im Grunde niemals bezweifelt. Deshalb hatte sie auch
keine Veranlassung, auf die für das Privatrecht so wichtige und
zugleich so schwierige Frage nach den Beziehungen zwischen Partei-
willen und Handlungswirkung mit dem gleichen Aufwand an Scharf-
sinn und Gründlichkeit einzugehen.
Die bisherige Prozeßtheorie hat es aber auch an ausdrücklichen
Zeugnissen für jenen Grundsatz nicht fehlen lassen. Schon Langen-
Bülow, Das Geständnisrecht. 215
beck, Beweisführung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten 1858 S. 142
vertrat für das gerichtliche Geständnis die reine Erklärungstheorie,
indem er ausführte, Scherz und Simulation kämen bei demselben
nicht in Betracht, auf der anderen Seite aber seien Worte nicht
verbindlich, deren Tragweite in dem Augenblick ihrer Aussprache
nicht ermessen werde oder füglich nicht ermessen werden könne.
Nachdem sodann A. S. Schultze in seinem »Privatrecht und Prozeß
in ihrer Wechselbeziehung< S. 460, gerade an der confessio die for-
melle Natur der einzelnen Prozeßhandlungen eingehend dargelegt
hatte (— übrigens unter Bezugnahme auf die nun auch von Bülow
verwertete 1.5 § 7 de donationibus inter virum et uxorem (21. 1) —),
haben eine Reihe von Schriftstellern den gleichen Grundsatz, teils
für die Prozeßhandlungen überhaupt, teils gerade mit besonderer
Beziehung auf das gerichtliche Geständnis, wiederholt und gründlich
erläutert.
So hat Klein in seiner Schrift über die schuldhaften Partei-
handlungen, welche der Verfasser (S. 22 Anm. 1) nur ganz im Vor-
beigehen als in mehreren Punkten übereinstimmend erwähnt, S. 27
zunächst hinsichtlich der Anträge ausgeführt, für deren Wirksam-
keit entscheide nicht das »innere Absichtselement<, sondern die
AeuGerungsthatsache, das Erklären, nicht das »velle, sondern das
loqui<, und später (S. 107 Anm. 127) die Regel mit Bezug auf die
»prozessualen Dispositiverklärungen« wiederholt, zu denen er unter
Anderem »das gerichtliche Geständnis einer vom Gegner behaupteten
Thatsache< rechnet.
Diesen Gedanken hat dann Pollak in seiner Monographie über
das gerichtliche Geständnis weiter entwickelt und seine Geltung für
alle Prozeßakte dargethan. Insbesondere ist dort die von Wach!)
vertretene Ansicht, welche allerdings auf das Geständnis die privat-
rechtliche Willenstheorie anzuwenden versucht, und seine Wirksam-
keit auf den ihm zu Grunde liegenden innerlichen Feststellungs-
willen zurückführt, einer im Wesentlichen zutrefienden Widerlegung
unterzogen, und die ausschließliche Herrschaft der Erklärungstheorie
für den Rechtsstreit nachgewiesen (S. 39 ff.). Darin liegt ein großes
Verdienst der angeführten Schrift, welches auch durch die daselbst
vertretene unzutreffende Auffassung des Geständnisses als Beweis-
mittel nicht geschmälert wird.
Die angegebene Kennzeichnung der Parteihandlungen hat denn
1) Im Uebrigen hat die Abhandlung von Wach im Archiv für die civilisti-
sche Praxis B. 64 S. 201 ff. das Verdienst, das Wesen des Geständnisses als eines
Dispositionsaktes im Gegensatze zu einer bloßen Beweishandlung besonders ener-
gisch betont zu haben.
216 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
auch allgemeine Zustimmung gefunden, so z.B. in der Kritik von A
fred Schultze Zeitschrift für deutschen Civilprozeß B. 19 S. 2%
Desgleichen hat Paul in seinem Buch über den gerichtlichen Ve
gleich auf den formalen Charakter der prozessualen Handlung
überhaupt sehr entschieden hingewiesen. Auch Möhring führt
seiner Berliner Dissertation über »Natur und Kraft des gerichtlich
Geständnisses« S. 41 den Grundsatz aus, das gerichtliche Geständi
wirke feststellend »obne Rücksicht auf ein Wollen, welches vielme
nur für die Abgabe der Erklärung in Betracht kommt; der
wenn eine prozeßfähige Partei eine Thatsache zugesteht, so wird |
nicht gehört werden mit dem Einwand, sie habe den Willen nic
gehabt, das Zugestandene als wahr gelten zu lassen«.
Selbst Planck, gegen den der Verfasser als den hauptsäc
lichen Vertreter der Willenstheorie besonders lebhaft ankämpft, t
tont (Lehrbuch I S. 317), daß das Motiv des Gestehenden, >d
Vorbringen des Angreifers als richtig gelten zu lassen, nicht |
streiten zu wollen, . . . vorerst für den Eintritt der rechtlichen W
kungen gleichgiiltig< sei. Und bei Hellmann (Lehrbuch S. 27]
findet sich die Bemerkung, das Geständnis sei nicht wegen bloß
Irrtums im Beweggrunde anfechtbar, wohl aber sei es ungült
wenn die Partei sich verspreche oder die gestandene mit einer 3
deren Thatsache verwechsele, (— was allerdings nicht ganz zutreffe
als eine Nichtübereinstimmung des Willens mit der Erklärung t
zeichnet wird, während im ersten Falle, genau genommen, ei
nicht gewollte Erklärung vorliegt).
Es ist also unzutrefiend, wenn der Verfasser S. 106 oh
Rücksicht auf die eben mitgeteilte Litteratur behauptet, die he
tige Prozeßrechtswissenschaft sei >ganz und gar im Banne ¢
extremsten Willenstheorie« befangen. Vielmehr findet sich über
der rein formale, von einem zu Grunde liegenden Wirkungswill
gänzlich unabhängige, Charakter der im Rechtsstreit vorgenomn
nen Handlungen mit Entschiedenheit betont. Diese Eigenart «
Prozeßakte hat denn auch ihren guten Grund. Das Prozeßre:
bietet die Formen zur Feststellung der konkreten Privatrech
Auf die Verwirklichung dieser Formen muß es demnach in ers
Linie ankommen. Das auf endgültige Regelung der materiell
Rechtsverhältnisse gerichtete Verfahren kann nicht jederzeit in ı
Länge gezogen oder rückgängig gemacht werden, weil die Partei :
äußeres Verhalten nicht in Uebereinstimmung mit ihrem wirklich
Willen gestaltet hat. Die Partei muß, wenn sie einzelne mit ihı
Absichten und Motiven widersprechende Handlungen vornimmt, |
Folgen einer solchen Inkongruenz tragen, und darf nicht jederz
Bülow, Das Geständnisrecht. 217
die Wirksamkeit ihrer Akte wieder aus dem Grunde in Frage stellen,
weil sie vielleicht aus Scherz, Simulation, Furcht, Zwang, infolge
eines Betruges, wegen Irrtums, geklagt, sich auf den Rechtsstreit
eingelassen, auf den Anspruch verzichtet oder ihn anerkannt, geg-
nerische Behauptungen zugestanden hat u. dergl. Deshalb kann
es insbesondere auch nicht darauf ankommen, ob sie die besondere
prozessuale Wirkung thatsächlich hat herbeiführen wollen, welche
durch das Prozeßgesetz an ihre Handlung geknüpft ist. Der un-
bedingte Eintritt dieser Wirkung hängt, abgesehen von dem ange-
führten Hauptgrunde, in gewisser Beziehung auch mit dem Um-
stande zusammen, daß eine Reihe jener Prozeßhandlungen, anders
als die Parteirechtsgeschäfte, leichter widerrufen werden können,
die Partei also jederzeit in der Lage ist, die ihren Absichten zu-
widerlaufenden Akte wieder rückgängig zu machen.
Aus alledem ergiebt sich, daß die Geltung der Erklärungstheorie
im Civilprozeß nicht bezweifelt werden kann und auch bereits allge-
mein anerkannt ist. Dies scheint der Verfasser zu übersehen, wenn
er mit großer Ausführlichkeit den Gedanken als neu vorträgt, für
die Wirksamkeit gerade der gerichtlichen Geständnisse komme e8
auf den dabei obwaltenden Willen und Zweck nicht an.
Auch zur Begründung jener Regel werden im Allgemeinen nur
bekannte Gesichtspunkte geltend gemacht. Nur in einer Beziehung
wird ein neuer Beweis versucht. Eine Bestätigung jenes Grundsatzes,
und zugleich ein Argument gegen die Auffassung des gerichtlichen
Geständnisses als Rechtsgeschäft, soll nämlich aus dem Umstande
entnommen werden können, daß auch bei Privatrechtsgeschäften nur
der Erklärungswille in Frage komme und daß auch hier dem soge-
nannten erklärten Willen (Wirkungs- oder Rechtsfolgewillen) eine
für den Begriff wesentliche Bedeutung nicht zuerkannt werden dürfe.
Zu diesem Zwecke glaubt der Verfasser eine neue Durchsicht der
außerordentlich schwierigen Lehre von dem »Willensmoment der
Rechtsgeschäfte« vornehmen zu sollen, mit der er seinen »Beitrag
zur allgemeinen Theorie der Rechtshandlungen< liefern und den
Nachweis erbringen will, daß auch auf dem Gebiete des Privatrechtes
mit der Willenstheorie zu brechen sei.
Ob diese Behauptung zutrifft, kann hier nicht entschieden werden,
wie denn die ganze, sehr verwickelte Frage, nicht geeignet erscheint,
bei Behandlung ganz andersartiger Probleme nebenhin behandelt
und gelöst zu werden. Es kommt aber auch gar nicht darauf an,
welche Auffassung für das Privatrechtsgeschaft die richtige ist. Selbst,
wenn hier die Willenstheorie zuträfe, wofür übrigens recht gewichtige
Gründe sprechen dürften, würde daraus für den Prozeß im Alige-
218 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
meinen und für das Geständnis im Einzelnen, nicht das Geringste
gefolgert werden dürfen. Daß nämlich letzteres, wie überhaupt
sämmtliche im Rechtsstreit vorgenommenen Handlungen, ohne Rück-
sicht auf einen besonderen Erfolgswillen seine Wirksamkeit äußert,
erklärt sich in erster Linie aus seiner Eigenschaft als eines pr o-
zessualen Aktes. Es erscheint aber nicht zulässig, die Grundsätze
des Privatrechtes unbesehen auf die Prozeßhandlungen zu übertragen,
denen grundsätzlich eine ganz andersartige Bedeutung innewohnt.
Demgemäß hätte eine wissenschaftliche Darstellung, um den
Geständnisbegriff aus allgemeinen Gesichtspunkten zu erklären, nicht
an das materielle Privatrecht, sondern an das Wesen des Civilpro-
zesses und der in diesem vorkommenden Akte anzuknüpfen. Das
ist in dem vorliegenden Werke nicht geschehen. Die ganze Unter-
suchung des Verfassers ist aber grade von seinem Standpunkt aus
deshalb überflüssig und widerspruchsvoll, weil sie für das Privat-
rechtsgeschäft genau zu dem gleichen Ergebnis wie für das Ge-
ständnis gelangt, daß nämlich hier wie dort ein besonderer Rechts-
folgewille nicht erforderlich sei. Ist dies aber der Fall, so kann
die Eigenschaft des gerichtlichen Geständnisses als Verfügungshand-
lung oder als Rechtsgeschäft doch nicht wieder aus dem Grunde
geleugnet werden, weil es dabei auf einen Rechtsfolgewillen der
Partei nicht ankommt.
Nach dem Gesagten braucht auf die Rechtsgeschäftstheorie des
Verfassers nicht näher eingegangen zu werden. Nur eine beiläufige
Bemerkung sei gestattet. Das Rechtsgeschäft, so wird ausgeführt,
sei nicht, — wie bisher allgemein angenommen — eine Wollens-
erklärung, sondern eine Sollenserklärung, ein konkretes Rechts-
gebot. In dieser Definition liegt aber doch wohl kaum ein Unter-
schied gegenüber der herrschenden Ansicht. Das »Sollen« führt,
genau betrachtet und in seine Bestandteile zerlegt, mit logischer
Notwendigkeit auf ein Wollen zurück. Wer im Rechtsverkehr
den Satz ausspricht: »dieser Erfolg soll sein<, der sagt damit doch
nichts anders als: »ich will, daß dieser Erfolg sei<'). Es handelt
sich in beiden Wendungen lediglich um etwas verschiedene Betrach-
tungsweisen. Bei dem Sollen wird mehr der erstrebte Erfolg selbst,
bei dem »Wollen< mehr das Erstreben des Erfolges betont. Daß
1) Dieser Satz war, wie die ganze Kritik, schon seit längerer Zeit zum
Druck abgegeben, als mir die Kritik von Lenel in der Münchener kritischen
Vierteljahrsschrift zu Gesicht kam, in welcher, derselbe Gedanke fast in den glei-
chen Worten vertreten wird. Ich unterlasse nicht, auf diese gewichtige Bestäti-
gung meiner Ausführungen hinsichtlich des materiellrechtlichen Teiles der be-
sprochenen Arbeit hinzuweisen.
Bülow, Das Geständnisrecht. 219
aber beide Ausdrücke nicht verschiedene, geschweige denn gegen-
sätzliche Begriffe bezeichnen, ergiebt sich schon aus der einfachen
Erwägung, daß der Befehl oder das »Gebot< gerade als die stärkste
Form des Wollens erscheint.
IV.
Die von dem Verfasser gegebene Definition gipfelt in dem Satze,
das gerichtliche Geständnis sei eine Wahrheitserklärung. Diese
Auffassung ist nicht neu. Sie ist die alte gesetzliche Beweistheorie.
Insonderheit ist sie bereits in ähnlicher Weise, wenn auch mit
größerer Konsequenz, bei der Beratung des sog. Norddeutschen
Entwurfes vertreten worden, wie sich aus den Protokollen ergiebt,
in denen sich übrigens eine gedrängte, sehr lehrreiche Auseinander-
setzung zwischen den beiden Geständnistheorien findet (Protokolle
S. 689 f., 698 fi... Ein Mitglied meinte, vielfach, insbesondere
nach erhobenem Beweis, kämen Geständnisse vor, denen »keine
andere Absicht, als die Wahrheit zu sagen, zu Grunde liege<«. Für
solche Fälle dürfe aber dem Geständnis beweisausschließende Kraft
nicht beigemessen werden, welche vielmehr nur dort gerechtfertigt
sei, wo es »in der erkennbaren Absicht abgegeben sei, sich zu ver-
pflichten, bezw. dem Gegner den Beweis zu ersparen<. Diese Auf-
fassung wurde ausdrücklich abgelehnt und ihr gegenüber bemerkt,
‚daß bei gerichtlichen Geständnissen im Sinne der Vorlagen eine
andere Absicht als der animus confitendi nicht vorauszusetzen sei,
das Fürwahrhalten aber nur als ein häufiges Motiv jenes animus
gelten könne. Jedenfalls entspreche die beabsichtigte Unterscheidung
nicht dem Wesen des Civilprozesses, wenn etwa damit gemeint sei,
daß der Richter eine ausdrücklich gestandene Thatsache als ungewiß
oder noch des Beweises bedürfend behandeln diirfte<.
In der That: wäre die Definition des Verfassers richtig, d. h.
das Geständnis eine Wahrheitserklarung, so müßte es auch als
solche wirken. Die zugegebene Thatsache müßte für den
Prozeß dem Streit entrückt sein, weil sie von der Partei für wahr
erklärt wäre. Sie würde umgekehrt nicht festgestellt sein, wenn
das Geständnis, die angebliche Wahrheitserklärung, falsch, d. h. eine
unwahre Erklärung wäre. Es müßte im Einzelfalle geprüft werden,
ob die für wahr erklärte Behauptung auch wirklich wahr sei;
d.h. es müßte der Beweis geführt werden, den zu ersparen das
Geständnis gerade bestimmt und geeignet ist.
Das alles trifft aber nicht zu. Das Geständnis äußert seine
Rechtsfolgen ohne Rücksicht darauf, ob es der wirklichen Sachlage
entspricht oder nicht. Durch dasselbe kann die Partei jede unwahre
220 Got. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
Behauptung des Gegners zur Urteilsgrundlage machen. Gerade
darin zeigt sich in aller Deutlichkeit, daß die Geständniserklärung
nicht vermöge eines in ihr enthaltenen Wahrheitsurteils, sondern
ganz unabhängig von einem solchen wirkt, daß es demnach auch
nicht mit einer Wahrheitserklärung identisch sein kann. Es kommt
keineswegs darauf an, ob die Partei die zugegebene Thatsache für
richtig hält oder als richtig hinstellt, sondern lediglich auf ihre
Aeußerung, mit der Verwertung derselben als Urteilsgrundlage ein-
verstanden zu sein. Man braucht nur an den Fall zu denken, daß
ein Beklagter erklärt: »Die Behauptungen der Klage sind zwar
sämmtlich unrichtig: ich will sie aber, um dem Streit ein Ende zu
machen, hiermit ausdrücklich zugegeben haben«. Darin liegt das
gerade Gegenteil einer Wahrheitserklärung, und doch wird Niemand
bezweifeln können, daß hier ein wirksames Geständis abgegeben ist.
In der That wird denn auch mit der Bezeichnung des Geständ-
nisses als Wahrheitsbehauptung seine Wirkung nicht erklärt. Es
ist ein in der Prozeßrechtswissenschaft unbezweifelter, auch vom
Verfasser ausführlich dargelegter Grundsatz, daß die Wahrheit einer
Thatsache keineswegs die Voraussetzung ihrer Verwertung im Urteil
ist. In einer ganzen Reihe von Fällen stützt sich die richterliche
Entscheidung auf Behauptungen, deren Wahrheit nicht im Geringsten
erwiesen und auch sonst (z.B. wegen Offenkundigkeit) nicht feststeht.
Es braucht nur an das Mahn- und Versäumnisverfahren, an die so-
genannten freiwilligen Urteile, an den sog. Scheinprozeß und ähnliche
Fälle erinnert zu werden. Ist aber prozessuale Feststellung ohne
Wahrheitsermittelung denkbar, so kann auch die besondere Wirkungs-
kraft des gerichtlichen Geständnisses nicht darauf zurückgeführt
werden, daß eine Thatsache für wahr erklärt ist.
Der Grund ist denn auch ein ganz anderer. Er liegt in dem
Umstande, daß der Civilprozeß auf der sogenannten Dispositions-
oder Verhandlungsmaxime aufgebaut ist, nach der es den Par-
teien grundsätzlich überlassen bleibt, die auf Verwirklichung ihrer
Privatrechte zielenden Anträge zu stellen, und das zu deren Unter-
stützung dienende thatsächliche Material beizubringen. Aus diesem
Prinzip folgt, daß der Staat nur dann eingreift, wenn seine Thätig-
keit verlangt wird, und soweit sie erforderlich ist, daß er aber keinen
Grund hat, nach der Wahrheit oder Unwahrheit von Behauptungen
zu forschen, über deren Richtigkeit die Beteiligten einverstanden
sind. Der Partei ist demgemäß die Möglichkeit gewährt, irgend
welche Thatsache, wie sie dieselbe durch Bestreitung beweisbedürftig
machen konnte, durch Erklärung ihres Einverständnisses außer Streit
zu setzen. Eben darin zeigt sich der von der herrschenden Ansicht
Bülow, Das Geständnisrecht. 221
anerkannte dispositive Charakter der Geständnishandlung, und eben
deshalb wirkt diese nur insoweit feststellend, als der Staat am
Ergebnis des Rechtsstreits, an der Richtigkeit oder Unrichtigkeit
des Urteiles, nicht interessiert ist. Wäre das gerichtliche Geständnis
eine bloße Wahrheitserklärung, so müßte es in Rechtsstreitigkeiten
über Ehe, Entmündigung, genau die gleiche Wirkung äußern, wie
in Prozessen über Vermögensrechte. Dem widersprechen aber die
ausdrücklichen Vorschriften unseres Gesetzes.
Ferner: wäre das Geständnis nur Wahrheitsbehauptung, so müßte
es jederzeit ohne weitere Voraussetzungen widerrufen werden kön-
nen. Hätte die bloße Erklärung, daß eine Thatsache wahr sei, für
sich allein und als solche die Kraft, den Gegner des Beweises zu
entheben, so müßte die einfache nachträgliche Behauptung, jene
Thatsache sei unrichtig, der ursprünglichen Wahrheitsäußerung ihre
Wirksamkeit benehmen, jedenfalls den Beweis der Unwahrheit ge-
statten. Selbst das bewußt unwahre Geständnis müßte danach
rückgängig gemacht werden können. Auch in dieser Beziehung
nimmt die deutsche Civilprozeßordnung einen anderen Standpunkt
ein. Sie verlangt zum Widerrufe nicht nur den Nachweis der Un-
richtigkeit, sondern auch den des Irrtums. Sie bringt hierdurch
den rechtsgeschäftlichen Charakter des Geständnisses im Gegensatz
zu bloßen Beweishandlungen auf das Deutlichste zum Ausdruck. Da-
mit läßt sich aber die Theorie des Verfassers nicht vereinbaren.
Derselbe bleibt aber auch seiner Begrifisbestimmung nicht treu.
Er führt selbst in einem vierten Teile (S. 223 —240) sehr entschie-
den aus, das Geständnis wirke ganz unabhängig von der Richtigkeit
der zugegebenen Thatsache. Er kämpft selbst mit Lebhaftigkeit
gegen die Vorstellung an, als gebe es im Prozeß eine besondere Art
von »>formeller< oder >juridischer< Wahrheit, und als könne dem
Richter der Glaube an die Richtigkeit einer unwahren Behauptung
von Staatswegen aufgezwungen werden, als sei die Wirkung des
gerichtlichen Geständnisses auf seine Natur als einer Wahrheitsbe-
kundung zurückzuführen. Vielmehr verficht er, im Widerspruch mit
dem übrigen Inhalt des Buches sehr entschieden die Meinung, das
Geständnis setze zu seiner Wirksamkeit weder Wahrheit voraus,
noch schaffe es solche, sondern es wirke lediglich deshalb, weil die
Parteien durch ihre Uebereinstimmung die betreffende Thatsache
außer Streit setzten, und ohne Rücksicht auf deren Wahrheit den
Richter nötigten, sie zur Urteilsgrundlage zu machen. Diese Aus-
führungen sind durchaus zutreffend. Einerseits aber stehen sie zu
den übrigen Ausführungen des Werkes, insbesondere zu dem darauf
folgenden letzten Teil (S. 246—311) in offenbarem Gegensatze. Und
222 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
andererseits decken sie sich gerade mit der seit Savigny in der Civil-
prozeßrechtswissenschaft herrschenden Auffassung, gegen welche der
Verfasser im Uebrigen so lebhaft polemisiert.
Schon Bethmann-Hollweg und Savigny hatten gegenüber
der Legaltheorie des gemeinen Prozeßrechtes, die allerdings auf der
Vorstellung einer besonderen juridischen Wahrheit beruhte, in aller
Bestimmtheit den Standpunkt eingenommen, daß das gerichtliche Ge-
ständnis keine Wahrheitserklärung sei, und es gerade deshalb
aus dem Kreise der Beweisgründe für immer ausgeschieden. Seither
hat die Legaltheorie so zahlreiche und so gründliche Widerlegungen
erfahren, daß sie prinzipiell schon längst als endgültig abgethan gel-
ten kann, und daß der ganze Kampf des Verfassers gegen dieselbe
als gegenstandslos bezeichnet werden muß. Statt Aller sei auf En-
demanns Beweislehre 1860 und auf die Bemerkungen A. S. Schul-
tzes in Grünhuts Zeitschrift 22 S. 102f., 129 ff. sowie Zeitschrift
für Deutschen Civilprozeß 22 S. 117 verwiesen.
Wie erklärt sich nun dieser Widerspruch des eingeschobenen
vierten Teiles zu dem ganzen übrigen Inhalte des Buches? Die Lö-
sung giebt der Verfasser selbst. Bereits im Jahre 1898 nämlich
publizierte er den ersten Teil des jetzt vollständig vorliegenden
Buches in dem Archiv für civilistische Praxis 88ter Band, und teilte
daselbst S. 353 ausdrücklich mit, daß das ganze Buch bereits »fertig
abgefaßt« vorliege, weshalb er auch in diesem selbst (S. 76 Anm.)
dem 1898 erschienenen Buche Pauls über den Vergleich gegenüber,
bezüglich einzelner dort gemachter Ausführungen, die Priorität wenig-
stens der Niederschrift beansprucht, wie übrigens auch gegenüber
der Anfang 1898 publizierten Abhandlung von Wittmaak (Arch.
f. civil. Prax. 88 S. 321 Anm. 11).
Wie der Verfasser nun jetzt in diesem eingeschobenen vierten
Teile S. 223 und 237 noch ausdrücklich erklärt, war er damals, also
nach Fertigstellung des Buches, in jener, >aus einer der dunkelsten
Wissenschaftsepochen stammenden wahrheitswidrigen Denkweise< der
gesetzlichen Beweistheorie >so ganz und gar befangen, daß er an
deren Richtigkeit »gar nicht zu zweifeln wagte«. Erst »inzwischen
habe er sich eines anderen überzeugt« (S. 224, 237).
Unter diesen Umständen ist es allerdings nicht verwunderlich,
daß der nach diesem Meinungswechsel nachträglich eingeschobene
vierte Teil mit dem übrigen Buche in unvereinbarem Widerspruche
steht. In demselben wird nun aber überdies jene frühere gesetzliche
Beweistheorie als die heute ausnahmslos herrschende Ansicht be-
zeichnet, und werden gerade diejenigen Schriftsteller, welche im
Gegensatze dazu die heutige — nunmehr im vierten Teile auch vom
Bülow, Das Geständnisrecht. 228
Verfasser adoptierte — Auffassung des Geständnisses begründet und
vertreten haben, als die Hauptvertreter der gesetzlichen Beweistheorie
hingestellt. Es finden sich namlich allerdings hier und dort vereinzelte
Wendungen wie: die zugegebene Thatsache müsse >als wahr gelten<,
sei zur >formellen Wahrheit« geworden, u.s.w. Aus dem Zusammen-
hang geht aber unzweifelhaft hervor, daß von jenen Schriftstellern das
Wort »förmliche Wahrheit« gerade im Gegensatz zu irgend wel-
cher Beweiswirkung lediglich im Sinne einer formellen Feststellung der
Urteilsgrundlagen gebraucht wird. Wollte man, wie der Verfasser, auf
den Ausdruck und nicht auf die Sache sehen, so könnte man mit ebenso
gutem Grunde den gesetzlichen Wortlaut (— zugestandene Thatsachen
bedürfen keines »Beweises« —) tadeln, dessen negative Fassung den
eigentlich maßgebenden Punkt, nämlich die (— positive —) Eigenschaft
der zugestandenen Thatsache als Urteilsgrundlage nicht genügend her-
vortreten läßt. (Ein solcher Tadel ist denn auch thatsächlich in der
Norddeutschen Prozeßkommission — s. Protok. S. 700 — laut geworden.
Man vergleiche auch die Fassungen in dem sächsischen Entwurfe $ 390,
der württembergischen Prozeßordnung Artt. 408, 409 = 397, 398
Entw., und dem österreichischen Entwurf von 1862 §§ 155 ff.).
Nicht einmal den Schein einer Begründung hat es aber, wenn der
Verfasser sogar die Wendung im Sinne der Legaltheorie deutet, das ge-
richtliche Geständnis habe feststellende Kraft. Denn gerade diese
Wendung bezeichnet die Geständniswirkung auf das Allertrefflichste.
Eine Thatsache >feststellen< heißt, wie die einfache Zerlegung des
Wortes in seine Bestandteile ergiebt, sie in eine unverrückbare (feste)
Stellung bringen, sie den Schwankungen, dem Streit entziehen. Dies
ist aber bei dem Geständnis der Fall, welches zwar die zugegebene
Thatsache nicht als wahr nachweist, wohl aber für den Prozeß außer
Streit setzt, insofern also als Unterlage feststellt.
V.
Der Verfasser spricht aber nicht nur dem Geständnis, sondern
überhaupt sämmtlichen urteilsbegründenden Prozeßhandlungen eine
eigene selbständige Rechtswirksamkeit ab. Alle diese Handlungen
sollen nicht durch sich selbst, sondern erst mit dem Urteil und durch
dieses einen Erfolg hervorbringen können. Daß aber die auf Be-
schaffung der Urteilsgrundlagen gerichteten Parteihandlungen, unter
ihnen auch das Geständnis, erst mit dem Urteil wirksam würden,
kann höchstens zugegeben werden, wenn man auf das Ganze der
Prozeßführung sieht, namentlich den Einfluß der Prozeßhandlungen
auf das materielle Recht ins Auge faßt. Abgesehen davon äußern
aber sämmtliche Parteiakte schon innerhalb des Prozesses und vor
dem Urteil die mannigfachsten Wirkungen. Gerade auf diese inner-
prozessualen Folgen aber kommt es für die Wertung jener Thatbe-
224 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
stände wesentlich und in erster Linie an. Gerade in ihnen gelangt
die charakteristische Eigentümlichkeit der Parteihandlungen zu kla-
rem Ausdruck, da ja doch deren prozessuale Bedeutung haupt-
sächlich in dem Einfluß liegt, den sie auf den Prozeß selbst aus-
üben.
Das gilt in besonderem Maße bei dem gerichtlichen Geständ-
nis. Es entfaltet schon vor der Entscheidung seine Wirksamkeit.
Es enthebt den Gegner des Beweises, d. h. einer Handlung, die
grundsätzlich nur innerhalb des Rechtsstreits vorkommen kann. Es
steht jedem nachträglichen auf Beweis der zugegebenen Thatsache
gerichteten Antrag entgegen, dessen Abweisung es herbeiführt; es
macht künftige Bestreitungen des Gestehenden unbeachtlich. Des-
halb spricht auch das Gesetz davon, daß das Geständnis unter ge-
wissen Umständen seine Wirksamkeit »verliert< (§ 290). Eine Wir-
kung muß demnach schon vor dem Urteile bestanden haben, wenn
auch für dieses das Geständnis, wie überhaupt alle Prozeßhandlungen,
von wesentlichster Bedeutung ist. Ja, der Verfasser, welcher den
urteilsbegründenden Handlungen eine eigene Rechtswirksamkeit ab-
spricht, redet selbst in einem besonderen vierten Teil des Längeren
von der »Wirkung des gerichtlichen Geständnisses«.
Aber selbst, wenn man zugeben müßte, daß das Geständnis erst
mit dem Urteil und durch dasselbe Rechtsfolgen hervorbringt, so
könnte daraus gegen die Annahme einer Feststellungswirkung kein
Einwand gefolgert werden. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß
der Richter zugegebene Thatsachen seiner rechtlichen Beurteilung unter-
ziehen muß. Er bildet gewissermaßen nur das Medium, durch welches
die Partei jene Thatsachen zur Urteilsgrundlage macht. Der eigent-
lich wirksame Faktor ist demnach die Parteihandlung des Ge-
ständnisses; sie ist es, welche feststellt.
Daß sie dies vermag, ergiebt sich aus dem oben dargelegten
Dispositionsprincip. Die Geltung dieses im Anfang des Buches leb-
haft bekämpften Prinzips stellt denn auch der Verfasser im vierten
Abschnitt nicht in Abrede. Im Gegenteil: Alles, was er S. 240—245
über den Grund der Geständniswirkung mit großer Ausführlichkeit
darlegt, ist nichts als eine Wiedergabe der Dispositions- oder Ver-
handlungsmaxime, die sich nahezu seit einem Jahrhundert in der
Prozeßlehre ausnahmslose Anerkennung verschafft hat. Unter den
überaus zahlreichen Schriftstellern, welche diesen Satz ausgesprochen
haben, sei nur verwiesen auf Bethmann-Hollweg, der sich a.a.O.
S. 258 folgendermaßen ausläßt: »Sowie der Richter nach der sogenann-
ten Verhandlungsmaxime überhaupt von der Ungewißheit eines Rechts-
verhältnisses nur dann Notiz nimmt, wenn es darüber zum Streit
kommt, und dies ibm vorgetragen wird, so richtet er nach demselben
Bülow, Das Geständnisrecht. 225
Prinzip in der anhängig gemachten Sache seine Untersuchung nur
auf diejenigen Punkte, die unter den Parteien bestritten sind«. Man
vergleiche ferner die Aeußerungen von Renaud 2te Aufl. S. 272, die
prozessuale Uebereinstimmung der Parteien mache die eingeräumte
Thatsache zu einer nichtstreitigen und entziehe sie deshalb der rich-
terlichen Prüfung, sowie die trefflichen Ausführungen Jagemanns
in Weiskes Rechtslexikon unter >Gestandnis« S. 802 über das man-
gelnde Interesse des Staates, in Prozessen über Mein und Dein die
Richtigkeit unbestrittener Thatsachen zu ermitteln; weiter A. S.
Schultze in seinem Privatrecht und Prozeß S.80; Laband Staats-
recht des Deutschen Reiches 2te Aufl. II S. 338.
Indem aber der Verfasser den Grund für die Geständniskraft auf
die Herrschaft der Parteien über den Prozeß zurückführt, und indem
er nicht die Wahrheit der zugegebenen Thatsache , sondern das Ein-
verständnis der Parteien über deren Verwertung im Urteil für maß-
gebend erachtet, sagt er durchaus nichts anders als die herrschende
Ansicht, wenn sie das gerichtliche Geständnis einen Dispositivakt
nennt. Zugleich aber tritt er damit in Gegensatz zu seiner im er-
sten Teil aufgestellten Definition, in der auf die Wahrheitserklärung
das Hauptgewicht gelegt wird. Er kommt also, wenn auch im Wider-
spruche mit seinen ursprünglichen Ausführungen, schließlich auf eine
Ansicht hinaus, die schon längst Gemeingut der Prozeßrechtswissen-
schaft gewesen ist, jener selben Wissenschaft, welche gerade in die-
sem Punkte »>so vollständig schwarz< sein soll, >daß sie gar nicht
schwärzer gemacht oder für schwärzer gehalten werden könnte.«
(S. 224 Anm. 1).
VI.
Der erste Teil des vorliegenden Werkes ist hauptsächlich dem
Kampfe gegen die von Planck aufgestellte, und im Anschluß an ihn
von zahlreichen Schriftstellern vertretene Verzichtstheorie
gewidmet. Diese beruht auf naheliegenden Vorstellungen. Sie
nimmt ihren Ausgangspunkt von dem Normalfalle, daß die Partei-
behauptungen durch die Gegenseite bestritten und deshalb beweis-
bedürftig werden, und betont aus diesem Gesichtspunkte die im Ge-
ständnis liegende Aufgabe jener Bestreitungsmöglichkeit. Zugleich
erklärt sie sich aus der Tendenz, einen Parallelismus mit ähnlichen
Parteihandlungen herzustellen, durch welche gewisse prozessuale Be-
fugnisse von der Partei aufgegeben werden, wie z.B. beim Verzicht
auf die Rüge eines Mangels im Verfahren ($ 295 C.P.O.), der Klage-
zurücknahme, der Zurückziehung eines Rechtsmittels u.s. w. Schließ-
lich ist sie bestrebt, für die im Geständnis liegende Parteidisposition
einen Gegenstand zu ermitteln, und zwar findet sie diesen, analog
Ste. gel. Anz. 1901. Nr. 8. 16
226 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
dem Falle des außerprozessualen Verzichtes, in einem Rechte, näm-
lich dem Bestreitungs-, bezw. Verneinungsrechte.
Hält man diese Erwägungen im Auge und beachtet man weiter,
daß die Prozeßhandlungen ohne Rücksicht auf den ihnen zu Grunde
liegenden Erfolgswillen wirksam sind, so kann die Verzichtstheorie
jedenfalls nicht aus dem Grunde abgelehnt werden, weil die Partei
vielfach nicht das subjektive Bewußtsein der im Geständnis liegenden
Hingabe einer prozessualen Befugnis hat. Dagegen muß zugegeben
werden, daß die Verzichtstheorie, wenn auch nicht schlechthin un- |
richtig, so doch zu einseitig ist und sich aus diesem Grunde nicht
empfiehlt. Sie betrachtet das Geständnis lediglich aus dem Stand-
punkte des daran geknüpften Verlustes prozessualer Verhaltungs-
möglichkeiten, statt das Hauptgewicht auf seine positiven Wirkungen,
nämlich auf seine Bedeutung für Prozeß und Urteil zu legen.
Demgemäß ist die Verzichtstheorie schon von einer ganzen Reihe
gemeinrechtlicher und auch neuerer Schriftsteller bekämpft worden,
zum Teil mit genau den gleichen Gründen, wie sie der Verfasser
hier vorbringt. Man vergleiche etwa: Langenbeck, Beweis-
führung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten 1858 S.121; Bracken-
hoeft, Erörterungen S. 267; Renaud 2te Aufl. 1873 S. 270; Pu-
chelt, Komm. IS. 63; Demmler, Gerichtliches Geständnis von
Rechtsverhältnissen; Möhring, Natur und Kraft des gerichtlichen
Geständnisses S. 20; Wittmaak im Archiv für die civilistische
Praxis 1888 S. 18 ff. u.s.w. Neuerdings haben nun auch im An-
schluß an das vorliegende Buch die Kommentare von Gaupp-Stein
(4te Aufl.), Petersen (4te Aufl.) den Verzichtsgedanken aufgegeben,
wenn sie auch im Uebrigen, wie auch Struckmann-Koch 7te Aufl.
S. 349 Zif. 1 die Auffassung des Geständnisses als einer Dispo-
sitivhandlung mit vollem Rechte weiter vertreten.
Wenn nun aber nach dem Gesagten das Ergebnis des Verfas-
sers, Ablehnung der Verzichtstheorie, in gewisser Hinsicht Billigung
verdient, so gilt das Gleiche nicht von den beiden, im Wesentlichen
neuen Gründen, auf welche er diese Ansicht hauptsächlich stützt.
Ein Verzicht soll zunächst aus dem Grunde ausgeschlossen sein,
weil in der Erklärung, nicht zu bestreiten, ein Geständnis niemals
gefunden werden könne. In einer derartigen Aeußerung liege über-
haupt kein Zugeben, keine Anerkennung der Wahrheit, sondern um-
gekehrt eine Neutralitätsverkündung, die Erklärung, weder gestehen
noch bestreiten zu wollen. Wer nicht verneine, sage damit noch
koineswegs Ja, vielmehr enthalte er sich jeder Stellungnahme.
Diese rein äußerliche Betrachtungsweise, welche geradezu auf
ein Spiel mit Worten hinausläuft, trifft nun gewiß nicht das Rich-
tige. Das Geständnis kann in jeder Form zum Ausdruck gebracht
Bülow, Das Geständnisrecht. 227
werden, aus welcher das Einverständnis mit der gegnerischen Be-
hauptung geschlossen werden kann. Es kommt lediglich darauf an,
was die Partei mit ihren Erklärungen meint. Für die Auslegung
der Parteiabsichten und -handlungen sind aber praktische Gesichts-
punkte, nicht formal logische Erwägungen maßgebend, sodaß die
durch Citate aus philosophischen Schriften (S. 11 Anm. 1) unter-
stützten Ausführungen des Verfassers über die logische Verschieden-
heit zwischen Nichtbestreiten und Gestehen, und über die häufige
Verwechselung zwischen konträr und kontradiktorisch entgegenge-
setzten Begriffen, für unsere Frage gänzlich ohne Bedeutung sind.
Daß die Partei ihrer Geständniserklärung eine positive Fassung gebe,
ist nirgends verlangt, und kann auch vernünftiger Weise nicht ge-
fordert werden. Denn, wer im Rechtsstreit erklärt: »ich bestreite
nicht<; »ich will nicht bestreiten<; »ich kann nicht bestreiten< und
Aehnliches, der sagt damit in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
doch nichts anders, als: »Die gegnerische Behauptung ist richtig,
ich erkenne sie hiermit als wahr anc«.
Diese Deutung ergiebt sich der Regel nach ohne Weiteres aus
der ganzen Situation, in welcher eine solche Erklärung abgegeben
wird. Eine Partei, die auf die erhobene Klage hin, angesichts
des nahen Urteils, im vollen Bewußtsein der Erheblichkeit gegneri-
scher Behauptungen, diese nicht zu bestreiten erklärt, gesteht sie
damit einfach zu. Sie giebt keine vom positiven Geständnis ver-
schiedene Erklärung ab, sondern nur eine Umschreibung für dieselbe
Sache. Diese ganze Auffassung liegt so nahe, daß eine Partei,
die eine Aeußerung über die Aufstellungen des Gegners ver-
meiden will, sich, wenn sie nicht als geständig gelten will, niemals
mit der bloßen Erklärung wird begnügen dürfen, nicht zu bestreiten,
sie vielmehr dahin wird erläutern müssen, daß sie ebensowenig be-
jahen als leugnen, daß sie sich überhaupt nicht äußern wolle.
Freilich kann, wie zugegeben werden mag, die Erklärung des
Nichtbestreitens in ganz vereinzelten Fällen als Antwortverweigerung
gemeint sein, was dann vermöge des richterlichen Fragerechtes fest-
zustellen ist. In der Regel kommt sie jedenfalls auf ein wirkliches
Geständnis hinaus. Demgemäß hat denn auch die Rechtsprechung un-
serer Gerichte, unter entschiedener Ablehnung des hier bekämpften
rein formalistischen Standpunktes und richtiger Würdigung der Partei-
absichten, keinen Anstand genommen, die Aeußerung der Nichtbe-
streitung in einer Reihe von Fällen als Geständnis auszulegen. Vgl.
die Entscheidungen bei Petersen 4te Auflage zu $ 288.
Der Verfasser beruft sich darauf, daß ja das Gesetz selbst zwi-
schen dem Nichtbestreiten einerseits ($ 138 Abs. 2) und dem Ge-
| 1A *
228 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
stehen andererseits ($ 288 C.P.O.) einen deutlichen Unterschied
mache. Indessen : Der § 138 Abs. 2 C.P.O. handelt zunächst keines-
wegs vom Nichtbestreiten, sondern von der Unterlassung jeder Er-
klärung, also auch vom Nichtbejahen. Sodann besteht zwischen dem
Stillschweigen und der ausdrücklichen Erklärung des Nichtbestreitens
eine wesentliche Differenz. Dort hat sich die Partei überhaupt nicht
geäußert, hier hat sie ihr Einverständnis mit dem Gegner hinsicht-
lich einer Thatsache ausdrücklich dokumentiert, d. h. mit anderen
Worten gestanden.
Des Weiteren wird gegen die Verzichtstheorie der Einwand er-
hoben, es gebe keine subjektiven Prozeßrechte, sondern lediglich
prozessuale Handlungsbefugnisse. Dieselben könnten aber nicht
den Gegenstand einer Verfügung oder eines Verzichtes sein, sondern
bildeten einen Teil der unveräußerlichen Rechtspersönlichkeit. Ein
Rechtssubjekt könne nicht ein für allemal auf die Vornahme einzel-
ner Handlungen oder einzelner Arten von Handlungen verzichten.
Sie könne sich nicht selbst entmündigen.
Auch dieses Argument kann als zutreffend nicht erachtet werden.
Auf die grundlegende und schwierige Frage, ob es subjektive ProzeB-
rechte oder nur Befugnisse (— Berechtigungen —) im engeren Sinne
giebt, kann hier nicht näher eingegangen werden. Es scheinen in
der That überwiegende Gründe für die letztere Auffassung zu spre-
chen. Darf aber daraus gefolgert werden, daß ein Verzicht auf
prozessuale Handlungsbefugnisse undenkbar sei? Keineswegs! Die
der Partei verliehenen Befugnisse sind von vornherein durch das
Prozeßgesetz genau vorgezeichnet. Dieses kennt nur eine be-
schränkte Anzahl von Verhaltungsmöglichkeiten, deren jede einzelne
durch ihren bestimmten Inhalt hinreichend individualisiert ist. In-
dem nun die Partei eine derartige Befugnis aufgiebt, verzichtet sie
damit nur auf die Vornahme einer ganz bestimmten Handlung. Sie
verliert dadurch mit Nichten einen Teil ihrer gesammten Rechts-
persönlichkeit. Wer z. B. in einem konkreten Rechtsstreite von der
Bestreitung einer einzelnen Thatsache abzusehen erklärt, der ver-
pflichtet sich damit doch nicht, nunmehr in allen denkbaren Pro-
zessen keine Thatsache mehr zu bestreiten. Er büßt nicht die ab-
strakte Bestreitungsbefugnis ein. Und wer auf die Berufung gegen
ein bestimmtes Urteil verzichtet, hat damit keineswegs für sein gan-
zes Leben die Fähigkeit verloren, Berufungen einzulegen. Es ist
demnach eine offenbare, auf der Verwechselung zwischen konkreter
und abstrakter Handlungsmöglichkeit beruhende, Uebertreibung, wenn
behauptet wird, prozessuale Berechtigungen seien schlechterdings
unverzichtbar.
Bülow, Das Geständnisrecht. 229
Das Gegenteil ergiebt sich schon in unzweifelhafter Weise aus
den positiven Vorschriften der Civilprozeßordnung. Dieselbe spricht
unter Anderem von einem Verzicht auf prozeßhindernde Einreden
($$ 274 Abs. 2, 528), auf Befolgung einer Prozeßvorschrift (§ 295),
auf den Anspruch (§ 346), auf Rechtsmittel §§ 514, 521, 526), auf
die Vernehmung von Zeugen ($ 399), auf das Beweismittel der Ur-
kunde ($ 436), ja sogar auf die Vereidigung von Zeugen und Sach-
verständigen (§§ 391, 410). Man wird aber sicherlich nicht sagen
dürfen, daß, wer z.B. einen Zeugen unbeeidigt vernehmen läßt, sich
damit selbst entmündige!
Auch im privatrechtlichen Verkehr ist übrigens die Verfügung über
Handlungsbefugnisse keineswegs ausgeschlossen, sondern überall dort
zulässig, wo die aufzuhebende Befugnis hinreichend spezialisiert ist,
und sich auf verfügbare Rechtsgüter bezieht. Freilich kann man
nicht allgemein und schlechterdings auf Okkupation , Vornahme von
Rechtsgeschäften, z.B. Schenkungen u. s. w. wirksam verzichten. Da-
gegen kann sehr wohl eine Person gegenüber einer bestimmten an-
deren die Verpflichtung übernehmen, sich eine genau bezeichnete
herrenlose Sache nicht anzueignen. Auch liegt in einem rechtsge-
schäftlichen Veräußerungsverbot doch nichts anders als der gültige
Verzicht auf eine Handlungsbefugnis. Eine ähnliche Erscheinung
bieten ferner das Vor- und Wiederkaufsrecht. Aus diesen leicht zu
vermehrenden Beispielen ergiebt sich zur Genüge, daß bestimmte
Handlungsbefugnisse recht wohl aufgegeben werden können. Aus-
nahmen, wie z.B. der Fall des $ 1136 B.G.B., bestätigen nur die
Regel.
VI.
Auch in dem vorliegenden Werke kommt der Verfasser wieder-
holt auf die von ihm aufgestellte Bestimmung des Prozesses als eines
Rechtsverhältnisses zurück. Eine Vertiefung seiner Ansicht, und zu-
gleich ein Argument gegen die rechtsgeschäftliche Natur des Ge-
ständnisses, glaubt er in dem Umstande finden zu können, daß die
urteilsbegründenden Handlungen eine selbständige Wirksamkeit nicht
äußern, sondern erst mit der richterlichen Entscheidung und durch
diese zur Geltung gelangen. Die letztere Behauptung ist bereits
oben unter IV gewürdigt worden. Hier soll nur kurz auf das an-
gebliche Prozeßverhältnis eingegangen werden, ohne die grundlegende
Frage erschöpfend behandeln zu wollen.
Die hauptsächlichen Gesichtspunkte, die gegen die Annahme
eines besonderen einheitlichen Prozeßrechtsverhältnisses sprechen, sind
bereits von A.S. Schultze in seinem »Privatrecht und Prozeß« S. 285
geschichtlich und dogmatisch entwickelt worden. Dort ist namentlich
280 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
($ 29) auf den Zusammenhang jener Ansicht mit einer unrichtigen
Anschauung über das Verhältnis von jus und judicium im altrömi-
schen Prozeß verwiesen und gezeigt worden, daß daraus die gewiß
unzutreffende Folgerung sich ableite, als gäbe es keine Prozeßein-
reden, wenigstens keine anderen als die prozeßhindernden Einreden
(S. 276, 287—293, 353). Eine Widerlegung jener Einwände hat der
Verfasser nirgends versucht ; sie dürfte auch nicht leicht zu erbringen
sein. Selbst wenn aber jene Definition des Prozesses als eines
einheitlichen Rechtsverhältnisses nicht unrichtig wäre, so
scheint sie mir, was nur in aller Kürze hier angedeutet werden
kann, der wissenschaftlichen Fruchtbarkeit zu entbehren, wenn auch
nach Ansicht des Verfassers ihre Aufstellung den Ausgangspunkt
einer neuen Prozeßrechtswissenschaft bilden soll. (Vergleiche seinen
Aufsatz in der Zeitschrift für deutschen Civilprozeß, B. 27 S. 223.)
Will der Ausdruck »Rechtsverhältnis< die Rechtsnatur des
Civilprozesses besonders betonen, so besagt er lediglich etwas Selbst-
verstandliches; denn auch bisher hat Niemand bezweifelt, daß der
Prozeß durch Rechtssätze beherrscht wird. Will er dagegen auf die
Einheitlichkeit des Prozeßverfahrens das Gewicht legen, so
spricht er ebenfalls eine unstreitige und und längst anerkannte That-
sache aus. Die Einheit des Prozesses beruht aber nicht auf seiner
Eigenschaft als Rechtsverhältnis, sondern auf dem organischen Zu-
sammenhange, in welchem die einzelnen Prozeßhandlungen und die
daran geknüpften Wirkungen durch die Beziehung zwischen der
Klage als dem Entscheidungsantrag und dem Urteil als der Ent-
scheidung gebracht werden.
Sodann ist der Begriff Rechtsverhältnis keineswegs unzweideutig
und überall der gleiche. Soll durch ihn eine Beziehung der Berech-
tigung und Verpflichtung gemeint sein, wie sie bei Privatrechtsver-
hältnissen obwaltet? Wäre dies wirklich der Fall, und könnte eine
einheitliche Prozeßberechtigung und -verpflichtung nachgewiesen wer-
den, so läge allerdings für das behauptete Rechtsverhältnis ein be-
stimmter greifbarer Inhalt vor. Dies kann aber die Meinung des
Verfassers aus dem Grunde nicht sein, weil er alle einzelnen subjek-
tiven Prozeßrechte und -pflichten ablehnt, also auch nicht geneigt
sein wird, ein den ganzen Prozeß erfassendes Recht anzuerkennen.
Worin soll aber dann der Inhalt, der Gegenstand des einheitlichen
Prozeßverhältnisses liegen? Darauf hat bisher weder der Verfasser
selbst noch irgend einer seiner Anhänger eine klare Antwort erteilt.
Aber auch, wenn eine solche gefunden werden könnte, wäre da-
mit nicht allzuviel gewonnen. Denn gemeinsame Regeln, die überall
zur Anwendung kommen müßten, wo ein Rechtsverhältnis gegeben
Bülow, Das Geständnisrecht. 281
erscheint, sind bisher noch nicht ermittelt, und werden wohl auch,
mit Rücksicht auf die Mannigfaltigkeit der möglichen Rechtsbe-
ziehungen, kaum jemals aufgestellt werden können. Was der Ver-
fasser in dieser Richtung von dem Begriffe des Rechtsgeschäf-
tes ausführt (S. 156 Anm. 2), und was nach seiner Meinung seine
Uebertragung auf die Prozeßhandlungen ausschließt, müßte noch in
viel höherem Maße von dem Begriff des Rechtsverhältnisses
gelten. Uebrigens würden derartige gemeinsame Grundsätze, auch
wenn sie sich aufstellen ließen, schon deshalb nicht unbesehen auf
den Prozeß übertragen werden dürfen, weil es sich hier um ein
ganz eigenartiges, von allen übrigen gänzlich verschiedenes Rechtsver-
hältnis handeln würde.
Demnach dürfte wohl unsere Wissenschaft ihre Hauptaufgabe
weniger in dem Nachweis eines ProzeGrechtsverhialtnisses, als viel-
mehr in der Erforschung der einzelnen prozessualen Thatbestände
und ihres gegenseitigen Verhältnisses, namentlich in der Klarstellung
der verschiedenen Parteihandlungen und der daran geknüpften Wir-
kungen zu erblicken haben. Und gerade diese Aufgabe wird ihm
zugewiesen durch die Auffassung des Prozesses als dessen, was er
ist, nämlich eines Handelns zur Geltendmachung und Verwirk-
lichung von Rechten, als eines Verfahrens, einer Thätigkeit, eines In-
begrifis von Akten. Er teilt insofern die Eigentümlichkeit der
strafrechtlichen Thatbestände, bei welchen ebenfalls nicht in er-
ster Linie rechtliche Beziehungen, sondern Handlungen mit be-
stimmtem Inhalt und bestimmten Wirkungen in Frage kommen.
Geht man aber von der Auffassung des Prozesses als eines In-
begriffes von Handlungen aus, so gelangt man folgerichtig auch zu
einer Mehrheit prozessualer Beziehungen. Für diese läßt sich aber,
anders als für das behauptete Prozeßrechtsverhältnis, jeweils ein
ganz bestimmter Inhalt und Gegenstand nachweisen. Es ließe sich
demnach mit weit größerem Rechte von einer Vielheit prozessualer
Rechtsverhältnisse, als von einem einzigen reden, wenn man über-
haupt den ganzen Begriff für den Prozeß verwerten zu müssen
glaubt.
Daß es jedenfalls kein von der Gesammtheit dieser Beziehun-
gen unterscheidbares einheitliches Verhältnis giebt, dafür giebt der
Verfasser selbst den schlagendsten Beweis, indem er (in der erwähn-
ten Abhandlung, Zeitschrift für Deutschen Civilprozeß 1900) seine
Prozeßrechtsverhältnis nicht anders zu definieren vermag als den
‚Inbegriff der gesammten prozessualischen Rechtsbeziehungen, die
zwischen den Prozeßsubjekten, den beiden Parteien und dem Ge-
richte, durch die Prozeßeinleitung entstehen« (S. 222); und daß
282 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
die einzelnen Prozeßthatbestände durch die Annahme eines sol-
chen allgemeinen Verhältnisses eher verdunkelt als klargestellt wer-
den, offenbart sich gerade in dem vorliegenden Werke, das durch
jene Annahme für die spezielle Geständnislehre zu dem unrichtigen
Schlusse verleitet wird, als könne dem Geständnis eine eigene selb-
ständige Prozeßwirkung nicht zuerkannt werden.
VOL
Bisher sind hauptsächlich die vom Verfasser entwickelten all-
gemeinen Gedanken einer Prüfung unterzogen worden. Im Fol-
genden soll nunmehr seine Definition, und sollen die daraus ent-
wickelten Sätze im Einzelnen behandelt werden. Nach ihm ist das
gerichtliche Geständnis >die von einer Partei vor dem Prozeßgericht
abgegebene Erklärung, daß eine der Partei zum Rechtsnachteil ge-
reichende, vom Gegner behauptete Thatsache wahr ist«.
Daß aber das Geständnis nicht positiv gefaßt zu werden braucht,
und daß es seinem Begriffe nach keine Wahrheitserklärung ist,
wurde bereits oben ausgeführt. Die mitgeteilte Definition leidet
aber auch an dem Fehler, daß sie das Mißverständnis nahelegt, als
müsse die gestehende Partei auf die gegnerische Behauptung Be-
zug nehmen, als müsse sie unter ausdrücklichem Hinweis auf
jene Behauptung ihr Einverständnis mit derselben erklären. Das ist
indessen nicht erfordert, wie ja auch der Verfasser durch seine Aus-
führungen über das zuvorkommende Geständnis anerkennt. Die zu-
gebende Partei braucht weder ausdrücklich noch stillschweigend auf
die Behauptung der Gegenseite Bezug zu nehmen. Sie braucht
nicht einmal das Bewußtsein zu haben, daß die auch von ihr aufge-
stellte Thatsache bereits von dem Gegner geltend gemacht worden
ist. Es genügt der rein objektive Umstand, daß übereinstimmende
Erklärungen vorliegen.
Hier erhebt sich aber die Frage, welche von jenen beiden in-
haltsgleichen Aufstellungen die Behauptung im technischen Sinne
und welche das Geständnis bilde. Aus diesem Gesichtspunkte
wird ein weiteres Thatbestandsmerkmal von Bedeutung, das der
Verfasser als die Nachteiligkeit der zugegebenen Thatsache be-
zeichnet. Auch dieser Ausdruck ermangelt der für jede Definition
unumgänglichen Schärfe und Unzweideutigkeit. Im Prozeß werden
vielfach Umstände von Erheblichkeit, die zu gleicher Zeit sowohl
für die eine als für die andere Partei günstig und nachteilig sind.
Ein Erbe klagt z.B. eine Erbschaftsforderung ein, begegnet aber der
Einrede der Aufrechnung mit einer Erbschaftsschuld. Die behauptete
Erbschaftsannahme ist für ihn vorteilhaft, soweit die Erbschaftsfor-
derung, nachteilig, soweit die Erbschaftsschuld in Frage kommt.
Bülow, Das Geständnisrecht. 288
Zuweilen wird sich nach Abgabe des Geständnisses das Verhältnis
von Vorteilhaftigkeit und Nachteiligkeit infolge später erhobener
Einreden gänzlich verschieben und umkehren. Nach dem Verfasser
(S. 199) soll sich die Eigenschaft der Nachteiligkeit einer Behaup-
tung erst nach der bei Fällung der Entscheidung gegebenen Pro-
zeßlage beurteilen können. Indessen kommt doch das Gericht oft
genug in die Notwendigkeit, sich schon während des Prozesses über
das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Geständnisses schlüssig zu
machen; so z. B., wenn eine »Behauptung« widerrufen, ein Beweis
über dieselbe erboten wird und dergl. In allen derartigen Fällen
ist mit der Nachteiligkeit nicht auszukommen.
Das damit gemeinte Begriffsmerkmal muß denn auch anders
gefaßt werden. Das gerichtliche Geständnis enthebt den Gegner
des Beweises. »Zugestanden« im eigentlichen Sinne werden also
nur Behauptungen, welche von dem Gegner zu beweisen wären.
Wenn also die gleiche Thatsache von beiden Parteien übereinstim-
mend aufgestellt wird, so liegt die Behauptung auf Seiten dessen,
der sie nach den Grundsätzen der Beweislast darlegen müßte,
wenn sie nicht auch durch den Gegner bestätigt worden wäre; das
Geständnis dagegen ist von dem letzteren abgegeben. Damit ist
zwischen Behauptung und Geständnis eine klare Unterscheidung ge-
wonnen, welche es auch ermöglicht, das Vorhandensein des letzteren
schon während des Prozesses, also in einem Zeitpunkte zu beurteilen,
in dem sich vielfach die Nachteiligkeit oder Vorteilhaftigkeit der
betreffenden Thatsache für das Prozeßergebnis noch gar nicht über-
sehen läßt.
Zugleich erledigt sich damit die Streitfrage, ob das Geständnis
notorisch unwahrer Thatsachen den Richter binde, ohne Wei-
teres in negativem Sinne, da weder die offenkundige Thatsache selbst
noch auch ihr Gegenteil des Beweises bedürfen, also auch nicht mit
der spezifischen Wirkung des $ 288 »zugestanden< werden können.
Endlich ergiebt sich daraus eine wichtige Folgerung für die
Auffassung der sog. zuvorkommenden Geständnisse. Diesen
widmet der Verfasser eine ausführliche und anregende Erörterung,
deren Ergebnisse jedoch nur zum Teil gebilligt werden können.
Nach ihm ist das zuvorkommende, d. h. vor der entsprechenden
Behauptung durch den Gegner abgegebene Geständnis zwar seinem
Wesen nach ein Geständnis, eine Wahrheitsbekundung (S. 279). Es
ist jedoch noch kein fertiges verbindliches Prozeßgeständnis (S. 212).
Es kann andererseits vermöge seiner Beweiskraft wirksam sein
(S. 219 f.) und ist infolgedessen »eines jener seltsamen vor Gericht
abgelegten außergerichtlichen Geständnisse«. Zugleich aber wirkt
284 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
es, soweit nicht rechtsverfolgende Einreden in Frage stehen, als
eine Thatsachenanführung, welche unabhängig von ihrer Wahrheit
auch ohne Behauptung durch den Gegner dem Urteil zu Grunde
gelegt werden muß. Diese Wirkung gründet sich — wird weiter
ausgeführt — nicht auf den Beweiswert der unerwidert gebliebenen
Geständniserklärung, welche insofern weder gerichtliches noch außer-
gerichtliches Geständnis ist (S. 289—290).
Daß diese ganze Auffassung besonders durchsichtig wäre, kann
man nicht behaupten. Sie betrachtet eine und dieselbe Parteiauf-
stellung zu gleicher Zeit als »außergerichtliches Gestandnis< (Beweis-
grund), als Thatbestandsmoment für das gerichtliche Geständnis, und
als eine unabhängig von ihrem Beweiswert wirkende Thatsachen-
anführung.
In der That läßt sich, wenn man auf das Wesen der Sache
sieht, für alle Fälle nur die letzte Konstruktion aufrecht erhalten.
Das sogenannte zuvorkommende Geständnis ist seinem rechtlichen
Kerne nach überhaupt und in jedem Falle kein Geständnis, sondern
reine Behauptung. Ein noch unfertiges, unverbindliches Geständnis
ist eben gar keines; genauso, wie ein >Delikt«, dessen Merkmale
nicht sämmtlich verwirklicht sind, keine strafbare Handlung (kein
Delikt), und wie die einseitige Willenserklärung eines Kontrahenten
kein Vertrag ist. Die in dem »zuvorkommenden Geständnis< lie-
gende Thatsachenanführung ist nichts von ihm verschiedenes, nichts
daneben herlaufendes, sondern der einzige, wesentliche, und er-
schöpfende Inhalt desselben.
Das gerichtliche Geständnis setzt seinem Wesen nach beider-
seitige Behauptung voraus. Es ist solange nicht gegeben, als
nur die Aufstellung der einen Seite vorliegt. Eine solche Auf-
stellung ist demnach begrifflich nichts als eine Behauptung. Sie
kommt rechtlich auch nicht als ein >Stück« eines gerichtlichen
Geständnisses in Frage; denn sie besitzt keine einzige seiner wesent-
lichen Eigentümlichkeiten; sie ist nicht unwiderruflich (vergl. aus
neuester Zeit die interessante Entscheidung in Seufferts Archiv 54
Nr. 187); sie enthebt den Gegner nicht des Beweises, da dieser keine
Behauptung aufstellt, also auch keinen Nachweis zu führen hat. Sie
ist auch kein außergerichtliches Geständnis, schon deshalb nicht,
weil sie vor dem Prozeßgericht in dem konkreten Rechtsstreit ab-
gegeben wird; namentlich aus dem Grunde, weil sie, wie der Ver-
fasser selbst ausführt, nicht kraft ihres Beweiswertes, sondern un-
abhängig von demselben Berücksichtigung durch den Richter erheischt.
Sie wirkt daher auch nur als Behauptung. Soweit also der
Kläger einseitig Thatsachen anführt, die seinen Anspruch ganz oder
Bülow, Das Geständnisrecht. 286
zum Teil als nicht bestehend erscheinen lassen, ist seine Klage (sei
es vollständig, sei es zum Teile) unbegründet. Dieselbe muß also
abgewiesen werden, nicht weil der Kläger etwas zugestanden hat,
auch nicht, weil der Beweis erbracht ist, daß seine Klage unge-
rechtfertigt ist, sondern lediglich aus dem Grunde, weil er seinen
Anspruch nicht oder nicht hinreichend begründet hat. Die durch
die Aufstellung des Klägers in den Prozeß eingeführte (nicht be-
strittene) und deshalb vom Richter zu beachtende Thatsache er-
scheint dann im Zusammenhalte mit den übrigen Behauptungen
nicht geeignet, den Antrag zu rechtfertigen. Es greift demnach
der negative Gesichtspunkt der unzureichenden Klagebegründung Platz.
Und zwar gilt dies sowohl dann, wenn die Erklärung mit den
übrigen Behauptungen des Klägers unvereinbar ist, als auch in
dem Falle, wenn sie sich zwar mit jenen anderweitigen Aufstellungen
vereinbaren läßt, aber einen Schluß auf die Unbegründetheit des
auf jene Aufstellungen gestützten Rechtes erlaubt, wenn sie also
eine Thatsache enthält, welche, falls sie von dem Gegner aufgestellt
wäre, nicht als Leugnung des Thatgrundes, sondern als Einrede auf-
zufassen wäre.
Als reine Behauptung erscheint das sogenannte zuvorkommende
Geständnis auch dann, wenn es zur Begründung gegnerischer Ein-
reden im Sinne des bürgerlichen Gesetzbuchs, z. B. der Aufrechnung,
der Verjährung, des Anfechtungsrechtes geltend gemacht werden
könnte. Hier ist aber die Behauptung unerheblich, und zwar des-
halb, weil sie in wirksamer Weise nur durch den Gegner aufgestellt
werden kann, der allein befähigt ist, durch Berufung auf sie einen
rechtserheblichen Thatbestand zu schaffen. Das wird auch von dem
Verfasser (S. 306 ff.) nicht verkannt. Er unterläßt es aber zu er-
läutern, wie denn eigentlich in solchen Fällen das sog. »zuvorkom-
mende’Geständnis« rechtlich aufzufassen sei, und er glaubt zu Un-
recht, jene Besonderheit sei bisher für die Geständnislehre von der
Prozeßrechtswissenschaft noch nicht verwertet worden.
Nach dem Gesagten ist die einseitige Parteibehauptung über-
haupt niemals Geständnis. Sie wird es nicht eher, als bis sie auch
durch den Gegner aufgestellt wird. Nun erst hat die beweisaus-
schließende Kraft des Geständnisses einen Sinn und einen Gegen-
stand. Der Vorgang ist also nicht in der Weise aufzufassen, als
habe schon vorher ein (unfertiges, nicht vollkommenes) Geständnis
vorgelegen, welches nunmehr unwiderruflich würde; sondern die Be-
hauptung der einen Partei nimmt jetzt den Charakter eines Geständ-
nisses erst an. Letzteres tritt mit einem Male ins Dasein; es ent-
wickelt sich nicht allmäblich und schrittweise.
236 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
So gelangen wir also zu dem Ergebnis: solange das Geständnis
zuvorkommend ist, ist es überhaupt noch kein Geständnis. Der
ganze Begriff hat daher keine Daseinsberechtigung.
In diesem Zusammenhange ist noch einer Aufstellung zu ge-
denken, die wohl allenthalben berechtigtem Widerspruche begegnen
wird. Nach dem Verfasser soll eine zuvorkommende thatsächliche
Erklärung, die zum Protokoll eines beauftragten Richters verlaut-
bart ist, nicht auch vor diesem, sondern nur in der mündlichen
Verhandlung vor dem erkennenden Gericht widerrufen werden können.
Dies kann nicht zugegeben werden; umsoweniger, als ja ein Ge-
ständnis gar nicht vorliegt, ein Widerruf im eigentlichen Sinne also
gar nicht erforderlich ist, sondern lediglich eine von der ursprüng-
lichen abweichende Erklärung. Thatsachenanführungen aber können
zweifellos vor dem beauftragten und ersuchten Richter wirksam er-
folgen. Wenn schon dort die weittragende und mit einschneidenden
Folgen ausgerüstete Handlung des gerichtlichen Geständnisses vor-
genommen werden kann, so muß erst recht die gänzlich voraus-
setzungslose Zurückziehung einer Behauptung in dieser Weise statt-
finden können, zumal ja sogar ein wirkliches (»fertiges«) Geständnis
beim Vorhandensein der Voraussetzungen des $ 290 C.P.O. vor
dem beauftragten und ersuchten Richter widerrufen werden kann,
wie die entsprechende durch nichts gehinderte Ausdehnung des
§ 288 C.P.O. ohne Weiteres ergiebt.
IX.
Der Verfasser ist bestrebt, die Richtigkeit der eigenen Auf-
fassung und die Unhaltbarkeit der Dispositionstheorie an einer Reihe
von Einzelfragen zu erweisen, die im Folgenden noch berücksichtigt
werden sollen. Er handelt unter Anderem von dem Falle, daß die
bestreitende Partei nach erhobenem Beweis erklärt, sie halte den-
selben für hinlänglich erbracht, und führt dann mit vollem Rechte
aus, dadurch werde das Gericht an der freien Würdigung der zu
Beweis gestellten Thatsache nicht gehindert. Daß nämlich die Partei
über die Beurteilung des Prozeßresultates nicht verfügen kann, ver-
steht sich ganz von selbst; und daß sie das nicht kann, widerspricht
keineswegs, wie Verfasser meint, der Ansicht, daß das gerichtliche
Geständnis eine Verfügung über die Urteilsgrundlagen ist. Hieraus
folgt nur, daß die Partei auch nach erhobenem Beweise die That-
sache außer Streit setzen, zur Urteilsgrundlage machen kann und
dieses selbst dann, wenn durch die Beweisaufnahme die Unwahrheit
der Thatsache erwiesen sein sollte, wie ja auch allgemein anerkannt
ist. Dieses letztere Resultat aber steht in Widerspruch gerade mit
Bülow, Das Geständnisrecht. 237
der Auffassung, als sei das Geständnis nichts als eine Wahrheits-
versicherung. Denn wie sollte es möglich sein, daß eine bloße
Wahrheitsversicherung im Stande wäre, als solche auf eine soeben
widerlegte Behauptung feststellend zu wirken.
Ferner: kann die behauptende Partei das Geständnis des Geg-
ners abweisen und auf Beweis beharren ? Oder kann sie demselben
im Wege der Vereinbarung den Widerruf des Geständnisses trotz
des Mangels der gesetzlichen Voraussetzungen ($ 290 C.P.O.) ge-
statten? Beide Fragen werden vom Verfasser in verneinendem
Sinne beantwortet, und wohl mit Recht. Daraus läßt sich aber kein
Einwand gegen die herrschende Geständnistheorie entnehmen. Die
Dispositionsbefugnis der Partei kann sehr wohl bestehen, ohne eine
schrankenlose zu sein. Das ausnahmsweise vorhandene Interesse
des Behauptenden an dem Beweise seiner Aufstellungen, oder beider
Parteien an der Zurückziehung eines abgegebenen Geständnisses
rechtfertigt nicht das Abgehen von der allgemeinen Regel, daß zu-
gestandene Thatsachen endgültig festgestellt sind. Diese Regel ist,
wie der Verfasser zutreffend ausführt, im öffentlichen Interesse be-
gründet. Daraus ergiebt sich ohne Weiteres die Beschränkung der
Parteidisposition. Dagegen würde, wie bereits dargelegt, gerade
die Ansicht des Verfassers folgerichtig zu der freien Widerruflichkeit
führen, da eine bloß als Wahrheitsäußerung wirksame Erklärung
durch die nachträgliche Aufstellung des Gegenteils paralysiert werden
müßte.
Des Weiteren wird ausgeführt, die Dispositionstheorie gelange
dazu, die Wirksamkeit eines gerichtlichen Geständnisses zu leugnen,
bei dessen Abgabe die Partei sich gegen die Rechtsverbindlichkeit
desselben verwahre. In Wahrheit müsse aber ein solches Ge-
ständnis trotz des Vorbehaltes, wie jedes andere, vollwirksam sein.
Ob die letztere Behauptung zutrifft, oder ob nicht vielmehr, wie
der Verfasser selbst S. 259 andeutet, einer derartig gewundenen
Erklärung die Eigenschaft eines Geständnisses abzusprechen sei,
wofür sich gewichtige Gründe anführen ließen, mag hier dahingestellt
bleiben. Jedenfalls ist es unrichtig, daß in den angegebenen Fällen
die Unwirksamkeit des Geständnisses sich mit Notwendigkeit aus
der herrschenden Auffassung ergiebt. Eine besonnene Partei muß
wissen, welche Wirkung ihren Prozeßakten zukommt. Will sie diese
Wirkung ausschließen, so mag sie die betreffende Handlung unter-
lassen. Sie kann sich nicht beklagen, wenn unter diesen Umständen
ihrem Vorbehalte kein Wert beigemessen wird. Uebrigens verhält
es sich damit im Prozeß nicht anders als im privatrechtlichen Ver-
kehre. Hier wie dort ist zu untersuchen, inwieweit die abgegebene
288 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
Willenserklärung ernstlich gemeint war oder nicht, und wieweit ihr
aus diesem Gesichtspunkte der Erfolg zugesprochen oder versagt
werden muß.
Ein besonders schlagender Beweis gegen die Dispositionstheorie
soll in dem Umstande zu finden sein, daß es keine bedingten
und keine befristeten Geständnisse geben könne (S. 260 fl.).
Diese bekannte Streitfrage läßt sich hier nicht erschöpfend behan-
deln. Für beide Fälle gilt, wie hier nur kurz bemerkt werden mag,
gleichmäßig folgende Regel. Es ist zu prüfen, inwiefern nach der
Absicht der Partei und nach dem Sinne ihrer Erklärung die Bei-
fügung einer Bedingung oder Zeitbestimmung derart wesentlich er-
scheint, daß ein Geständnis ohne jene Einschränkung nicht abge-
geben worden wäre. Ist dieses der Fall, so ist das bedingte bezw.
befristete Geständnis unwirksam, im anderen Falle gilt umgekehrt
die Beschränkung als nicht erfolgt. Jedenfalls aber dürfte es nicht
folgerichtig sein, wenn der Verfasser das bedingte Geständnis anders
als das befristete behandelt und jenes als wirksam, dieses als nicht
erfolgt betrachtet. Denn, wenn eine befristete »Wahrheitserklärung«
überhaupt keine ist, so muß das Gleiche von der bedingten
Wahrheitserklärung erst recht gelten. Vor Allem aber würde der
Ausschluß solcher mit Einschränkungen behafteter Geständnisse
keineswegs gegen ihre dispositive Natur sprechen. Die Richtung
des Prozesses auf endgültige Regelung und Entscheidung verlangt
bestimmte, auf sofortige und vorbehaltslose Wirksamkeit berechnete
Erklärungen. Schon dadurch würde es sich rechtfertigen, die durch
das Privatrecht ausgesprochene Zulässigkeit von Bedingungen und
Fristen für den Prozeß abzulehnen. Uebrigens kennt ja auch das
Privatrecht eine Reihe von Willenserklärungen, denen solche Neben-
bestimmungen nicht beigefügt werden dürfen.
Endlich soll die herrschende Auffassung zu unrichtigen Folge-
rungen in der Frage führen, >ob die gerichtlichen Geständnisse
von Rechtsverhältnissen ähnlich wie die von Thatsachen zu
behandeln sind«. Derartige Geständnisse hält der Verfasser allge-
mein für wirksam, und zwar ohne die von dem Reichsgericht wieder-
holt ausgesprochene Beschränkung auf die einfacheren, leicht über-
sehbaren und zerlegbaren Rechtsverhältnisse. Inwiefern aber die
Ansicht des Verfassers, deren Begründetheit hier nicht weiter zu
untersuchen ist, mit der Dispositionstheorie unvereinbar sein soll,
ist schlechterdings nicht einzusehen. Gerade über Rechtsverhält-
nisse vermag doch die Partei wirksam zu verfügen. Umsomehr muß
sie über deren Verwertung im Prozeß entscheiden können. Die
Wirksamkeit des Geständnisses von Rechtsverhältnissen spricht also
Bülow, Das Geständnisrecht. 239
nicht gegen, sondern gerade für die allgemeine Ansicht. Gerade,
weil das Geständnis Dispositivakt und nicht bloße Wahrheitserkla-
rung ist, kann es sich auf Rechtsverhältnisse beziehen. Darin zeigt
sich aber zugleich die Unrichtigkeit der Definition des Verfassers.
Denn, ist das Geständnis seinem Begriffe nach nichts anders als die
Erklärung, daß eine Thatsache wahr sei, wie soll dann ein Ge-
ständnis über Rechtsverhältnisse möglich sein, da sich die letzteren
doch nach der eigenen Ausführung des Verfassers (S. 273 Anm. 1)
von Thatsachen sehr wesentlich unterscheiden ? Uebrigens gründet
der Verfasser selbst seine Entscheidung gerade dieser Frage nicht
auf seine Ansicht von der im Geständnis liegenden Wahrheitsver-
sicherung, sondern auf den hier platzgreifenden Ausschluß der rich-
terlichen Kognition, d.h. mit der herrschenden Auffassung auf die
Parteiverfügung über die Urteilsgrundlagen.
X.
Zum Schlusse noch eine kurze Bemerkung über verschiedene
Punkte mehr äußerlicher Art. Was zunächst die Darstellungs-
weise des Verfassers anlangt, so dürfte sie wohl verschiedene der
Vorzüge vermissen lassen, wie sie zum Erfolge seiner früheren Werke
so wesentlich beigetragen haben. Das Bestreben, seine Gedanken
möglichst deutlich und eindringlich vorzutragen, verleitet ihn viel-
fach zu Wiederholungen, welche den Leser ermüden. Auch leidet
die Uebersichtlichkeit des Buches dadurch, daß der Verfasser gegen
seine Ansicht eine Reihe selbstgemachter, zum Teil recht weit her-
geholter Einwände erhebt, um sie dann in weitläufigen Ausführungen
zu widerlegen. Die Redeweise zeichnet sich vielfach nicht durch
Einfachheit aus; verunziert wird sig durch Wortungetüme wie Pro-
zeßhandlungseigenschaft (S. 183), Wahrheitsbethätigungswille (S. 178),
Rechtsgeschäftswillenstheorie (S. 280), Fürwahrgeltenlassenwollen
(S. 261), Nichtbestreitenwollenserklärung (S. 282), Nachlaßschuld-
zahlungsverpflichtung (S. 252), Geständniswirkungswillenserklärung
(S. 160) u. 8. w.
Wichtiger als diese formellen Einzelheiten sind die Einwände
gegen die Stellung des Verfassers zur Litteratur. Zunächst ist die
letztere nicht erschöpfend berücksichtigt, wenigstens nicht vollständig
angeführt. So ist z. B. die umfangreiche Abhandlung von v. Can-
stein in der Zeitschrift für Deutschen Oivilprozeß Band I nicht er-
wähnt. Alles, was frühere Schriftsteller über die formale Natur der
Parteihandlungen und über die Herrschaft der Erklärungstheorie im
Civilprozeß sowie gegen die Begriffsbestimmung des Prozesses als
eines einheitlichen Rechtsverhältnisses ausgeführt haben, ist ohne
240 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
Berücksichtigung geblieben. Besonders charakteristisch ist in dieser
Beziehung die Art, in welcher der Verfasser die nach beiden Rich-
tungen hin so bedeutsamen, oben mehrfach erwähnten Werke A. S.
Schultzes über das Konkursrecht und über Privatrecht und Pro-
zeß in ihrer Wechselbeziehung, ohne auf ihren Inhalt einzugehen,
abthun zu können glaubt. Ueber das letztere findet sich (S. 51)
nur die Bemerkung: »dieses ganze Buch hat durch die gründliche
Recension von Lothmar eine nicht zu strenge Beurteilung gefunden«.
Dieser nackte Hinweis auf eine vor siebzehn Jahren erschienene,
durchaus persönlich und gehässig gehaltene, deshalb auch von vorn-
herein der verdienten Nichtbeachtung der vornehmeren Prozetßlitte-
ratur anheimgefallene »Recension< richtet sich von selbst.
Das Konkursrecht desselben Gelehrten sodann wird nur erwähnt,
um daran die unrichtige Behauptung zu knüpfen (S. 153 Anm. 1),
sein Verfasser vertrete den »über alles Maß gehenden Gedanken,
der ganze Prozeß sei ein Rechtsgeschäft«. Es ist dies um so auf-
fallender, als Schultze gerade schon an der in Bezug genommenen
Stelle (Konkursrecht S. 139 Anm. 1), an welcher er zum ersten
Male die Auffassung von der rechtsgeschäftlichen Natur gewisser
Prozeßhandlungen aussprach, außer dem formalen Charakter der-
selben ausdrücklich die Mehrheit der innerhalb des Prozesses
zu unterscheidenden Rechtsgeschäfte betonte, und diese Auffassung
in seinem Privatrecht und Prozeß durch Aufzählung zahlreicher
Handlungen dieser Art deutlich illustrierte, schließlich jene ihm
auch von Anderen entgegengebrachte, unzutreffende Unterstellung
zweimal zurückzuweisen veranlaßt war (Zeitschr. f. deutschen Civil-
proz. XII S. 475 und Prozessualische Zeitbestimmungen S. 14 Anm. 1).
Sodann werden die Ansichten anderer Gelehrter gelegentlich
in der Weise angeführt, daß vereinzelte aus dem Zusammenhang
gerissene Bemerkungen herausgegriffen und als der Kern ihrer Auf-
fassung hingestellt werden. So soll beispielsweise Wetzell den Be-
griff des gerichtlichen Geständnisses dahin bestimmt haben, es sei
dasselbe eine »Disposition über das streitige Recht« (S. 74). In
Wirklichkeit aber definiert W etzell das Geständnis (S. 171) als die
Erklärung, durch welche thatsächliche Behauptungen als »unbe-
stritten dargestellt< werden, und folgert daraus nur, daß, wenn alle
den Klagantrag rechtfertigenden Thatsachen zugestanden werden,
damit eine indirekte Anerkennung der jenseitigen Sachbitte, eine
durch Verzicht auf den Beweis bewirkte Disposition über das streitige
Recht erblickt werden kann.
Diese leicht zu vermehrenden Punkte sind aber bezeichnend
für das ganze Verhältnis des Verfassers zur Wissenschaft des Pro-
Bülow, Das Geständnisrecht. 241
zeßrechtes. Wie fast bei allen seinen früheren Werken, so kehrt
auch bei dem vorliegenden Buche in den verschiedensten Ausge-
staltungen der Grundgedanke wieder, als liege diese Wissenschaft
bezüglich der von ihm behandelten Materie noch ganz im Argen,
als sei sie noch mit Vorstellungen erfüllt, würdig einer Zeit der
kirchlichen Wissenschaft, als könne sie >gar nicht schwärzer ge-
macht oder für schwärzer gehalten werden«, als sie in Wirklichkeit
sei. Gelegentlich wird dann dieser rückständigen Prozeßtheorie die
neuere Wissenschaft gegenüber gehalten, welche, von der Entdeckung
des einheitlichen Prozeßrechtsverhältnisses datierend, sich von allen
jenen Unarten zu befreien eifrig bemüht sei.
Nun ist zwar unsere Prozeßtheorie, wie überhaupt alle Wissen-
schaft, des Fortschritts und der Weiterentwickelung gewiß durchaus
fähig und bedürftig. Ebenso gewiß aber ist es, daß die Unterschätzung
ihrer bisherigen Leistungen zum guten Teile auf ihrer Ignorierung be-
ruht. Schon vor einem halben Jahrhundert war sie im gemeinen
Prozeßrechte, obgleich naturgemäß auch damals nicht frei von Mängeln,
doch zu einem ziemlich hohen Grade der Durchbildung gelangt, und
das System von Wetzell steht hinter irgend einem der neueren Prozeß-
lehrbiicher und -handbücher kaum zurück. Sicher ist, daß, wie in
allen übrigen Fächern, so auch in unserer Disziplin der Fortschritt
sich nicht durch eine mit aller Tradition brechende, völlige Ver-
lassung der bisher gewandelten Bahnen vollziehen wird, sondern im
Anschluß an die bisherigen Errungenschaften, im Wege steter Ent-
wickelung und Vertiefung der durch langjähriges Zusammenarbeiten
vieler Kräfte mühsam gewonnenen Erkenntnis.
Dafür liefert das vorliegende Werk einen deutlichen Beweis.
Die Gedanken, welche zu einer völligen Reform des Geständnis-
rechtes führen sollen, sind, wie aus den obigen Ausführungen her-
vorgehen dürfte, zum guten Teile irreführend. Soweit sie aber
einen richtigen Kern enthalten, gehören sie schon seit langer Zeit
zu den allgemein anerkannten Wahrheiten, die man als den »eisernen
Bestand« unserer Wissenschaft bezeichnen kann.
Der Verfasser ist der Ansicht (S. 46 Anmerkung), bis zur Mono-
graphie von Demelius habe die Geständnislehre seit Bethmann-
Hollweg keinen erheblichen Forschritt gemacht, und später ebenfalls
nicht. Wenn nun auch dieses ungünstige Urteil unzutreffend oder
zum Mindesten übertrieben ist, so kann doch gegen seine Anwen-
dung auf das hier besprochene Buch nichts eingewendet werden.
Straßburg i. Elsaß, im November 1900. W. Kisch.
Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 3. 17
242 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
Riezler, S., Geschichte Baierns. Vierter Band (von 1508 bis 1597). Gotha,
1899, Fr. A. Perthes. XXII 681 S. Ladenpreis 15 Mk.
Die Haltung Baierns in der Reformationszeit ist in älterer Zeit
mehrfach behandelt worden‘). Aber seit Erneuerung der kriti-
schen Geschichtsforschung hat man sich in Baiern mit Quellen-
publikationen und Darstellungen vorzüglich um den Zeitraum »des
vorwaltenden Einflusses der Wittelsbacher in Deutschland« (1550—
1650) bemüht. Die Erforschung der ersten Hälfte des XVI. Jahrh.
ist darüber zu kurz gekommen. Auch die Geschichtsschreiber der
deutschen Reformation wandten sich weniger Baiern als vielmehr
denjenigen Stellen zu, an denen sie die treibenden Kräfte der Re-
formation kennen zu lernen hofften oder den entscheidenden Wider-
stand. Die bairische Geschichte der Reformationszeit wurde eben
nicht ganz mit Unrecht in erster Linie als Einleitung zur Gegen-
reformation betrachtet und entsprechend summarisch behandelt.
Nun ist der Geschichtsschreiber Baierns bis in das XVI. Jahrh.
gekommen ; ihm ist die Geschichte auch dieser Zeiten Selbstzweck,
und so widmet er der bairischen Reformationszeit zum ersten Male
eine gleichmäßige, tiefergreifende urkundliche Darstellung unter
glücklicher Verwertung der inzwischen bei uns so weit geförderten
Kenntnis der allgemeinen Reformationsgeschichte. Aber seine Dar-
stellung steht zugleich in dem größeren Zusammenhange der ganzen
bairischen Geschichte; so wird die Haltung Baierns in der Refor-
mationszeit von ihm vor einem doppelt bedeutenden Hintergrunde
dargestellt.
Es erregt gleich anfangs das lebhafteste Interesse des Lesers
1) An der Spitze steht das tolerante Buch des katholischen Priesters V. A.
Winter, Schicksale der evangel. Lehre in Baiern 1809. Aktenmäßig und meist
sorgfältig gearbeitet sind dann die Beiträge des Archivars S. A. Stumpf, Lands-
berger Bund (1804), Politische Geschichte (1816) und Gesch. des Heidelberger
Bundes (in der Zeitschrift für Baiern 1817). Die beste Zusammenfassung gab
1842 Aretin in der Einleitung zu seiner Geschichte des Herzogs und Churfürsten
Maximilian. Gleichzeitig erschien, in gewissem Sinne ergäuzend, die reichlich
temperamentvolle Darstellung Sugenheims von den kirchlichen und Volkszuständen.
Später erfolgten nur begrenzte Aktenausgaben und Monographien von Muffat
in den Quellen u. Erört. IV, den Ahhbandlungen (X, 1) und den Sitzungsber. der
Münchener Akademie (1861, III); von Vogt über Baierns Stimmung (1876) und
Politik im Bauernkriege (1883), v. Druffel, Beiträge zur Reichsyeschichte 1546—
1555, I-IV (1878—96) und die bayr. Pol. zu Beginn der Ref.-Zeit (1886), Lenz,
Briefwechsel Phil. v. Hessen mit Bucer J. III. (1880—91), Riezler, Abb. und
Sitzungsberichte der Akad. (1891—95).
Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 243
die Frage, warum denn gerade in Baiern die Reformation nicht Wur-
zel gefaßt habe; wie die unendlich bedeutungsvolle Erhaltung des
Katholizismus in Baiern zu erklären sei. Lenkte doch »der Wider-
stand gegen die Reformation Baierns Kultur in Bahnen, auf denen
man sich mehr mit Romanen, als mit den Volksgenossen begegnet.
Wohl lagen schon in der älteren Entwicklung Ansätze zu einer Son-
derstellung Baierns im Reiche, entschieden aber ward über diese in
Politik wie Kultur erst durch die Regierung Wilhelms IV.« (S. 249).
Geschichtsschreiber und Akten lehren, daß wenigstens zeitweilig
eine starke Neigung des Volkes, auch wirtschaftliche und politische
Erwägungen der Regierenden , ja vorübergehend sogar der Drang
der Not zusammen zu wirken schienen, um auch Baiern der Refor-
mation zuzuführen und damit die einzige wirkliche Stütze des Ka-
tholizismus unter den Reichsständen zu vernichten. Riezler hat diese
Eindrücke nicht abgeschwacht; er läßt die ganze Schwierigkeit des
Problems hervortreten; aber er führt zugleich mit sicherer Hand
durch das verwirrende Spiel der bairischen Politik der Reformations-
zeit, sorgfältig vorbereitend auf die entscheidende Wendung zur
Gegenreformation; auch von dieser lernen wir die Anfänge noch
kennen.
Die Darstellung ist schmucklos und bemerkenswerte Begeben-
heiten werden oft unvermittelt, chronikartig, zu ihrer Zeit gebucht;
aber in der Hauptsache vermißt man selten die feste Führung.
Die Dinge, mit denen die Erzählung beginnt, stellen die Ver-
bindung her mit der Geschichte des XV. Jahrhunderts. Weise ist
von einer allgemeinen Einleitung in die Reformationszeit Abstand
genommen, wir behalten die bairischen Verhältnisse ununterbrochen
im Auge und glauben sie aus ihnen selbst im wesentlichen zu ver-
stehen. Freilich sind »die inneren Zustände in Staat, Kirche und
Gesellschaft, — Litteratur und Kunst« wegen Raummangels in einen
neuen Band verwiesen; allein was davon zum Verständnis der Politik
vonnöten ist, wird schon hier ohne Kargheit erörtert. Mit unver-
kennbarem Interesse wird einmal von den Ideen des Hans Denck
sogar recht ausführlich gehandelt (176—183).
Wir finden den bairischen Herzog Wilhelm im Kampfe mit der
Landschaft. Seine selbständige Regierung (seit 13. Nov. 1511) suchte
sich zu stützen auf das Primogeniturgesetz Albrechts IV. Doch trat
die Landschaft für die Brüder ein und, obwohl Kaiser Maximilian es
auch hier, wie gleichzeitig in Hessen, mit gegen die »Untertanen< hielt,
mußte Wilhelm sich fügen und im brüderlichen Vertrage vom 20. Nov.
1514 wenigstens Ludwig als Mitregenten annehmen; den jüngern
Ernst dachte man mit einem geistlichen Fürstentum abzufinden. Die
17 *
244 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
Landschaft gewann um so leichter die Oberhand, als Wilhelm zu-
gleich unklug und liederlich auftrat, während sich die Landschaft
einer starken und bedeutenden Führung erfreute durch den Ritter
und Doctor Dietrich von Plieningen. Der schon als Humanist be-
kannte Edelmann entwickelte gegen den Fürsten sein modernes
Staatsrecht: Der Fürst ist seines Landes Administrator, die Unter-
thanen wachen über ihrem >jus naturale und jus gentium<; gegen
ungerechte, stolze Fürsten ist ihnen die »Defensio von Natur ge-
stattet< (21). Sehr eindringlich rief er dem Fürsten ein »yvadı
osavrov< zu (S. 20).
Wie in Sachsen und Hessen entsprach der Macht und dem
Selbstbewußtsein der Gesamt-Stände nicht die Sicherheit des einzel-
nen. In Baiern waren es die Räte Neuhäuser und Hieronymus Stauf,
die der fürstlichen Rache zu Opfer fielen; Stauf wurde gefoltert und
gerichtet.
Bald danach kamen die ersten Verwickelungen in der äußern Po-
litik. Die Heirat Wilhelms mit Jakobaea von Baden, 5. Okt. 1522,
hatte höchstens später für Baden, nicht für Baiern Bedeutung. Eine
wichtigere Verbindung, etwa mit Anna von Böhmen, Eleonore von
Burgund, mit Schottland oder England war nicht zustande gekom-
men. Dagegen verwickelte den jungen Herzog die unglückliche Ehe
seiner Schwester Sabine mit Ulrich von Wirtemberg zuerst in fol-
genschwere Händel. Der Nachbar war längst im Lande verhaßt;
1519 machte der schwäbische Bund unter Führung des 26jährigen
Baiernherzogs der Herrschaft Ulrichs ein Ende. Ein Triumph der
bairischen Macht. Die unterworfenen Städte erhielten Schutzbriefe
mit dem quadrierten Wappen Baierns und des Bundes. Ein Versuch
Ulrichs zurückzukehren wurde gleichfalls siegreich abgeschlagen.
Der Baier hatte sich überraschend gut gehalten und stattliches ge-
leistet; gleichwohl ging er leer aus. Die Zahlung der gewaltigen
Kriegskosten von 220,000 fl., die auf dem Besitz Wirtembergs laste-
ten, traute man niemand als den reichen Habsburgern zu; ihnen gab
der Bund 1520 das Land in Verwaltung.
In Baiern war die famose Schlichtung des pfälzischen Erbstreites
durch Maximilian noch in frischer Erinnerung; jetzt sah man die
Enkel ähnlich handeln; und so wurde die Umklammerung durch die
maßlos gesteigerte habsburgische Macht Baierns erste Sorge.
Die religiöse Frage fügte nicht sogleich eine zweite hinzu. Spä-
ter ist viel lutherische Gesinnung nach Baiern hineingetragen und
in Baiern beherzigt worden; einzelne Baiern gehörten im Auslande
bald zu den Führern der Bewegung: Agricola, Sailer, Landsberger,
Kaspar Güttel; auch Denck und Hubmaier sind zu nennen. Aber um
Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 245
1520 ist von einer tieferen religiösen Gährung in Baiern nicht viel
zu spüren.
Gleichwohl war das Entscheidende für die dauernde Fernhaltung
der Reformation doch die Thatsache, daß auch die Herzöge und
ihre maßgebenden Räte ganz und gar nicht von der Reformation
berührt worden sind. Wilhelm teilte die Vorwürfe gegen das geist-
liche Regiment; aber von Luther hielten ihn fern dessen Lehre von
der Kirche, vom freien Willen und vom Glauben, nicht zum wenig-
sten auch die Furcht vor der politischen Revolution. Die bairische
Regierung, so wenig habsburgisch, schloß sich doch von vornherein
gegen die Ketzer, lebhafter als selbst die Bischöfe, dem jungen Kai-
ser an. Von Baiern gingen die ersten Mahnungen aus zur Vernich-
tung der neuen Lehre mit dem Schwerte. Im Gegensatz zum übri-
gen Reich geschah in Baiern ohne weiteres die Publikation des
Wormser Edikts und ein Jahr darauf, 5. März 1522, folgte das erste
sogenannte Religionsmandat. Man hat öfter angedeutet, daß Baierns
Haltung durch Hoffnungen auf Vorteile in Rom bestimmt worden
sei; allerdings erlangte Johann Eck 1523 Türkensteuer, Praesenta-
tion und Collation in den päpstlichen Monaten, — wie Riezler her-
vorhebt, ein Geringes gegenüber den evangelischen Saekularisationen !).
»Religiöse Antriebe< waren jedenfalls bei den Herzögen mit
wirksam. Politische Motive gaben den Ausschlag bei Wilhelms all-
mächtigem Rate?) Leonhard von Eck. Er war bei sich überzeugt,
daß »die lutherische Sekt und Biiberei< zur Verachtung und Vertil-
gung aller Oberkeiten führe (Denkschrift vom 15. Mai 1523). Man
suchte Fühlung mit Oesterreich und Salzburg gegen die Untertanen
und zugleich zur vorbeugenden »Reformation, wie es die Priester
halten sollen«e (1524). Schon 1522 war zu Mühldorf eine erste
Synode abgehalten, der noch mehrere folgen sollten. Eine »Abrede<
ward 1523 mit Erzherzog Ferdinand getroffen; der Einladung Fer-
dinands und des Nuntius Campeggi zum Regensburger Convent
(24. Juni 1524) folgten auch die bairischen Herzöge. Ein zweites
Religionsmandat wurde erlassen (2. Okt.), Verfolgungen lutherisch
Gesinnter begannen; zahlreiche Baiern >»oft die geistig regsamsten«
(S. 113) verließen das Land.
1) »Konservative Scheu und kirchliche Gesinnung hielten die Herzöge davon
zurück, ihre Lande und Güter auf Kosten der reichen Bistümer und Klöster ab-
zurunden und auszudehnen« (S. 94). Dagegen hatte Stieve schon 1892 (und neu
in den Abhandlungen 8. 43) eingewandt, daß damals noch niemand Saekularisa-
tionen gewagt habe.
2) »Ein weitverbreiteter Irrtum nennt ihn Wilhelms Kanzler. Er hat dieses
Amt nie bekleidet« (S. 423). Aber Riezler selbst muß dem Herkommen Tribut
entrichten; er nennt Eck mehrmals (S. 154 und S. 156) »Kanzler«.
246 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
Die Herzöge und Eck fühlten sich nur bestärkt in ihrer Politik
durch die Bauernerhebung, die rings um Baiern ein so bedrohliches
Ansehn gewann. Denn nur eine Ausnahme war jener Pfalzgraf
Friedrich in Amberg, der die soziale Lage der Bauern »des Ge-
wissens halber« verbesserte. Aber warum erlebte Baiern selbst kei-
nen Bauernkrieg? Zum Teil wegen Fernhaltung aller Praedikanten
und Demagogen ; dann wegen der großen Strenge der Regierung
gleich zu Anfang und wegen der umfassenden Rüstungen Ecks, der
in seiner harten Beamtennatur durch Widerstand von unten am
stärksten getroffen wurde. Ansehen und Macht des Fürstentums im
eigenen Lande betrachtete er dauernd als das höchste Gut auf Er-
den, — wesentlich als Mittel zum Zweck diente ihm die Erhaltung
der alten Religion, erst an dritter Stelle stand ihm der an sich wich-
tige Widerstand gegen den Kaiser und die Habsburger. Eck war
gegen die Bauern ganz unerbittlich; er vertrat den extreinsten
Autoritätsstandpunkt. Ja sogar, als sich die Gelegenheit bot, die
freundlichen Nachbarn Oesterreich und Salzburg in ernstliche Ver-
legenheit zu bringen, als die Salzburger Bauern, von ihrem schön-
geistigen und vielgewandten aber herzlosen Kardinal Lang mil-
handelt, an bairische Herrschaft dachten, war es Eck, der gegen
seinen Herzog den glänzenden Landerwerb von der Hand wies und
das Prinzip der Legitimität hochhielt. Auch als Matthaeus Lang
durch sein brutales Auftreten 1526 einen zweiten schlimmeren Auf-
stand entfachte — berühmt durch die an Jürg Jenatsch erinnernde
Figur des Michael Gaismayr —, half ihm nochmals der von Eck re-
gierte schwäbische Bund aus der Not. Rücksichtslos wollte Eck die
Bewegung niedergeschlagen wissen. »An dem Scheitern [der ganzen
Bewegung] tragen die Herzlosigkeit der Machthaber und die rohen
Triebe der Masse gemeinsam Schuld< (S. 167).
In Sachen der Protestantenverfolgung war die bairische Regie-
rung erheblich milder. Es lassen sich aus der Reformationszeit doch
nur drei Hinrichtungen nachweisen: die eines Bäckergesellen, die
berühmtere des Leonhard Käser (den die Sehnsucht nach dem alten
Vater noch einmal in die Heimat zurückgeführt hatte) und die des
Messerschmieds Ambrosi. Sonst begnügte man sich mit Belästigun-
gen, wie man den Geschichtsschreiber Aventin, der in der That >mit
der alten Kirche innerlich vollständig gebrochen< hatte, eine zeitlang
gefangen setzte. Es ist zu betonen, daß Eck, der als ein hochge-
bildeter Mann gerühmt wird (Charakteristik S. 420—29), seinen Sohn
Oswald durch Aventin erziehen ließ. Der Sohn ist denn auch Prote-
stant geworden, wie derjenige Dietrichs von Plieningen (S. 429).
Bekanntlich tobte sich die im Bauernkrieg erregte Grausamkeit
Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 247
der Machthaber allerorten in der entsetzlichsten Weise aus gegen die
»Sakramentierer und Wiedertäufer«e. Man geht kaum fehl, die Schärfe
der Verfolgung, auch in Baiern, auf Rechnung der sozialen Befürch-
tungen zu setzen. Hans Denck, der gelehrte Schwärmer, und Bal-
thasar Hubmaier, einst Priester der »Schönen Marie zu Regensburg«
hatten starken Eindruck gemacht und, wie die umfassenden Verfol-
gungen lehren, ihre Lehren weit verbreitet. Die Regierungen ver-
fuhren äußerst rigoros. Hartnackige Sünder wurden lebendig ver-
brannt, reumütige geköpft, Weiber ertränkt. In Tirol wurden etwa
1000 Personen gerichtet, ähnlich ging es in Baiern. Um die Mitte
der zwanziger Jahre befand man sich in allen diesen Dingen im
Einklang mit den Habsburgern.
Das änderte sich rasch. Die gemeinsame Gefahr von unten war
beseitigt und an den großen Protestantenkrieg war ohne die be-
deutendsten Anstrengungen schon nicht mehr zu denken. Dagegen
ließ Erzherzog Ferdinand, wie man meinte, keine Gelegenheit unge-
nutzt, die Baiern zu verletzen und zu übervorteilen. Im Bauernkrieg
hatte er sich in dem bischöflich augsburgischen Füssen huldigen las-
sen. Nun trat er Baiern als gefährlichster Konkurrent entgegen bei
der Königswahl in Böhmen und bald nachher im Reiche.
Ueber diese Dinge ist, auch neuerdings, öfters gehandelt wor-
den. Riezler teilt die Meinung, daß in Böhmen bei der Wahl am
23. Okt. 1526 nicht religiöse Rücksichten den Ausschlag gegeben
haben, sondern, wie in Wirtemberg, der größere Kredit des Hauses
Habsburg; mochte der bairische >Saffranzetl< auch noch so stattlich
gewesen sein. Baiern empfand nicht nur die Kränkung, sondern
auch die Gefahr der immer engern Umschließung durch die Habs-
burger. Es war die Zeit, da Karl V. den Papst in Rom belagern
ließ, und, >da man in Rom wie in München Luther und Habsburg
zugleich bekämpfte, entsprang hieraus eine so enge Verbindung der
Baiernfürsten mit der Kurie, wie sie im Verlauf der bairischen Ge-
schichte noch nie bestanden hatte« (S. 198). Der geschäftige Bona-
corsi handelte in Rom um Eichstädt oder Salzburg für Herzog Ernst,
und der Papst ließ fallen, für Baierns Verdienste sei kein Preis zu
hoch; man deutete auf die Königskrone. Auch als Papst und Kaiser
ausgesöhnt waren und der gekrönte Kaiser ins Reich zurückkehrte,
setzte Baiern seine Bemühungen fort. Die Herzöge bewirteten den
Kaiser in München und ließen vor aller Welt den Reichtum ihres
Hauses wirken. Manöver, Jagden, lebende Bilder und Festessen
folgten sich; ein großes Mahl war mit dem zweiunddreißigsten Gange
erst halb erledigt, als der Kaiser »nicht mehr konnte< und die Tafel
aufhob. Die Habsburger täuschten sich nicht über die Gesinnung,
248 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
die sich hinter dem gleißenden Prunk verbarg. Der Kaiser soll dem
Herzog Wilhelm Vorstellungen gemacht, der Herzog auf seines Haus
ältere und höhere Würden hingewiesen haben. —
Die Wahl Ferdinands zum römischen Könige (5. Jan. 1531) be-
gleitete ein Protest der protestantischen Fürsten und die Weigerung
Baierns, den gegen die goldene Bulle gewählten König anzuerkennen.
Man geriet in immer schärferen Gegensatz zu Habsburg. Ein hessi-
scher Gesandter, Rudolf Schenck, praktizierte in Baiern, Eck erschien
in Gießen. Am 24. Oktober 1531 wurde das Bündnis von Saalfeld
abgeschlossen, — Schlag auf Schlag folgten sich die Abmachungen:
am 26. Mai 1532 der Vertrag von Scheiern zwischen Baiern, Hes-
sen, Sachsen und Frankreich; im Februar 1533 trieb Baiern in Ko-
burg zum Kriege; im April trafen sich die Fürsten von Baiern, Sach-
sen und Hessen zu Nürnberg; mit Johann Zapolya von Siebenbürgen
trat auch Baiern in lebhafte Verhandlungen und nur eine unüber-
windliche Gewissensregung scheint trotz starker Versuchung die An-
knüpfung mit den Türken gegen König Ferdinand verhindert zu
haben. Glaubt man, daß in dieser Konstellation für Baiern ein
neuer Anlaß zu konfessioneller Annäherung an die Protestanten ge-
legen habe, so erinnere man sich der gleichen traditionellen Politik
Frankreichs. Anderseits hat Eck jedes reichsrechtliche Zugeständnis
an die Protestanten (zunächst zu Nürnberg, 23. Juni 1532) nicht so
sehr aus katholischem Eifer bestritten, als in der Sorge, »die Prote-
stantengefahr könne für den Kaiser einmal aufhéren<. Eck selbst
meinte, er gelte wohl bei den Habsburgern als der »böseste aller
lebenden Menschen< (255).
Mit Worten hielten sich die Baiern immer wieder gut kaiser-
lich. Der Gesandte Gotschalk Erikson berichtete aus München, die
Herzöge verehrten kaiserliche Majestät >wie ihren Gott«. Aber in
der That wühlte Eck mit allen Mitteln gegen sie. Das wirksamste
Werkzeug der Habsburger in Oberdeutschland war so lange der
schwäbische Bund gewesen; nun lief dieser Bund ab (2. Febr. 1534),
und Eck hütete sich wohl, ihn zu erneuern. Die konfessionell ge-
mischten südwestdeutschen Sonderbünde (Nov. 1532. Mai 1534. etc.)
treten an die Stelle und bleiben charakteristisch bis zum Ende des
Heidelberger Bundes im Jahre 1556.
Die doppelte Front verurteilte Baiern trotz aller Praktiken zur
Thatenlosigkeit ; aber die dadurch bedingte Neutralität war jetzt und
später von der größesten Bedeutung; sie verhinderte immer wieder
das entscheidende Uebergewicht eines der beiden welthistorischen
Gegner im Reich und an der größten Krisis unserer Geschichte hat
Baiern seinen Anteil als retardierende Macht.
Riezler , Geschichte Baierns. Vierter Band. 249
Jenes antihabsburgische Biindnis wollte in Wirtemberg ansetzen.
Baiern rechnete auf Schwächung der habsburgischen Macht, auf gute
Nachbarschaft mit dem befreundeten Christoph, der an Stelle des
Vaters ins Fiirstentum kommen sollte. Die Protestanten dagegen
wünschten Zurückführung des reformatorisch gesinnten Ulrich; sie
gewannen dafiir auch Frankreich (Bar le duc, 1534), und da der
Krieg ihnen Recht gab, hatten die Baiern das Nachsehen. Nun er-
schien plötzlich die habsburgische Gefahr als die geringere, die Nach-
barschaft des Protestantismus als neue Sorge. Man lenkte, da alle
sich zunächst vertrugen, den Blick zurück zu König Ferdinand. Im
Vertrag von Linz (11. Sept. 1534) anerkannte Baiern den römischen
König gegen ein Heiratsversprechen für Wilhelms ältesten Sohn Al-
brecht (S. 274). |
Damit war die Wendung angedeutet, die bald die bairische Po-
litik für längere Dauer nehmen sollte: dynastischer Anschluß an die
Habsburger mit katholischer Tendenz. Für den Augenblick war man
noch stark in den alten Bahnen, aber es ist doch bemerkenswert,
daß sich Baiern schon am 30. Januar 1535 wieder auf einen kaiser-
lich neunjährigen Bund einließ. Gleichzeitig freilich suchte man den
Kaiser in den Protestantenkrieg hineinzutreiben, wie Vergerio rich-
tig bemerkte ; und während Herzog Ludwig im Gefolge des Kaisers
mit gegen Frankreich zog, pflog du Bellay als französischer Gesandter
freundschaftliche Verhandlungen in Baiern (1536). Ja, man begab
sich mit Habsburg in die christliche Einung, die zu Nürnberg,
10. Juni 1538 unterzeichnet wurde, rüstete, befestigte Ingolstadt
und warb beim Kaiser durch Bonacorsi, durch Stockhammer beim
Papste für den Protestantenkrieg. Aber um dieselbe Zeit handelte
man mit der Republik Venedig gegen die Habsburger, von denen
man an Land und Ehren gekränkt sei; den Venetianern wollten die
Baiern bei dieser Gelegenheit weißmachen, daß >»ihre Familie seit
1200 Jahren in Baiern herrsche und 22 Kaiser und Könige unter
ihren Ahnen zähle« (S. 300). Ununterbrochen wurde außerdem die
Fühlung mit den Protestanten, vor allem mit Hessen erhalten. Eine
zeitlang wurden, wohl mit Rücksicht auf die persönlichen Neigungen,
die Rollen so verteilt, daß die Herzöge mit ihren Theologen sich
scharf katholisch hielten (Johann Ecks Gegensatz zu Contarini ist
denkwürdig), während Leonhard v. Eck an seinen protestantischen
Fürstenbünden schaffte. So hielt es Baiern zugleich mit der Kurie,
mit dem Kaiser und mit den Protestanten; niemand hielt die Baiern
für zuverlässig ; aber niemand glaubte sie auch übersehen zu dürfen.
Zu Anfang der vierziger Jahre schienen sich einmal alle Gegen-
sätze zu mildern. Philipp von Hessen ließ sich vom Kaiser die
250 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
Hände binden, Herzog Wilhelm söhnte sich aus mit Ulrich von
Wirtemberg (9. Okt. 1541 zu Lauingen); da Zapolya 1540 gestorben
war, trat auch Baiern für die Türkenhilfe ein; auch Baiern schaute
ruhig zu, als 1542 Herzog Heinrich von Braunschweig zum ersten
Male vertrieben wurde. Dann aber erfolgte eine neue folgenschwere
Erregung der bairischen Katholizität durch die Aussicht auf die
pfälzische Kur.
Im März 1544 starb Kurfürst Ludwig von der Pfalz. Sein Erbe
Pfalzgraf Friedrich war kinderlos; er und sein Neffe Ottheinrich
hatten außerdem offenkundig protestantische Neigungen. Ottheinrich
hatte sein Fürstentum Neuburg an der Donau schon 1542 refor-
miert; der neue Kurfürst nahm 1545 das Abendmal unter beiderlei
Gestalt. Konnte man Neuburg nicht wegen seiner Verschuldung er-
kaufen, so konnte man es vielleicht wegen seines Glaubens erstreiten.
Der Kaiser rüstete eben endlich zum Protestantenkrieg.
Baierns Teilnahme am Kriege zu gewinnen, bemühte sich der
Kaiser schon in den Tagen, da er zuerst die Hand ans Schwert
legte. Vom Wormser Reichstag 1545 wurde Viglius van Zwichem
nach Baiern gesandt, im Oktober desselben Jahres folgte der Kardi-
nal Otto Truchsess. Baierns Forderung für den Anschluß an die
kaiserliche Politik war gleich von vornherein die Verwirklichung der
Linzer Abrede von 1534, die Eröffnung dynastischer Aussichten
durch die Familienverbindung wenigstens mit dem Hause König Fer-
dinands. Daneben tauchen verschiedene Möglichkeiten des Erwerbs
von Neuburg und der pfälzischen Kur auf; bald durch gütliche
Uebereinkunft, wozu Hessen helfen soll, bald durch Aussicht auf Ver-
urteilung der Pfälzer und Belohnung der Baiern. Es fragt sich, wie
weit sich Baiern verpflichten ließ. Vollkommen klar sehen wir nicht
in die Verhandlungen; wir wissen nur, daß sie sich lange hinzogen,
daß Eck noch bei den Besprechungen in Regensburg vom 5. bis zum
10. Mai 1546 sehr schwierig war, daß erst am 7. Juni das Bündnis
vereinbart wurde, von dem es bezeichnender Weise keine oflizielle
Beurkundung gibt. Wir können vermuten, daß die bairische Regie-
rung den Erfolg der kaiserlichen Waffen mit Mißtrauen erwartete,
daß sie aber auch für den Fall des Mißerfolges gegenüber dem Geg-
ner nicht blos gestellt sein wollte. Nur so erklärt sich der über die
Wechselfälle des Krieges hinaus fortgesetzte Verkehr mit Hessen,
die äußerste Zurückhaltung gegen den Kaiser nach dessen Erfolgen
und der rasche Anschluß an die protestantischen Fürsten zu Beginn
der fünfziger Jahre. Immerhin hielt sich Baiern (im Gegensatz zu
dem Verhalten in den ersten Jahren der Reformationszeit) stets in
freundschaftlichen Beziehungen zu König Ferdinand, teils infolge der
Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 251
Familienverbindung, teils in gemeinsamem Gegensatz gegen den
übermächtigen und gewaltthätigen Kaiser.
Welche Bedeutung die bairische Neutralität im schmalkaldischen
Kriege gehabt hat, welche Rolle sie bei dem überaus wichtigen
Kampf um Ingolstadt gespielt hat, ist hinlänglich bekannt, und mit
Unrerht hat Karl V. sie in seinen Kommentarien verkleinert. Aber
um den Preis ist das übervorsichtige Baiern nachher gleichwohl be-
trogen worden. Der Kaiser hatte jedenfalls das richtige Gefühl, daß
Baiern weniger seine Partei, als die im eigensten Interesse gebotene
Politik gewählt habe. Nur die Hochzeit war bereits vor dem Kriege
gefeiert worden, zu Regensburg am 4. Juli 1546. In dem Ehevertrag
hieß es, daß Baiern bei Abgang der männlichen Erben der Habs-
burger ein Erbrecht besitzen solle; allein König Ferdinand hat
schon in seinem Codicill vom 4. Februar 1547 willkürlich die »männ-
lichen Erben« durch die »Leibeserben< ersetzt und damit in den
Konflikt von 1740 entscheidend eingegriffen; in Baiern hatte man
freilich eine Abschrift unbekannter Herkunft, in der es richtig hieß
männliche Leibeserbene.. — Auch Neuburg wurde, obwohl die
Baiern eben noch vor Ingolstadt ihre Neutralität zu gunsten des
Kaisers verletzt hatten, nach der Einnahme nicht den Baiern, son-
dern einem kaiserlichen Statthalter übergeben. Gegen alles Erwar-
ten wurde Kurpfalz trotz seiner freundschaftlichen Haltung gegen
die Schmalkaldischen schon im Dezember 1546 in Gnaden wieder
aufgenommen und selbst Wirtemberg ohne jeden Gewinn für Baiern
restituiert.
So verhielt sich Baiern nicht nur gegen die kaiserliche Bundes-
politik 1547 und 1548 (nochmals 1552 und 1553) ablehnend, sondern
auch der religiösen Vermittlungspolitik des Interims gegenüber.
Die einen wollten nichts mit dem Kaiser thun, die andern schalten
das Werk unkirchlich. Nicht ohne antikaiserliche Stimmung schloß
man sich aufs neue enger an die Kurie an. Man verhandelte auch
auf Zugeständnisse in Sachen des Kirchenregiments; wenn man da-
bei die Auslagen im Dienste der Kirche seit 1521 auf 2,300000 fl.
veranschlagte, so übertrieb man stark, doch hat man sich fort und
fort ernstliche Mühe gegeben mit Synoden, Visitationen und Besserung
des Klerus. Die Visitation von 1541 hatte ein unerfreuliches Bild ge-
liefert. Mochten sich auch viele Bischöfe, Klöster und einzelne Pfar-
rer als untadelhaft erwiesen haben, in gar zu vielen Fällen glänz-
ten die Pfarrherren durch Absenz, die Pfarrverweser mehr durch
Begabung und Sorge für ihren leiblichen, als für ihren geistigen
Nachwuchs. Man wünschte gründlich zu bessern und berief die Je-
suiten. Im Jahre 1544 hatte sich zuerst der Jesuit Le Jay an der
252 Gott. gel, Anz. 1901. Nr. 8.
Salzburger Synode beteiligt, 1546 war er wieder anwesend, und ob-
wohl er sich echt klerikal lebhaft gegen den Anteil der »Räte« am
Kirchenregiment erklärte, ward er doch mit seinen Genossen, dem
Spanier Alfons Salmeron und dem Niederländer Petrus Canisius, 1549
durch den Herzog an die Universität Ingolstadt berufen. Mit un-
verhohlener Bewunderung sah man die Erneuerung der Zucht und
der Religiosität, die von diesen Männern ausging.
Als Herzog Wilhelm in der Nacht des 6/7. März und Leonhard
v. Eck am 17. desselben Monats aus dem Leben schieden, gab es
in Baiern schon alle Ansätze zur Gegenreformation. Nur die ge-
ringe Meinung, die man im Grunde von den reichspolitischen Ge-
fahren des Protestantismus hatte, die Befürchtungen vor der er-
drückenden Macht des Kaisers hielten die Baiern noch so lange
scheinbar in anderen Bahnen. —
Denn auch die Anfänge der Regierung Albrechts V. stehen noch
unter dem Zeichen der antikaiserlichen Fürstenpolitik, der sich jetzt
sogar König Ferdinand zuneigte. Der habsburgische Familienzwist
wegen der Nachfolge im Kaisertum, wegen der englischen Heirat
und anderer Dinge, die Türkennot Ferdinands und seine alte Ver-
bindung mit Moritz von Sachsen, eben wegen der Türken, die Fa-
milienverbindung Albrechts V. mit dem Wiener Hofe, sowie seine
vetterliche Freundschaft mit dem inzwischen auch zum Herzogtum
gelangten Christoph von Wirtemberg —, eine Fülle von Gründen
für die auf den ersten Blick überraschende politische Gruppierung
der ersten fünfziger Jahre. Es kam hinzu, daß auch Albrecht V.,
ein weicher genuffroher und empfänglicher Mensch, sich gleich bei
der ersten Zusammenkunft mit Moritz von Sachsen, zu Fürstenfeld
am 6. April 1552, von dem überlegenen Kurfürsten aufs stärkste
imponieren ließ. Sein Anteil an Linz (18. April) und Passau
(Mai und Juli) schmeichelte seiner Jugend, und da er keinen Rat
zur Seite hatte von der scharfsinnigen Entschiedenheit Ecks, so ließ
er auch prinzipielle Forderungen konfessioneller Art passieren, da
sie ja gegen den Kaiser gerichtet waren. So kam unter Beteili-
gung der führenden katholischen Fürsten die Fassung der Passauer
Abrede zustande, die dem Augsburger Religionsfrieden so erheb-
lich vorgearbeitet hat. —
Die Konstellation von 1552 hielt sich bis zum Augsburger
Reichstage von 1555. Im Heidelberger Bunde zwischen Mainz,
Trier, Pfalz, Jülich, Baiern, Wirtemberg (seit 1554 unter Beteiligung
des römischen Königs) wirkten Freundschaft, Verwandtschaft, Nach-
barschaft und Gegensatz gegen den Kaiser zusammen, — während
die äußere Veranlassung in dem Vorgehen des Markgrafen Albrecht
Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 258
Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach vornehmlich gegen die frän-
kischen Bischöfe lag’). Aber nur solange man diesen Mordbrenner
für ein Werkzeug des Kaisers hielt, war man einig gegen ihn; so-
bald der Kaiser deutliche Aufklärungen gab, und die Koalition gegen
den Markgrafen mächtiger wurde, griff bei einigen Bundesfürsten auch
schon die Befürchtung Platz, die Niederwerfung des Markgrafen
könne der Anfang einer katholischen Restauration sein, und da gleich-
zeitig der Kaiser sich vom Reich zurückzog, der Gegensatz zu ihm
sich gab, verlor der Bund seine Kraft. 1555 und 1556 hatte er
schon keine Bedeutung mehr.
Es kann nicht zweifelhaft sein, daß nur die günstige politische
Lage, wie sie im Heidelberger Bunde ihren Ausdruck fand, den Er-
folg von Moritz’ Auftreten über Passau und Sievershausen hinaus
sicherte und den Augsburger Religionsfrieden ermöglichte. Gleich-
wohl leitete die Formulierung der Streitpunkte in dieser Friedens-
handlung doch wieder eine Periode gesteigerter konfessioneller Em-
pfindlichkeit ein, — auch in Baiern. Ein Jahr nach dem Frieden
wurde der paritätische Heidelberger Bund ersetzt durch den neuen
Landsberger Bund zwischen Ferdinand, Baiern, Salzburg und der
Stadt Augsburg, — bis zu seiner Auflösung (1598) ein Friedensbund
mit spezifisch katholischer Färbung; allerdings noch lange keine
»Liga«. Nach außen hielt man um so lieber Ruhe, als sich der
erste Akt der Gegenreformation durchaus im Inneren der Fürsten-
tümer abspielte.
In Baiern liegen die Dinge wieder außerordentlich verwickelt.
So bestimmt die katholische Richtung der fürstlichen Regierung vor-
gezeichnet war, in dem langjährigen freundschaftlichen Verkehr mit
1) Für die Geschichte des Heidelberger Bundes hat Riezler neben den
Druffelschen Beiträgen zur Reichsgeschichte leider auch noch die alte fehlerhafte
Darstellung von Stumpf gebraucht (S. 457). Die Tage von München und Wimpfen
(5. Febr. 1553) sind zu streichen , vgl. Druffel IV, 85. 37. 60. 61. 69 Note. Al-
brecht und Christoph kamen erst am 9. März nach Heidelberg, wo am 29. März
der Bund abgeschlossen wurde. — Im übrigen ist das reiche von Druffel ge-
sammelte Material der Darstellung durchweg zu statten gekommen und ich freue
mich über die ausgiebige Nutzbarmachuug der vielleicht nach heutigen Begriffen
altmodischen aber großangelegten Publikation des zu früh Verstorbenen. Wenn
jetzt junge Gelehrte, von beschränkten Arbeitsgebieten aus, Lücken und Fehler
der Droffelschen Aktensammlungen rügen, so übersehen sie den Gewinn, den ihnen
selbst die Vorarbeit gebracht und bedenken nicht, wie billig und leicht die Nach-
prüfung ist. Was den letzten, von mir herausgegebenen (1V.) Band betrifft, so
hat doch, trotz der vielfachen freundlichen Anerkennung, die der Band gefunden
hat, niemand lebhafter als ich die Ueberzeugung, daß nachgelassenen Werken bei
aller Sorgfalt des Herausgebers das Beste feblt.
254 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
den protestantischen Höfen waren der Adel des Landes und zahl-
reiche Räte mehr oder minder von den modernen Ideen berührt
worden. Der junge Fürst aber war von Haus aus nichts weniger als
ein Eiferer. Eher ein rechter Lebemann; denn nach den ersten Jah-
ren seiner Regierung mußte er sich (1557) von seinen Räten sagen
lassen, »daß er ungeachtet der gefährlichen Lage nichts als Ruhe,
Kurzweil und Lust suche und jegliche Arbeit fliehe, während auch zu
besorgen, daß seine Beleibtheit mit den Jahren noch zunehmen
werde< (488). Freilich vertraten die Räte den Standpunkt ordnungs-
liebender Pedanten; sie verwünschten des Herzogs kostspieliges
Maecenatentum und besonders seine fast leidenschaftliche Liebe zur
Musik. Ein Orlando di Lasso war ihnen ein Dorn im Auge, und
der Umstand, daß die Capelle, die 1552 schon 2407 fl. gekostet
hatte, 1573 nicht weniger als 7803 fl. in Anspruch nahm, beweist,
wie wenig die Mahnungen der Räte gefruchtet haben. Des Herzogs
vornehmste Interessen lagen eben auf dem Gebiet der Künste; »die
Maler und Kontrafakter kommen fast das ganze Jahr nicht aus der
neuen Feste! Dazu die Bildschnitzer , Dreher, Steinmetzen, der
außerordentliche Aufwand für Kleidung, Tapezerei, Mummereien, das
schädliche Uebermaß in Essen und Trinken, Banketten und Lad-
schaften< (487). Die Räte klagten vergebens. Die Kuriositäten
und Antiquitäten der herzoglichen Kunstkammer bildeten den An-
fang der berühmten Münchener Sammlungen und die drei großen
Ankäufe der Bibliotheken von J. J. Fugger, Widmanstadt und Hart-
mann Schedel gaben den Grundstock für die Schätze der Hof- und
Staatsbibliothek. Für alles das brauchte der Herzog viel Geld.
1557 wurden die Schulden auf 812,000 fl., die Zinsen auf 57,798 fi.
berechnet. Nur die Landschaft konnte helfen, — es fragte sich,
gegen welche Zugeständnisse.
Es hat doch etwas Ueberraschendes, daß die bairische Land-
schaft so ganz unvermittelt und mit solcher Majorität Zugeständnisse
auf dem religiösen Gebiete forderte. Die Form, in die sich hier das
Streben nach Neuerungen kleidete, war das Verlangen nach Laien-
kelch und Priesterehe, — scheinbar geringfügige Wünsche, doch ha-
ben die strengeren Kurialen sehr richtig erkannt, daß nach Gesinnung
und Absichten mehr dahinter steckte.
Wer hat nun die erneuten Aussichten der Reformation in Baiern
zerstört? Wiederum der Landesfürst, dem in diesen Anfängen der
Gegenreformation schon ein durch Musik und Kunst und respektable
Priester gestützter Katholizismus unbewußt zur Herzensangelegenheit
geworden war. Die Väter der Gesellschaft Jesu (seit 1556 dauernd
in Ingolstadt, seit 1559 in München), allen voran Petrus Canisius,
Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 255
hatten um so leichter Einfluß auf den Herzog gewonnen, als sie sich
in jeder Hinsicht vorteilhaft vor dem einheimischen Klerus auszeich-
neten, — die Persönlichkeiten gaben auch hier den Ausschlag. Frei-
lich hat der Herzog zunächst die Meinung geteilt, daß man dem
auf jedem Landtage seit 1553 wiederholten Verlangen nach dem
Kelch entsprechen müsse; wurde doch festgestellt, daß sogar Jesui-
ten die Hostien in Wein tauchten, um dem Volke entgegenzukom-
men. Aber die Kurie verhielt sich hartnäckig ablehnend. So ver-
suchte man es mit einem Kompromiß. Der Herzog gab unter dem
31. März 1556 eine Deklaration des Inhalts, daß wenigstens die
weltlichen Behörden nicht einschreiten sollten, wenn jemand unter
beiderlei Gestalt kommunizierte oder die Fasten nicht beobachtete.
Hand in Hand mit der vom Herzog unterstützten Forderung des
Laienkelches ging das Verlangen nach gründlicher Reformation des
Klerus, dem der bairische Gesandte Aug. Paumgartner am 27. Ja-
nuar 1562 zu Trient in einer Aufsehen erregenden Rede energischen
Ausdruck gab; die Stimmung der Entrüstung erklärt sich vollauf
aus den Ergebnissen der vor kurzem (1558) abgehaltenen Kirchen-
visitation. War es das wiederholte Begehren der bairischen Regie-
rung oder die Unterstützung durch den Kaiser, — jedenfalls erfolgte
trotz des langen Sträubens am 16. April 1564 doch noch der Erlaß eines
entgegenkommenden päpstlichen Breves an die deutschen Bischöfe in
Sachen des Laienkelches. Aber gerade damals hatte in der Um-
gebung des Herzogs die strengere Richtung das Uebergewicht er-
langt; von der Bewilligung wünschte man offiziell keinen Gebrauch mehr
zu machen; man neigte wieder der Meinung zu, daß nur rücksichts-
lose Strenge zum Ziele führe. Diese Rückkehr in die strengkirch-
liche Richtung wirkte klärend auch auf die Opposition. Niemals
sind in Baiern so weitgehende Forderungen erhoben worden, wie auf
dem Ingolstädter Landtage vom März und April 1563. Die Extrem-
sten forderten ohne weiteres die Augsburger Confession, die Mittel-
partei wenigstens Durchführung der Deklaration. Graf Joachim von
Ortenburg, Landsasse und Reichsstand zugleich, ließ in seiner kleinen
Herrschaft (bis heute die einzige protestantische Enklave in Alt-
baiern) trotz Warnungen und Drohungen die Reformation einführen;
»gepanzert und mit geladener Büchse betrat der Praedikant die Kanzel<.
Andere Landsassen folgten dem Beispiele des Ortenburgers. Aber
der Herzog schritt überall ein, ja er erbeutete auf Schloß Mattig-
kofen den berühmten, ihn tief verletzenden Briefwechsel des oppo-
sitionellen Adels, der zum Hochverratsprozeß von 1563 Veranlassung
gab. Obwohl das Urteil überaus milde ausfiel und nur einzelne der
Führer wie Pankraz von Freiberg, schlimmere Unbill zu leiden hat-
266 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
ten, war doch der alte Widerstand der Landschaft gebrochen. Nur
Ortenburg erhielt als Reichsstand durch den Vergleich von 1566
den evangelischen Gottesdienst für seine Schloßkapelle zugestanden.
Der wundervolle Raum zeugt noch heute in dem verwahrlosten
Schlosse davon, wie Graf Joachim beflissen war, >dem Heiland in
seiner geringen Grafschaft ein Thürlein zu öffnen«.
Die Auseinandersetzung von 1563 bedeutete die Krisis. Der
Herzog machte nicht erst jetzt eine Schwenkung (wie man wohl ge-
meint hat), aber er bestärkte sich in seiner ablehnenden Haltung
gegen jede Neuerung, wie einst sein Vater in den Zeiten des Bauern-
krieges. Ungehindert durch reichspolitische Rücksichten, ja bei der
lauen Haltung Maximilians geradezu als erklärte Vormacht des Katholi-
zismus nahm Baiern die Gegenreformation in die Hand. 1564 begann
die Jesuitenmission in den bedrohten Gegenden, die Ausweisung aller
Widerspänstigen; wiederum wurden die besten Kräfte des Landes
verwiesen. Der Landtag erhob bewegliche Vorstellungen, aber zu-
letzt hat auch er sich (1568) »untertänig getröstet«. Es war doch
nicht gleichgültig, daß eben damals (1568, Febr.) durch die Heirat
des Prinzen Wilhelm mit Renata von Lothringen dem Eindringen
wälschen Geistes auch bei Hofe erheblich Vorschub geleistet wurde.
Zu Beginn der siebenziger Jahre hat sich Baiern eingefügt in die
große europäische Schlachtordnung der Gegenreformation. Der Nun-
tius Porzia (1573) gewann samt seinem Personal tiefgehenden Ein-
fluß. Die Idee eines katholischen Bundes wurde mit ganz anderem
Ernst als einst in der Reformationszeit aufgenommen ; man dachte
daran, den Landsberger Bund, dessen Hauptmann Herzog Albrecht
blieb, durch Aufnahme des Königs von Spanien mit den Nieder-
landen zu stärken. Herzog Alba und der Kardinal Truchsess be-
mühten sich eifrigst um das Werk (1569 ff.), aus dem dann freilich
doch nicht viel geworden ist. Der Papst rechnete auf Baierns Hilfe
sogar bei der in Aussicht genommenen Bekehrung der protestanti-
schen Fürsten von Sachsen und Schweden; und in Baden hat in der
That die bairische Vormundschaft 1570—73 den Katholizismus wie-
der hergestellt.
Aber alles das war unbedeutend gegenüber der Thätigkeit, die
Baiern im Verfolge seiner Bistumspolitik entwickelte, bestimmt zu-
gleich durch den Wunsch, nachgeborene Söhne abzufinden, wie durch
den Eifer in der Bekämpfung des Protestantismus. Im »Kölnischen
Krieg< erfolgte die großartigste und folgenreichste Manifestation die-
ser Bestrebungen; sie durfte angesichts der eben erst abgeschlosse-
nen erschöpfenden Darstellung Lossens von Riezler kürzer behandelt
werden. Das Interesse konzentriert sich zunächst auf die Person des
Riesler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 2
Prinzen Ernst; mit ihm »beginnt eine neue durch zwei Jahrhunderte
sich hinziehende Reihe von geistlichen Fürsten aus dem Hause Wit-
telsbach, welche auch nach dem Trienter Konzil in einem streng
katholischen Fürstenhaus, bei der Kurie und in den Domkapiteln
weltliche Interessen im Konflikt mit Geistlichen übermächtig zeigt«
(522). Schon elfjährig war Ernst Salzburger Domherr , zwölfjährig
hatte er durch päpstliche Bewilligung die Verwaltung der Tetiipora-
lien des Bistums Freising; noch nicht zwanzigjährig wurde er (7. Mürz
1573) auch zum Bischofe von Hildesheim gewählt und darauf das
schon ganz verlorene Land wieder katholisch gemacht. Aber der
junge Bischof selbst widerstrebte noch immer sehr lebhaft dem geist-
lichen Stande; die Exercitien des Jesuitenpaters Mengin schienen
einen Augenblick einen tiefen Eindruck auf den lebenslustigen Prin-
zen gemacht zu haben, aber bald nachher brachte der nicht ganz
absichtslose Aufenthalt in Rom (1574) neue Verdrießlichkeiten. Die
lauen römischen Nächte luden zu merkwürdig ungeistlichen Aben-
teuern; als der Prinz eines Morgens die Strickleiter an seinem Pa-
lazzo abgeschnitten fand, floh er nach Neapel; es gab Scenen und
erregte Korrespondenzen, bis schließlich die väterliche Fürsprache
des Papstes den herzoglichen Vater besänftigte. Die päpstliche Huld
begleitete denn auch nach der Abdankung Salentins von Isenburg
den 1577 geweihten herzoglichen Priester in den ersten Kölner
Wahlkampf. Gleichwohl siegte am 5. Dezember 1577 noch die Partei
des Gebhard Truchsess von Waldburg, und die Baiern, die nichts
gespart hatten, waren aufs tiefste verletzt. Herzog Albrecht setzte
alles in Bewegung, die kanonische Wahl umzustoßen, vergebens; er
starb dahin, ohne den Erfolg seines Sohnes erlebt zu haben (24. Okt.
1579).
Es war Wilhelm dem Frommen vorbehalten, erst den Bruder,
dann den Sohn zu Erzstift und Kurfürstenhut zu bringen. Neue
Aussicht winkte, als Gebhard Truchsess entgegen seiner früheren
guten Haltung begehrte, eine Geliebte zu ehelichen und die »Frei-
stellung< zu erproben, d.h. als protestantischer Fürst im Lande zu
bleiben. Der Papst setzte ihn ab (22. März 1583) und der Kaiser
stimmte zu. Nun fiel die Wahl am 23. Mai 1588 einhellig auf Ernst
von Baiern, der inzwischen auch das Bistum Lüttich nebst Stablo und
Malmedy erhalten hatte. Geld war nicht gespart worden, aber den
Ausschlag bei der Wahl hatte diesmal doch gegeben, daß man nur
Baiern zutraute, die Sache gegen die Partei des Truchsess durchzu-
fechten. Auf dem Spiele standen nicht nur das Erzbistum und die
Nachbarlande, sondern vor allem die katholische Majorität im Kur-
fürstenkolleg und damit das katholische Kaisertum. Gleichwohl ver-
Gött, gel. Anz. 1901. Nr. 8. 18
258 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
hielten sich die mächtigeren Fürsten im Reiche durchaus abwartend.
Von den protestantischen Fürsten beteiligte sich eigentlich nur der
Pfalzgraf Johann Kasimir eine zeitlang an dem Handel. Aber auch
auf katholischer Seite unterstützte fast nur Spanien das nächst be-
teiligte Baiern. Herzog Ferdinand von Baiern übernahm den Ober-
befehl, und in dem Feldzuge des Winters 1583/84 erstritt er nicht
allzu mühsam seinem Bruder das reiche Stift. Lokale Wirren zogen
sich noch lange hin, aber an der Entscheidung wurde nichts mehr
geändert. Die Folgen waren gewaltige. Mit Recht betont Riezler
nach Lossen, >daß die Erhaltung des Niederrheins und Westfalens
im katholischen Bekenntnis eine Frucht der engen Verbindung ist,
welche das bairische Hausinteresse mit den katholischen Zielen ver-
kniipfte< (645). Bis zum Jahre 1761 ist Köln von wittelsbachischen
Herzögen regiert worden, meistens vereint mit Hildesheim, Lüttich
und Münster, zu Zeiten auch mit Paderborn und Osnabrück. Die
Kumulation der Bistümer, noch 1585 bei dem Erwerb Münsters
durch Herzog Ernst von der Kurie beanstandet, blieb doch geduldet
angesichts der großen Verdienste, die sich das »hochloblich christlich-
eifrige bairische Blut< erworben. So geschah es denn auch ohne
Schwierigkeiten, daß dem niemals sehr priesterlichen Ernst schon
1595 sein Neffe Ferdinand als Coadjutor zur Seite gestellt wurde;
1599 folgte ihm dieser auch in Stablo und Malmedy, 1601 in
Lüttich. Im vorigen Jahrhundert baute sich der letzte kölnische
Wittelsbacher, Clemens August, ein Jagdschloß bei Sögel in Gestalt
eines Kegelspiels; er war so glücklich, die Mehrzahl der Kegel-
pavillons mit den Namen seiner Bistümer schmücken zu können.
Herzog Wilhelm mochte sich mit seinen Erfolgen über den
Spott und Widerstand trösten, den er bei der Fürsorge für seine
jüngern, geistlichen, Söhne gefunden hatte. Philipp, der 20jährige
Kardinal ist nur zu früh gestorben, um es seinem Bruder Ferdinand
gleich zu thun. Will man aber Wilhelms Bedeutung für die Gegenrefor-
mation in Deutschland würdigen, so muß man zu der Bistumspolitik
auch noch seine Bemühungen im Straßburger Kapitelstreit, in Baden
und vor allem in Steiermark gesellen. Freilich ging in Steiermark
nicht alles nach Wunsch, doch war es ein wichtiges Ding, daß der
junge Erzherzog Ferdinand vermöge der bairischen Vormundschaft
in Ingolstadt ganz jesuitisch erzogen werden konnte.
Denn in den Jesuiten lag doch der eigentliche Nerv der Gegen-
reformation, nicht blos für Baiern. Herzog Albrecht hat alles vorbe-
reitet, Herzog Wilhelm wird bereits völlig beherrscht von jesuitischem
Einfluß. Zu Ingolstadt war er erzogen unter Leitung des Conver-
titen Dr. Staphylus; Jesuiten waren seine Beichtväter, 29 Jahre
Riezler, Geschichte Baierns. Vierter Band. 259
lang P. Mengin; für die Jesuiten erbaute er zu München die präch-
tige Michaelskirche mit dem weitläufigen Collegium ; Jesuiten brachte
er auch in den Besitz der alten Klöster Biburg, Mönchsmünster und
Ebersberg und damit zu Sitz und Stimme in der bairischen Land-
schaft; unter Leitung der Jesuiten ergab sich Wilhelm auch per-
sönlich einem fast mönchischen Leben, zumal nach seiner Abdankung
im Jahre 1594 (offiziell 1597); aber auch schon vorher lag er täg-
lich vier Stunden auf den Knien im Gebet, beichtete und kommuni-
zierte jede Woche, machte jährlich wenigstens einmal seine Wall-
fahrt nach Altötting. Freilich entsprach dem religiösen Eifer des
Herzogs auch der moralische Ernst seiner Lebensführung und die
Gewissenhaftigkeit seiner Berufsarbeit; im Gegensatz zu seinem Va-
ter liebte er. die Akten, und die Registraturen seiner Regierung
wimmeln von seinen eigenhändigen Schriftstücken.
Nur in einer Beziehung war Wilhelm ganz der Sohn seines Va-
ters, in der völligen Verständnislosigkeit für eine geordnete Finanz-
wirtschaft. Bedeutende Summen kostete die Versorgung der
Prinzen, besonders im Kölnischen Krieg. Aber ungleich kostspieliger
noch war die laufende fürstliche und kirchliche Repräsentation. Be-
schäftigte Albrecht Künstler und Musiker, so war Wilhelm, außer
auf Kunstsachen und Kuriositäten, vornehmlich auf Reliquien be-
dacht; da solche im protestantischen Norden damals massenhaft zu
haben waren, legte er sich auf Tausch, und bezog z.B. von den
Brandenburgern eine ansehnliche Kollektion gegen englische Hunde
und Münchener Gewehre. Vollends die Kirchen- und Klosterbauten
verschlangen riesige Summen. So gerieten die bairischen Finanzen
in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts in die jämmerlichste
Zerrüttung.
Das Erbe Herzog Albrechts war eine Schuldenlast von 613,000
Gulden gewesen; dazu hatte die Landschaft bereits 2500 000 fl. an
Schulden übernommen. Bei der großen Abrechnung von 1593 stellte
sich heraus, daß die Landschaft seit 1563 an Schulden und Zinsen
10 Millionen übernommen hatte, daß die Bilanz der fürstlichen Ein-
nahmen und Ausgaben ein jährliches Defizit von über 300 000 fl. er-
gab. Die Klagen der Stände waren um so mehr berechtigt, als das
Land durch die ununterbrochene Uebersteuerung ganz entmutigt
war. Die »gemeine Steuer< bedeutete, wie Riezler hervorhebt, 1/s0
vom Vermögen, nicht vom Einkommen, so daß in Herzog Albrechts
30jähriger Regierung jeder Bauer bei der durchschnittlich zweijäh-
rigen Auflage, abgesehen von Mißwachs, Gält und Zehnten, die Hälfte
seines Vermögens an den Herzog gegeben hat (S. 625). Kleine
Bauernerhebungen gaben Zeugnis von der verzweifelten Stimmung.
260 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
Aber bei dem frommen Fiirsten war auf keine Weise ein anderes
Verhalten zu erzielen.
So war der Ertrag der fiir das engere und weitere Vaterland
so verbängnisvollen Regierung dieser Herzöge zugleich der wirt-
schaftliche Ruin des Landes. Unter solchen Auspizien trat Baiern
in die Aera des 30jährigen Krieges.
Marburg, 11. Januar 1901. K. Brandi.
Analecta reformatoris. II. Biographien: Bibliander — Ceporin — Jo
hannes Ballinger. Von Emil Egli Mit drei Tafelo. Zürich, Zürcher
und Furrer, 1901. V u. 1728. Gr. 8°.
Auf das GGA 1900, Nr. 9, besprochene erste 1899 erschie-
nene Heft ist schon sehr hald eine Fortsetzung der Analecta re-
formatoria gefolgt, die durch drei biographische Beiträge Lücken
der historischen Litteratur zur schweizerischen Reformation auszu-
füllen sucht. Wie das »Vorwort« sagt, will der Verfasser in der
Vorführung Biblianders, des Nachfolgers Zwinglis im theologischen
Lehrfache, »eine Ehrenschuld der Zürcher Kirche« zahlen. Ceporin,
der Lebrer des zuerst geschilderten, war der erste Lehrer der bibli-
schen Sprachen an Zwinglis Schule. In Johannes Bullinger, dem
älteren Bruder des Reformators, des Nachfolgers Zwinglis in der
Leitung der zürcherischen Kirche, stellt der Biograph einen Vertreter
aus dem Kreise der Zöglinge der Zürcher Schule dar, dessen reich
glossierte Bibel einen Einblick in die da gewonnenen Anregungen
bietet.
Bibliander, der Sohn eines angesehenen bürgerlichen Hauses
Buchmann im thurgauischen Städtchen Bischofszell, geboren wahr-
scheinlich 1509, in Zürich, dann in Basel geschult, auf Begehren des
schlesischen Herzogs Friedrich II. 1527 durch Zwingli nach Liegnitz
an die dort gegründete Schule geschickt, von 1529 an aber durchaus
in Zürich thätig und eben 1531 an Zwinglis Stelle als Professor er-
wählt, bis 1560 im Amte, 1564 — als ein Opfer der Pest — ge-
storben, galt lange Zeit hindurch neben dem Antistes Bullinger als
der angesehenste Vertreter der zürcherischen Kirche. Dennoch hat
es auffälligerweise bis zur Gegenwart an einer biographischen Dar-
stellung dieses Mannes gefehlt. Aus dem verhältnißmäßig recht
reichlichen Materiale, den 24 Druckschriften, 50 handschriftlichen
Abhandlungen, einer Anzahl von Collegienheften , 153 Briefen, wozu
Analecta reformatoria. II. 261
noch Briefe von Zeitgenossen kommen, ist nun in der gewissenhaft
sorgfältigen Arbeitsweise des Verfassers diese Versäumnis nachge-
holt (S. 1—144).
Bibliander war vor Allem hervorragender Kenner der biblischen,
aber überhaupt vieler Sprachen, wie sein Nachfolger Stucki sich
ausdrückte, >et re et nomine Bibliander«, und dabei in der Anwendung
auf sein spezielles Fach, nach dem Ruhme des ausgezeichneten Orien-
talisten des folgenden Jahrhunderts Johann Heinrich Hottinger, der
Vater der exegetischen Theologie in der Schweiz. Gleich von An-
fang seines Lehramtes in Zürich liegen seine Hauptleistungen in der
Auslegung der Propheten — seine erste Druckschrift, eine am
11. Januar 1532 so zu sagen zur Einführung in die Thätigkeit als
»Leser« gehaltene lateinische Rede, betraf den Propheten Jesajah — ;
ein großes Interesse wandte er insbesondere auch der apokalypti-
schen Litteratur zu. Doch neben den sorgfältigen grammatischen
Studien im Hebräischen — die 1535 erschienene hebräische Gramma-
tik übertraf nach Pellicans Urteil alles Frühere an lichtvoller Kürze
— stand auch die Ausgabe des Koran sammt einer von Bibliander
hinzugefügten Widerlegung, 1543; hervorgerufen durch die Er-
wägung, nach den neuen türkischen Siegen des Jahres 1541 müsse
eine Belehrung über die Glaubensurkunde dieses grimmigsten Feinds
eintreten, eingeleitet durch das 1542 publicierte kurz sogenannte
»Türkenbüchleine — »Ad nominis Christiani socios consultatioc —
hat diese durch den befreundeten Drucker Oporin in Basel über-
nommene Edition das allergrößte Aufsehen erregt, so daß die Basler
Rathsverordneten eingriffen, die gedruckte Auflage mit Beschlag be-
legt, Oporin kurze Zeit in Haft gelegt wurde, bis dann die Straß-
burger Theologen, aber besonders auch Luther, in einem Brief an
den Basler Rath vom 27. Oktober 1542, sich der Sache annahmen
und die Befreiung der Auflage herbeiführten. Die allgemeinen phi-
lologischen Kenntnisse Biblianders, seine Ansichten über Sprachver-
gleichung, Sprachmethode treten vorzüglich in dem merkwürdigen
Werke »De Ratione communi omnium linguarum et literarum com-
mentarius ... cui adnexa est compendiaria explicatio ... religionis
omnium gentium atque populorum« 1548 zu Tage, und an diese
Aeußerungen über das Gemeinsame aller Religionen knüpfen sich
hinwider seine Ratschläge für eine Mission unter Juden und Moham-
medanern, die er 1553 in einer nur handschriftlich erhaltenen Ab-
handlung niederlegte. Unleugbar stand Bibliander auch ein reiches
historisches Wissen zu Gebote; seine beiden Arbeiten auf diesem
Felde sind chronologischen Inhaltes, 1551 das Buch De ratione tem-
porum und 1558 das letzte Druckwerk: Temporum ... supputatio
262 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
partitioque exactior. Sein ganzes Leben hindurch war Bibliander
ein unerschrockener Bekenner seiner protestantischen Ueberzeugung
auch gegenüber der päpstlichen Kirche und ihrer Kräftigung durch
das Tridentinum in seinem Briefwechsel, in Schriften, von denen die
Aufforderung Ad illustrissimos Germaniae principes et optimates libe-
rarum atque imperialium civitatum 1553 vorzüglich feurig lautet.
Um so peinlicher berührten ihn Meinungsverschiedenheiten innerhalb
der eigenen Glaubensgenossenschaft, und hieraus erwuchs auch die
Krisis, die zu seiner Amtsentlassung, übrigens in der ehrendsten
Form, führte. Von Anbeginn infolge seiner freien humanistisch an-
gehauchten Anschauung von der göttlichen Gnade der strengen Form
der Erwählungslehre abgeneigt, gerieth Bibliander, als 1556 Peter
Martyr Vermigli die scharf ausgeprägte calvinische Lehre der Gna-
denwahl nach Zürich brachte, mit diesem Collegen in bitteren Zwist,
so daß seine Emeritierung erfolgte.
In vortrefllicher Weise tritt die vielseitige Thätigkeit des Nach-
folgers des Reformators, der dessen Erbe eifrig und hochgesinnt
vertheidigte, in der wohl angeordneten biographischen Darstellung,
der noch einige Beilagen angehängt sind, entgegen.
Weit kürzer konnte der Verfasser den 1500 geborenen Jakob
Wiesendanger, aus Dinhart bei Winterthur, oder präcisiert Cepo-
rinus behandeln, da dessen Leben schon Ende 1525 bei den über-
mäßigen Anstrengungen erlosch (S. 145—160). Durch Zwingli war
der in Wien, Ingolstadt, Basel Vorgebildete 1522 für die Lehrstelle
des Griechischen und Hebräischen — in dieser Sprache ging der Re-
formator selbst bei dem jungen Lehrer in den Unterricht — nach
Zürich gezogen worden. Die 1522 zuerst im Druck — bei Curio in
Basel — vollendete griechische Grammatik erlebte bis 1526 noch
zwei, später, da sie bis in das 18. Jahrhundert in der zürcherischen
Schule im Gebrauche blieb, noch sehr viele weitere Auflagen ; daneben
stehen Ausgaben von Classikern. Im lateinischen Vorwort zur Edi-
tion des Pindar widmete Zwingli dem »homo monstrose laboriosus«
einen warmen Nachruf.
Der kurzen Abhandlung über Johannes Bullinger (S. 161
— 172) liegt dessen Handbibel zu Grunde, neben Nachrichten, die aus
Mittheilungen des berühmten Bruders, des Antistes Heinrich, fließen.
Mitten aus seinen — mit Heinrich in Cöln und Emmerich betriebe-
nen — Studien und der nachher folgenden priesterlichen Thätigkeit
heraus hatte sich Johannes bis 1527 als Urner Feldprediger selbst
an den Kämpfen in Italien betheiligt. Dann aber holte er in Zürich
das Versäumte nach und trat von 1529 an in verschiedene Pfarr-
ämter, zuletzt 1557 bei der Kirche zu Cappel, wo er 1570 starb.
Analecta reformatoria. II. 263
Die 1530 angekaufte Frobensche Vugata, jetzt im Zwinglimuseum in
Zürich, wohin sie Dr. Heidenheim auf das Ansuchen des Verfassers
schenkte, zeigt in ihren zahlreichen Einträgen sehr gut, woran ein
Landgeistlicher jener Jahrzehnte, der durch die exegetische Schule
Zürichs gegangen war, besonders auch in der Richtung seiner Bibel-
studien, theilnahm. Bei seiner fünfmaligen Durchlesung des Buches
machte der Besitzer die verschiedenartigsten Anmerkungen, in deut-
lich zu unterscheidenden Schichten, erklärend, zusetzend, aus den ver-
schiedensten alten, mittelalterlichen, zeitgenössischen Autoren, aus
den von ihm selbst angehörten Auslegungen der »Prophezei<,
Zwinglis, an der Zürcher Schule, im Großmünster. Daneben stehen
Eintragungen freierer Art, aus Beobachtungen, die er in der eigenen
Zeit und Umgebung gemacht hat, in Bezug auf die eidgenössische
Politik, auf das Papstthum und Aehnliches.
Die drei Tafeln stellen Biblianders und Ceporins Handschrift,
bei dem letzteren eine Probe aus dem einzigen erhaltenen Briefe an
seinen Gönner, den Propst Brennwald des Chorherrenstiftes zu Em-
brach —, sowie die Figur des Adlers vom Titel des Buches Biblian-
ders von 1553, Ausgabe des Propheten Esdra, dar.
Wenn der Verfasser in Aussicht stellt, daß der Stoff zu weiterer
Fortsetzung gesammelt liege, so ist nur zu wünschen, daß sein Vor-
satz, erst in einigen Jahren damit hervorzutreten, nicht allzulange
auf sich warten lasse.
Zürich, 23. December 1900. G. Meyer v. Knonau.
Delaville le Roulx, J., Cartulaire général de l’ordre des Hospita-
liers deS. Jean de Jörusalem (1100—1310). T. IV. part. 1. Paris, Ernest
Leroux 1901. 307 S. Fol.
Das Werk, auf welches ich in diesen Blättern wiederholt, (1894,
749—52; 1897, 502—504; 1899, 249f.) aufmerksam zu machen mir
erlaubte, geht seinem Abschluß entgegen: IV, 1 führt die Urkunden
zu Ende, deren letzte das Datum 11. Dec. 1310 trägt, IV, 2 wird
noch erklärende Anınerkungen und Register nachbringen. Den
Grundstock bilden auch in diesem Bande die Verleihungen von Be-
sitztiimern und Gerechtsamen — eine willkommene Beute für Lokal-
forscher der verschiedensten Territorien. Wer feineren Gegenständen
aus kunstgewerblichen Gebieten nachspürt, findet zuweilen auch
seine Befriedigung, er darf nur z.B. einen Blick thun in die Schatz-
264 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
kammer der reichdotierten Ordenskapelle zu Aix, deren Inventar
vom Notar aufgenommen auf S. 122—124 zu lesen ist. Das innere
Leben der Ritter erfuhr seine Regelung durch Beschlüsse ihres Ge-
neralkapitels, welches unter dem Vorsitz des Meisters Jahr für Jahr
zu Limiso gehalten wurde, solange der Orden seinen Sitz auf Cypern
hatte. Der Verfasser hat die Satzungen auch dieses Jahrzehnts mit
großer Sorgfalt gesammelt. Von den vielen verglichenen Hand-
schriften erwies sich ihm wieder die der Pariser Nationalbibliothek
mit französischem Text als die vollständigste. Aber nur die Be-
schlüsse der Generalkapitel von 1301 (S. 14—23), 1302 (S. 35 —41),
1303 (S. 57f.) und 1304 (S. 93—98) sind lückenlos auf uns gekom-
men, während von denen des Jahrs 1305 (S. 120) blos ein Para-
graph, von denen des Jahrs 1306 (S. 136 f.) blos 3 Paragraphen er-
halten, die anderen infolge späterer Ungiltigkeitserklärung unter-
drückt sind. Nach dem Fall von Accon trug man sich im Abend-
land lange mit Plänen zur Wiedereroberung des hl. Landes. Dem
eventuellen Kriegsschauplatz saß aber zunächst der Johanniterorden
und Papst Clemens V. versäumte nicht den Rath seines Meisters für
den neuen Kreuzzug (1306) einzuholen (S. 129f.). Welche gewal-
tige Anstrengungen der Orden selbst mit Heeres- und Schiffsriistungen
machte, dafür gibt vorliegender Band neue Belege, namentlich durch
einen Brief, in welchem der Meister Foulques von Villaret dem Kö-
nig Philipp dem Schönen von Frankreich die Kriegs- und Transport-
schiffe aufzählte, die der Orden auf verschiedenen Werften des Abend-
landes bauen oder fertig kaufen ließ. Es ist das Verdienst unseres
Autors, dieses wichtige Schreiben zuerst veröffentlicht zu haben; nur
setzte er es früher (in dem Buch La France en Orient du XIV.
siécle, pieces justificatives p. 2 ff.) in das Jahr 1311, jetzt gewiß rich-
tiger in das Jahr 1309 (S. 203f.). Um diese Zeit vollzog sich nun
aber eine Wendung, welche eine neue Aera in der Geschichte der
Johanniter eröffnete. Mit der Verlegung des Meistersitzes von Cy-
pern nach Rhodus hörte zwar der Orden nicht auf ein Vorposten der
Christenheit gegen den Islam zu sein, aber er kehrte fortan seine
Front nicht mehr gegen die Aegypter, sondern gegen die Türken.
Mit dem Eintritt in diese Epoche schließt unser Urkundenwerk ; nur
einmal begegnet uns in diesem Schlußband der Name Rhodus, indem
Papst Clemens V. am 5. Sept. 1307 den Besitz dieser Insel dem
Orden für immer bestätigt, nachdem derselbe sie mit gewaltiger Hand
den schismatischen Griechen entrissen habe (S. 144 f.).
Stuttgart, März 1901. W. Heyd.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen.
April. 1901. Nr. 4.
Dorner, A. D., Grundriss der Dogmengeschichte. Entwickelungs-
geschichte der christlichen Lehrbildungen. Berlin 1899. Verlag von Georg
Reimer. XI u. 648 S. 8°. Preis Mk. 10, 00.
Eine neue Dogmengeschichte werden die meisten von uns nur
mit schweren Bedenken begrüssen. Denn erstens sind die Haupt-
gedanken einer Gesammtauffassung durch die grossen Entwürfe Baurs
und Harnacks vorläufig erschöpft und ist der Raum nunmehr für
die Einzelforschung eröffnet, die großenteils noch sehr unbebautes
Feld vor sich hat und in der Arbeit an den Einzelerscheinungen
auch erst neue Gesichtspunkte für das Ganze finden wird. Zweitens
aber ist eben durch jene großen Werke der Begriff und Sinn der
ganzen Disciplin ins Wanken gekommen. Baur hat die Dogmen-
geschichte in eine Geschichte des in Religion und Dogmen sich spie-
gelnden christlichen Bewußtseins, also in eine christliche Religions-
geschichte überhaupt, verwandelt und damit den Rahmen der Dogmen-
geschichte gesprengt, ohne doch die Aufgabe, die ihm vorschwebte,
von den engeren dogmen- und theologiegeschichtlichen Fragestellungen
zu befreien. Er geht daher von der für das moderne historische
Denken selbstverständlichen Voraussetzung aus, daß die klassische
Urzeit des Christentums die christliche Idee noch in unentwickelter
und mannigfach gebundener Gestalt zeige und daß die weitere historische
Entwickelung ihren Gehalt in tausendfachen Kämpfen, Anpassungen
und Verwickelungen erst entfalte. Soll aber hierbei die Disciplin eine
Bedeutung für die Frage nach der gegenwärtigen religiösen Wahrheit
haben, so gilt es jene Urzeit und diesen historischen Erwerb so zu-
sammen zu fassen, daß der letztere mit innerer Folgerichtigkeit
und Notwendigkeit aus der ersteren hervorgeht und die in diesem
ganzen Prozeß wirksame einheitliche Triebkraft aus ihm konsequent
die gegenwärtig geltende religiöse Wahrheit hervortreibt. Das aber
konnte Baurs historische Arbeit nur leisten durch eine starke Anleihe
bei der logischen Entwickelungslehre Hegels, derzufolge ein großes
geistiges Prinzip wie das Christentum seinen wesentlichen Gehalt
Gött. gel. Ans, 1001. Nr. 4. 19
266 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
jedesmal in spekulativen Denkbestimmungen ausspricht und diese
Denkbestimmungen in logisch notwendigem Fortschritt der Reihe
nach ergänzend und vertiefend hervorbringt. Harnack dagegen hat
auf das grosse Ideal Baurs bewußt verzichtet, und sich vielmehr
an die eigentlich dogmengeschichtliche Aufgabe haltend, den engen
Zusammenhang der dogmatischen Begriffsbestimmungen mit der
kirchlichen Autorisation erkannt, sich auf die Geschichte der von
der Kirche anerkannten Dogmen beschränkt und hierbei die relative
Verschiedenheit von Theologie und Dogma gegenüber der eigent-
lichen religiösen Produktion betont, wodurch dann der Gedanke einer
Religionsgeschichte des Christentums prinzipiell von der Dogmen-
geschichte ferngehalten wird, aber andererseits diese in Dogmen-
geschichten der einzelnen Kirchen zerschlagen wird. Seine Dogmen-
geschichte ist im Grunde eine Monographie des katholischen Dogmas,
was nur durch die stillschweigende Weglassung der späteren anatolischen
und der protestantischen Entwickelung sowie durch die große Schluß-
kulisse, die Konstruktion der »drei Ausgänge«, verdeckt wird. Unter
diesen Umständen hat aber seine Darstellung auch darauf verzichten
müssen, eine unmittelbare Bedeutung der Disciplin für die gegen-
wärtige religiöse Erkenntniß zu gewinnen. Die Konstruktion eines
spekulativen Gehaltes der Religion ablehnend und skeptisch gegen den
logischen Progressismus, hat er vor allem den vorkirchlichen und
vordogmatischen, grandiosen und originalen Charakter der christlichen
Urzeit hervorgehoben, den autoritären Dogmatismus und die ver-
wickelte Spekulation der den Dogmen zu Grunde liegenden Kirchen-
philosophie dagegen kontrastiert und schließlich die Wiederanknüpfung
der Reformatoren an das von Kosmologie, Spekulation und Kirchen-
autoritat noch freie Evangelium betont. Das praktische Ergebnis ist
also hier die wenigstens prinzipielle Anknüpfung an die Urzeit mit
kritischer Ausschaltung der dogmengeschichtlichen Entwickelung.
Es liegt auf der Hand, daß beide Entwürfe große und bedeutsame
Auffassungen und Beurteilungen darstellen und jeder ein grosses in
der Sache liegendes Interesse verficht, der eine die Wertung der
klassischen Urzeit als des concentriertesten, stärksten und einfachsten
Ausdruckes der christlichen Religion, der andere die Wertung des
historischen Erwerbes als einer für die Gegenwart grundlegenden
Ausweitung und Entfaltung des Christentums. Die hiermit auf-
geworfenen Fragen sind lange noch nicht genügend in ihrer Bedeu-
tung und Tragweite erkannt und die hiermit gegebenen Anregungen
führen erst jetzt zu einer im eigentlich großen historischen Sinne
gedachten monographischen Arbeit. Nur das eine ist klar, daß
mit alledem die Disciplin in einen Zustand vollständiger Gährung
Dorner, Grundriß der Dogmengeschichte. 267
eingetreten ist, und daß die alte Dogmengeschichte, die Sammlung
der von dem einheitlichen Subjekte der christlichen Kirche geprägten
und von der Dogmatik zu verarbeitenden Lehrbestimmungen, end-
giltig im Staub der Bibliotheken begraben ist.
Unter diesen Umständen ist eine neue Dogmengeschichte von
vornherein übel daran. Verarbeitungen der großen Dogmenge-
schichten zu mehr oder minder verdienstvollen und selbstständigen
Leitfäden haben wir genug, und einen solchen Leitfaden will auch
Dorners Buch von Hause aus nicht vorstellen. Es müßte also sein
Dasein durch die Begründung auf eine besonders reiche und originelle
monographische Einzelarbeit oder durch eine neue Gesammtauf-
fassung rechtfertigen. Auf das erste macht Dorner, der wesentlich
Dogmatiker und philosophischer Theologe ist, keinen Anspruch. Aber
auch das zweite ist nur in beschränktem Maße der Fall. Denn er
wiederholt im Grunde nur in einer zusammendrängenden und etwas
modificierten Weise die Konstruktion Baurs. Diese ist freilich durch
den Einfluß der Harnack’schen Darstellung, durch die konfessionelle
Opposition gegen jede bloß historisch -relative Behandlung und
Schätzung der Dogmen und vor allem durch die von allerhand
kleinen Geistern zur Schau getragene Geringschätzung Baurs zu-
rückgedrängt, und insofern ist die Erneuerung der Baur’schen Auf-
fassung allerdings etwas relativ Neues, dem an sich das Daseinsrecht
nicht von vornherein abzustreiten ist. Die Frage ist nur, ob diese
Erneuerung eine fruchtbare Erweiterung und Fortsetzung der Baur’-
schen Erkenntnisse darstellt.
Hier muss ich nun aber leider bekennen, dass ich dieses Ver-
dienst dem Buche in der Hauptsache nicht zugestehen kann. Ganz
abgesehen von der Gelehrsamkeit und der reichen Verwendung kon-
kreter Anschaulichkeit fehlt dem Buche auch die Klarheit und
Präcision Baurs. Ueberblickt man es als Ganzes, so erkennt man
in ihm als Baur’sche Erkenntnis im Grunde nur die Unterscheidung
der Urgestalt des christlichen Prinzips und seiner historischen Ent-
faltung wieder. Aber der großartige Versuch, diese Entfaltung
wirklich aus dem Keimgehalt abzuleiten und in ihren logisch not-
wendigen Fortschritten inhaltlich aufzuzeigen, wird nicht mehr
gemacht. Es treten vielmehr zur Erklärung und Beurteilung des
thatsächlichen Verlaufes ganz andere Begriffe ins Spiel, einmal
der Begriff rassenpsychologischer Eigentümlichkeiten und sodann der
des Antagonismus freier theologisch - philosophischer Gedanken-
bildung gegen die praktisch geforderte kirchliche Consolidierung.
Der erste Begriff erstreckt seine Wirksamkeit freilich nicht weit über
die jeweils gegebenen Ueberschriften hinaus und kommt so nicht
19*
268 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
dazu, seine Konsequenzen zu entfalten, die freilich den Baur’schen
Voraussetzungen einer in den allgemein menschlichen Geistesan-
lagen begründeten Entwickelung direkt widersprechen müssten
und die ganze Auffassung der Dogmengeschichte gründlich revolutio-
nieren würden. Was bei einer wirklich energischen Durchführung
dieses Gedankens herauskäme, kann man sich in dem gegenwärtig
viel genannten Buche H. St. Chamberlains »Die Grundlagen des 19.
Jahrhunderts< klar machen. Aber solchen Konsequenzen steht Dorner’s
Auffassung, die auf prinzipieller Gleichartigkeit und rein logischer
Bedingtheit alles Denkens beruht, von Hause aus gänzlich ferne.
Um so stärker wirkt der zweite Begriff, auf den vermutlich Har-
nacks Aufweis der engen Entsprechung von Dogma und Kirche und
des antinomischen Verhältnisses von Theologie und Dogma stark
eingewirkt hat. Unter seiner Herrschaft gewinnt Dorners Dogmen-
geschichte geradezu das Aussehen, als wolle sie die theologische
Begrifisbildung des Christentums in dem beständigen Schwanken
zwischen der aus dem religiösen Erlebnis hervorgehenden freien
Spekulation und der aus den praktischen Autoritätsbedürfnissen folgen-
den Dogmatisierung schildern. Auf der einen Seite Freiheit und All-
gemeingiltigkeit, die von dem Anspruch des Christentums auf ab-
schliessende Wahrheit ebenso wie von dem Vernunfttrieb nach Not-
wendigkeit der Erkenntnis gefordert wird, auf der anderen Seite Au-
torität, Ueberlieferung und Zwang, die Schwäche und Unvernunft der
Menschen überall begehren. Als Lehre und Ergebnis der Dogmen-
geschichte erscheint daher die gegenseitige Selbstaufhebung der sich
ausschließenden Confessionsdogmen und die Gewährung voller Frei-
heit für die philosophisch -theologische Gestaltung der christlichen
Idee, die in diesem Streben nach Freiheit und Rationalität in den
großen Theologen der bisherigen Kirchen Vorläufer und Zeugen immer-
dar gehabt hat, aber in ihrer inhaltlichen Ausführung sich als lo-
gisches Ergebnis der vorangegangenen Entwickelungen nicht zu fühlen
und nicht zu beweisen braucht. Das ist zwar auch sehr wenig im
Sinne Baurs, aber an sich keine üble Auffassung und darf als brauch-
bare Ergänzung der unter einseitig kirchengeschichtlicher Behandlung
stehenden Dogmengeschichte Harnacks zur Seite treten. In der
Tat verdanken die besten Partien des Dorner’schen Buches diesem
Gedanken ihren Charakter und ihren Wert. Mit bemerkenswerter
Intuitionskraft zeichnet Dorner ein Bild der antagonistischen Kräfte
des Dogmas und der Theologie, wobei er beide nach ihrem theologisch-
begriftlichen Inhalt neben einander stellt und die Details der Fixirung
des einen wie der litterargeschichtlichen Zusammenhänge der anderen
der Kirchengeschichte überläßt. So entstehen gelegentlich anschauliche
Dorner, Grundriß der Dogmengeschichte. 269
Gemälde der gegeneinander spielenden geistigen Kräfte, und in der
Analyse dogmatisch - kirchlicher Festsetzungen wie theologisch-syste-
matischer Begriffsgebäude zeigt sich sowohl die dialektische Gewandt-
heit des feinen Dogmatikers wie die kulturhistorische Kunst der Hegel’-
schen Schulung. Und es ist sehr lehrreich, in diesen Bildern das
von der konfessionellen Geschichtsschreibung auf die kanonisierten
Lehren und die approbierten Denker konzentrierte Licht gleichmäßig
auf sie und auf die Stiefkinder der kirchlichen Darstellungen ver-
teilt zu sehen. Freilich muß ich von dieser Anerkennung die
Schlußpartieen ausnehmen. Gerade hier soll das Endergebnis der
Dogmengeschichte, die Auflösung des konfessionellen Dogmas und
der Einsatz des freien Spiels theologischer Begriffsbildungen ge-
schildert werden. Aber hier versagt auch Dorner’s Darstellung am
gründlichsten. Denn erstlich sind die Motive, die zu dieser Um-
wälzung geführt haben, viel zu ausschließlich in innerkirchlichen und
innertheologischen Vorgängen gesucht und ist den sogenannten
Dissenters der Reformation ein viel zu großer Einfluß auf diese
Umwälzung eingeräumt. Dorner will die moderne freie und rationale
Theologie direct aus dem Protestantismus als Ausdruck seiner
wesentlichen Tendenz ableiten, und muß zu diesem Zwecke den
Begriff des ursprünglichen Protestantismus ausweiten, indem er die
Dissenters in ihn aufnimmt und aus dem Wegfall der unberechtigten,
von der Lehrkirche gegen die Dissenters errichteten Scheidewand
den toleranten, freien und nuancenreichen Protestantismus der Neu-
zeit entstehen lässt. So soll auf dem Umweg über die Dissenters
als genuin protestantisch erwiesen werden, was in Wahrheit eine
Wirkung der allgemeinen, von Dissenters wie Protestantismus gleich
unabhängigen Kulturumwälzung ist. Stammt doch die Toleranz, die
den Dissenters allmählich Einfluß gewährte, und die historische
Gerechtigkeit, die sie mit unter die reformatorische Bewegung
einreihte, aus modernen ethischen und historischen Einsichten, die beide
nicht vom Protestantismus hervorgebracht sind. Zweitens aber ist die
Darstellung des modernen Protestantismus selbst im höchsten Grade
ungenügend. Dorner verweist zwar die ausführliche und eigentliche
Darstellung dieser Periode — gemäss seiner besonderen encyklopä-
dischen Einteilung — der sog. Symbolik zu. Aber dieser Hinweis
kann es doch nicht entschuldigen, daß uns ein so unordentliches
Durcheinander philosophischer und theologischer Systembrocken ge-
geben wird, welches selbst für ein Konversationslexikon zu bunt und
summarisch wäre. Es ist ja auch ganz deutlich, dass der Grund
dieser Dürftigkeit nicht sowohl in der Versparung der bessern Ein-
sichten auf die Symbolik, sondern in dem Bestreben liegt, die moderne
270 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
Situation lediglich aus Protestantismus und Dissenters abzuleiten,
während sie in Wahrheit vor allem unter dem Einfluß der außer-
theologischen Wissenschaft steht und bei der nötigen Rücksicht auf
diese Einflüsse sich sehr wohl gliedern und erleuchten läßt.
Aber diese Mängel mögen — bis auf ein gleich noch zu ihnen
zu äußerndes Wort — auf sich beruhen. Die Hauptsache ist, daß in
Wahrheit die Dorner’sche Dogmengeschichte ja gar nicht beabsichtigt,
nur das Gewicht der Darstellung zwischen der kirchlich-dogmati-
schen Arbeit und der freien, selbständig aufs Ganze gehenden
Theologie gleich zu verteilen und als Ergebnis lediglich das schließ-
liche Uebergewicht der zweiten über die erste zu erweisen. Sie
will thatsächlich viel mehr, wie schon das Vorwort prinzipiell aus-
spricht und wie dann die Schlußabhandlung es genauer im Ergebnis
festzustellen versucht: sie will das Wesen des Christentums erkennen
lehren und diese ihre historische Erkenntnis abliefern an die Syste-
matik zur religionsphilosophisch - apologetischen und metaphysisch-
spekulativen Erweisung dieses Wesens als der maßgebenden religiösen
Wahrheit. Damit sind wir denn doch wieder bei der eigentlichen
Tendenz der Baur’schen Arbeit angelangt. Aber wir fragen uns
erstaunt, wie man diese Tendenz durchführen wollen könne auf Grund
einer historischen Darstellung, die, wie die eben skizzierte, alle Vor-
aussetzungen der Baur’schen Konstruktion, die Fassung der Religion
als eines in metaphysischen Bestimmungen sich spiegelnden Bewußt-
seinsvorganges und die Fassung der christlichen religiösen Idee als
einer mit immanenter Dialektik sich vorwärtstreibenden Kraft, teils
gänzlich bei Seite gelassen, teils direkt durchbrochen hat? Wie
kann er seine Dogmengeschichte, die schon nach dem Titel lediglich
eine Geschichte der Dogmen und der Lehrbildungen ist und die in
keiner Weise wie Baur in die Tiefe der eigentlich religiösen Er-
lebnisse zu tauchen bemüht ist, im Ernst für eine Religionsgeschichte
des Christentums halten? Und, wenn er es thut, wie kann er
bei seiner Führung der Darstellung einer solchen Geschichte die
Funktion zuweisen, als Resultat des geschichtlichen Prozesses die
explicierte, intensiv und extensiv bearbeitete christliche Idee der
Religionsphilosophie und Glaubenslehre zu übergeben? Gewiß ist
Baur’s Gedanke an sich ein großer und unverlierbarer. Aber wenn
man nicht, wie er, für seine Durchführung eine Anleihe bei der
Hegel’schen Entwickelungsidee macht, dann müssen die in dieser
Aufgabe enthaltenen Probleme einer sehr sorgfältigen und eingehenden,
selbständigen Untersuchung unterworfen werden. Dann ist die Frage,
wie sich für eine unbefangene Forschung die genuine Idee des Ur-
christentums darstelle und welche Bedeutung ihr als der naivsten,
Dorner, Grundriß der Dogmengeschichte 271
stärksten und unabhängigsten Aeußerung des Christentums für
alle weitere Zukunft desselben zukomme. Weiter ist die Frage,
worin der historische Erwerb bestehe, den die Geschichte aus der
genuin christlichen Idee hervorgebracht und den sie in den histo-
rischen Anpassungen und Anregungen ihm hinzugefügt hat. Vor
allem aber ist die Frage, wie weit hierbei die klassische Urzeit
und der historische Erwerb wirklich zu einer inneren Einheit zu-
sammengehen und inwiefern bloß Aneignung und Gestaltung von
ursprünglich dem Christentum fremden Kulturelementen behauptet
werden kann.
Alle diese Fragen haben aber Dorner so wenig Sorge gemacht
als das Problem des von Baur vorausgesetzten Entwickelungsbegriffes.
Er bezeichnet vielmehr einfach als Resultat die gegenseitige Auf-
hebung der konfessiorellen Dogmatismen und die Ausbildung einer
freien rationalen Theclogie. Diese freie rationale Theologie setzt
sich aber zu der voratsgegangenen Entwickelung in das ganz ein-
fache Verhältnis, daß sie lediglich das den verschiedenen Dogmen
und Systemen Gemeinsane als »Prinzip des Christentums< abstrahiert,
die in den verschiedenen Konfessionen besonders vorzüglich aus-
gebildeten Elemente dies:s Prinzips vereinigt und das so verstandene
Prinzip dann der apologe:ischen und spekulativen Raffinerie übergiebt.
Gerade, als ob nicht deser Begriff des Gemeinsamen eines der
schwierigsten Probleme darböte, als ob nicht der Protestantismus
mit Recht das ganze latholische Kirchentum als eine ungeheure
Materialisierung der Religion betrachtete und als ob nicht in anderer
Hinsicht auch wieder «er Protestantismus weit vom Urchristentum
abginge! Man lese nur die Formulierung des von Dorner heraus-
gehobenen Gemeinsamen: Das Wesen des Christentums besteht darin,
daß die Gottesgemeinschft, welche alle Religion anstrebt, in den
ethisch bestimmten Persönlichkeiten als universal-ethische Gottmenschheit
realisiert wird; damit i¢ einmal der Wert der Persönlichkeit in das
Unendliche gesteigert; es ‘st aber zugleich ein ethischer Universalismus
eingeleitet, der in der Ide des Reiches Gottes seinen Ausdruck findet,
welches das religiös-sittline Leben der Menschheit als ein Reich von
Geistern umfaßt, das zugeich die Harmonie von Geist und Natur um-
schliessen soll. Mit dieer ethisch bestimmten Grottmenschheit weiß
das Christentum sich als de absolute Religion; die Menschheit hat hier
positiv die höchste ihrem Vesen entsprechende Stufe beschritten, und
negativ sind die Hemmniss, welche der Frömmigkeit entgegenstehen,
Sünde und Schuld, sowie trafe durch die Macht des den Christen
immanenten Gottesgeistes gundsätzlich überwunden. Dieses Prineip
ist mit Christus in die Weli getreten, und wenn die Christen dasselbe
272 Gott. gel. Any, 1901, Nr. 4.
in Christus anschauen, so kann das nicht ausschliessen, daß die kon-
kreten zeitlich bestimmten Formen, in denen Christus dieses Prinzip
dargelegt hat, nicht die gleiche Dignität mit dem Prissip selbst haben
können. S. 622. Für keinen Kenner der Geschichte wird diese
Formel das thatsächlich Gemeinsame bezeichnen können, und nur
für sehr wenige werden hierin überhaupt die genuin christlichen
Gedanken eigentlich enthalten zu sein scheinen. Sie enthält viel-
mehr eine Verbindung des Genuin-Christlichzn mit modernen
Elementen, die selbst ein schweres und beunmhigendes Problem
ist. Fragen wir dann aber weiter nach den Fortschritten, die
dieses Princip in der Geschichte gemacht haben und in denen
es sich expliciert haben: soll, so werden uns folgende kahle Sätze
dargeboten : Darin hat die griechische Kirche Recht, daß das Christen-
tum auf die Gotteserkenntnis drängt und daß es nit einer theoretischen
Skepsis nur ein lahmes Dasein führen könne. S 623. Der Romanis-
mus vertritt die wesentliche Wahrheit, daß dis christliche Prinzip
den Willen bestimmen und in der Gemeinscheft des Reiches Gottes
sich realisieren will. S. 625. Der Protestantsmus hat in der Heils-
gewißheit und in der Hervorhebung der natürlichen Ethik den ethisch
bestimmten persönlichen Charakter der unmittebaren christlichen Gottes-
gemeinschaft als den den Menschen naturgemäßen Zustand mit Recht
betont. S. 625. Der neuere Protestantisnus schließlich hat das
Glaubensprinzip aus den Zustand der Naivtät und Unmittclbarkeit
in den Zustand bewufter Selbsterkenntnis ehoben. S. 626. Es ist
schwer, diese vier Errungenschaften als enen sich summierenden
Fortschritt zu betrachten, wenn sie auch allnfalls als lehrreiche Be-
tonungen einzelner Momente des christlichenPrinzips bezeichnet wer-
den können. Aber die Hauptsache ist, daß mi alledem die wirklichen
Probleme der Geschichte des Christentums gar nicht gefaßt sind.
Diese liegen vielmehr in der Frage, wie dasursprünglich gegen alle
Kulturelemente, gegen Wissenschaft, gegen Staat, Recht und Gesell-
schaft, gegen innerweltliche Moral und Kunt gleichgiltige Christen-
tum thatsächlich mit diesen Mächten sich auseinander gesetzt hat
und wie weit diese thatsächlichen Auseinanersetzungen ein in sich
zusammenhängendes geistiges Leben ergelen haben und ergeben
können. Davon müßte eine Untersuchug über das Wesen des
Christentums vor allem handeln und davon handelt das Dorner’sche
Buch so gut wie gar nicht, weil es in einer abstrakten Fassung
des Prinzips diese Fragen schon erledigt :u haben meint und aus
der geschichtlichen Entwickelung nur lie Bestätigungen dieser
Fassung — wenig wählerisch genug — sih ausliest.
Als Geschichte der Dogmen und de Theologie hat das Buch
Dorner, Grundriß der Dogmengeschichte. 278.
Verdienste, als Religionsgeschichte und Darstellung des Wesens des
Christentums nicht. Und auch als erstes leidet es unter den Mängeln,
die es als zweites hat, womit ich zum Schluß auf die oben angedeutete
Sache komme. In der Gemeinsamkeit des Prinzips gehen alle
charakteristischen historischen Unterschiede unter. Die oben gerügte
Dürftigkeit und Unklarheit der Darstellung des neueren Protestan-
tismus hat ihre tiefsten Grund gerade darin, dass seine Zustände direkt
aus dem christlichen und näher noch aus der reformatorischen Modi-
fication des christlichen Prinzips abgeleitet werden sollen, während
sie in Wahrheit aus der Einwirkung rein wissenschaftlicher und
kultureller Kräfte auf das überkommene und in kirchlicher Schale
gefestigte Christentum hervorgehen. So kommt es zu keinem Ver-
ständnis der doch auffallend eigenartigen Beschaffenheit des neueren
Protestantismus. Es ist vielleicht nicht ganz unrichtig, wenn Dorner
diese Eigenart als Erhebung aus dem »Zustand der Naivität und
Unmittelbarkeit in dem Zustand bewußter Selbsterkenntnis« bezeichnet,
sofern nämlich damit gesagt sein soll, daß jetzt eine historische,
relative Auffassung des Christentums und seiner Kirchen eingetreten
ist, die mit Hilfe von Analogie und Vergleichung die Entstehungs-
geschichte historisch nachversteht und nicht mehr in ihm die
absolut unvergleichbare, fertig von Gott auf überhistorische Weise
gegebene und daher nur unmittelbar anzueignende Wahrheit sieht.
Aber diese historische Auffassung mit all ihren Folgen ist nicht aus
dem Prinzip selbst, etwa aus Selbstbesinnung und Selbstreflektierung
des Prinzips, hervorgegangen, sondern aus der zunächst in der
Profanwissenschaft erarbeiteten historischen Methode und aus der
modernen Stellung zur Wirklichkeit überhaupt. Ohne den Einfluß
dieser beiden hat die bewußte Selbsterkenntnis immer nur Mystik
d. h. beobachtende und anleitende Reflexion über die individuell
religiösen Vorgänge hervorgebracht, wobei wohl der positiv-dogma-
tische Charakter der Religion und deren historische Grundlage zurück-
treten mag, aber niemals historisch-kritisch erforscht wird. Aber
nicht bloß diese der Neuzeit gewidmeten Partieen sind so verdorben,
sondern auch die an sich sehr lehrreich und schön dargestellten Sy-
steme der älteren Kirche. Ihnen ist die ehrwürdige Patina des
Altertums abgekratzt und statt dessen der Firniß des Prinzips über-
gezogen, durch den sie mit der modernen Theologie vergleichbar
und ähnlich gemacht werden. So kommt eine Aehnlichkeit der
alten Theologie mit der modernen zu Stande, die für das Ver-
ständnis der geschichtlichen Entwickelung und für die Lösung theo-
logischer Aufgaben nichts nützt, und wird auf der anderen Seite die
wahre Eigentümlichkeit und Bedeutung jener Denker verhüllt. Es
974 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 4.
ist ja richtig, daß sie das Christentum als universale und rationale
Religion schildern wollten. Allein das ist für jeden, der eine
historische Religion als normative Wahrheit erweisen will, selbst-
verständlich. Nur darauf kommt es an, in welcher Weise das
geschieht, und da ist die entscheidende Erkenntnis, daß ihre
Art, die Zusammenordnung einer natürlichen und übernatürlichen
Theologie, durch die allgemeine wissenschaftliche Lage herbeigeführt
wurde, für die Gegenwart aber unbrauchbar ist. Ebenso ist es
ja richtig, daß jene Theologen die Spannung zwischen der an sich
geltenden Wahrheit und der mit ihr verknüpften bloß historischen That-
sächlichkeit lebhaft empfanden. Allein auch hier ist es selbstverständlich,
daß alle lebendig gefühlte Religion auf das Gegenwärtige und Ewige
geht und positiv historische Bestandteile von hier aus für die un-
mittelbare religiöse Empfindung beseitigt oder irgendwie in Gegen-
wärtiges und Ewiges verwandelt. Auch hier handelt es sich nur um
die Art, wie das geschieht, und gerade die ist wiederum bei alten
und modernen Theologen grundverschieden; die ersteren haben Allego-
rese und dogmatische Exegese zur Verfügung, die neueren sind durch
die historisch-kritische Forschung gebunden und müssen das Problem
von hier aus angreifen. Andererseits kann das wahre Verdienst jener
Theologie nur verstanden werden, wenn sie gemessen wird an den
Ansprüchen und Voraussetzungen der damaligen Religionsphilosophie
und synkretistischen Theologie sowie an dem vorausgehenden und
begleitenden altchristlichen Gemeindeglauben. Dann wird sich zeigen,
daß das Begriffsgemenge der Religionsphilosophie und synkre-
tistischen Theologie der Spätantike, von christlichen Ideen ergriffen
und durchgearbeitet, sich zu einer neuen originalen und bedeut-
samen Denkweise wandelt, die zwar den gänzlich unexakten und
unhistorischen Sinn des damaligen Denkens teilt, aber die alten kost-
baren platonischen, stoischen und aristotelischen Gedanken um ein
neues stärkeres Zentrum sammelt. Nicht minder zeigt sich von der an-
deren Seite her, daß dieser keineswegs aus innerer Nötigung des
Prinzips, sondern durch äußeren Zwang verursachte Aufstieg des
Christentums aus dem unlitterarischen und halblitterarischen Dasein
zu den Höhen damaliger Wissenschaft es vor ganz neue und
schwierige Probleme stellt, zu wissenschaftlichen und praktischen
Kompromissen nötigt, in denen für lange Zeit der Aneignungs- und
Fortbildungsprozeß zur Ruhe kam, die aber den ganz anderen Ver-
hältnissen späterer Zeiten nicht mehr dienen konnten. Alles das
sieht ein frisches und unverbildetes Auge ohne Weiteres, und hierbei
könnten sich die interessantesten Fragen über Wesen und Entwicke-
lung des Christentums aufwerfen lasseu. Aber daran hindert überall
Dorner, Grundriß der Dogmengeschichte. 275
die unglückliche Idee von dem nur formell sich modificierenden Prin-
zip, dem bloß überall noch eine Kleinigkeit zu seinem richtigen
Ausdruck in einem spekulativen Gottesbegriff fehlt und das daher
überall nur die Charakteristik gestattet, daß der ihm ganz adäquate
ethische Gottesbegriff >noch nicht« geprägt wurde, daß dies oder
jenes >»noch« verkürzt oder »noch einseitig« geblieben ist. Dieses
immer wiederkehrende >noch nicht< zeigt mehr als irgend etwas an-
deres die Unfruchtbarkeit einer derartigen Untersuchung des Wesens
des Christentums, und es bedarf gar nicht des Hinweises auf die
schlimmste Partie des Dornerschen Buches, auf die Darstellung des
Urchristentums, von dem Dorner nicht viel mehr zu sagen weiß, als
daß hier das christliche Prinzip sammt seiner Harmonie von Geist
und Natur, seiner ethischen Immanenz und seinem ethischen Univer-
salismus »noch< in der bloß unmittelbaren, unreflektierten Form und
noch nicht< in der Form wissenschaftlicher Reflexion existiert habe.
Dieses Noch-nicht war schon der Mangel der im übrigen unvergleich-
lich viel kräftigeren und tiefer grabenden Baur’schen Darstellung.
Wer sie wieder aufnehmen wollte, der mußte sich klar machen, daß
nach der inzwischen gepflegten Detailforschung über das Urchristen-
tum von einer bloß einfach, konsequent und logisch ihren Inhalt
heraussetzenden Idee nicht die Rede sein kann, sondern überwiegend
von einem Aneignungs- und Gestaltungsprozeß, in welchem ein von
Haus aus aller Kosmologie und Weltwissenschaft ferner, lediglich auf die
ewigen Persönlichkeitsgüter gerichteter eschatologischer Gottesglaube
Kosmologie und Kulturethik zu bewältigen und sich einzuverleiben
strebte. Wer in dieser Arbeit, die mehr Kampf und schöpferische Pro-
duktion als logische Denktätigkeit ist, eine zusammenhängende Idee,
ein Wesen des Christentums, erkennen will, muß sich damit begnü-
gen, im Evangelium die Möglichkeit einer solchen Aneignung aufzuzeigen
und im übrigen die Formel für das Wesen des Christentums als eine
antinomische, den Gegensatz höchster Transzendenz und unbefangen-
ster Immanenz in sich schließende zu bilden. Diesen Gegensatz
selbst, der vielleicht von Haus aus als im Evangelium angedeutet
betrachtet werden darf und der sich in der Aneignungsarbeit des
Christentums unendlich verschärft hat, werden wir so wenig über-
winden als ihn ein Origenes und Augustin, ein Thomas und Luther
»überwunden« haben.
Heidelberg, 14. November 1900. E. Troeltsch.
276 . (Gott. gel. Anz, 1901. Nr. 4.
König, E., Stilistik, Rhetorik, Poetik inBezug auf diebiblische
Litteratur komparativ dargestellt. Leipzig 1900, Dieterichsche Verlags-
buchhandlung. VI 421 S. Preis 12 M., geb. 14 Mk.
In der Einleitung seines Werkes redet der Herr Verf. über den
Begriff Stilistik; er versteht darunter die charakteristischen Züge
der Sprachverwendung, die teils von der psychologischen Eigenart
des Schriftstellers, teils von der literarischen Eigenart seines Stoffes
abhängig sind. Zum Prinzip der Einteilung der zu betrachtenden
sprachlichen Erscheinungen macht er die Anforderungen, die der
menschliche Geist an den guten Sprachstil stellt; diese sind für die
urteilende Sphäre der Seele (Stilistik im engeren Sinne) Deutlichkeit
der einzelnen Ausdrücke und Klarheit der Wortzusammenhänge, —
für die voluntative Sphäre (Rhetorik) Bestimmtheit (das behauptende,
verweilende Element) und Lebendigkeit (das vorwärts dringende
Element) und für die ästhetische Sphäre (Poetik) Schönheit und
Wohllaut.
Im ersten Teil seines Werkes behandelt der Hr. Verf. die von
der urteilenden Sphäre geforderte Deutlichkeit und Klarheit, sowie
deren Gegensätze. Unter dem Titel Mangel an Deutlichkeit be-
spricht er, nach Homonymen, Archaismen etc. auch die sog. Zwei-
deutigkeit des Ausdruckes. Ein »halbbewuftes< Beispiel davor
sieht er m. E. mit Unrecht in dem ur» Ri. 7,13, das nach v. 14 an
mons etc. anspielen soll. Wäre das beabsichtigt, dann hätte der Er-
zähler 3 weggelassen und mandy in v. 14 hereingebracht. Als
Beispiel beabsichtigter Amphibolie wird dann Jos. 13, 7° angeführt.
»Die Hälfte des Stammes Manasse, welche östlich vom Jordan ange-
siedelt wurde, wird am Anfang von 8 als die westlich (!sic) vom
Jordan wohnende Hälfte aufgefaßt, wie wenn der Erzähler diese er-
wähnt gehabt hitte<. Die Möglichkeit einer solchen Ausdrucksweise
dürften wir nicht annehmen, auch wenn LXX uns nicht den voll-
ständigen Text bewahrt hätten, der in MT aus sehr einfachem
Grunde ausgefallen ist. »5wa> Joel 2,17 soll doch wahrscheinlich
den doppelten Sinn von bekritteln (?) und beherrschen haben<, was
angesichts des Parallelismus mehr als fraglich ist. Zu einer beson-
deren Art der Dilogia rechnet der Hr. Verf. neben Gen. 48, 22
Ri. 10,4 u.a. auch Jes. 58,10; aber daß dort Tops sachlich = ‘ard
sein soll, ist unerhört. In % 141, 5 ist das unverständliche wx5, das
nach dem Hrn. Verf. den Superlativ umschreiben soll, wahrscheinlich
— wie öfter — Schreibfehler für 0%. Zu den beabsichtigten Dun-
kelheiten des Ausdruckes rechnet er auch das Rätsel; genau genom-
König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. 277
men gehört dessen Besprechung freilich nicht hierhin, wo von
der Dunkelheit des einzelnen Ausdrucks, nicht der Wortzusammen-
hänge, die Rede ist. Das Rätsel scheint in der engsten Verbindung
mit dem 5wo, Vergleichung und Allegorie, gestanden zu haben. Dafür
spricht deutlich das uns in Ri. 14, 14 aufbewahrte Rätsel, das übri-
gens schwerlich zu übersetzen ist »Speise kam vom Fresser und
zwar süße Speise von einem starken (Fresser)«e! Daher das häufige
Zusammenstehen von Sw und mm, worauf ich zu Prov. 1,1 hin-
gewiesen habe. Die Frage, in der dort v. 18 die Lösung gegeben
wird, ist keine »rätselhafte«, sondern ein rein rhetorische. Die litte-
rarische Form, die z. B. in Prov. 6, 16—19 vorliegt, wird sehr miß-
verständlich >Zahlenrätsele genannt. Von einem Rätsel hat die m
nichts an sich, sie ist von Anfang an (Amos) nichts als eine littera-
rische Art der Einführung gewesen, um die Aufmerksamkeit zu
wecken. Zu den rätselhaften Ausdrucksweisen rechnet der Hr. Verf.
auch >Spuren von diplomatischer vorsichtiger Ausdrucksweise<, die
er z.B. in dem Dan von % 89,51 vorfindet. Der Text dieses Ver-
ses ist aber konfus, wie die Kommentatoren beweisen; man wird
wohl ändern müssen in D43% Day PSp “ma wnNw. Auch in Prov. 28, 3
liegt eine solche Ausdrucksweise nicht vor, statt des sinnlosen DR"
ist dort yw" wiederherzustellen. Wenn ferner das “asm von
It Kön. 11,1 in ll Chr. 22,10 "an lautet, so liegt hier schwerlich
eine ganz unerklärliche diplomatische Vorsicht vor, sondern ein
bloßer Schreibfehler; a8 wurde "an gelesen und geschrieben und
daraus ist "an entstanden. — Als Mittel, die Deutlichkeit des ein-
zelnen Ausdrucks zu steigern, nennt der Hr. Verf. die Meto-
nymie und die Synekdoche mit ihren Unterarten. Unter Metonymie
versteht er die Umsetzung des nächstliegenden Ausdruckes in einen
innerlich qualitativ mit ihm zusammenhängenden; so werde die Ur-
sache für die Wirkung gesetzt, Vorfahre für Nachkomme etc. Un-
ter den Stellen, in den “D Aussprache (? wohl Ausspruch) bedeute,
führt er auch Gen. 41,4 an. Das dort gebrauchte pw, das Kreuz
der Erklärer, ist verschrieben für A70p", wie noch LXX lasen; der-
selbe Stamm liegt in Gen. 3,16 zu Grunde, vgl. diese Anzeigen 1900
No. 11 S. 836. Auch in Jes. 11,4 bedeutet 1) sein Ausspruch,
denn die Auffassung 'enap = niederstreckende Strafsentenz ist
sprachlich kaum möglich. "“xp kann doch in der Verbindung ‘prxp
nicht das Geschnittene bedeuten, das geht ja gerade aus den vom
Hrn. Verf. angeführten Stellen deutlich hervor. na ist in Jes. 42, 6
parallel 53 185) ebenso wenig ein lebendiger »Mittler des Bundes«
wie yo» Micha 1,5 ein auctor rebellionis; oder soll nach der Mei-
nung des Hrn. Verf. das "a dies etwa anzeigen? Die Sünde vertritt
278 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
auch in Jes. 1,18 %*35% nicht ihre Urheber und auch mbw Micha 5, 4
ist nicht auctor pacis; an dieser letzten Stelle ist wahrscheinlich
zu lesen bw TR mu und diese Worte bilden den Abschluß der
Schilderung in v. 3. — Unter dem Titel Metonymie der Sphäre,
resp. der Werkstätte für den Inhalt bespricht der Hr. Verf. den Aus-
- druck 25 59 "35, den er kaum mit Recht erklärt »reden über das
Herz hinein<; denn man sagt ebenso IX >59 ‘7 und 'D 59 "=. Unrich-
tig, zum mindesten irreführend, ist auch die Aufführung der %8 un-
ter diesem Titel, als ob ®p) eine Sphäre, eine Werkstätte wäre, in
der sich die Begierden etc. regten; nein, ©) bedeutet nicht »Seele«,
sondern nichts als Streben, Gier. Die Stelle Kigel. 2, 22, wo ‘nw.
nach dem H. Verf. notwendig accolas meos bezeichnet, ist falsch er-
klärt. Das Unheil, das Jerusalem von allen Seiten ängstet, wird
verglichen mit Gästen, die Gott wie zu einem Feste von allen Rich-
tungen zusammenruft, so daß die Stadt keinen Ausweg mehr sieht:
200 Tun! Die Auffassung, in Deuter. 28,5. 17 liege eine Meto-
nymie des Korbes für den Inhalt vor, ist m. E. nicht richtig. Ob
das Aufbewahrte länger anhält oder schnell schwindet, liegt nach
der abergläubischen Vorstellung an den Gefäßen: ein »gesegnetes«
Gefäß hat es an sich, seinen Inhalt lang zu bewahren, in einem ver-
fluchten Gefäß lauert der Fluch und verzehrt das Aufbewahrte. Der
»Segen< erstreckt sich wirklich auf das Gefäß, nicht auf den Inhalt,
vgl. I Kon. 17,14. Hagg. 1,6. 2,15 f. In Prov. 5,9 kann — von
allgemeinen Gründen abgesehen — wegen v. 10 unmöglich davon die
Rede sein, daß der Ehebrecher dem Ehemann sein Leben giebt. In
y 78,61 bezeichnet 1179 und ‘NNpn, wie öfter, das heilige Volk, aber
nicht die Bundeslade. rm ersetzt niemals, auch nicht Jes. 30, 1 den
Geistesbesitzer. Die Redensart »sie biß sich in den Finger<, die
der Hr. Verf. aus der Höllenfahrt der Istar anführt, ist auch im
Arabischen ganz gebräuchlich, vgl. Antar fasc. 2 S. 79, ich zitiere
nach der Ausgabe Cairo 1306—11, pol Kae aS Je yası, vgl. auch
S. 74. Zu der Metonymie Inhalt für Raum zählt der Hr. Verf. auch
den Gebrauch von 1x2 ma, das aus der Bedeutung »die Bewohner-
schaft Zions< zu einer Bezeichnung der Stadt selbst geworden sei.
Diese Erklärung ist schwerlich richtig. Die Stadt wird verglichen
mit einer Frau, die mit ihren Kindern hier Wohnsitz hat (aw im
prägnanten Sinne von der Frau gesagt). ma, plur. m2 bekannter,
ist weiter nichts als feinerer, poetischer Ausdruck für Frau. ‘2 ms,
und ähnliche Ausdrücke, vgl. Klagel. 4, 21, bezeichnet ursprünglich
weder die »Bewohnerschaft von Zion< noch die »Stadt selbst« in
ihrer nüchternen Realität, sondern ist eine poetische Personifikation,
wie das Hebräische (und Arabische) sie lieben, vgl. die Bildung der
König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. 279
Stammnamen. In Klagel. 1,6 ist übrigens aus »und auszog (! vom
Hr. V.) aus bath Zion< nicht zu entnehmen, daß hier die Stadt selbst
gemeint sei, denn x heißt in solchen Fällen einfach aufhören, ver-
schwinden, ohne daß man fragt wohin? so heißt 125 x2“ nicht etwa:
»Das Herz ging aus ihm heraus<! Aehnlich ist die Bedeutung des
absolut gebrauchten 21%, nicht etwa = zurückkehren an den Ort,
den man verlassen hat, sondern wieder werden, wieder funktionie-
ren etc. Aehnlich werden >m und J!, gebraucht, vgl. auch sc in
Ant. 1. 31 spite Slst (sol Zi disse. In I Kon. 8,21 soll mma
zunächst Bundesmittel sein und zugleich soviel wie Bundesbuch —
das ist eine exegetische Ungeheuerlichkeit, über die weiter nichts zu
sagen ist. In Deut. 28, 57 wird in den Worten ‘539 ‘20 naarın
nicht von dem weiblichen Sprößling der Frau geredet; vgl. GGA. 1900
No. 11 S. 838. Unverständlich ist mir, wie der Hr. Verf. schreiben
kann: »Spater wurde auch "38 »penna< ein Ausdruck für penis und
man findet ihn z.B. in der kulturgeschichtlich interessanten Stelle
Sanhed. 107a«e. “AN ist doch in der Bedeutung »Glied< ein ganz
gebräuchliches Wort, vgl. z.B. MiSna Nazir 7,2 — und daß das
euphemistisch gebrauchte "a8 auf dies ‘x — Glied zurückgeht, ist
wohl zweifellos! Auch in der Stelle aus Sanh., die der Hr. Verf. an-
führt, ist 8 = penna = penis sinnlos. Was den Gebrauch von 97, ein
Weib erkennen, angeht, so glaube ich mit Schwally, daß, dem Wesen
der hebräischen Ausdrucksweise ganz entsprechend, das selbstverständ-
liche Objekt 11%9 oder ‘na ausgelassen ist, vgl. weiter unten. Zu den
von dem Hrn. Verf. angeführten Euphemismen füge ich noch folgende
aus der Mischnah hinzu, 27293 Ano, Neen wnwen, ww rıorno)
(Ket. 1,6 und öfter).
Unter den Beispielen der Ironie führt der Hr. Verf. wohl mit
Unrecht den verdorbenen Text Ez. 20, 39 an, vgl. Pes. Aus % 60, 10c
klingt kein Hohnruf, sondern der Text ist zu lesen: 9A non Py,
Auch in Prov. 11,22 liegt wohl — für unser Empfinden — ein et-
was überraschendes und lächerliches Bild vor, aber keine Ironie;
ebenso wenig Prov. 28,8. Dort ist 55 pm nicht eine ironische und
dabei witzlose Bezeichnung des Gottlosen selbst, sondern bezeichnet
in vollem Ernste den mildtätigen Frommen, vgl. meinen Kommentar
z. St. Beim Kapitel »Humor« kommt der Hr. Verf. auch auf I Sam.
24,15 zu sprechen: »jedenfalls sollte dem Verfolgungszug des Saul
der Stempel der Lächerlichkeit aufgedrückt werden, indem dieser
Zug mit einer Flohhatz auf einen einzigen Floh verglichen wurde«.
Uns mutet diese allerdemütigste Selbstbezeichnung Davids wohl
lächerlich an, ob sie aber so gemeint war, darf man mit Recht be-
zweifeln. Ein Witz, oder nur ein Scherz paßt wenig in die Lage
280 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 4.
und Stimmung des David. — Was fa zum Ausdruck des Komparativs
betrifft, so stimme ich mit dem Hrn. Verf. ganz darin überein, daß
es nicht = non ist. Aber in der Auslegung von Gen. 38, 26, I Sam.
24,18 (Luc. 18,14) bin ich anderer Meinung. An diesen Stellen
handelt es sich gar nicht um eine allgemeine »Gerechtigkeit«, die
man in solcher Absolutheit natürlich weder dem einen noch dem
andern zuschreiben kann, sondern es fragt sich, wer im vorliegenden
Rechtsfall Recht hat, wer der px und wer der 30% ist. Pr2 mit
Ta des Gegners sagt man, wenn es sich herausgestellt hat, daß der
Verklagte unschuldig ist und der Kläger keine Ansprüche an ihn
hat; vgl. den Ausdruck "389 "3% 3; mit dem jx der Verglei-
chung hat dieser Ausdruck nichts zu thun. — Zur Synekdoche rech-
net der Hr. Verf. zunächst das pars pro toto und seine Unterarten.
Unter den Beispielen zählt er auch w# 21,13b auf, wo Sehne als
Hauptbestandteil den Bogen vertreten soll; doch ist der Text hier
sehr fraglich. Der Ausdruck per "MT y 58,8 kann nicht hierher
gehören, weil ‘xm kein Teil des Bogens sind. Als Beispiel für das
totum pro parte wird Gen. 14, 8. Ri. 20, 22. II Sam. 11,15 ange-
führt, wo »Schlacht« für Schlachtreihe gesagt sei; aber diese Auf-
fassung ist in den beiden ersten Stellen zum mindesten nicht nötig
und wird an der letzten Stelle durch das neben rarı»a stehende Ad-
jektiv geradezu verboten. mwx 5", das der Hr. Verf. als ein Bei-
spiel der Generalisierung — daß nämlich ein ursprünglich allgemei-
ner Begriff oder Attribut von allgemeinerer Bedeutung zur Charak-
terisierung spezieller Erscheinungen gewählt wird — erwähnt, paßt
m. E. nicht dahin; denn mex” hatte niemals und konnte niemals eine
allgemeinere Bedeutung haben als eben Mensch; der Ausdruck ge-
hört schon in die Kategorie der später besonders bei Gelübden etc.
beliebt gewordenen oft etwas dunkelen Umschreibungen für Mensch
oder bestimmte Menschen, vgl. in der Mischnah x" “TD, Wann "#7
Nedar. 3, 7. Joa "0709 im jüdischen Gebetsbuch, vgl. im Arabischen
Antar 2, 67 lal! in aD Ki on Kom Wm! und Antar 3,45
wad Ay brig Out do ep SS.
Auf S. 65 ff. bespricht der Hr. Verf. die Synekdoche des ab-
stractum pro concreto. Die Worte amin II Sam. 9,12 man Ez. 44,5
"nen yw 659, die er unter anderem hier aufführt, sind jedoch keine
Abstrakta, auch der Gebrauch von 53 ist anders zu erklären, vgl.
unten. mix steht ina 199 Jes. 12,5 ebensowenig für das Konkre-
tum wie mis>a in "an wad Est. 5,1; auch mon Prov. 12,27 po 17, 4
gehören schwerlich, Ma 17, 14 siche’ nicht hierher. Daß Furcht
für Gefürchtetes stehe in Prov. 1,26 f. ist wohl eine nicht ganz ge-
naue Ausdrucksweise des Hrn. Verf. Der Sinn ist doch dort nicht
König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. 281
wenn über euch kommt euer Gefürchtetese — was ihr gefürchtet
habt, o»rıw etc. bedeutet euer Unheil d.h. das euch von Gott be-
stimmte, ähnlich ‘x O1", der Abrechnungstag mit Edom; freilich ob-
jektiv sind die dort gebrauchten Ausdrücke zu nehmen = Strafe,
Unheil. An na Jes. 7,25 ist alle Mühe der Erklärung verloren,
es giebt keinen Sinn; vielleicht ist 19% zu lesen. Unter den Hyper-
beln führt der Hr. Verf. auch den Ausdruck an 125 xg, den er
übersetzt »das Herz geht aus jemand heraus<. Aber »aus jemand«
steht nie bei dem Ausdrucke vgl. oben; es bedeutet auch weni-
ger >der Mut verläßt ihn< als »die Besinnung verläßt ihn, er wird
starr vor Erstaunen, Erschrecken< etc. Zu der Phrase »die Erde
spaltete sich infolge ihres Geschreies< I Kön. 1,40 bietet übrigens
das Arabische eine treffende Parallele
Antar 3,17 Old U rad iso a plo.
Das dritte Mittel, die Deutlichkeit — des einzelnen Ausdrucks
— zu steigern, ist der Hinweis auf Parallelen, die das darzustellende
Phänomen in sonstigen Erscheinungen seiner eigenen oder einer an-
deren Sphäre besitzt. Der größte Teil dieses Kapitels fällt aus der
Einteilung heraus, es handelt sich hier zumeist um die Verdeutli-
chung »darzustellender Phänomene«, nicht eines einzelnen Ausdruckes.
Die erste Gruppe solcher Parallelen bilden Exemplum, Sentenz und
Zitat. Während das Exemplum eine Art pars pro toto sei, bilde
die Sentenz, der allgemeine Ausspruch, eine Form des totum pro
parte. »Die yvoaun oder sententia will ihr Licht auf alle Fälle wer-
fen, ohne sie einzeln vorzuführen. Dieser ideelle Ursprung der
Sentenz zeigt sich auch in ihrem Namen Maxime, und eben dasselbe
ergiebt sich aus dem hebräischen Sprachgebrauch, denn ein und der-
selbe Satz ist bald dem generellen Subjekte man beigelegt und bald
ein maSal genannt« S. 79f. Ich muß gestehen, daß mir der Sinn
dieser letzten Begründung dunkel geblieben ist. Daraus, daß von
einem und demselben Satz einmal gesagt wird, man gebrauche ihn
allgemein, und das andre Mal, er sei ein masal, folgt doch für das
eigentliche Wesen und den Inhalt des maSal gar nichts; man müßte
denn der Meinung sein, daß aus dem allgemeinen (sprichwörtlichen)
Gebrauch eines Ausspruches auch dessen allgemeiner Inhalt (als Sen-
tenz) folge. Auch mit dem etymologischen Erklärungsversuch des
Wortes >wra durch den Hrn. Verf. kann ich nicht übereinstimmen. ‘1
bedeutet nach ihm ursprünglich nichts anderes als Urteil, Satz, weil
darin Subjekt und Prädikat gleich gesetzt seien. Von solcher gram-
matikalischer Reflexion über sich selbst ist die lebendige Sprache
der Alten weit entfernt! Das Ergebnis des Hrn. Verf., maSal sei =
Urteil, Satz, ist zwar, um einen ‘0 anzuwenden, wie ein weiter Sack,
Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 20
282 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 4.
aus dem man alles holen kann, oder wie ein großer Hut, unter den
man alle Erscheinungen der letzten Entwicklung bringen kann, aber
gerade deshalb für den, der die sprachliche Entwicklung kennt, nicht
annehmbar. Und wie sollte dieser so farblose ‘4 zur Bezeichnung
für Vergleichung, Allegorie, Fabel etc. geworden sein? Eine Er-
klärung des Vorhandenseins beider Bedeutungen und eine Verbin-
dung zwischen beiden hat der Hr. Verf. gar nicht versucht. »Von
der Festigkeit, die eine natürliche Eigenschaft der Urteile ist, kann
weiter das arabische matala feststehen, abgeleitet seine. War das
Empfinden der Alten wirklich so schwach und ihre Sinne wirklich so
blöde, daß sie diesen Begriff vom — Urteil(!) abstrahieren mußten?
Daran, daß Sw ursprünglich nichts anderes bedeutet wie Verglei-
chung, insbesondere einer Person und ihres Schicksals mit einer an-
deren, wird man schwerlich rütteln können. Einer der ältesten
Triebe der Entwicklung ist die Redensart zum ‘© werden. Es war
alte Sitte, die sich noch in der arabischen Zeit vorfindet, daß der,
den der König ehren oder strafen wollte, in öffentlichem Aufzuge
durch die Straßen geführt wurde, wobei vorauf gerufen wurde, >so
(gutes — böses) thut der König dem, der ...«; das Schicksal des
Betreffenden lebte im Munde der Leute fort und gab ein Beispiel
ab für ähnliche Fälle. Die ältesten ‘0 sind solche wie “91 ‘x naprına
— Gott segne dich wie Abraham, mit dem Segen Abrahams. — Gott
thue Dir Böses wie dem und dem, vgl. Jerem. 29,22, vgl. auch
Antar 1,75 Wie gus! ay „Lad. Aber auch abgesehen von solchen
historischen Anlässen werden alle Vergleichungen — einerlei ob Me-
taphern oder Allegorieen oder Fabeln — ‘Sw genannt. Die Bedeu-
tung »Sentenz<, d.h. ein allgemein giltiger Satz allgemeinen Inhaltes
mit praktischer Abzweckung, hat ‘0 erst auf der allerletzten Stufe
der Entwicklung erlangt; in der geraden Linie der Wortbedeutung
liegt sie nicht, vgl. meinen Kommentar zu Prov. 1,1. Warum über-
setzt der Hr. Verf. das fehlerhafte o1a8 des MT. Prov. 14,4 mit
Stall? “3 in M. Aboth 2,5 ist kein >rauher« Mensch, sondern einer,
der sich um das Gesetz nicht kümmert. Ebenso wenig heißt mm
in der Stelle Ab. 2,7 »Würmer«, vielmehr ist es ma 50 yap" “By,
»Das Licht der Gerechten freut sich<, dürfte im Hebräischen ebenso
unmöglich sein, wie im Deutschen; man lese nae Prov. 13,9. —
Wenn auch in Qoh. 10,20 gerade keine »Schilderung der Fama«
vorliegen sollte, so besorgen doch bei den Hebräern die Vögel das-
selbe Geschäft, wie die Fama bei den Klassikern, vgl. M. Sota 6,1.
797 bedeutet nie, auch nicht Jer. 3,15 »lehren«, sondern immer
weiden. S2em 7197 bezeichnen dort die Art wie der Hirt sein Amt
ausübt, gleichsam ‘om 7197 mY19%. Unter den Beispielen, die den
>Uebergang von der körperlichen Bedeutung in die psychologische« be-
König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. 288
leuchten sollen, erwähnt der Hr. Verf. auch mm (Hag. 1,9 etc.), das
er sonderbarer Weise erklärt »anblasen = als eine verächtliche
Größe behandeln<«. Dies Wort ist doch als eine Art des Zaubers
aus dem Aramäischen und Arabischen sattsam bekannt, vgl. auch
Antar 3,4 re an (en
gyn ata Lbs
Als sichere Beispiele allegorischer Darstellungsweise führt der Hr.
Verf. an: Gen. 49,9. Num. 24, 8b 9. Deut. 32,15. 22. 32f. Ri. 8, 2.
I Kon. 12,11.14. If Kon. 19,3 etc. Es würde sich vielleicht em-
pfehlen, bei den hier genannten Stellen nicht von Allegorie, nicht
einmal von allegorischer Darstellung zu reden. Zu einer Allegorie
gehört doch mehr, als daß sich >die metaphorische Ausdrucksweise
durch einen ganzen Redezusammenhang hinzieht<. Dazu gehört vor
allen Dingen, daß das eine Bild festgehalten wird und daß der
ganze Stoff in ihm wiedergegeben wird, denn die Allegorie ist ein
in sich abgeschlossenes litterarisches Ganze. In Gen. 49,9 etc. ver-
mag ich nichts zu sehen als poetische Bilder und Vergleiche, die
der Dichter schaffi und gleich wieder fallen läßt; in allen diesen
Fällen wird das wirkliche Subjekt oder Objekt deutlich genannt, so
daß nicht einmal die Illusion aufkommen kann, es sei von einem
wirklichen Löwen etc. die Rede Wer denkt, wenn der Profet be-
ginnt Jes. 11,1 "wı sa TOM REN — an eine Allegorie? ja wenn es
hieße ‘a1 sro ‘NH REN! — Im zweiten Teil des ersten Hauptteils
seines Buches behandelt der Hr. Verf. die Klarheit der Wechselbe-
ziehung der Redebestandteile zu einander. Als Quelle des Mangels
solcher Klarheit bezeichnet er den Gebrauch der Demonstrative, die
bald voraus, bald zurück weisen, bald sogar zweigesichtig sein sollen.
Als Beispiel dieses Gebrauches für }> weist er hin auf Sach. 14, 15.
Dort bezieht sich j> auf die Schilderung der max in dem ursprüng-
lich vorausgehenden v. 12 (v. 13—14 eingeschoben; vgl. Wellh. z. St.).
Daß diese Beziehung am Schluß des v.15 mit ‘nm ‘05 noch mal auf-
genommen wird, hat nichts zu sagen, dadurch wird die Beziehung
auf v. 12 nicht etwa geteilt oder abgelenkt. Auch in Est. 2,12
weist > deutlich auf das Vorhergehende allein und so wird’s wohl
auch in % 65, 10 sein, falls der’ Text richtig ist. Man liebt es bei
> die Beziehung auf das Vorhergehende durch Wiederholung noch
mal ausdrücklich sicher zu stellen, vgl. Ezra 10,12 355 9. Ebenso
ist MDD in Exod. 29,35 und Jerem. 19, 11 nicht doppelgesichtig,
sondern die Beziehung auf das Vorhergehende ist noch mal durch
Wiederholung nachdrücklich gehoben. In dem Abschnitte über
Hypallage kommt der Hr. Vf. auch auf Prov. 7, 22 zu sprechen, das
er übersetzt: und wie eine Fußfessel, die zur Züchtigung eines Tho-
am de
284 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
ren dient<. Abgesehen von dem Sinne, ist diese Uebersetzung gram-
matisch unzulässig; denn sie verlangte zum wenigsten 10705, aber nicht
‘o 5x, we 50 Amos 1,4 etc. heißt wohl weniger »Feuer schleudern
an einen Gegenstand< als Feuer — wie ein wildes Tier — loslassen.
Als Beispiele von Zeugma führt der Hr. Vf. neben anderen auf 0
Gen. 3,15, wohl irrtümlich, da die beiden Stämme dort verschieden
sind. In "may Gen. 30, 26 soll ebenfalls ein Zeugma vorliegen, vgl.
S. 138. Jakob hat aber faktisch um seine Frauen und Kinder die-
nen müssen. Auch das zweite Subjekt zu min Gen. 47,19 wurde
kaum als eine Disgruenz empfunden, vgl. z.B. I Sam. 14,25 u. 6.
Auch das mits I Sam. 1,21 ist schwerlich zeugmatisch gebraucht;
N ‘T ist ja eine sehr gute Verbindung (= ‘3 nat ‘t). In I Sam. 26, 8
831 liegt gewiß eine Textverderbnis vor, vgl. Pes. Den Ausdruck
am Jes. 17,13 = wird (von hinten) gejagt und getrieben kann ich
nicht als Zeugma empfinden. Br I» ist durchaus kein Zeugma,
sondern eine ganz gebräuchliche und geläufige Verbindung, vgl.
%» 107,23, auch irgendwo im hebräischen Sirach und in der Mischnah,
z. B. Nedar. 3,6. In Deuter. 21,5 sieht der Hr. Verf. irrtümlich
eine Art Zeugma, denn >“ soll geschehen paßt natürlicher zu
dem vom Richter zu diktierenden Schlag (25, 3) als zu 2% Streit-
sache«. ‘ ist Prozeß, 933 Schlägerei, Mord etc., die Beziehung auf
25,3 ist nicht richtig. »In Hos. 5,10 geht die Ursache der Strafe
voraus, aber in 11 geht diese voran und die Ursache folgt«, S. 147.
Aber v. 10 kann keine Schilderung der Strafe sein, da ja dann in
den Worten läge, daß Israel zu Unrecht so behandelt wird. Vergl.
auch Wellhausen zu der Stelle.
Im zweiten Hauptteil seines Werkes (Rhetorik) handelt der Hr.
Vf. zunächst über die Bestimmtheit des sprachlichen Ausdrucks, ihre
normale Erscheinung, ihre Vernachlässigung und ihre Steigerung.
Ueber Jes. 63, 18a heißt es auf S. 153: »Indem dort gesagt wurde:
für — die — Spanne Zeit haben sie okkupiert, haben unsere Be-
dränger etc., hat der Autor die Aufmerksamkeit in erhöhtem Maße
auf die Bedränger (ix) gelenkt<. Aber in die Schilderung der
trostlosen Verlassenheit Israels paßt der Ausdruck "yxo> sehr schlecht;
man wird lesen müssen: “927705. Auch in v. 19 ist der ur-
sprüngliche Text — etwa 159 ‘Jaw Np? NS wa mbw xD os wer vgl.
LXX — verändert und zwar mit Absicht. Als Polysyndese erwähnt
der Hr. Vf. auch Jes. 5,13f.; warum übersetzt er aber dort 729,
roivvv mit deswegen = 75 59? ebenso später noch einmal. Auf S. 160
redet der Hr. Vf. von der emphatischen Zerlegung eines Begriffes im
sog. Hendiadyoin. Der Begriff Metropolis ist aber gewiß nicht, um
sich wuchtiger geltend zu machen, in >eine Stadt und Mutter< I Sam.
König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. 285
20, 19 zerlegt worden. Dem griechischen Metropolis liegt eine ganz
andere Anschauung zu Grunde als der hebräischen Bezeichnung einer
Stadt durch EX: jede Stadt ist eine DX und ihre Bewohner sind ihre
Kinder. Auch die koordinierte Geltung von TH ‘NAD % 29,1. 97,7
ist nicht unnatürlich, wenn man weiß, daß 33 13% und ähnliche
Ausdrücke bedeuten: sprechet: N39n7 >, 0 1971 7°. So findet sich
auch 533 15m = erkennt lobpreisend die Größe Gottes an, sagt, dir
ist 5%, und an einer anderen Stelle des jüdischen Gebetbuches, das
vor mir liegt, heißt es: 55 an To SNS an msn Ap ran. In
Jes. 4, 5 liegt schwerlich ein Hendiadyoin »Rauchwolke« vor, denn jo
gehört zum Folgenden! Hiob 10,17 ist zu lesen "5 Naz psormn. Der
‘Hr. Vf. hat Recht, an TIER vy 17,11 Anstoß zu nehmen, aber die
Lesart “NER, die er vorschlägt, hebt schwerlich diesen Anstoß; viel-
leicht wäre zu lesen: “2 »>sie spannen auf mich«.. Wie kommt
der Hr. Vf. zu der Uebersetzung sub = »Nebeneinanderstellung< ?
M. W. hat das Wort nie diese Bedeutung; es bezeichnet das Auf-
einanderliegen und Aufeinanderpassen, die Kongruenz und wird ge-
braucht für das äußerliche Zusammenfallen von Ausdrücken, die
innerlich disgruieren. — Im zweiten Teile dieses Abschnittes wird über
die Lebendigkeit des Sprachstils gehandelt. Der Hr. Vf. bespricht
zunächst die Erscheinungen, in denen diese Lebendigkeit zu erstarren
droht, Pleonasmus und Palindromie; in dem hierauf folgenden ge-
schichtlichen Ueberblicke betont er mit Recht die zunehmende Wort-
fille und Schwerfälligkeit der späteren Litteratur. Die künstliche
Form der Palindromie, für die er ein Gedicht von Rückert anführt,
ist auch in der jüdischen Litteratur angewandt, vgl. im n>na "70
mson:
‚ax Tot Jnr Sa rer non ody Sn
Sram Boy nos rer 5733 [IT wo ORD
Nach Pleonasmus und Palindromie behandelt der Hr. Vf. die Ge-
drungenheit und Lebendigkeit des Sprachstils in der Brachylogie.
Unter den Beispielen für die Brachylogie des Subjekts wird auch
osm Min. Berach. 5, 3 angeführt: »Wir« ist nach dem Kontexte
das selbstverständliche Subjekt von E*T0 in M. Berakh. 5, 3. 8, 2 ff.«.
Das letztgenannte Cap. 8 habe ich vergeblich nach einem Beispiele,
das hierher paßte, abgesucht. Was der Hr. Vf. über "mn 5, 3 sagt,
ist zum mindesten mißverständlich. Es ist dort die Rede davon,
daß der Vorbeter oder -leser sich ganz genau an den Text halten soll,
unter anderem auch nicht das Wort 810 in dem Abschnitt
SR ‘To, der auf die MOP ANDY im Mn folgt, zweimal lesen
soll. Von einer Brachylogie kann also an dieser Stelle gar nicht die
Rede sein. Auf S. 195 weist der Hr. Vf. darauf hin, daß »manche
286 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4,
Verba ihre Ergänzung durch eine immer wiederholte Apperzeption
gleichsam in sich aufgenommen haben<. Diese wichtige Entwicke-
lung ist allerdings sehr weit gegangen, besonders auch in der Misch-
nah — vgl. x = nan "To", ara = nam‘, auch Hiphile prin
= "pın'n Aboth 1,7 etc. —, liegt aber kaum in mp I Kön. 8,9
vor und gewiß nicht im N35 Qoh. 8, 10 (treten ein — in’s Jenseits
oder zum Frieden). Der Text ist dort absichtlich korrigiert, für
ano" ist mit LXX inane zu lesen, ‘m ‘p nipan ist vielleicht ein-
geschoben und 82 ‘"3p3 zu lesen. Die Gottlosen dürfen eigentlich
nach der Forderung der Frömmigkeit in kein ehrliches Grab kom-
men. Auf S. 196 redet der Hr. Vf. davon, daß die Andeutung der
Restriktion (»nur« »erst<) im Hebräischen oft dem Kontext über-
lassen bleibt. Aber der Sinn von Gen. 33,15 ist schwerlich mit
finde ich nur Gnade< nämlich, dann bin ich schon zufrieden, rich-
tig wiedergegeben. ‘NM NXON steht gewöhnlich oder m. W. immer
bei einer Bitte und macht sie freundlich dringlich, hier bei dem
deprezierenden mt rıo> (feiner als >thu das doch nicht<). Job 29, 2
ist der Gedanke mit der Uebersetzung: >o gäbe man mir etwas
(d.h. hier eine Zeit) gleich den Monden der Vorzeit< kaum getroffen;
vielmehr heißt es: >o daß ich doch wäre wie in etc.«. Im Verlauf
der trefflichen Ausführung über die comparat. compend. kommt der
Hr. Verf. auch auf Jes. 61,3 zu sprechen. »Eine Art comparat.
comp. enthalten, sachlich angesehen, manche Ausdrucksweisen, die
vom formellen Gesichtspunkt aus betrachtet, Genit. apposit. dar-
stellen. Denn z. B. heißt es: zu geben Freuden — Oel statt
Trauer (Jes. 61,3). Da ist Oel, welches Quelle, Mittel und An-
zeichen des Wohlbefindens war, nicht einfach metonym. an Stelle
der Freude gesetzt, sondern ein Genit. hinzugefügt, welcher aus-
drückt, »das mit der Freude vergleichbar ist«. 7100 Too wird viel-
mehr das jo aus keinem anderen Grunde genannt, als weil es in
den Zeiten der Freude angewandt wird, vgl. unser: das Schwarz der
Trauer. — Warum ergänzt der Hr. Vf. das op "78 a 11> Dan. 2, 35
»wie Spreu, die von Sommertennen (?) fliegt<? in dem 7a liegt das
doch nicht! Die Stelle, die aus der Mischnah dort (S. 222) ange-
führt wird, ist ebenfalls falsch verstanden. Von dem »Auszug aus
Aegypten in den Nächten (?)< steht in Berach. 1,5 nichts zu lesen,
wohl aber davon, daß man mors non in der die ‘oa ram erwähnt
wird, um dessenwillen auch in den Nächten lesen soll. — Zu der
Bewegtheit der Darstellung, dem zweiten Mittel die Lebendigkeit zu
heben, rechnet der Hr. Vf. u.a. auch den Numeruswechsel, wie er
in den uns überlieferten Texten häufig vorliegt, und bemüht sich,
einen Grund dafür ausfindig zu machen. Doch werden die meisten
König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratar. 287
derartigen Uebergänge nicht in das Gebiet der Grammatik oder Sti-
listik, sondern der Kritik gehören; so sind z. B. alle Stellen, in de-
nen im Bundesbuch die Anrede »ihr« gesichert ist, eingeschoben.
Auf S. 243 kommt der Hr. Vf. auch auf Deut. 33,8 f. zu sprechen;
er sagt — >indem das “55 8a im doppelten Sinne von »zu Levi«
und »betrefis L.< gemeint werden konnte, war ein Uebergang von
der Anrede Lewis (8a.b) zur Anrede Jahves möglich (9b. 10) der in
lla wirklich genannt ist«. Hier liegt wohl nur ein Versehen des
Hrn. Vf. vor. Gott ist ja von Anfang an in v. 8 angeredet!
Der dritte Hauptteil (Poetik) handelt von den Anforderungen,
die das ästhetische Empfinden an den Stil stell. Nachdem der Hr.
Vf. die Arten der mangelhaften Beziehungen zwischen Aesthetik und
Sprachstil — unschöne Bilder und häßliche Klänge besprochen, han-
delt er von den Mitteln, das ästhetisch Gefällige der Darstellung zu
heben. Die Schönheit des Stiles wird gesteigert durch Eleganz und
Harmonie zwischen Inhalt und Form, besonders Anwendung der sog.
höheren Diktion, der Wohllaut wird gesteigert durch verschiedene
Arten des Gleichklanges, Allitteration, Assonanz etc. und die Euryth-
mie. Neben der natürlichen Eurythmie der guten Prosa giebt es
noch einen höheren Grad des Rhythmus, der in einem gewissen Gleich-
lauf der Sätze besteht, dem parallelismus membrorum. Außerdem läßt
sich ein gewisses Gleichmaß der Stichen in einzelnen poetischen Stücken
beobachten und eine indirekte Symmetrie im Kinarythmus gewiß ma-
chen. Aber es läßt sich weder eine Fixierung der Stichensymmetrie
(Caesurencorrespondenz), noch eine strenge Beobachtung von akzen-
tuierendem oder quantitativem Rhythmus erweisen. Als Resultat er-
giebt sich dem Hrn. Vf.: »Der poetische Rhythmus wurde von den
Hebräern nur in der wesentlichen Symmetrie der Gedichtszeilen
(Stichoi) gefunden und diese Symmetrie beruhte nur auf der wesent-
lichen Gleichheit der Hebungen korrespondierender Gedichtszeilen<.
S. 343. Nach diesem mit der bisher herrschenden Anschauung we-
sentlich übereinstimmenden Resultate folgt eine ablehnende Kritik der
Arbeiten von D. H. Müller und J. K. Zenner, Bemerkungen über
den Reim und die Akrostichie und Schluß. — —
Die wichtigsten Materialien für die Kenntnis der hebräischen
Spracheigentümlichkeiten sind jedenfalls im ersten Hauptteil des
Buches zur Besprechung gekommen. Indessen ist es dem Hrn. Vf.
m. M. nach nicht gelungen, die wichtigsten dieser Spracherscheinungen
richtig zu erfassen und darzustellen. Als Hauptmittel der Verdeut-
lichung des einzelnen Ausdruckes nennt er die Metonymie und die
Synekdoche. Da erscheint zunächst die Auffassung, daß die Setzung
288 Gött. gel. Ans, 1901, Nr. 4.
des Vorfahren für die Nachkommen eine Art Metonymie der Ursache
für die Wirkung sei, doch als sehr äußerlich. Wenn Sx 1 z.B. an
vielen Stellen steht, wo wir die Israeliten erwarten, so erklärt sich
das aus dem dem Hebräischen (Semitischen) innewohnenden Streben,
Völker, Stämme etc. in eine ideale Einheit zusammenzufassen. —
Wenn nxon ferner — je nach dem Zusammenhang — Sünde
oder auch Strafe der Sünde bedeuten kann, so liegt das nicht daran,
daß >die von der Kraft angeregte und vermittelte Handlung zum
vielsagenden Hinweis auf ihre Konsequenz wurde«, sondern daran,
daß das Hebräische für die feinen Beziehungen wie Folge und
Grund keinen Ausdruck hat und deshalb deren Ermittlung aus dem
Zusammenhang dem Hörer oder Leser überläßt. Wenn der
Hebräer z.B. hört 119 Nw oder mars Neon DIMM, so ist ihm durch
den Zusammenhang, speziell durch die Verba 83 und XxonN, gegeben,
daß »Folge der Sünde« gemeint ist. Nicht der für sich stehende
einzelne Ausdruck, wie es der Hr. Vf. durchgängig darstellt, sondern
der Zusammenhang allein giebt diese Beziehungen an die Hand.
Wenn also der Schriftsteller z.B. sagt p*ndw mms, so ist das nicht
etwa zu erklären: »eine Handlung bezeichnet auch ihre indirekte
Wirkung«. Vielmehr läßt der Hebräer in solchen Fällen das aus
dem Zusammenhang klare Grundwort »Gabe« weg und setzt nur das
Bestimmungswort p°n>w, das natürlich nicht aufhört, nur »Entlassung«
zu bedeuten, und für sich niemals >auf die mit einer Entlassung ver-
knüpften Geschenke hinweist<. So sagt man in der Mischnah
moa jm> = Sühngeld geben für die Schändung eines Mädchens, auch
‘a pow Ket. 3,4.8. Aus dieser Sparsamkeit in der Bezeichnung des
aus dem Zusammenhang ersichtlichen Grundwortes etc. erklären sich
die meisten Spracherscheinungen, die der Hr. Vf. als Arten der Me-
tonymie und Synekdoche auffaßt. So vertritt in den Verbindungen
Day om, a8" u.a. nicht etwa »der Besitzende seinen Besitz«,
sondern die selbstverständlichen Grundwörter Besitz, Land etc. sind
ausgelassen, weil sie durch das Verbum genügend angezeigt sind.
Ganz ebenso steht es ferner mit apy» mx 558; hierher gehört auch
der Ausdruck parm mx 558, wo nicht »die Erde als Ausgangspunkt
für das Produkt steht<, und 723 >38, wonicht »Weinstock = Traube«
(S. 17). In »scheren das Haupt< kommt nicht etwa >wm als Be-
sitzer des sonst bei Tr) und m3 stehenden »Haares« oder >Bartes< in
Betracht« (S. 24), sondern das durch »scheren< genügend bezeich-
nete Grundwort ist weggelassen. Dem ganz parallel steht der Aus-
druck »einen Becher trinken< — vom Hrn. Vf. auf S. 27 erwähnt
zu dem Kapitel »Aufenthaltsort für Bewohner< — und in der Misch-
nah 05 31a. — Unter dem Titel »Metonymie: Zeit für Zeiterschei-
König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. .289
nung< behandelt der Hr. Vf. zunächst den bekannten prägnanten
Gebrauch von ov etc. und kommt dann auch auf 7*p zu sprechen.
Dies Wort bezeichne ursprünglich Hitze, warme Jahreszeit und dann
die Obsternte, die in diese falle und hauptsächlich deren Ertrag.
Aber in allen Stellen, die er dafür anführt, ist das Grundwort
»Früchte« als selbstverständlich ausgefallen. Wenn man z.B. sagt
‘p 55m, dann ist durch das ‘x das Grundwort schon genügend ange-
deutet, so daß nur noch das Bestimmungswort ‘p zur Deutlichkeit
nötig ist. Diese Ausdrucksweise steht also ganz auf einer Stufe mit
PA ODN, PINM DRIN etc., und es ist verkehrt, wenn man diese Er-
scheinungen auseinanderreißt und unter getrennten Titeln behandelt.
Ebenso steht es mit ‘p 3155 und ‘p ro; der letzte Ausdruck steht
auf derselben Stufe wie ns wo Ruth 3,15. pp bezeichnet nie-
mals den Ertrag der Obsternte; wohl aber kann dies Grundwort, so
gut wie irgend ein anderes (z.B. Maße), weggelassen werden,
wenn es genügend bezeichnet ist. »So konnte auch Fest für das ge-
sagt werden, was in erster Linie zum Feste gehörte, d.h. das Fest-
opfer« S. 29. Nein, eine so seltsame Sprache, in der Fest Fest-
opfer heißen könnte, ist das Hebräische nicht; wohl aber ist in allen
den Stellen, die der Hr. Vf. zum Beweis für seine Behauptung an-
führt, das Grundwort »Opfer« als selbstverständlich weggefallen, weil
es durch das Verb (oder sonst) genügend angezeigt war. Dem
‚Hebräer ist 9m aan, ‘MON, am HR Ni Mom worm etc. ohne
weiteres verständlich, weil in diesen Verbindungen das Grundwort zu
ss deutlich gegeben ist. “Iam mx Sa8 ist ganz parallel mit
par ne ‘x. Der Hebräer kann so sagen ohne weiteres Imm MN! N
und mop mart (Deut. 17, 2), “2 mar etc. Aus derselben eigentümlichen
Brachylogie ist auch Est. 5,1 zu erklären, worüber der Hr. Verf.
sagt: >Eine Erscheinung konnte aus verschiedenem Motiv auch für
ihr Anzeichen gesetzt werden« ; dort ist in mb ~wadrn das selbst-
verständliche Grundwort zu miso nämlich "33 oder "wnabn, wie es
gerade in dieser Verbindung häufig ist, weggelassen. Hierher gehört
ferner die Verbindung "3 mm (Amos 8,5). Hier liegt nicht etwa
die — nirgends vorkommende — »Metonymie: Inhalt für Raum«
vor, sondern das Grundwort zu "3 ist durch das Verb genügend be-
zeichnet und deshalb ausgefallen. Ebenso kurz drückt man sich aus
in J" rınD, wie man andrerseits sagt J HON oder EX ‘NX. So ist auch
in dem ächt hebräischen Ausdruck éBadov eis ta dea (Luc. 21, 4)
das durch éBadoy bezeichnete Grundwort (etwa ma oder Mp) als
selbstverständlich weggelassen, vgl. nam> "Sp Midna Nezir 4, 4 »das
Geld soll in die Kasse für ‘% flieGen<. So sagt man im Arabischen
Sled ol pd oder kürzer clad! 3, DB OS oS, oder ai |,
290 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
Keil 5, vgl. z.B. Antar 2,14. 76. In dem Ausdruck ven 7
(» 58,8. 64,4) und ähnlichen Verbindungen liegt nicht etwa ein
pars pro toto vor, sondern eine außerordentlich kurze Ausdrucks-
weise für den Bogen spannen und Pfeile (abschießen).. Aehnlich ist
z. B. oo sp2 den Fels spalten, so daß Wasser zum Vorschein
kommt, rap jr das Getreide mahlen, so daß es ‘p wird, eine Glatze
scheeren, d. h. die Haare scheeren, so daß eine Glatze entsteht, auch
im Arabischen sagt man ely Wyo d.h. ol,3t xo — das ist das
eigentliche Objekt — so daß die ‘> entstehen, vgl. Antar 3, 45. 49.
Diese Entwicklung geht so weit, daß in manchen Fällen die Verba
ihr — selbstverständliches und oft gehörtes — Objekt verlieren und
so prägnant stehen, vgl. im hebräischen "Hm und Sen; so sagt man
im Arabischen ,4,b} = it ‘} (z.B. 1001 N. ed. Macn. 2, 205) und
so wird auch das Objekt von ‚ss,i (Schiff) und }> (Tau) bisweilen
ausgelassen, so daß solche Verba dann leicht als Intransitive er-
scheinen. Andrerseits findet sich auch besonders bei häufig gebrauch-
ten Nominalverbindungen das Grundwort ausgelassen; so ist der
Gebrauch von m» (m1>3) an manchen Stellen zu erklären, als Verkiir-
zung von ‘9m, nicht etwa als abstractum pro concreto. Hierher ge-
hört auch neun = ‘nm mar, nn, 77, OWN etc., MAM etwa = “o-mdan
und vieles der Art in der späteren Sprache. — Zu unterscheiden
von den Fällen, in denen das Grundwort ausgelassen werden kann,
weil es durch die sonstigen Sprachmittel, insbesondere das Verbum,
deutlich genug gekennzeichnet war, ist eine Reihe von Fällen, in
denen es ausgelassen werden muß, weil die Sprache es nicht be-
sitzt. Dort konnte das Grundwort zum Ueberflusse zugefügt werden,
hier muß der Leser oder Hörer das Grundwort ergänzen. Ich rede
hauptsächlich von den sogen. Nominalsätzen und den Fällen, in denen
nach der gewöhnlichen Anschauung, die auch der Hr. Vf. vertritt,
das Abstractum pro concr. steht. Nehmen wir als Beispiel Prov. 10, 1.
Taxrmaın 503 jai a8 ram oom ya. Ob da im ersten Glied steht
ax ‘OM oder 'XNTrm® ist ganz einerlei, ebenso wie für ‘X-Man stehen
könnte 'X m9. Wir übersetzen die zweite Vershälfte genau: ein
törichter Sohn ist der Gegenstand oder der Grund des Kummers
seiner Mutter. Der Hebräer stellt aber einfach die beiden Größen
‘o> Ja und 'Xmaın neben einander, die nähere Verbindung zwischen
beiden muß der Leser oder Hörer in Gedanken herstellen, denn die
Sprache selbst hat kein nominales Ausdrucksmittel für ein so ab-
straktes Ding wie »Gegenstand«. Aehnlich ist norın xin »Er ist
Objekt oder Inhalt deiner ‘nn, ‘> mn nm rum sie sind die Ursache
des Grames etc. So heißt es in Midna Ket. 8,5 maxıma rau jn
= die Sklaven sind ein Ding des ‘w ihres Vaterhauses, gehören zum
König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur. 291
Anstande etc. Gott ist der Gegenstand oder Grund meiner ‘nm, kann
also gar nicht anders ausgedrückt werden als "mipm '". Gegenstand,
Grund, Inhalt etc. sind Beziehungen zwischen Subjekt und Prädikat,
die die Sprache dem Hörer herzustellen überläßt. Ganz derselbe Fall
— mutatis mutandis — ist es, wenn statt des genaueren Praedikates
Bro mar) nur oow gesagt wird in dem Satz mbw mmian 55
Prov. 3,17. Aus der Mischnah führe ich zur Beleuchtung dieser
Spracheigentümlichkeiten noch folgende Beispiele an. Ketub. 13,9:
‘ain ew may er kann die Forderung (Summe) seines Schuldbriefes
einziehen; 4, 1 mm men = Ertrag ihrer Handarbeit; Gittin 3, 2
WAM DPD mar = Raum lassen für den Namen des Mannes; Sota 6,1
2252 im Lichte des Mondes. Peah 8,7 pıoa mas mMeipm = die
Einnahmen der Armenbüchse werden von zweien gesammelt; Neda-
rim 9, 9 max9 292 ob mrp = man öffnet dem Mann (bei vor-
eiligen Gelübden) einen Ausweg durch die Rücksicht auf seine eigene
Ehre etc. Ket. 11,6 mama 8 mvp 851 rar p> pR — sie haben
keinen Anspruch auf etc. So heißt es in einem Gebet: ona aro
mao m~nw = es stand aufihnen (den Tafeln) das Gebot der Sabbat-
feier, vgl. auch im Arabischen „Aw „I> er saß zur Entgegen-
nahme des Salam etc. Zu welchen Ungeheuerlichkeiten käme man,
wollte man solche — dem biblischen Sprachgebrauch ganz parallele
— Erscheinungen in den Formeln der klassischen Stilistik aus-
drücken!
Unrichtig hat der Hr. Vf. auch Ausdrücke wie "2 '" aufge-
faßt. S. 101: »Auch Schild als Ausdruck für Beschiitzer o. ä. gehört
hierher (nämlich zur Metapher Unbelebtes und Belebtes). Denn der
so gebrauchte Ausdruck Schild will nicht einen Schildträger, sondern
sozusagen einen lebendigen Schild bezeichnen<. Nein, er will
nichts andres besagen als: er leistet mir das, was ein Schild leistet.
In dieselbe Kategorie gehören Ausdrücke wie 195 nr Oy Job
29,15, die der Hr. Vf. unter einen anderen Titel (Metonymie Besitz
für Besitzer) bespricht. »Ich war ihm Auge« bedeutet: ich sah für
ihn, nicht aber ist ‘9 hier Bezeichnung des Sehenden. So sagt man
im Arabischen von einem starken Helden: Du bist unser Schwert,
unsre Burg etc., vgl. Antar 2, 25. 26. 30. 57; und wenn es Antar 2, 25
heißt »Du bist uns se, so soll das heißen, Du bist uns soviel wert
wie se,
Demnach dürfte auch die allgemeine Auffassung des Hrn. Verf.
von dem Zweck, dem die von ihm als Metonymie und Synekdoche
bezeichneten Spracherscheinungen nach der Absicht des Schriftstellers
dienen sollen, kaum richtig sein. Er behauptet nämlich, daß diese
von ihm sogenannten Metonymien und Synekdochen (die nichts andres
292 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
sind als Erscheinungen derselben Grundregel) dazu dienen, die Deut-
lichkeit des einzelnen Ausdrucks zu steigern S. 15. Es sollte dem
Hrn. Verf. schwer fallen, nachzuweisen, daß durch die Wahl solcher,
nach seiner eigenen Darstellung inäquater Ausdrucksmittel die Deut-
lichkeit gesteigert wird. Daß die Deutlichkeit des Ausdrucks durch
solche Ausdrucksweise, wie sie dem Hebräer eigentümlich ist, nicht
gewinnt, zeigen m. E. die zahlreichen Mißverständnisse, denen sie bis
auf den jetzigen Tag ausgesetzt ist, deutlich genug. Ist etwa >sie
aßen den Weinstock« deutlicher als >sie aßen die Frucht des Wein-
stockes«? oder entspricht >sie schlachteten das Fest« den Ansprü-
chen, die die »intellektuelle Sphäre des Seelenlebens< an die Deut-
lichkeit stellt, mehr, als »sie schlachteten das Festopfer<? oder
sollte »Er ist dein Lobgesang< den Gedanken deutlicher wiedergeben
als »Er ist der Inhalt Deines Lobgesanges« ? doch gewiß. nicht.
Ueberhaupt halte ich die Behandlung dieser Spracherscheinungen
in einer Stilistik für unrichtig. Denn in den meisten Fällen, die ich
oben dargelegt habe, liegt es gar nicht im Belieben des Schrift-
stellers, ob er sich z.B. nach der Terminologie des Hrn. Verf. in
der Form des abstractum pro concreto ausdrücken will oder nicht, son-
dern er muß sich so ausdrücken, weil die Sprache ihm keine anderen
Mittel bietet. Wie soll denn z.B. »>sie waren der Grund des Gra-
mes« anders ausgedrückt werden als mn na mımmnı? oder wie soll
‚er trug die Folge seiner Sünde« anders wiedergegeben werden als
‘om Nw? oder wie soll >er ist der Gegenstand des Kummers seiner
Mutter« anders dargestellt werden als durch: Tax man win? Stil
ist nach des Hrn. Vf. eignen Worten die durch die psychologische
Eigenart des Schriftstellers und die litterarische Eigenart seines
Stoffes bedingte eigentümliche Verwendung der sprachlichen Dar-
stellungsmittel. Jene Ausdrücke sind aber weder durch diese be-
dingt, noch durch jene: der Schriftsteller mußte sich so aus-
drücken, weil ihm die Sprache keine anderen Mittel gab. Jene
Ausdrucksweisen sind fast durchgängig in der Eigentümlichkeit der
Sprache begründet, gehören also nicht in die Stilistik, wenn diese
die ihr vom Hr. Verf. gestellte Aufgabe hat.
Das Buch giebt eine genaue und sehr ausführliche Zusammen-
stellung hebräischer Sprach- und Stileigentümlichkeiten, eingeteilt
nach dem Schema der stilistischen Terminologie.
Was die Verwendung der Ausdrucksweise der klassischen Stili-
stik anbetrifft, so verführt sie m. E. nur zu leicht dazu, daß man
sich mit Worten und Formeln zufrieden giebt und die innere Eigen-
tümlichkeit der sprachlichen Erscheinung außer Acht läßt. Die Be-
zeichnungen wie Metonymie, Synekdoche etc. sind doch von ganz
Kampschulte, Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf. II. 298
äußerlichen Merkmalen hergenommen und besagen über das eigent-
liche Wesen der sprachlichen Erscheinung so gut wie nichts; darum
fassen sie nur zu oft das Fremdeste zusammen und zerreißen das
Verwandte. Sie reichen nicht einmal zur Erfassung und Beschrei-
bung des klassischen Stiles, geschweige daß sich durch sie semitische
Eigentümlichkeiten wiedergeben ließen. Die Kriterien, die der Hr.
Verf. zur Disposition der Stilistik benutzt — nämlich die Forde-
rungen, die der menschliche Geist an den guten Sprachstil stellt —
sind sehr fragwürdigen Wertes: die Ansprüche, die wir an den gu-
ten Stil z.B. bezüglich der Deutlichkeit stellen, sind ganz andere
als beim Hebräischen. Es mußte wenigstens heißen: die Forderun-
gen, die der hebräische Geist an den guten Stil stellt — aber frei-
lich, damit kann niemand was anfangen.
Louisendorf (Hessen-Nassau). Frankenberg.
Kampsechulte, F. W., Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in
Genf. Zweiter Band. Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben von
Walter Goetz, Leipzig, Duncker u. Humblot. 1899. IX u. 401 S. Preis 8 M.
Die letzten Wochen des Jahres 1899 brachten den Reformations-
historikern eine große, freudige Ueberraschung: den zweiten Band
der Calvin-Biographie Kampschultes, deren erster Band einst vor
30 Jahren erschienen war, deren Verfasser seit 1872 durch früh-
zeitigen Tod aus rüstigem Schaffen abgerufen war. Wir wußten, daß
er noch bis zu den letzten Wochen seines Lebens an seinen Calvin-
Forschungen gesessen hatte (C. A. Cornelius in der Allgem. deut-
schen Biographie, jetzt Historische Arbeiten. Leipzig 1899 S. 621);
wir erfuhren, daß er an dem zweiten Bande bis zum Ende gearbeitet
habe — jetzt wird uns die Kunde, daß dieser zweite Band damals
so gut wie vollendet und testamentarisch seinem Freunde Cornelius
zu unbedingter Verfügung vermacht worden war. Dieser wartete,
wie er uns jetzt (a.a.O. S. V) berichtet, erst die weitere Veröffent-
lichung der Quellen im Corp. Ref. ab, entschloß sich dann, seine
selbständige Mitarbeit dem Werke zu widmen, in der Absicht, nach
einer Bearbeitung der gedruckten und der noch in den Archiven in
Genf und Bern ruhenden Quellen, wie seine bekannten trefllichen
Calvin-Studien in den Abhandlungen der Münchner Akademie und in
der Deutschen Zeitschr. f. Geschichtswissenschaft (seit 1886) sie zu
bieten anfingen, in einer Schlußredaktion Kampschultes Nachlaß re-
294 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
vidiert uns vorzulegen. Aber eignes Leiden hat ihn genöthigt, die
Arbeit erst liegen zu lassen, dann auf die Vollendung dieser Calvin-
Biographie überhaupt zu verzichten. Aber ein doppeltes hat der
Kranke noch gethan: er hat seine eignen Calvin-Studien jetzt in
seinen »Historischen Arbeiten< S. 105—557 vereinigt, vermehrt durch
den bisher noch nicht veröffentlichten Abschnitt »Calvin und Perrin
1546—48<, und hat Kampschultes Manuskript von Bd. II Walter
Goetz zur endlichen Herausgabe übergeben.
Noch wenige Wochen vor dem Erscheinen dieses Vermächtnisses
hatte Rudolf Reuss, der einst den 1. Bd. alsbald in einer Bespre-
chung in der Revue critique in warmen Worten gewürdigt hatte,
aufs Neue der Trauer darüber Ausdruck gegeben, daß ce fruit de
ses longues et patientes recherches est resté perdu pour nous —
dabei aber zugleich das bemerkenswerthe Bekenntnis abgelegt, seine
Hochschätzung der Leistung Kampsch.s sei nur gestiegen, depuis que
j'ai appris 4 connaitre Calvin de plus pres encore (Bulletin histo-
rique et littéraire 1899 p. 542). Es würde einen eigenartigen Ehren-
kranz auf Kampschultes Grab abgeben, wenn man aus der Litteratur
dieser 30 Jahre zusammenstellen wollte, wie oft und von wie ver-
schiedenen Seiten her dies ehrliche Bedauern, daß seine Arbeit Frag-
ment bleiben mußte, laut geworden ist. Nur einem Adolf Zahn blieb
es vorbehalten, den Satz zu schreiben: »Es ist eine providentielle
Leitung, daß Kampschulte das Buch nicht vollenden konnte« — und
seine redliche Arbeit zu charakterisieren als ein Werk, das künstlich
den Schein geschichtlicher Unbefangenheit und Wahrheitsliebe er-
wecke, im Uebrigen den Katholiken und den weichlichen Humanisten
verrathe; ja er hat sein »ernstes Bedauern« ausgesprochen, daß man
von evangelischer Seite her ein solches reiches Quellenmaterial in
»solche Hände« gelegt habe für Studien, die doch nur zur Kränkung
und Beschädigung der evangelischen Kirche gemacht seien (Studien
über J. Calvin. Gütersloh 1894 S. 18. 2. 19.). Wie Zahn hier der
göttlichen Providenz ein falsches Prognosticon gestellt hat, so hat er
mit diesen Urtheilen doch mehr einen Beitrag zu seiner eignen Cha-
rakteristik als zu der Kampsch.s geliefert.
Der zweite Band liegt jetzt vor uns — freilich damit nur die
Zeit von 1546—1559 ; der abschließende dritte Band, der uns Genfs
Weltstellung in den letzten Lebensjahren Calvins, oder wie Cornelius
es ausdrückt, die Entfaltung des Calvinismus zur Weltmacht dar-
stellen sollte, ist uns verloren. Aber wir müssen doch hervorheben,
daß die schwierigste Aufgabe für den Calvin-Biographen die unpar-
teiische Behandlung des Kampfes Calvins um die Herrschaft in Genf
selbst, seines Ringens mit den dort ihm widerstrebenden Elementen und
Kampschulte, Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf. II. 295
Kreisen bildet. Hier bedürfen die älteren Calvin-Biographieen am
stärksten der Revision, hier gilt es ganz besonders den Gegenstand
dem einseitigen Eifer der theologischen Partei zu entreißen und für
lie historische Wissenschaft in Besitz zu nehmen«. Hier kämpft
ıber auch der Historiker am stärksten mit der Versuchung, in der
ıothwendigen Revision der einseitigen Behandlung, die seit Beza
ınd Colladon allen Gegnern Calvins widerfahren ist, und in der hier
;0 leicht sich hervordrängenden Antipathie gegen die für unser Em-
finden abstoßenden Züge in Calvins Charakterbild, den großen
ınd erhabenen Zügen, die es auszeichnen und die ihm seine welt-
yeschichtliche Bedeutung verleihen, nicht voll gerecht zu werden.
Jm so dankenswerther ist es, daß Kampsch. in dem Schlußkapitel
‚Calvins persönliche Stellung< (S. 375 ff.) noch Gelegenheit gefunden
iat, seine Zeichnung jener z. Th. so häßlichen Kämpfe, wie Calvin
ie in starrer Consequenz seines theokratischen Princips mit den
nannigfachsten, an sittlichem Werth so außerordentlich verschiedenen
3egnern geführt hat, bei denen das Mitleid mit den Unterliegenden
inwillkiirlich dazu drängt, das für Calvin Nachtheilige mit einem
yesonderen Accent zu notieren, abschließend zu ergänzen durch eine —
Betrachtung des Mannes selbst und der Wurzeln jener Kraft, die
hn emporhebt und jenen ungeheuren Einfluß erklärt, den er errang
ınd auch zu bewahren wußte.
Aber ist eine Arbeit, die nach 27jährigem Intervall an die Oeffent-
ichkeit gezogen wird, nicht veraltet, durch die dazwischen liegende
Forschung längst überholt? Der Herausgeber hat zuversichtlich diese
ich aufdrängende Frage geglaubt verneinen zu dürfen, und ich
neine, die Kritik wird ihm darin voll und freudig zustimmen. Gewiß
ind wir über Einzelheiten inzwischen genauer informiert, — der
Jerausgeber hat gewissenhaft an solchen Stellen den Leser auf die
leueren Forschungen verwiesen, — und auch einige kleinere Ver-
jehen sind unter dem Texte korrigiert worden. Aber Kampschulte
tannte die entscheidenden Urkunden — den Briefwechsel und die
Rathsprotokolle — in ausreichendem Maße, brachte historische Me-
hode und Unbefangenheit in so erfreulicher Weise an den Stoff
ıeran, daß er sich einen sicheren Weg gebahnt, den spröden Stoff
;o übersichtlich gruppiert, die Richtungen und die Individualitäten
io klar erkannt hat, daß man ihm in den Grundzügen seiner Dar-
tellung der heißen Kämpfe zuversichtlich zustimmen kann.
Vortrefllich zeichnet gleich das 1. Kapitel die verschiedenen
Slemente, die in der Gegnerschaft, mit der Calvin kämpft, sich
ınterscheiden lassen, obgleich sie in mannigfacher Mischung uns be-
jegnen : die Vertreter des Staatsgedankens seiner Theokratie gegen-
296 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
über, die altgenferischen Patrioten, die bernische Partei; sodann die
Gegner seiner unbedingte Unterwerfung fordernden, keine Diskussion
gestattenden Glaubensnormen, und die mit seiner Sittenzucht Unzu-
friedenen. Ich hebe dabei die feinen Bemerkungen über Calvin als
Franzosen hervor, dem Genf nicht eine neue Heimath geworden ist,
sondern lediglich die Operationsbasis für seine Propaganda in den
romanischen Landen bleibt (S. 6f.). Verkennt Kampschulte auch
nicht, daß jener bunt gemischten Opposition auch gefährliche und
sittlich anstößige Elemente beigemischt waren und daß diese sie bei
der Mitwelt und noch mehr bei der Nachwelt discreditiert haben, so
räumt er doch entschieden mit der traditionellen Lehrweise auf, nach
der die pantheistisch-antinomistische Sekte der Libertins in Genf ihr
Hauptquartier aufgeschlagen haben sollte. Ist diese fable convenue
auch seit Kampschultes Tagen nicht mehr so uneingeschränkt vorge-
tragen worden, wie sie ihm damals noch in der Litteratur entgegen-
trat, so ist sie doch noch lange nicht gründlich genug beseitigt. In
J. J. Herzogs Kirchengeschichte 2. Aufl. II 173 (1892) steht noch
kurz und bündig geschrieben : »die Opponenten Calvins nannte man
die Libertiner<; und der viel vorsichtigere Philipp Schaff zeichnet
uns in seinem Kapitel von Calvins Genfer Kämpfen neben den En-
fants de Genéve als die andre, schlimmere Art seiner Gegner »die
Libertiner oder Spiritualen<, deren Lehrsystem er daher hier dar-
stellt; als deren Genfer Repräsentanten nennt er uns Gruet, >a Li-
bertine of the worst type<; Perrin wird zwar selber nur‘als »leader
of the Patriotic party« bezeichnet, aber seine Leute sind dann doch
einfach >the Libertines« ; die Affaire Pierre Ameaux »shows a close con-
nection between the political and religious Libertines<; auch Van-
dels und Bertheliers Austreibung wird uns als »the end of Libertinism
in Geneva« vor Augen gerückt (History of the Christian Church VII
1892 p. 501—515). Und auch R. Staehelin in seinem gehaltvollen
Artikel Calvin in der 3. Aufl. der protest. Real-Encykl. III 669 re-
det noch von einem Einwirken der Ideen des mystisch-pantheisti-
schen Libertinismus Frankreichs auf die Genfer Bürgerschaft, be-
trachtet »Libertiner< als eine geläufige Bezeichnung zunächst der
religiösen, dann auch der politischen Gegner Calvins, und bringt
wenigstens den Proceß Gruets mit diesem Libertinismus in Verbin-
dung. Mit Recht macht dagegen Kampsch. darauf aufmerksam, daß
Calvins Streitschriften gegen die Libertins gar keine Beziehung auf
die Genfer Verhältnisse haben, — sie wollen vielmehr die gläubigen
Brüder in Artois und Hennegau und überhaupt in den Niederlanden
und Frankreich stärken (CR XII [XL] 66; VII [XXXV] 159). Ist
Pocquet, einer ihrer Führer, auch kurze Zeit in Genf gewesen, so
Kampschulte, Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf. II. 297
weiß Calvin doch nur zu sagen, daß er seine böse Lehre dort sorg-
faltig verheimlicht hat (VII 163). (Den Impuls, gegen sie zu schrei-
ben, erhält C. durch Valerandus Pollanus [26. Mai 1544]. Auch
Beza schildert hernach diese schriftstellerische Thätigkeit seines Mei-
sters ohne alle Bezugnahme auf die Genfer Kämpfe (XXI, 136).
Mit Recht erinnert K. ferner daran, daß weder Calvin noch die Zeit-
genossen die Genfer Gegner jemals »Libertiner< nennen. Die erste
Spur einer Anwendung dieses Namens auf sie findet er bei Bolsec,
der aber nur sagt, C. habe seine Gegner vertrieben, tanquam qui
Libertini ... fuissent. In der That, man lese die Vitae seiner älte-
sten Biographen und achte auf all die schönen Prädikate, die seine
Gegner erhalten: es sind monstres (XXI 23. 25. mutins et desesperes
citoyens (34), les desbauches (38), dnuayoyol (137), wmprobs (138. 139.
148 u. 6.), fursosi (141), factiost (145), impuri (144) u.8.w., aber
niemals heißen sie Libertins. Kampschulte will nur zugeben, daß
vereinzelte Anhänger der Libertiner in Genf gewesen sein mögen,
und findet einige Anklänge an das libertinische System in Aeuße-
rungen der Frau des P. Ameaux. Aber man wird selbst hier eine Ein-
wirkung des Systems jener Spiritualen gar nicht anzunehmen brau-
chen. Ist es nicht auch ganz ohne solche direkten Verbindungen
hinreichend erklärlich, daß in einer Stadt, in der das » Wort Gottes«
alles regieren sollte, auch die Frivolität einer »mannstollen< Frau,
wie Cornelius jene treffend genannt hat, sich mit lüstern interpre-
tierten Bibelstellen zu vertheidigen suchte ? Zu solchen Künsten be-
darf es, wie die Erfahrung in religiös stark erregten Kreisen lehrt,
gar nicht erst der Einwirkung des »Systems< einer Sekte von außer-
halb her.
Vortrefflich gelungen scheint mir dann weiter der Nachweis, wie
der für Calvin klägliche Verlauf des Prozesses gegen Perrin 1547
sein siegreiches Vordringen längere Zeit aufhielt, und wie von 1548
an staatskirchliche Principien seinem Regimente kräftig entgegen
gehalten werden. Er erleidet jetzt Niederlage auf Niederlage —
auch die Proklamation des Rathes vom 18. Jan. 1549 lehrt K. nicht
als einen Triumph Calvins, sondern als Zeugnis dafür verstehen, daß
die weltliche Obrigkeit jetzt entschlossen ist, ihr Recht über Staat
und Kirche in vollem Umfange auszuüben. Und diese Deutung
bleibt auch bestehen, wenn, was K. nicht wußte, dieses Dokument
seine Anregung dem gleichen Vorgehen des Berner Rathes verdankte
(Roget, Hist. du peuple de Genéve III 82f.). Auch Calvins halber
Sieg über Bolsec erweist sich bei näherer Betrachtung als eine be-
denkliche Erschütterung seiner Autorität — in der deutschen Schweiz,
wie in der Genfer Bürgerschaft — und auch das Verfahren des
Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4. 21
298 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
Rathes, als ihm nun C. nach Beendigung des Prozesses seine Schrift
über die Prädestination widmen will, der erst die Durchsicht zwei
Männern überträgt, deren einer, Trolliet, sein persönlicher Gegner
ist, und dann von ihm fordert, daß er die mote diniures daraus
tilge (XXI, 501), zeigt, daß seine Position jedenfalls nicht gewonnen
hatte. So zeigt uns denn K. auch für 1552 C.s »abnehmenden Ein-
flu8< und die »steigende Riicksichtslosigkeit der anticalvinischen
Parteic. Erst mit Michael Servets traurigem Prozeß schnellt wieder
seine Autorität in die Höhe, denn des Spaniers Angelegenheit vermag
auch bei den Gegnern C.s keinen Beifall zu erringen, sie bleibt in
der Bevölkerung unpopulär, und die Wenigen, die für den Anti-
trinitarier aus Abneigung gegen Calvin Sympathien zeigen, compro-
mittieren sich nur dadurch. Die angerufenen Kirchen und Magistrate
der andern Schweizer Cantons stützen in diesem Falle Calvin. Ihre
einmüthigen Voten überwinden die schwankende Mittelpartei im
Rathe — und so triumphiert hier C.s Theokratie. Dieser Sieg trifft
die ganze Gegnerschaft. Unter dieser Wendung der Dinge endet nun
auch der bis dahin für C. ungünstig stehende Streit über das Ex-
communicationsrecht mit einer Aussöhnung, die einen Sieg C.s und
eine völlige Niederlage Perrins bedeutete. Die öffentliche Meinung,
die in den Wahlen der Syndiks und des Rathes sich bezeugte, brachte
1555 die Gewalt in C.s Hände. Und nun erfolgt der vernichtende
Schlag gegen die Opposition in der planmäßigen Aufnahme der Frem-
den ins Bürgerrecht und in der schonungslosen, unbarmherzigen Ver-
folgung des Straßenlärms vom 16. Mai 1555 gegen Perrin und Ge-
nossen. Mit vollem Rechte sieht K. in diesem Tumult weder eine
lange vorbereitete »catilinarische« (CR XXI, 55) Verschwörung,
noch auch umgekehrt einen von der calvinischen Partei inscenierten
Streich. Er hält daran fest, daß die Ruhestörungen von der Oppo-
sitionspartei ausgingen, aber unerheblich und ohne ernstliche Gefähr-
dung waren — denn die Macht jener in der Stadt war bereits stark
dahingeschwunden. Aber ausgenutzt wurde nun dieser Straßenauf-
lauf von den Machthabern in entsetzlicher Weise, in der maßlosesten
Weise für die öffentliche Meinung aufgebauscht und wahrhaft brutal
gestraft. Dieser Aufstieg zu gesicherter Machtstellung bleibt für mein
Empfinden einer der dunkelsten Flecken in C.s Geschichte’).
1) Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Worte berichtigen, in denen ich
in der 2. Aufl. von Möllers Kirchengesch. Bd. II (1899) S.168 den Sieg Calvins
1555 charakterisiert habe: »er sichert seinen Sieg sofort durch eine Verfassungs-
änderung in aristokratischem Sinne«. Damit sollten die Rathsbeschlüsse kurs
zusammengefaßt sein, deren Inhalt R. Stähelin in Real-Encykl.? III 681 Z. 11 ff.
näher bezeichnet hatte. Aber genauere Einsicht in die Quellen und eine Corre-
Kampschulte, Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf. II. 299
Von hier an zeigt uns K. »Genf unter Calvins Herrschaft« —
die Ausnutzung und Sicherung seines Sieges, den Frieden mit Bern,
die Gründung der Akademie, den Abschluß der kirchlichen Gesetz-
gebung, — endlich in den Schlußkapiteln die Gestaltung des öffent-
lichen Lebens nach dem vollständigen Siege C.s und seine persön-
liche Stellung in dem von ihm beherrschten Genf.
Es sind lebensvolle Bilder, die uns K. entrollt — freilich sehen
sie anders aus, als Colladon und Beza sie im Ueberschwang der Be-
wunderung einst gezeichnet haben, die in C. einfach den champion
Gottes erblicken (XXI, 22), auf den sich Satan gestürzt hat, comme
eal avoit oublie tous les autres tenans, pour l’assailir (ebd.). Unpar-
teiisch sucht K. Licht und Schatten zu vertheilen. Die große Auf-
gabe, die sich C. gestellt hat, Gottes Ehre in der rücksichtslosen
Durchsetzung ebenso seines Lehrsystems wie seiner kirchlichen Zucht
zur Geltung zu bringen, die Ueberzeugungstreue, Energie und Selbst-
losigkeit, mit der er dafür kämpft, verliert der Biograph nicht aus
den Augen. C. bleibt ihm der heldenmüthige Mann aus einem Guß.
Aber er erkennt auch, wie gefährlich es für einen Menschen ist, sich
als auserwähltes Rüstzeug Gottes zu fühlen, und er hat ein scharfes
Auge, wie für die eminente politische Begabung, so auch für die
kleinen und oft unedlen Mittel, mit denen er Gottes Ehre verficht.
Auch bei Luther begegnen wir oft dem gehobenen Selbstbewußtsein,
mit einer besonderen Mission von Gott für die Kirche und sein Volk
betraut zu sein; aber es wird uns der damit so schnell sich verbin-
dende Unfehlbarkeitsdünkel gemildert durch das echt Menschliche in
seinem Lieben und seinem Hassen. Je einseitiger sich C.s Denken
und Handeln um dies Bewußtsein dreht, um so peinlicher empfinden
wir hier den Anspruch eines Menschen, in allen Lagen des Kampfes-
lebens sein Urtheil schlechthin mit dem göttlichen zu identificieren
und seine Feinde stets als Gottes Feinde beurtbeilen zu dürfen.
Und um so beklemmender wirken nun die Züge seines Lebens, in
denen die Taktik menschlicher Berechnung sich in allerlei Mitteln
regt, die den Gegner stürzen und seinen Sieg herbeiführen sollen.
Es zeugt von K.s Behandlung C.s in großem Stile, daß er diese un-
schönen Dinge meist in die Anmerkungen verwiesen hat. Die Män-
ner der Opposition hat er nicht in schönfärbender Manier idealisiert,
aber er hat sie, frei von der grellen Beleuchtung, in der C. und
seine Panegyriker sie uns vorgeführt haben, möglichst getreu nach
spondenz mit dem verehrten, inzwischen verstorbenen Baseler Kirchenhistoriker
haben mich belehrt, daß er hier in der Jahresangabe sich versehen hat, und daß
man von einer formellen Abänderung der Verfassung nicht füglich an dieser
Stelle reden kann.
21*
300 a Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
den Akten uns abgeschildert. Im Ganzen wird auch diesem Bande
das Lob einer unbestechlichen, gewissenhaften Unparteilichkeit ge-
zollt werden müssen.
Ehe ich mich zu Einzelheiten wende, ein Wort über die Thätig-
keit des Herausgebers Goetz. Pietätvoll hat er Text und Anmer-
kungen K.s unverändert uns überliefert, und sich darauf beschränkt,
bei den Citaten und Briefen, Rathsprotokollen u. s.w., so weit sie
seitdem im Corp. Ref. Veröffentlichung gefunden haben, diesen Fund-
ort zu notieren. Außerdem giebt er in eckigen Klammern hie und
da Hinweisungen auf weitere Quellen (vgl. z.B. S. 14), desgl. notiert
er, wo etwa Roget, Cornelius, Choisy, Buisson u. A. inzwischen die-
selbe Materie eingehender behandelt haben und deutet außerdem
kurz an, wo K.s Darstellung einmal thatsächlich der Correktur be-
- darf, oder wo eine andere Beurtheilung der Thatsachen von neueren
Forschern vertreten wird. Durch dieses Verfahren ist erreicht, daß
K.s Leistung unversehrt in ihrer Eigenart uns vorgelegt und daß
doch zugleich diese fast 30 Jahre alte Arbeit überall in enge Füh-
lung mit der Forschung der letzten Jahre gebracht worden ist. Die
Notierung der Rathsprotokolle nach Corp. Ref. XXI (soweit sie dort
abgedruckt sind) ist freilich von Goetz nicht ganz consequent durch-
geführt: ich vermisse z. B. S. 23 Anm. 3 XXI, 370. 371, S. 24
Anm. 1, S. 43 Anm. 3 S. 349 und 361. War es aber wohl auch
Pietät, daß er S. 91 Barnabas statt Barabbas im Texte K.s stehen
ließ? und daß Trolliet bald so, bald Troillet geschrieben wurde?
nur in letzterer Form hat dieser schließlich Aufnahme im Register
gefunden. Auch möchte ich fragen, ob K. wirklich Worte wie »tot-
wiirdig< (S. 139) und »Gotteslosigkeit« (S. 277) geschrieben hat.
Im Einzelnen sei noch bemerkt: S. 26 gehört die Anführung
des Rathsprotokolls vom 29. März doch wohl aus Anm. 2 in Anm. 3
— §. 74 lies Herbst 1546 st. 1547. — Zu S. 75 Anm. 1 ist zu er-
innern, daß Calvin den Gegner Perrin in seinen Briefen nicht nur
Comicus Caesar, sondern auch umgekehrt Caesar tragicus (CR XI
532) nennt. — S. 94 gehört der wörtlich mitgetheilte Rathsbeschluß
in Anm. 1 vielmehr zu Anm.2. — Zu S.95 Anm. 2 erinnere ich an
das ganz ähnliche Verhalten Calvins bei den Versöhnungsbemühungen
im September 1546, wo er auch in demselben Briefe, in dem er sein
versöhnliches Verhalten gegenüber Perrin so stark betont, ihn mit
dem Spitznamen »Caesar< benennt. Aber man wird auch fragen
dürfen, ob Calvin wirklich diese Bezeichnung, zumal ohne das ver-
letzende >comicus<, noch, wie K. voraussetzt, als einen »Spott<namen
empfand. War das aber nicht der Fall, dann fällt auch K.s Tadel
dahin. Calvin hat sich aber so daran gewöhnt, in der vertrauten
Kampschulte, Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf. IL 801
Correspondenz Genfer Persönlichkeiten mit allerlei Decknamen zu
nennen, daß dabei die Absicht spöttischer Herabsetzung nicht ange-
nommen zu werden braucht. — Zu S. 154 Anm. 4 sei daran er-
innert, daß ebenso wie Calvin nach dem Zusammenbruch seiner
Freundschaft mit de Falais die Dedikation seines Commentars zum
1. Korintherbrief zurückzog, so auch Gallarsius die 1546 erfolgte Wid-
mung seiner lateinischen Uebersetzung von Calvins Schrift gegen
die Libertins an de Falais hernach in eine solche an Olevianus um-
wandelte (CR VII p. XXVIII). — S. 200 Anm. 4 scheinen mir Cal-
vins für uns so anstößigen Worte über Servets letztes Gebet doch
nicht richtig gedeutet zu sein, als ob er sich damit über ihn »lustig
mache< ; sie sind m. E. sehr ernst gemeint und beanspruchen, noch
den sterbenden Gegner auf eclatantem Selbstwiderspruch ertappt zu
haben. Das Widerwärtige liegt hier auf anderm Gebiete, als wo K.
es gesucht hat. — Zu 8. 382: das Urteil Bezas, daß Calvins that-
sächlicher Vorrang lediglich auf seiner größeren Arbeitsleistung be-
ruht habe, steht nicht erst in der in Anm. 2 angezogenen Schrift,
sondern schon ganz klar in seiner Préface von 1564, CR XXI, 35.
Von Druckversehen sind mir noch aufgestoßen: S. 105 Anm. 2
onmes st. omnes; 146 Anm. 1 estes st. festes; 181 Anm. 2 1533 st.
1553; 226 Anm. 3 ist doch wohl vobis st. orbis zu lesen.
Breslau. G. Kawerau.
Burkhardt, H., Functionentheoretische Vorlesungen. Zwei Bände
mit zahlreichen Figuren im Text. Leipzig, Veit und Comp. gr. 8°.
Erster Theil: Einführung in die Theorie der analytischen Functionen einer
complexen Veränderlichen. 1897. XII und 213 S. Preis Mk. 6.
Zweiter Theil: Elliptische Functionen. 1899. XVI und 373 8. Preis Mk. 10.
Die Einführung in die Functionentheorie und die elliptischen
Functionen Burkhardts stellen ein einheitliches Werk dar. Jene Ein-
führung bereitet die Theorie der elliptischen Functionen vor, bildet
jedoch zugleich ein vollständiges Lehrbuch der allgemeinen Functionen-
theorie. Das ganze Werk ist sehr klar geschrieben, anschaulich, in
allem Wesentlichen strenge, dabei knapp und für den Gebrauch der
Studierenden besonders geeignet. Trotz der gedrängten Form ist
das Werk ein recht vielseitiges, wie denn der Verfasser sich vorge-
setzt hat, »nicht sowohl die herkömmlicher Weise als elementar be-
trachteten Theile der Theorie erschöpfend zu behandeln, als vielmehr
802 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
den Studierenden den Zugang zu allen Theilen des Gebäudes zu er-
öffnen«.
In der Einführung in die Functionentheorie wird
zuerst das Rechnen mit complexen Zahlen begründet, indem diese
als Zahlenpaare aufgefaßt werden, ohne daß dabei die Frage nach
etwaigen aus mehr als zwei Haupteinheiten gebildeten Größen er-
örtert würde, welche Erörterung auch im Grunde für den Zweck
nicht nöthig ist. Im zweiten Abschnitt (S. 17) behandelt der
Verfasser die lineare ungebrochene und gebrochene Function, aus-
gehend von ihren einfachsten Formen s-+a, az, =, wobei immer
zugleich die durch die Function vermittelte conforme Abbildung und
bei dem allgemeinen Fall die Beziehung zum Doppelverhältnis er-
örtert wird.
Nach einer Digression (S. 47) über den Zusammenhang zwischen
den linearen Functionen einer complexen Variabeln und gewissen
Collineationen und insbesondere Bewegungen des Raums, wird die
Potenz #* als Function von z untersucht. Das Argument ¢ wird hier
in die trigonometrische Normalform r(cosg+:ising) gesetzt. Bei
dieser Untersuchung macht der Verfasser auf einige der Theorie der
automorphen Functionen angehörende Begriffe, wie »Fundamental-
bereich<, »Gruppe« u.s.f. aufmerksam. Es schließt sich nun die
Herleitung der allgemeinsten Eigenschaften rationaler Functionen an
(Pole, Nullstellen und deren Ordnungszahlen, Verhalten im Unend-
lichen u.s.w.), wobei auch gleich ein Beispiel einer automorphen
rationalen Function gegeben wird.
Der jetzt folgende dritte Abschnitt enthält Definitionen
und Sätze aus der Theorie reeller Veränderlicher und ihrer Func-
tionen. Es handelt sich dabei hauptsächlich um den Begriff der
Konvergenz der Reihen und der Integrale, um die Stetigkeit einer
Function von einer und einer Function von zwei reellen Veränder-
lichen, um die gleichmäßige Annäherung einer Function von zwei
Veränderlichen an eine Grenzfunction von einer Veränderlichen, um
die Definitionen von »Linie«, »Bereich«, »Inneres<, »Aeußeres«,
»Grenze«e u.s.f., ferner um diejenigen Lehrsätze, welche theils als
Greensche Sätze bezeichnet werden, theils in unmittelbarer Beziehung
zu den Greenschen Sätzen stehen und sämmtlich zwischen Integralen,
die sich über einen flächenartigen Bereich erstrecken, und Rand-
integralen einen Zusammenhang darstellen. Der Verfasser hat sich
entschlossen, in diesem Abschnitt Lehrsätze ohne Beweise zu geben.
Im Hinblick auf den Zweck des Buchs, der Einführung der Studie-
renden zu dienen, ist dies vielleicht zu bedauern, wobei freilich zu-
Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 808
gegeben werden muß, daß die völlig strenge Durchführung der Be-
weise nur durch ungemein umständliche Betrachtungen möglich ge-
wesen wäre.
Im vierten Abschnitt setzt nun die allgemeine Cauchy-
Riemannsche Definition einer in einem Gebiet regulären Function
complexen Arguments mit den zugehörigen Entwicklungen ein, die
in Folge der vorausgeschickten Sätze über Functionen von reellen
Veränderlichen sehr kurz ausfallen. Da gerade bei diesen wichtig-
sten Entwicklungen die Anordnung fast vollständig durch die Sache
gegeben ist, will ich hier nur einige, vielleicht mehr auf Neben-
sächliches zielende, Bemerkungen machen, zunächst ein paar solche,
die auf kleine Ungenauigkeiten Bezug haben.
Auf S. 91 findet sich der Satz III: »Jede den Stetigkeitsbe-
dingungen und der Laplaceschen Differentialgleichung genügende
Function X von x und y kann als reeller Bestandtheil einer regu-
laren Function Z = X+iY von ¢ = x+ty angesehen werden«.
Es bestanden aber die im Vorhergehenden den Functionen aufer-
legten »Stetigkeitsbedingungen« darin, daß jede vorkommende Func-
tion in dem ganzen in Betracht kommenden Bereich selbst stetig
sein und abtheilungsweise stetige Ableitungen erster Ordnung be-
sitzen sollte. Bei dem angeführten Satz III muß man jedoch voraus-
setzen, daß auch die zweiten partiellen Ableitungen der Function X
existieren und, wenigstens abteilungsweise, stetig sind. Ebenso hätte
auf eben dieser Seite bei V neben der Existenz von
lim f(s+ {)—f(s)
[Ss] =0
auch verlangt werden müssen, daß dieser Grenzwerth als Function
von z in Abtheilungen stetig sein soll.
Auf S. 92 ist der Satz VIII ausgesprochen: >Ist w = f(s) eine
in (einem Bereich) S reguläre Function von z, die in diesem Bereich
keinen Werth mehr als einmal annimmt und deren Differential-
quotient in ihm überall von Null verschieden ist, so erfüllen die
Werthe, die w in S annimmt, einen Bereich U der w-Ebene, in wel-
chem umgekehrt z eine reguläre Function von w ist«. Dieser Satz
wird durch den Hinweis darauf begründet, daß der Grenzwerth dz/dw
zu dem Grenzwerth dw/dz reciprok ist. Diese Art der Begründung
ist nicht ausreichend. Bedeutet nämlich w, den Werth von w, der
einem bestimmten, innerhalb S gelegenen Werth z, von z entspricht,
so muß erst der Beweis geliefert werden, daß zu jedem nahe bei
w, gelegenen Werth w’ ein solches 2 existiert, für das f(#) = w
ist; denn sonst könnte von dem Grenzwerth de/dw, in dem Sinne,
804 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
wie der Differentialquotient einer Function einer complexen Verän-
derlichen gefaßt worden ist, gar nicht gesprochen werden. Der dem-
nach noch zu liefernde Beweis ergiebt sich aber erst aus der von
Burkhardt auf S. 130 gegebenen Entwicklung.
Auf S. 109 ist der Satz III: »Wenn eine in einem bestimmten
Bereiche reguläre Function von z längs eines Linienstücks dieses
Bereichs constant ist, ist sie in dem ganzen Bereich constant< ledig-
lich als specieller Fall der Thatsache hingestellt, daß zwei Potenz-
reihen mit demselben Mittelpunkt dieselben Coefficienten haben müs-
sen, wenn sie auf einem kleinen, den Mittelpunkt enthaltenden Linien-
stück in ihrer Summe übereinstimmen. Genau genommen verlangt
der Satz III, der natürlich voraussetzt, daß der Bereich zusammen-
hängt, zu seinem Beweis die Annahme einer Reihe von Mittelpunkten,
für welche nach dem Früheren Potenzreihen existieren, welche die
Function darstellen. Der erste Mittelpunkt muß auf jenem Linien-
element liegen, der um diesen Mittelpunkt beschriebene, größte, ganz
in den Bereich fallende Kreis muß den zweiten Mittelpunkt, ein um
diesen ebenso beschriebener Kreis den dritten Mittelpunkt enthalten
u.s.f. Der letzte Kreis muß den Punkt enthalten, für den die
Uebereinstimmung der Function mit jener auf dem Linienstück vor-
handenen Constanten nachgewiesen werden soll. Eine solche Reihe
von Mittelpunkten kann in dem zusammenhängenden Bereich immer
gefunden werden.
Die einfachsten Lehrsätze über Potenzreihen werden in diesen
Abschnitt hineingezogen (S. 104), z.B. der Satz, daß die Reihe,
welche aus einer Potenzreihe durch gliedweise Ableitung entsteht,
denselben Convergenzbereich wie die ursprüngliche Potenzreihe be-
sitzt; dieser Satz dient dann zu dem Beweis dafür, daß eine reguläre
Function, d.h. eine solche, die als Function einer complexen Ver-
änderlichen stetig ist und einen abtheilungsweise stetigen Differen-
tialquotienten erster Ordnung hat, Differentialquotienten von allen
Ordnungen besitzen muß. Die Partialbruchzerlegung der rationalen
Functionen schließt sich ungesucht dem Lionvilleschen Satz an, nach
dem eine in der ganzen Ebene, mit Einschluß des unendlich fernen
Punkts, reguläre Function eine Constante sein muß. Für den Fun-
damentalsatz der Algebra ergeben sich zwei Beweise. Der zweite
beruht auf der Untersuchung der Residuen des Integrals
'
8
0 [5
Hier schließt sich (S. 130) ein wichtiger Beweis für die Um-
kehrbarkeit der Potenzreihe an. Der Verfasser nimmt nämlich jetzt
Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 305
f(e) als in der Umgebung der Stelle s = 0 reguläre Function und
zugleich so an, daß f(0) = 0, und f’(0) von Null verschieden ist.
Es wird nun eine Fläche $ gewählt, in der f(¢) überall regulär ist,
die ferner die Stelle z = 0 in ihrem Innern enthält, für die aber
sonst /(e) weder im Innern noch auf dem Rand verschwindet. Neben
dem Integral (1) wird noch
d(f(e)—w)
(2) few
gebildet, wobei w eine Constante sein soll. Beide Integrale sind
über den Rand I der Fläche S im positiven Sinn zu erstrecken und
n bedeutet die Anzahl der in der Fläche S gelegenen Wurzeln der
Gleichung f(s)—w = 0. Es wird nun zuerst gezeigt, daß das Inte-
gral (2), wenn w hinreichend klein gewählt ist, gleich dem Integral
(1) sein muß. Das Integral (1) ist aber unter den gemachten An-
nahmen gleich 2x1, und es ergiebt sich daher, daß » = 1 ist, d.h.,
daß die Function f(¢)—w in der Fläche S eine und nur eine Ver-
schwindungsstelle besitzt.
Der Beweis für die Gleichheit der Integrale (2) und (1) wird
bei Burkhardt durch Einführung einer neuen Variabeln
= 2nm
geführt. Er kann auch dadurch geführt werden, daß man auf die
für den ganzen Rand I gleichmäßige Annäherung der Function
d
qe fa-w) _ f'(e)
fe) -w fle)—w
an die Function
f (2)
f (2)
hinweist, die eintritt, wenn der Modul [w| von w unendlich klein
wird. Daraus folgt dann, daß die beiden Integrale für ein unend-
lich kleines w unendlich wenig von einander verschieden sind, und
da jedes der Integrale gleich 2%? mal einer ganzen Zahl ist, so er-
giebt sich schließlich, daß die Integrale für ein hinreichend kleines
w einander gleich sein müssen.
Nachdem nun nachgewiesen ist, daß f(2)—w in der Fläche S
eine einzige Verschwindungsstelle, d.h. die Gleichung
(3) f(s) = w
806 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
in Seine einzige Wurzel hat, kann man statt S einen beliebig kleinen
Theil S’ von S nehmen, der nur den Nullpunkt, d.h. die Stelle e = 0,
enthalten muß, und es gilt, wenn w hinreichend klein genommen
wird, die durchgeführte Betrachtung außer für S auch gleichzeitig
für S’. Es rückt also die in der Fläche S einzige Wurzel s der
Gleichung (3), wenn w hinreichend klein gemacht wird, in eine be-
liebige kleine Umgebung des Nullpunkts. Mit Hilfe der gewonnenen
Ergebnisse, in welchen anstatt des Nullpunkts auch eine andere
Stelle der s-Ebene gesetzt werden kann, läßt sich nun das von mir
auf S. 303 unten besprochene Theorem vollends beweisen, das sich
auf die Umkehrung einer regulären Function bezieht.
Es handelt sich noch um die Darstellung der durch die Glei-
chung (3) definierten Abhängigkeit der Größe 2 von w. Der Ver-
fasser beruft sich dabei auf das eben erwähnte Umkehrungstheorem,
wodurch sich dann schließlich die Existenz einer Potenzentwicklung
ergiebt. Directer kann man so verfahren. Das über den Rand T
von S erstreckte Integral (Burkh. S. 131)
„Fa
"Fe
stellt das 2wifache von der Summe der Werthe z dar, für welche die
in S regulär gedachte Function F'(s) verschwindet, wobei jeder Werth
der Multiplicität entsprechend gerechnet werden muß. Setzt man
nun F(z) = f(e)—w und macht man über f(z) die vorigen An-
nahmen, so stellt
f (2)
(4) = #7 (3) — w de
unmittelbar die eine, einzig vorhandene Wurzel der Gleichung (3)
dar. Der Ausdruck (4) kann unmittelbar nach Potenzen von w ent-
wickelt werden.
Ich will nicht unterlassen, zu bemerken, was Burkhardt nicht
erwähnt hat, daß die hier angestellten Betrachtungen sich auf zwei
Arten verallgemeinern lassen. Einmal kann man zulassen, daß f(2)
bei ¢ = 0 nicht von erster, sondern von kter Ordnung gleich Null
wird. In diesem Fall ergiebt sich, daß die Gleichung (3) in einem
hinreichend kleinen, um den Nullpunkt abgegrenzten Bereich der z-
Ebene für jedes kleine, von Null verschiedene w genau % verschiedene
Wurzeln hat, die alle in den Nullpunkt zusammen rücken, wenn w
unendlich klein wird’). Bildet man nun die Ausdrücke
dz
1) Aus diesem Satz erst kann die vom Verfasser auf 5.92 Anm. angeführte
Thatsache hergeleitet werden, daß eine in einem Gebiet reguläre Function, die in
Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 807
1 f'(e)
2xi a f(s) —w ds
fir e = 1,2,3,...%, so erhält man die & ersten Potenzsummen und
damit auch die elementaren symmetrischen Functionen jener kWur-
zeln, und es läßt sich nun eine in s algebraische Gleichung
kten Grades bilden, welche die Wurzeln von (3) zu Wurzeln hat,
und deren Coefficienten gewöhnliche Potenzreihen von w sind.
Eine weitere Verallgemeinerung besteht darin, daß man statt der
Gleichung (3) eine Gleichung
(5) 9 (2,0, %,,...,%,,) = 0
nimmt, wo 9 eine für einen 2vfach ausgedehnten Bereich conver-
gierende Potenzreihe von v complexen Variabeln ist, und 9(0,0,0,... 0)
= 0 ist, ohne daß 9(2,0,0,...0) in 2 identisch gleich Null wäre.
Ist dabei das niedrigste in @(2,0,0,...0) wirklich vorkommende
Glied von der Ordnung k, so zeigen sich wieder k kleine Wurzeln
der Gleichung (5) für jedes kleine Zahlensystem w,,w,,...w,_ , nur
daß diese Wurzeln jetzt nicht nothwendig verschieden von einander
sind. Die übrigen Resultate lassen sich übertragen.
Alle diese Ergebnisse sind zuerst von Weierstraß!) dadurch be-
wiesen worden, daß er den Quotienten
Ö
359 Wr Wyy oes; W,_1)
g (2, W,, Wy, oe w,)
nach steigenden und fallenden Potenzen von ¢ entwickelt hat. Die
Darstellung, welche auf die Integrale gegründet ist, ist m. E. über-
sichtlicher, ohne daß dabei der Strenge wesentlich Abbruch geschähe.
An die Laurentsche Reihe (S. 131) knüpft der Verfasser in ele-
ganter Weise den Beweis eines die trigonometrische Entwicklung
einer Function betreffenden Satzes (S. 137): »Eine periodische Func-
tion der Periode 2” kann in eine gleichmäßig convergente und glied-
weise beliebig oft differentiierbare Reihe der Form:
co oO .
a, +20, cos nt +25, sin nt
entwickelt werden, wenn sie in einem Streifen regular ist, der zu
beiden Seiten der Axe der reellen Zahlen eine endliche Breite hat«.
diesem keinen Werth mehr als einmal annimmt, innerhalb des Gebiets überall
einen von Null verschiedenen Differentialquotienten besitzt.
1) Mathematische Werke, 2. Bd. 1895, 8. 185 ff.
808 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
Dieser Satz wird vom Verf. später in den elliptischen Functionen zur
Aufstellung der Thetareihe benutzt (2. Bd. S. 103).
Der Satz von Mittag-Leffler, der die Herstellung von Functionen
ermöglicht, die in der ganzen Ebene eindeutig, im Endlichen bis auf
Pole regulär sind, dabei vorgegebene Pole haben, und für die an
den Polen die gebrochenen Theile der Entwickelungen gegeben sind,
wird in gewissen Fällen, die für das Spätere ausreichen, einfach er-
ledigt (S. 140).
Erwähnt werden möge noch aus diesem Abschnitt ein sehr ein-
facher Beweis der Weierstraßschen Sätze, daß eine gleichmäßig con-
vergente Reihe regulärer Functionen eine reguläre Function zur
Summe hat, und daß eine solche Reihe beliebig oft gliedweise diffe-
rentiiert werden darf (S. 139, 140).
Der fünfte Abschnitt bezieht sich auf mehrwerthige ana-
lytische Functionen. Der Verfasser weicht hier von den gebräuch-
lichen Darstellungen vor Allem darin ab, daß er zuerst (S. 151)
den »arcus einer veränderlichen complexen Größe«, d.h. die durch
die Gleichungen
s=ııy 9= arctg
gesetzte Beziehung zwischen der reellen Größe m und der com-
plexen Größe 2 genau erörtert, wobei für den arcus auch eine Rie-
mannsche Fläche construiert wird. Es schließt sich dann der Loga-
rithmus an, der sammt der durch ihn vermittelten conformen Abbil-
s—@
2—b’
V@-a)@-b), We, VYi—z2, Yü-s)(1+s) und die ihre Viel-
deutigkeit darstellenden Riemannschen Flächen. Die allgemeine end-
lichblättrige Riemannsche Fläche wird nicht behandelt. Am Schluß
des Abschnitts werden die der Darstellung ganzer transcendenter
Functionen dienenden Weierstraßschen Productentwicklungen aus dem
Satz von Mittag-Lefller abgeleitet. Die Ableitung gestaltet sich ein-
fach in Folge der für die gleichmäßig convergenten Reihen im vori-
gen Abschnitte gegebenen Sätze. Der Grund, weshalb die Weier-
straßschen Producte, die sich an und für sich besser dem vorigen
Abschnitt anfügen würden, hier erst auftreten, liegt jedenfalls darin,
daß bei ihrer Herleitung der Logarithmus benutzt wird.
Der sechste Abschnitt (S. 189) bringt das Riemann-
Weierstraßsche Princip der analytischen Fortsetzung, durch das erst
der volle Begriff der Function einer complexen Veränderlichen ge-
wonnen wird, indem erst durch dieses Princip klargestellt wird, was
dung erörtert wird; dann erst erscheinen die Functionen \s,
Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 309
man unter einem einheitlichen Functionengebilde zu verstehen hat.
Verbunden sind damit Erörterungen über singuläre Punkte und “über
das »Spiegelungsprincip« !), durch das der wirkliche Gang der Fort-
setzung einer Function in manchen Fällen erkannt werden kann.
Die Theorie der elliptischen Functionen beginnt der
Verfasser mit einer Erörterung der zweiblättrigen Riemannschen
Fläche mit vier Verzweigungspunkten. Der Zusammenhang dieser
Fläche wird mit Hilfe ihrer Verwandlung in eine Torus (Ring)-fläche
klar gemacht. Nachdem die bis auf Pole regulären Functionen ?)
der Fläche und die Integrale dieser Functionen in ganz allgemeinen
Umrissen behandelt sind, folgt eine genaue Erörterung der durch
das elliptische Integral erster Gattung im Fall reeller Verzweigungs-
punkte vermittelten Abbildung. Diese Abbildung läßt nach dem
Spiegelungsprincip erkennen, wie die Umkehrungsfunction des Inte-
grals sich analytisch fortsetzt, und führt so zu einem Beweis dafür,
daß im Fall reeller Verzweigungspunkte diese Umkehrungsfunction
eindeutig, im Endlichen bis auf Pole regulär und doppelt periodisch
ist. Der hier zur Behandlung des Umkehrproblems eingeschlagene
Weg ist im Wesentlichen derselbe, der von Riemann benutzt wurde,
wie aus den inzwischen veröffentlichten Vorlesungen hervorgeht, die
Riemann über elliptische Functionen gehalten hat*). Da der Be-
weis für dieselben Thatsachen im Fall nichtreeller Verzweigungs-
punkte nicht so einfach ist, wird diese Entwicklung hier abge-
brochen.
Der zweite Abschnitt dieses Bandes (S. 32) setzt vollstän-
dig neu ein mit dem allgemeinen Begriff der in der ganzen Ebene
eindeutigen, im Endlichen bis auf Pole regulären, doppelperiodischen
Functionen, d.h. der elliptischen Functionen, deren Existenz durch
den im ersten Abschnitt erledigten speciellen Fall des Umkehr-
problems bereits bewiesen ist. Nachdem die allgemeinsten Eigen-
schaften der elliptischen Functionen mit Hilfe des Liouvilleschen und
des Residuensatzes ermittelt sind, führt der Satz von Mittag-Lefiler
unmittelbar (S. 43) zur Bildung der Weierstraßschen Function pw,
welche durch die Formel
1 | 1
“= — _— + —
(6) pu = at Bay t
1) H. A. Schwarz, Gesammelte Mathematische Abhandlungen, 2. Bd. 1890,
8. 66.
2) Dies ist so gemeint, daß eine solche Function auch in dem sogenannten
unendlich fernen Punkt entweder regulär ist oder einen Pol hat.
8) Elliptische Functionen. Vorlesungen von Bernhard Riemann Mit Zu-
sätzen herausgegeben von H. Stahl. 1899. 8. 28 ff.
310 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
definiert ist, in der w alle Perioden außer Null durchläuft. Die
Differéntialgleichung für pu wird dadurch gefunden, daß pu, p’u, (pu)?
und (p’u)? für kleine « entwickelt werden, wobei in der Entwicklung
des Ausdrucks
Een) + 60 (Se) vw)
kein gebrochener Theil auftritt, worauf der Satz von Liouville ange-
wendet werden kann. Die Weierstraßschen Functionen $&4 und ou
werden dann, die erste durch Integration von pu, die zweite durch
logarithmische Integration von £u eingeführt, und es ergeben sich
durch bekannte einfache functionentheoretische Betrachtungen die
verschiedenen Grundformeln der Weierstraßschen Functionen, die
Formeln für die Vermehrung des Arguments von fu und ow um
eine Periode von pu, die Legendresche Relation, die Additions-
theoreme für « und pu, die Darstellung der elliptischen Functionen
durch Product- und Partialbruchformeln, das Additionstheorem der
Sigmafunction und die Grundformel für die Multiplication. Die in
der Functionentheorie vom Verfasser vorausgeschickte Betrachtung
über die Weierstraßschen Producte erlaubt für die Function ou so-
fort das doppelt unendliche Product aufzustellen, das auch gleich in
ein einfach unendliches Product verwandelt wird. Am Schluß des
dritten Abschnitts wird der Begriff der elliptischen Functionen
erweitert, indem die elliptischen Functionen zweiter Art eingeführt
werden (S. 72).
Der vierte Abschnitt beginnt mit Sigmafunctionen mit In-
dex. Mir scheint, daß die Einführung der Functionen o,u, o,u, 0,4
fast in allen Darstellungen wenig motiviert erscheint, und dies gilt
auch von der Darstellung des Verfassers, wenn auch gelegentlich der
elliptischen Functionen zweiter Art bereits die Function o, , (u) ein-
geführt worden ist, welche dazu dient, die Functionen o,4, 0,4, 0,4
vorzubereiten. Man kommt dagegen sehr naturgemäß zu diesen
Functionen, wenn man — etwa durch die vom Verfasser im ersten
Abschnitt gegebene Betrachtung — die Theorie der Jacobischen
Functionen snu, cnu, dnu soweit entwickelt, daß nachher die Weier-
straßsche Productformel auf diese Functionen angewendet werden
kann. Es liegt dabei nahe, die Functionen sn’u, en!u, dn*u zu be-
trachten, weil diese drei dieselben Perioden haben, und die Productfor-
meln für diese Quadrate stellen sich von selbst als Quotienten ana-
loger Ausdrücke dar, so daß man auf diese Weise zur Einführung
der Functionen o,« und zu den Formeln
Burkbardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 811
ou u ou
sn’u = ——, cru = +, dru =
ou ou ou
geführt wird. Dabei sind für die Weierstraßschen Functionen die-
jenigen Perioden 20], 20, zu Grund zu legen, die Perioden der
Functionen sn’u, cn*u, dn?u sind und die als Functionen eines
Parameters, des Moduls %, speziell genannt werden müssen. Durch
die einfache Transformation
o, = Ado,
o, = do;
geht man dann zu den Sigmafunctionen über, welche aus irgend
zwei Perioden 2o,, 2m, gebildet sind, und erhält die (bei Burkhardt
auf S. 88 befindlichen) allgemeinen Formeln
—— — Au —— 6u
sn(uVe,—e,) = Ve,—e,—, cn(uVe,—e,) = —
( 1 3) Ve, 7 o,u ( Ve, ) 6,4
——— 6.u
dn (u Ve, — e,) = Su”
in denen e,, e, und e, die bekannten Weierstraßschen Constanten
sind. Die Functionen o,, 6,, 6, werden nun vom Verf. ebenfalls in
einfach unendliche Producte entwickelt, aus denen dann auch Aus-
drücke für die Werthe entwickelt werden, die den Sigmafunctionen für
die Halbperioden zukommen.
Der fünfte Abschnitt (S. 94) beginnt mit den elliptischen
Functionen der dritten Art. Diese führen zur Definition der Jakobi-
schen Functionen, und die reducierten Jakobischen Functionen zu
den Thetafunctionen, welche auf diese Weise gut motiviert erscheinen.
Es wird dann mit Hilfe des in der Functionentheorie abgeleiteten Satzes
über einfach periodische Functionen (S. 307 unten dieser Besprechung)
die fundamentale Thetafunction unmittelbar aus ihrem Begriff ent-
wickelt. Die partielle Differentialgleichung der Thetafunction ergiebt
sich aus der Entwicklung von selbst. Es schließt sich der Hermite-
sche Satz an, der besagt, daß n von einander linear unabhängige
Thetafunctionen nter Ordnung und nicht mehr existieren. Die Ueber-
gangsformeln zwischen Sigma- und Thetafunctionen werden auf den
Satz gegründet (S. 112), daß zwei gleichändrige Jakobische Func-
tionen erster Ordnung bis auf einen von « unabhängigen Factor
identisch sein müssen. Die in diese Uebergangsformeln eingehenden
»Thetanullwerthe« 9,(0), 9,(0), #,(0) und 9;(0) werden mittelst der
Gleichung
$12 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
MD) 143+) = I (1— A) (1 Ee) (1 +)
und mit Hilfe der früher schon für die Halbperioden gefundenen
Werthe der Sigmafunctionen bestimmt. Die Gleichung (7) wird da-
durch abgeleitet, daß zuerst das endliche Product entwickelt und
dann zur Grenze übergegangen wird.
Es wird schließlich (S. 116) noch gezeigt, daß die Thetarelatio-
nen, die Additionstheoreme der Thetafunctionen und die Differential-
gleichungen der Thetaquotienten, die sich unmittelbar aus der Theorie
der Sigmafunctionen ergeben, auch aus dem Hermiteschen Satz ab-
geleitet werden können. Bei Gelegenheit dieser Differentialgleichun-
gen ergiebt sich auch noch mit Hilfe der partiellen Differental-
gleichung der Thetafunction die Relation
9, (0) = 2, (0) a, (0) 6, (0) ’
die im Grund in der vollständigen Bestimmung der Thetanullwerthe
schon enthalten war.
Im sechsten Abschnitt wird das Umkehrproblem behan-
delt, das der Verfasser mit Recht zum Mittelpunkt der Theorie
macht. Das hier benutzte Verfahren läßt sich kurz dahin charakte-
risieren, daß einerseits die Riemannsche Fläche, auf der Yf,(e) =
\/a, (2 — 0) (# — a,) (e—«,) (s—a,) eindeutig ausgebreitet werden kann,
sammt ihren Zerschneidungen benutzt wird, andererseits die ellipti-
schen Functionen erster und dritter Art mit ihren gegenseitigen Be-
ziehungen als bekannt angenommen werden. Es ist, abgesehen von
einer gewissen Verallgemeinerung und abgesehen davon, daß die
Weierstraßsche Form der elliptischen Functionen zu Grunde gelegt
ist, genau der Weg, den C. Neumann {in seinen > Vorlesungen über
Riemanns Theorie der Abelschen Integrale« gegangen ist ‘).
Zunächst wird das Integral erster Gattung (S. 127)
“= de
Vi. (2)
auf der Riemannschen Fläche untersucht. Daß seine Periodicitäts-
moduln ein nichtreelles Verhältnis haben, ergiebt sich aus dem Satz,
daß für eine nicht constante Function v+tw einer complexen Va-
riabeln das Integral
(8)
Sodw >0
1) 1. Aufl. 1865, S. 844 ff.
Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 818
ist, wenn es im richtigen Sinn über die Begrenzung eines Bereichs,
in dem die Function regulär ist, erstreckt wird; dabei dient als Be-
reich die zerschnittene Riemannsche Fläche. Wenn nun elliptische
Functionen gebildet werden, deren Perioden mit den Periodicitäts-
moduln des Integrals übereinstimmen, so ergiebt sich sofort, daß
jede elliptische Function erster Art, wie «, als Function von ¢ auf der
Riemannschen Fläche — mit Einschluß des unendlich fernen Punktes
— abgesehen von Polen regulär verläuft.
So ergiebt sich also z.B. pu—e, = g(z) als eine auf der Rie-
mannschen Fläche abgesehen von Polen reguläre Function. Anderer-
seits ist
u
ou
mu-e =
Wenn man jetzt auf die Integrale
f de, u dou
ou’ ou '
in denen « als Function von ¢ anzusehen ist, den Residuensatz an-
wendet, indem man über den Rand der zerschnittenen Riemannschen
Fläche integriert, so gelingt es, die Anzahl der Nullstellen der Functio-
nen o,% und ou von z und damit die Anzahl der Nullstellen und Pole
zu bestimmen, die pu—e, als Function von z auf der zerschnittenen
Riemannschen Fläche besitzt. Diese Anzahl ist gleich 2, und sie er-
giebt sich gerade so für jede Jacobische Function nter Ordnung
gleich ». Im Fall noch für die untere Grenze des Integrals (8) ein
Verzweigungspunkt, z.B. «,, gewählt wird, kann man einen auf der
Riemannschen Fläche doppelt zu zählenden Pol und eine doppelt zu
zählende Nullstelle von 9 (2) unmittelbar angeben. Da ferner aus
der Anzahl sich zugleich ergiebt, daß nun alle Pole und Nullpunkte
bekannt sind, so läßt sich die Function (2), die eine rationale
Function von ¢ wird, bilden, und zwar ist (S. 138)
g—a,
a
Man erhält jetzt sofort ¢ als rationale Function von pu, und die
weiteren Betrachtungen ergeben \f,(s) als rationale Function von
pu und piu.
Diese Entwicklung kann noch in einem Punkt ergänzungsbedürftig
gefunden werden. Es ist gezeigt, daß in (8) ein irgendwie gewähl-
ter Werth von # bei der Annahme irgend eines nach ihm hinführen-
den Integrationswegs einen solchen Werth von « liefert, der, in die
eindeutige Function pu—e, eingesetzt, die Größe
Gött. gel. Ans. 1901. Nr. 4. 22
a
(9) 9 (2) = pu—e, = fa, (a, — Gy) (a, — a)
814 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
-, &—-@
(10) 19, (a, u or,) (a, ~ 0) Z— rn
1
produciert, die in jenem ursprünglich gewählten 2 sich darstellt. Da
(10) für verschiedene z verschiedene Werthe annimmt, so können in
(8) verschiedene z nicht zu demselben « führen, das heißt, es ist 2
in seiner Abhängigkeit von « in der That eindeutig. Es geht aber
aus dem Bewiesenen nicht unmittelbar hervor, daß in (8) durch ge-
eignete Wahl der oberen Grenze z und des Integrationswegs jeder
endliche Werth von « herauskommen kann. Dies kann aber leicht
folgendermaßen gezeigt werden. Es sei w irgend ein angenommener
Werth von «. Nun werde 2’ so bestimmt, daß
ge —a
(11) pu'—e, = 44, (a, — a) (@, — a) Joe.
1
Das Integral (8) ergebe für die obere Grenze 8’ auf irgend einem
Wege den Werth u”; es muß dann die Gleichung (9) für u = u”
und 2 = z’ gelten. Daraus aber und aus (11) folgt, daß pu’ = pw’,
und es ergiebt sich daher aus den bekannten Eigenschaften der
Function pu, daß
(12) zu’ = u'+2u,0, + 2u,0,,
wo u, und u, zwei ganze Zahlen bedeuten. Man kann dadurch, daß
man in (8) die Quadratwurzel eventuell umgekehrt nimmt, erreichen,
daß in (12) das obere Vorzeichen zu nehmen ist. Es nimmt also
das Integral jedenfalls bei geeigneter Integrationsweise einen mit dem
vorgegebenen Werth « congruenten Werth uw’ an, und es muß so-
mit, da man beliebige Vielfache von Periodicitätsmoduln hinzufügen
kann, das Integral bei einer passenden Wahl des Integrationswegs
auch den Werth w’ erhalten.
Der erörterte Punkt kann auch durch den Hinweis darauf er-
ledigt werden, daß man — von Singularitäten abgesehen — dieselben
zusammengehörigen Werthe u und z bekommt, wenn man « als eine
Potenzreihe von e—a, gegeben hat und diese Potenzreihe fortsetzt oder
wenn man andererseits jene erste Potenzreihe umkehrt und das so
durch Umkehrung erhaltene Functionenelement fortsetzt.
Damit ist der Nachweis allgemein gegeben, daß die Umkehrung
des Integrals erster Gattung eine in der ganzen Ebene existierende,
eindeutige und im Endlichen bis auf Pole reguläre Function ist. Für
diesen Satz giebt der Verfasser also zwei Beweise, denjenigen über
den soeben referiert worden ist und den im ersten Abschnitt der ellip-
tischen Functionen, der nur für reelle Verzweigungspunkte gilt. Ich
möchte einen elementaren Beweis des genannten Satzes nicht uner-
Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 815
wähnt lassen, den Weierstraß in seinen Vorlesungen vorzutragen
pflegte, und der in naturgemäßer Weise die Betrachtungen ergänzt,
von denen die Entdecker der elliptischen Functionen ausgegangen
sind‘). Dieser Beweis beruht darauf, daß zuerst für das Integral
erster Gattung, das etwa in der Form
f dz
u= J ————
o VA 9,09,
angenommen werden mag, das Additionstheorem hergeleitet wird.
Man denkt sich dann für große ¢ die Größe « nach Potenzen von
Fr entwickelt und durch Umkehrung dieser Reihe, wobei die hier auf
S. 304/6 wiedergegebene Entwicklung (Burkhardt 1. Bd. S. 130 f.) zu be-
nutzen ist, 2 als Potenzreihe Pu von u dargestellt). Für diese Function
Pu, die wenigstens in einem gewissen Kreis definiert ist, ergiebt sich
dann auch ein Additionstheorem aus dem Additionstheorem des Inte-
grals. Das Additionstheorem von Pu erlaubt, Pu in PZ und P’ >
rational darzustellen, und liefert so für Pu einen Bruch, in dem Zähler
und Nenner in einem Bereich convergieren, der mindestens doppelt so
groß ist, wie derjenige, für den die ursprüngliche Entwicklung von
Pu giltig ist. Man hat damit eine Fortsetzung für die Function Pu.
Es gelingt, dieses Verfahren zu wiederholen, und schließlich eine in
der ganzen Ebene eindeutige Function zu definieren, die im End-
lichen außer Polen keine singulären Stellen hat und die Fortsetzung
von Pu darstellt. Damit ist der analytische Charakter der Function
Pu erwiesen. Für diese Function lassen sich außerdem, falls g}— 2793
nicht gleich Null ist, mit Hilfe des Additionstheorems zwei Perioden
aufzeigen, die ein nicht reelles Verhältnis haben und sich in Form
von bestimmten Integralen darstellen. Etwas schwierig ist es bei
diesem Gedankengang, ein primitives Periodenpaar in Form von Inte-
gralen zu geben, worauf dann alles übrige, namentlich auch die Iden-
tität von Pu mit einer der durch (6) dargestellten Functionen py
leicht nachzuweisen ist.
Am Schluß des Abschnitts, an dem wir stehen, behandelt der
Verfasser (S. 141) noch die Integrale zweiter und dritter Gattung
genauer, zeigt, daß den in der Theorie der eindeutigen Functionen
1) Vgl. Abel, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 2. Bd. 1827:
Recherches sur les fonctions elliptiques, § 1 und C. G. J. Jacobi, Fundamenta
nova theoriae functionum ellipticarum, 1829, No. 17 ff.
2) Die Potenzreihe enthält gewöhnliche Potenzen und ein Glied a
22*
816 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
geltenden Sätzen von Liouville und Hermite auf der Riemannschen
Fläche spezielle Fälle des Abelschen Theorems und des Riemann-
Rochschen Satzes entsprechen, und bestimmt die Thetanullwerthe
noch einmal direct mit Hilfe der Integrale.
Der siebente Abschnitt behandelt die Reduction der ellip-
tischen Integrale erster Gattung; dabei gelangt neben der Legendre-
schen und der Weierstraßschen Normalform auch die Form
02) Carts Se da
in der A das Doppelverhältnis der vier Verzweigungspunkte bedeutet,
zu ihrem Recht. Die drei folgenden Abschnitte beschäftigen sich mit
der linearen Transformation, mit den Ausartungen der elliptischen
Functionen und mit einer sorgfältigen Erörterung der Realitätsver-
hältnisse (S. 210).
Der elfte Abschnitt (S. 223) enthält die Theorie der Modul-
functionen. Für diesen Abschnitt ist die Auffassung maßgebend
gewesen, welche die von Klein und Fricke herausgegebenen Vor-
lesungen’) beherrscht. Während ältere Autoren nur die in der
Theorie der elliptischen Functionen gelegentlich auftretenden Func-
tionen des Periodenverhältnisses 7 = = betrachten, den Jacobi-
|
schen Modul & oder das Doppelverhältnis A der Verzweigungspunkte
oder die Invariante J, die alle bei gewissen linear gebrochenen Sub-
stitutionen von r ungeändert bleiben, untersucht der Verf. im An-
schluß an die genannte Auffassung alle Functionen, die gewisse Sub-
stitutionsgruppen zulassen und einen gewissen analytischen Charakter
haben. Um diese Functionen zu definieren, muß man vor Allem die
»Modulsubstitutionen« kennen, die bereits in dem von der linearen
Transformation handelnden achten Abschnitt genauer betrachtet und
aus zwei erzeugenden Substitutionen zusammengesetzt worden sind.
Alle diese Substitutionen, die eine Gruppe bilden, sind von der Form
a+ Br
y+ör’
wo a, ß, y, 6 ganze Zahlen sind, und ad—By = 1 ist. Die hier
betrachteten »Modulfunctionen< sind nun solche Functionen von r,
die bei einer Untergruppe von endlichem Index der Gesammtgruppe
aller Modulsubstitutionen ungeändert bleiben, im Innern der ganzen
1) Felix Klein, Vorlesungen über die Theorie der elliptischen Modulfunctionen,
ausgearbeitet und vervollständigt von R. Fricke, 1. Bd. 1890, 2. Bd. 1892.
Burkhardt, Functionentheoretische Vorlesungen. 917
einer Halbebene abgesehen von Polen regulär sind und im Unend-
lichen noch ein gewisses besonderes Verhalten zeigen.
Das allgemeine Studium der genannten Functionen, die sämmt-
lich mit k(x), A (r), J(r) algebraisch zusammenhängen, gründet sich
auf die Betrachtung gewisser »Fundamentalbereiche< der die Werthe
der Variabeln + repräsentierenden Ebene, d. h. eines solchen Be-
reichs, in den sich jeder Punkt der Ebene durch eine und nur eine
Substitution aus der betreffenden Untergruppe überführen läßt. Jede
der hier betrachteten Modulfunctionen ist in einem ihr zugehörenden
Fundamentalbereich — in einem gewissen besonderen Sinne — bis
auf Pole regulär. Die Betrachtung der allgemeinen Modulfunctionen
erleichtert auch den Einblick in den algebraischen Charakter der
Gleichungen , die unter dem Namen der Periodentheilungsgleichung
(des speciellen Theilungsproblems) und der Modulargleichung (des
speciellen Transformationsproblems) bekannt sind. Der Begriff der
elliptischen Functionen wird in diesem Abschnitt zugleich noch mehr
erweitert durch die Einführung von elliptischen Functionen ver-
schiedener Stufen. Es kommt dies darauf hinaus, daß nicht mehr
blos doppelperiodische Functionen einer Variabeln u, sondern Func-
tionen von drei Variabeln «, ®,, ©, mit rein numerischen Coeflicien-
ten betrachtet werden, die bei einer Untergruppe einer in 4, @,, ®,
linearen Gruppe ungeändert bleiben (S. 250).
Der zwölfte Abschnitt (S. 274) bringt das »allgemeine«
Theilungsproblem und das »allgemeine« Transformationsproblem, der
nächste eine genaue Durchführung der numerischen Berechnung von
elliptischen Integralen und von Werthen elliptischer Functionen.
Burkhardt erreicht hier dadurch eine Vereinfachung, daß er das
Integral erster Gattung zunächst in die Normalform (13) überführt
(S. 293). Die Schlußabschnitte enthalten Anwendungen auf die ebene
Curve dritter Ordnung ohne singuläre Punkte, die Raumcurve vierter
Ordnung erster Species, das sphärische Pendel u.s.f. Das sphäri-
sche Pendel ist sehr vollständig durchgeführt.
Man darf wohl sagen, daß der Verfasser in allem Wesentlichen
sein Programm erfüllt hat, das darin bestand, den Stoff durch die
Riemannschen geometrischen Vorstellungsweisen anschaulich zu ge-
stalten, zugleich aber in die verschiedenen Methoden seiner Behand-
lung einzuführen und »unter angemessener Einschränkung der Vor-
aussetzungen diejenige Schärfe der Beweisführung zu erreichen, die
niemand mehr entbehren kann, dem einmal in der Schule von Weier-
straß die Augen geöffnet sind«.
Leipzig, im November 1900. O. Hölder.
818 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
Peter, H., Der Briefin der römischen Litteratur. Litterargeschicht-
liche Untersuchungen und Zusammenfassungen. Des XX. Bandes der Abhand-
lungen der philologisch-historischen Klasse der Königl. Sächsischen Gesellschaft
der Wissenschaften No. III. Leipzig bei B. G. Teubner. 1901. 2659S. Einzel-
preis 6 M.
Mit dem auf den großen Zug der litterarischen Entwicklung ge-
richteten Interesse, das ihn auszeichnet, behandelt Peter in diesem
Buche die Geschichte des römischen Briefes. Einige Abschnitte sind
nur ‘Zusammenfassungen’ wesentlich antiquarischen Stoffes, andere
orientiren nur über Anlage und Inhalt gewisser Briefsammlungen ;
das Ganze gibt eine Reihe nach den Haupterscheinungen geglieder-
ter Untersuchungen, zuerst (nach einleitenden Kapiteln) über die
ciceronischen Briefsammlungen (K. IIL IV), dann über die künstliche
Epistolographie von Plinius bis Ennodius (V), über den poetischen
Brief (VI), den amtlichen Brief (VII), den Brief als Einkleidung für
politische, wissenschaftliche, litterarische, paränetische Erörterungen
(VIII). Die Kapitel Il bis V werden durch den Gedanken zusammen-
gehalten, daß der Kunstbrief, der ‘halbirte Dialog’, in Anknüpfung
an Ciceros Briefe ‘ad familiares’ von Statius und Plinius ausgebildet
und von den Folgenden in dieser Continuität oder auch mit Zurück-
greifen auf Cicero selbst fortgeführt worden sei. Die letzten drei Ka-
pitel stehen jedes für sich; nur daß die Bedeutung der Schulrhetorik
für alle diese Spielarten der Gattung überall gebührend hervorge-
hoben wird.
P. geht von dem Gedanken aus, daß der individuelle Brief den
Römern eigenthümlich sei und daß die Griechen nur einen im Grunde
unpersönlichen Brief und daneben in der philosophischen Litteratur
den Brief als Nebengattung des Dialogs besessen hätten, beides
durch die Rhetorik systematisirt; bis der römische Brief auch auf
den griechischen eingewirkt hätte (K. I. I). Wenn dem so ist, so
ist damit freilich die Berechtigung gegeben, die Geschichte des rö-
mischen Briefes isolirt zu behandeln. Indessen vermisse ich den Be-
weis und finde ihn auch bei Hirzel nicht, den Peter S. 9 für das
besondere Verhältniß des römischen Geistes zur brieflichen Ausdrucks-
form citiert. Wenn P.s Ansicht, wie es den Anschein hat, auf der
Existenz von Ciceros Briefen an Atticus beruht, so ist das kein
tragendes Fundament. Man sollte diese Briefsammlung, wenn es
sich um die Geschichte des litterarischen Briefes handelt, ganz außer
Spiel lassen. Es ist doch nur die persönliche Bedeutung des in
seiner Art einzigen Mannes, die zur Publication dieser nur für zwei
Augen bestimmten Briefe geführt hat. Sie sind nichts Litterarisches,
Peter, Der Brief in der römischen Litteratur. $19
und die Frage, ob sie ‘Nachfolge gefunden’ haben (S. 8), ist nicht
aufzuwerfen. Die Thatsache der Publication ist freilich merkwiirdig
und fiir die Zeit bezeichnend; ohne sie wiirde man eine solche Pu-
blication für so unrömisch wie ungriechisch und überhaupt fiir mo-
dern erklären dürfen. Aber aus der litterarischen Einzigkeit folgt
nicht, daß man vor und nach Cicero solche Briefe, als natürlichen
Ausdruck der momentanen Stimmung, nicht geschrieben habe, wie
P. das mit Berufung auf Ciceros Individualismus annimmt (S. 5 ff.).
Er erinnert selbst an Ciceros Correspondenten (S. 6). Die Briefe
des Caelius reichen aus, eine auf Gewöhnung beruhende Brieftechnik
zu erweisen. Wann die Römer zuerst Briefe schrieben, wer will das
sagen ? und wer will leugnen, daß Aemilianus oder sein Vater Ae-
milius intime Correspondenzen führten? Der litterarische Brief setzt
den intimen voraus, wie der Dialog das Gespräch. Als Isokrates
Briefe stilisirte, gab es den Naturbrief ohne Zweifel längst. Epikurs
Lehrcorrespondenz (S. 16) ist nicht denkbar ohne den Hintergrund
der natürlichen, die uns jetzt wenigstens durch den letzten Abschnitt
des Briefes an die Mutter (in Oenoanda) vor Augen geführt wird.
Xenophon läßt Sokrates den Brief des Proxenos lesen, der ihn ver-
anlassen soll am Zuge des Kyros theilzunehmen (Anab. II 1, 5).
In der Komödie sind Briefe jeder Art häufig'). Dergleichen braucht
man nicht zu suchen noch zu beweisen. Atossa (S. 13), der Hella-
nikos neben der Erfindung der Tiara, der Hosen und der Eunuchen
auch die des Briefes oder des Staatsbriefes zugeschrieben haben
soll, ist ja nicht die berühmte, sondern eine unbekannte, so gut wie
mythische.
Es ist schon hiernach gewiß bedenklich, die litterarische Stili-
sirung des Privatbriefes als ein specifisch römisches Gebilde anzu-
sehn. P. sucht die Briefe Ciceros als Ausgangspunkt dieser Er-
scheinung zu erweisen. ‘Private Mittheilungen kunstvoll zu gestalten
haben erst die Römer angefangen’ (S. 13). Aber das ist es ja grade was
Isokrates gethan*) und nach ihm die stilistische Kunst nie aufge-
geben hat. Die Theorie des Briefes bei Demetrios wegi égunvelas
ist die peripatetische; sie betrifft grade den Privatbrief, wie auch
die in Theons progymnasmata. Unter Ciceros Briefen ‘ad familiares’
sind, wie P. mit Recht hervorhebt, nicht wenige rhetorisch stilisirte
(dazu H. Bornecque La prose métrique dans la corresp. de Cic., Pa-
ris 1898). Plinius will ihn nachahmen (S. 120), die Hinweisung auf
1) S. 178 ‘Gepflegt worden ist der schriftliche Verkehr als Ersatz für den
mündlichen, sobald die Schrift sich einbürgerte: Plautus läßt fünfmal Briefe vor-
lesen’. Dies als Zeugniß für die Existenz ‘des privaten Briefes auch in Rom’.
2) Wilamowitz Aristot. u. Athen II $92.
$20 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
die wirklichen Briefe Ciceros dient ihm zugleich, auf seine Kunst-
briefe etwas von der Farbe des Lebens zu werfen. Ueberhaupt ist
ja kein Zweifel, daß Ciceros Briefe dem Plinius so sehr Stilmuster
waren wie Ciceros Dialoge dem Tacitus. Aber das reicht doch nicht
aus, den plinianischen Brief als eine Folge des ciceronischen in An-
spruch zu nehmen. P. verkennt den Zusammenhang des Plinius mit
der rhetorischen Uebung nicht (S. 113 ff.); die Spuren der Theorie
bei Cicero selbst sind bekannt (S. 21). Jener Zusammenhang er-
klärt den plinianischen Brief als litterarische Erscheinung zur Ge
nüge; die Anknüpfung an Cicero ist nur stilistisch. Auch das eigent-
lich Charakteristische in der Anlage von Plinius’ Briefen, die Be-
schränkung jedes Briefes auf einen einzelnen Gegenstand, ist in der
kunstmäßigen griechischen Epistolographie üblich. Es bedarf, um
hier zu entscheiden, einer genauen Untersuchung der griechischen
Brieflitteratur.
P.s Ausführungen über Ciceros Briefe bringen beträchtlichen
Gewinn. Er handelt im 3. Kapitel zunächst von der Ausgabe der
Briefe an Atticus und ergänzt meine früheren Hinweise auf die 11
ersten Briefe und das Verhältniß der 11 volumina zu den 16 Bü-
chern durch die Beobachtung, daß die vom übrigen corpus abwei-
chende Ordnung und Beschaffenheit der Bücher XII und XIII auf
die Abfassung dieser Briefe selbst und ihre Aufbewahrung durch
Atticus zurückgeht; er macht es sehr wahrscheinlich, daß die Briefe
dieser Bücher in den 11 Fascikeln, die Nepos sah, nicht enthalten
waren. Die Art des Herausgebers stellt sich hier genau so wie für
den Anfang der Sammlung dar und es wird um so deutlicher, daß
Atticus selbst die Briefe weder herausgegeben noch für die Heraus-
gabe zurecht gemacht hat. Als Zeit der Veröffentlichung sieht auch
P. die Zeit um ein Jahrhundert nach Ciceros Tode ‚an. Aber er
beachtet so wenig wie ich (misc. Cic. 5 und Nachr. der Gött. Ges.
1895, 446) und Andere es gethan haben (ein Mitglied unseres Semi-
nars hat mich darauf aufmerksam gemacht) die dem Briefe Ciceros
ad Att. U 19,3 nacherzählte Anecdote bei Valerius Maximus VI 2, 9.
Die Abhangigkeit ist unbestreitbar. Das ist etwa 60 Jahre nach
dem Tode des Atticus, die Hauptfrage wird also nicht dadurch be-
rührt. _ Aber es ist auch nicht zu bestreiten, daß diese Briefstelle
so gut wie das habeo quem fugiam vor der Publication bekannt wer-
den und in eine Sammlung wie Valerius sie benutzt übergehen
konnte. Die Entscheidung wird also nach wie vor davon abhängen,
welches Gewicht man dem Umstande beimißt, daß Asconius für die
Lösung einer Aporie (denn nur solche Fälle können zum Beweise
dienen) sich der Briefe nicht bedient').
1) Indessen hat Reitzenstein (in der Festschrift für Vahlen 8. 421 ff.) nach-
Peter, Der Brief in der römischen Litteratur. 821
In den Briefen ad familiares sucht P. verschiedene für die
Sammlung maßgebende Principien zu erweisen. Wie sich B. XII
als eine Sammlung von Musterbriefen darstellt, so soll B. X bis XII
als ein nur dem historischen Interesse dienendes Urkundenbuch, die
meisten andern dagegen als Sammlungen angesehen werden, die mit
verherrlichender Tendenz zugleich und Rücksicht auf das künstleri-
sche Interesse angelegt sind; eine Tendenz findet P. auch in der
Anordnung der Familienbriefe in XIV und XVI. Diese Erörterungen
sind sehr einer eingehenden Prüfung werth und viele der von P. im
einzelnen nachgewiesenen Gesichtspunkte sind gewiß bei der Anord-
nung in Betracht gekommen. Im ganzen zweifle ich, ob nicht die
zumeist von Gurlitt aufgezeigten Motive der Gruppirung die Ge-
schichte und Zusammensetzung des corpus natürlicher und einfacher
erklären. Die kleinen, den Umfang eines Buches nicht überschrei-
tenden Sammlungen (freilich nicht sämmtliche) sind zusammengefaßt
worden. Daß in diesen Sammlungen, wo kleinere Gruppen in einem
Buche vereinigt werden mußten, etwa die Briefe an Marius und Tre-
batius verbunden wurden, lag dem mit dem Ton der Briefe ver-
trauten Sammler nahe, auch ohne daß er aus der urbanitas ein Ein-
theilungsprincip machte; daß er das nicht that, zeigt die Verbindung
der Briefe an Dolabella und Paetus in IX. Buch I und III sind an
Einen (I 10 gehört zu den Briefen an Lentulus), II und IV ff. an
Viele gerichtet, I und III haben öffentlichen, II privaten Charakter,
in IV bis VI sind nicht ganz greifbare oder durchgeführte sachliche
Gesichtspunkte befolgt (S. 67 ff.); wie in VII, aber auch in IV und
sonst, eine gemeinsame Stimmung zu fühlen ist. In solcher lässigen,
halb spielenden Art pflegen die Alten den Inhalt gemischter Bücher
zu gruppiren. Die Bücher X bis XVI stellen sich dar als zeitliche
(X bis XII) und sachliche Nachtragssammlungen: XIII die Empfeh-
lungsbriefe, XIV und XVI häusliche Briefe, XV officiellen und halb-
officiellen Inhalts oder doch an Personen öffentlichen Interesses. Die
Stellung des VIII. Buches erklärt sich daraus, daß das Corpus in
zwei Bänden angelegt war, wie es auch überliefert ist. Es war eine
der Umsetzungen von volumina in tomi; daraus ergibt sich seine re-
lativ späte Entstehung. Darin unterscheiden sich auch diese 16 Bü-
cher von den 16 Büchern an Atticus, von denen VII bis X eng zu-
sammenhängen. Auch sonst reichen P.s Argumente für seine Iden-
tificirung der Herausgeber beider Sammlungen (S. 87) keineswegs
aus. Für eine solche Annahme sehen wir doch zu deutlich die Vor-
zuweisen gesucht, daß auch Fenestella die Briefe an Atticus benutzt habe; das
ist ungefähr gleichzeitig mit Valerius.
$22 Gott. gel. Aus. 1901. Nr. 4.
geschichte beider Sammlungen: die eine ganz aus dem Nachlaß des
Atticus stammend und einmal in dieser Ausgabe publicirt, die an-
dere aus einer Reihe von Einzelpublicationen componirt. Den An-
theil Tiros an diesen Publicationen bemißt P. auf Grund von Gur-
litts Beziehung der instar septuaginta epistulae (ad Att. XVI 5) auf
das 13. Buch, die ja manches für sich hat, aber von Bardt (Hermes
32, 271 f.) mit sehr ernstlichen Gründen bekämpft worden ist.
Das V. Kapitel behandelt den Kunstbrief des Plinius, Fronto,
Symmachus, Sidonius, Ruricius, Ennodius. Das sind nicht alle;
warum Alcimus Avitus und Venantius fehlen, ist nicht ersichtlich.
Ueber das wichtigste historische Moment, den Zusammenhang des
Plinius mit der griechischen Schulübung, habe ich schon gesprochen.
An den Briefen des Plinius selbst hatten nun freilich die Römer ein
gepriesenes Muster, an das besonders Sidonius sich anlehnte ; wäh-
rend Symmachus nach P.s Ansicht auf Cicero zuriickgriff. Ueber die
einzelnen Sammlungen handelt P. in ausführlichen Erörterungen, auf
die ich hier nicht näher eingehe, da es mir darauf ankommt, einige
Linien der den Gegenstand des Buches bildenden litterarischen Ent-
wicklung zu verfolgen. Das Kapitel schließt mit einem kurzen Ab-
schnitt über die fingirten Briefe (S. 168—177), über die, besonders
was das Verhältnis zum Griechischen angeht, sich wohl mehr Wich-
tiges hätte sagen lassen.
Auf ein ganz anderes Gebiet begeben wir uns mit dem VI. Ka-
pitel: ‘Der poetische Brief und die Epistel in Versen’. In diesem
Abschnitt ist der Mangel an historischen Gesichtspunkten sehr fühl-
bar. Gleich die Einleitungsworte (S. 178) zeigen, daß P. den Zu-
sammenhang nach oben außer Augen läßt. Er erzählt von dem
poetischen Brief in der römischen Litteratur nach der chronologi-
schen Folge; das ist aber nicht die historische. So tritt ihm Horaz
neben Catull, und das 68. Gedicht Catulls (er sagt 68*) tritt durch
‘die persönliche Färbung des Inhalts und die Nachahmung des ge-
wöhnlichen Brieftons’ ‘auf eine Stufe mit dem ersten Buch der Epi-
steln des Horaz’. Nach einem Wort über Catull werden diese hora-
zischen Episteln, dann Ovid und Properz IV 3, endlich Ausonius,
Paulinus, Claudianus abgehandelt. Aber, was zunächst die Elegie
angeht, es ist kein Zufall, daß jener Brief Catulls Elegie ist und
daß die erste und auch die letzte (Venantius de excidio Thoringtae)
römische Elegie Briefe sind. Bei Properz sind mehr Briefe als die
Arethusa, Ovid schreibt wirkliche Briefe aus Tomi, Lygdamus 5 ist
ein Brief; nur Tibull vermeidet diese Einkleidungsform, er setzt die
Briefchen der Sulpicia in unbriefliche Elegien um, auch I 3 beginnt
nur scheinbar in der Briefform; den Unterschied kann man an
Peter, Der Brief in der römischen Litteratur. 823
Tib. U 6 gegen Prop. I 6 ermessen. Die Uebereinstimmung von
Catull, Properz, Ovid deutet auf griechische Herkunft der elegischen
Epistel. Die ursprünglich im Männerkreise vorgetragne Elegie, mit
der litterarischen Fiction an ‘die Freunde’ gerichtet (besonders Pro-
perz I spiegelt das wieder), ging frühzeitig, in Analogie zu Hesiod,
in die Anrede an einen Einzelnen über (Theognis); wenn der Ein-
zelne entfernt war, so war die Fiction des Briefes fertig, den der
Dichter an einen Adressaten richtete. Das zeigt Solon an Mimner-
mos. Aus den Resten der hellenistischen Elegie ist mir ein Beispiel
für die Briefform nicht gegenwärtig, aber daß sie vorhanden war
beweisen die Römer zur Genüge. Ja es besteht ein deutliches Band
zwischen der Briefform und dem Stil der hellenistisch-römischen
Elegie, wie er Catull und Tibull eigen, aber auch Properz nicht
fremd ist (vgl. diese Anz. 1898, 745, Nachr. 1898, 473), dem den
Wallungen des Gefühls scheinbar sich willenlos hingebenden Stil.
Das ist die natürliche Art des Briefes; Ovid hat sie sich in den
Heroiden zu nutze gemacht. Die Wechselwirkung, die hier besteht,
wird man nicht bestimmt definiren wollen, ob der sentimentale Stil
der jüngeren Elegie die eigentliche und specifische Briefform, die
den elegischen Brief von der älteren als Brief gedachten Elegie
unterscheidet, hervorgebracht oder ob diese briefliche Elegie auf den
elegischen Stil eingewirkt hat. Wahrscheinlich ist gewiß das erste.
Ich deute den Zusammenhang nur an, um zu zeigen, daß man Ca-
tulls Elegie nicht so isolirt als ‘den ältesten unter den für die
Oeffentlichkeit bestimmten erhaltenen Briefen’ tractiren darf, wie P.
es thut. Auf einem andern Blatt (auch als die Tristien und die
Briefe ex Ponto) stehen Ovids Heroiden durch ihre mythologische
Fiction; das rhetorische Element ist nicht das Bestimmende und
Unterscheidende, es bringt nur eine rhetorische Durchbildung des
eben bezeichneten elegischen Stils zu Wege. P. knüpft die Heroi-
den, nach Diltheys Vorgange, richtig nach oben an; aber es ist
außerordentlich wenig was er über sie zu sagen hat. Hier konnte
gezeigt werden, wie ein Dichter die Gefühlsmotive, die in einer
episch oder dramatisch gestalteten mythologischen Situation enthalten
sind, in den Briefstil des liebenden Weibes umsetzt. Dafür bietet
sich zunächst Ovids Dido, deren einziges Vorbild wir am sichersten
in der Hand haben; dann Penelope und Briseis, Deianira, Hermione
und Medea. In iynotum hoc aliis ille novavit opus (S. 189) ist die
Bedeutung von novavit durch tgnotum aliis bestimmt; er bringt et-
was Neues, in dem Sinne wie die andern römischen Dichter mit der
Einführung neuer griechischer Gattungen und Spielarten als sögera/
324 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
auftreten. Auch die Briefe des Ausonius und Paulinus sind doch
interessanter als sie bei P. erscheinen.
Horaz ist in zwei Kapitel vertheilt, das sechste (ep. I) und das
achte (ep. II und ars poetica), von denen jenes, wie wir sahen, den
poetischen Brief, dieses den Brief ‘als Einkleidung für Flugschriften,
wissenschaftliche und litterarische Erörterungen, Mahnungen, Wid-
mungen’ behandelt. Dazwischen steht Kap. VII über den amtlichen
Brief (Cassiodor), um es recht deutlich zu machen, daß die poetische
Epistel und Horazens Litteraturbriefe nicht zusammen gehören.
Diese werden in der Nachbarschaft von Senecas Briefen behandelt,
das erste Buch des Horaz von Seneca weit abgerückt. Diese Dis-
position ist nach stofllichem Gesichtspunkt gemacht, aber es handelt
sich um die litterarische Gattung, und diese wird durch die Form
bestimmt. P. steht unter dem Einfluß der ungenügenden Behand-
lung dieser Dinge in Hirzels Dialog. Er scheint daher den Zusam-
menhang gar nicht mehr beachtet zu haben, der zwischen Senecas
Dialogen und der kynischen Diatribe besteht; aus ihm ergibt sich,
daß wir in Senecas Dialogen den aus dem xvuvixdg rodmog erwachse-
nen stoischen ‘Dialog’ vor uns haben. Senecas Brief aber unter-
scheidet sich von seinem Dialog nur dadurch, daß in diesem ein
Kreis von Zuhörern, in jenem nur der Adressat als Publicum gilt.
Genau dasselbe gilt von den Bionei sermones des Horaz, die nur
den Umweg über die Stoa nicht gemacht haben, und seinen Episteln.
Wie unter den Satiren scheinbar absichtslos erzählte Geschichten,
ohne Beziehungen auf Welt und Menschen, so sind unter den Epi-
steln scheinbar wirkliche Briefe (S. 181); das ist Horazens Art, sein
Handwerkszeug zu verstecken. Im übrigen ist der Unterschied
zwischen Satiren und Episteln, daß in jenen das Publicum, in diesen
der Freund angeredet wird; dadurch ändert sich der Ton, das war
die Absicht des Dichters, als er die benachbarte Form wählte. Den
Beweis geben von außen her Lucilius und Persius. Lucilius erwähnt P.
in einer Anmerkung (S. 178) in der chronologischen Folge: ‘Lucilius
scheint selbst Satiren in die Form von Lehrbriefen eingekleidet zu
haben’. Vom 5. Buch berichtet Gellius 18,8: ubs est cum amico
conquestus quod ad se aegrotum non viseret, haec ibidem addıt festı-
viter: quo me habeam pacto, tam etsi non quaeris, docebo U. 8. W.
(152 sq. L.); es war die Form des wirklichen Briefes, der erste Satz
gibt den Anlaß zu der rhetorischen Erörterung, die den Inhalt aus-
macht. Persius wird nicht erwähnt; die zweite Satire ist ein Geburts-
tagsbrief, die sechste in bestimmterer Form ein Brief aus der Ri-
viera an den Freund im Sabinerlande. Die Identität der Gattung
tritt also bei Lucilius und Persius noch ausdrücklicher als bei Horaz
Peter, Der Brief in der römischen Litteratur. 325
hervor. Wer die Wurzeln der horazischen Epistel finden will, muß
die der Satire suchen.
Sehr anfechtbar ist auch was P. über die Geschichte des Wid-
mungsbriefes sagt (S. 242 ff.). Er soll aus den griechischen o/AAvBou ©
von den Römern entwickelt und von diesen dann wieder zu den
Griechen gekommen sein. Aber auch hier liegt ja die fast fertige
Entwicklung bei Isokrates vor, dessen Proömien zum Theil wirkliche
Vorreden sind: unpersönlich das der Helene, aber als Briefe, an
Polykrates und Nikokles, gefaßt die des Busiris und Euagoras. Im
Busiris treibt er die Fiction so weit zu sagen, daß die Rede nur für
zwei Augen, als Muster für Polykrates, bestimmt sei (2 raür« 0
and ool py Emioreldoı, nodg dt Todg KAdovg ds oldv Te udiıar
aéxoxovpasia:, vgl. 44). Zum Schlusse werden die Adressaten wie-
der angeredet; es ist also nicht eigentlich Widmungsbrief, sondern
briefliche Einkleidung der doch ganz selbständig dastehenden Reden.
Aber von dieser Einkleidung war der Schritt zu dem von der Schrift
gelösten Widmungsbriefe leicht gethan.
Die Untersuchungen über die einzelnen Briefsammlungen, auch
die von mir nicht näher berührten, sind in vielen Stücken lehrreich
und fördernd; aber mehr im antiquarischen als im historischen Sinne.
Die Geschichte des Briefes in der griechischen und römischen Litte-
ratur ist noch zu schreiben.
Göttingen, März 1901. Friedrich Leo.
Meyer, Leo, Handbuch der Griechischen Etymologie. Erster Band.
Wörter mit dem Anlaut a, &, 0, n, ©. Leipzig, Verlag von S. Hirzel. 1901.
656 Seiten in Großoctav.
Nun sind schon volle vierzig Jahre darüber hingegangen, daß
das erste Bändchen einer vergleichenden Grammatik speciell des
Griechischen und Lateinischen von mir ans Licht gegeben worden,
die nach der damaligen Eintheilung in die Lehre von den Lauten,
von den Wörtern und darnach vom Satz sich zu einer vollständig
abgeschlossenen und abgerundeten Grammatik zu gestalten bestimmt
war. Die Lehre von den Lauten wurde in jenem ersten Bändchen
schon zum Abschluß gebracht und ein erster Abschnitt der Lehre
von den Wörtern, nämlich ein Verzeichnis der sogenannten Wurzeln,
der pronominellen sowohl als der verbalen, sowie eine Uebersicht
über die im Griechischen und Lateinischen ganz lebendig gebliebenen
826 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
Verbalstäimme noch hinzugefügt. Gleichsam wie weit vorausgreifend
schon in den dritten Theil der Grammatik, die Lehre vom Satze, wurde
im Jahre 1862 zunächst, da man doch durch die meisten Gramma-
tiken daran gewöhnt worden ist, recht früh etwas von der Declina-
tion zu erfahren, ein kleines Bändchen »Gedrängte Vergleichung der
griechischen und lateinischen Declination< angeschlossen, das den
Fortgang des Ganzen aber nicht weiter gestört. Im Jahre 1863 er-
schien der erste Theil des zweiten Bandes der Vergleichenden
Grammatik, der bis Seite 320 reichend den größten Theil der un-
abgeleiteten Nomina gebracht, während der im Jahre 1865 heraus-
gegebene den zweiten Band abschließende zweite Theil den Ab-
schnitt über die unabgeleiteten Nomina zum Abschluß geführt und
noch den über die abgeleiteten Nomina (Seite 438 bis 628) hinzu-
gefügt hat.
Eine größere Störung in dem Fortgang der Grammatik trat
leider durch meine im Jahre 1865 erfolgte Berufung nach Dorpat
ein. Da die mir übertragene erst durch das Universitäts-Statut vom
Januar 1865 ins Leben gerufene Professur an erster Stelle »Profes-
sur der deutschen Sprache< hieß, so lag mir daran, zunächst eine
längst ausgeführte Arbeit aus dem deutschen, meinem alten Lieb-
lings-Gebiet, aus dem Winkel ans Licht hervorzuholen, die dann
auch im Jahre 1869 gedruckt worden ist »Die gothische Sprache;
ihre Lautgestaltung insbesondere im Verhältniss zum Altindischen,
Griechischen und Lateinischen<. Noch eine andere germanistische
Arbeit drängte sich bei meinem Aufenthalt in Dorpat gleichsam un-
ausweichlich auf, die Herausgabe der »Livländischen Reimchronik«,
die »mit Anmerkungen, Namenverzeichnis und Glossar« im Jahre
1876 bei Ferdinand Schöningh in Paderborn erschienen ist, während
alle meine früheren Arbeiten so wie dann auch noch die nächst fol-
genden von der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin in Verlag
genommen worden sind. Da mir vergönnt war, beide Handschriften
der Livländischen Reimchronik, die werthvollere jetzt der Livländi-
schen Ritterschaft gehörige in Riga, die in Folge des Eigensinns
eines früheren Besitzers ungefähr funfzig Jahre lang völlig unzu-
gänglich gewesen war, sowohl als die viel jüngere, aber allein voll-
ständige in Heidelberg befindliche, längere Zeit, und zwar mehrere
Monate lang sogar neben einander, zu benutzen und da die ältere
von Franz Pfeiffer (Stuttgart 1844) besorgte Ausgabe den besonderen
Dialekt des Denkmals, für dessen Feststellung später gerade Pfeiffer
selbst das bedeutendste gethan hat, vollständig verunstaltet, so durfte
ich die Neuherausgabe der Livländischen Reimchronik geradezu als
eine unumgängliche Pflicht ansehen.
Meyer, Handbuch der Griechischen Etymologie. Erster Band. 827
Darnach aber hat mich mein wissenschaftlicher Weg doch wie-
der in das classische Gebiet zurückgeführt. So erschien im Jahr
1879 die kleine Schrift »Griechische Aoriste; ein Beitrag zur Ge-
schichte des Tempus- und Modusgebrauchs im Griechischen«, die
sich die Aufgabe stellt, insbesondere die »kürzesten Aoriste«, die in
Wirklichkeit gar keine Spur irgend eines Tempuszeichens tragen
und die daher an und für sich auch keinerlei Tempusbedeutung ent-
halten können , möglichst vollständig zusammen zu stellen. Im fol-
genden Jahre erschien noch > An im Griechischen, Lateinischen und
Gothischen; ein Beitrag zur vergleichenden Syntax der indogermani-
schen Sprachen« ; beides Arbeiten, die wieder als vorausgenommene
Stücke der Syntax der vergleichenden Grammatik gelten dürfen.
Unmittelbar zu dieser selbst aber, der vergleichenden Gramma-
tik, führte mich die Mittheilung zurück, daß für ihre in den sech-
ziger Jahren erschienenen ersten beiden Bände schon das Bedürfnis
einer zweiten Auflage sich herausstelle. Ihre Ausarbeitung wurde
sogleich in Angriff genommen und nun in der bestimmten Hoffnung,
die ganze Grammatik nunmehr über die neue Auflage hinaus auch
sogleich zum wirklichen Abschluß zu führen. Die erste Hälfte des
ersten Bandes ist in der neuen Auflage, 640 Seiten umfassend, im
Jahre 1882 erschienen und zwei Jahre darauf die den ersten Band
abschließende zweite Hälfte, 481 Seiten umfassend, zugleich mit einem
reichen griechischen und lateinischen Index (Seite 1112 bis 1270).
Aus verschiedenen Gründen, denen wir hier nicht weiter nachgehen,
wurde die neue Bearbeitung meiner vergleichenden Grammatik von
der Kritik nicht besonders freundlich aufgenommen und so kam ich
mit der Verlagshandlung sehr bald überein, das Ganze gar nicht
weiter erscheinen zu lassen. Mir war diese ganze Lösung gar nicht
so sehr unlieb, da doch die ganze Zusammengebundenheit des Grie-
chischen und Lateinischen von vorn herein viel weniger einen streng
wissenschaftlichen als einen mehr praktischen Grund hatte. So ge-
staltete sich’s denn, daß, während ich schon begonnen hatte, die »Bil-
dung der Nomina< für das Griechische und Lateinische neu zu be-
arbeiten, nun das Griechische allein fest gehalten, aber damit zu-
gleich auch der Plan gefaßt wurde, den Griechischen Wörterschatz,
abgesehen von ganz Aurchsichtigen Zusammensetzungen und leicht
verständlichen Ableitungen, nicht in einer immerhin mehr oder min-
der wilikürlichen Auswahl, sondern in seiner ganzen Vollständigkeit,
so weit er in der alten Litteratur (nicht etwa nur in Anführung
bei alten Lexikographen) lebendig entgegen tritt, etymologisch, das
heißt seiner geschichtlichen Entwicklung nach, zur Darstellung zu
328 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
bringen. Es ist damit das »Handbuch der Griechischen Etymologie«
entstanden, dessen erster Band nunmehr vorliegt.
Die Anordnung des Ganzen ist einfach lexikalisch, das heißt, sie
folgt nicht dem gewöhnlichen Alphabet, dessen Reihenfolge ja eine
sehr bunte ist und viel nah Zusammengehöriges weit auseinander
reißt, sondern sie ist so gefaßt, daß zunächst die vocalisch anlauten-
den Wörter angeführt werden, dann die mit den sogenannten Stumm-
lauten beginnenden, darauf die mit dem Zischlaut, nach ihnen die
mit den Nasalen v und u zur Betrachtung gelangen, und daß
die mit den sogenannten Liquiden, das ist mit e und A anlautenden,
den Abschluß des Ganzen bilden. Daneben ist noch hervorzuheben,
daß die mit einfacher Consonanz beginnenden Wörter zunächst mit
Rücksicht auf ihre inneren Consonanten geordnet werden, daß aber
innere Doppelconsonanz allen weiteren consonantischen Verbindungen
voraus gestellt ist.
Die einzelnen Artikel werden durch die etymologisch bedeutungs-
volleren Wörter gebildet, die, so weit sie Nomina sind, in der Grund-
form, daneben aber auch im Nominativ, aufgeführt werden, so weit
sie in das Gebiet der Verba gehören, in der Grundform, oder wie
man sie noch immer zu nennen liebt, in der Wurzelform, daneben
aber meist auch noch des bequemeren Auffindens wegen in der
Präsensform aufgeführt werden. Jedem Wort ist seine Bedeutung
zugefügt, oder, wo eine einheitliche Uebersetzung weniger bequem
war, es sind auch mehrere erläuternde Wörter zur Seite gestellt.
Es ist dabei auf möglichst große Genauigkeit Gewicht gelegt und so
mag zum Beispiel hervorgehoben sein, daß ich für das weitere Ge-
biet der Pflanzenwelt alle Uebersetzungen der großen Liebenswürdig-
keit meines lieben Collegen Rudolf Kobert verdanke und daß, als
er Dorpat verlassen hatte, durch seine freundliche Vermittlung an
seine Stelle der rühmlichst bekannte Uebersetzer des Hippokrates,
Herr Doctor R. Fuchs, als liebenswürdiger Gehülfe eingetreten ist.
Jedem einzelnen Wort ohne Ausnahme folgen zunächst, was in
den meisten Arbeiten aus dem Gebiet der vergleichenden Gramma-
tik durchaus vermißt zu werden pflegt, Belegstellen, die in größerer
oder geringerer Anzahl gegeben worden sind, je nachdem das Be-
dürfnis sich herausstellte. Insbesondere ist mit den Belegstellen da
nicht gespart, wo die Bedeutung eines Wortes nicht so vollständig klar
heraustritt und deßhalb genauere Beleuchtung von verschiedenen Seiten
her wünschenswerth erschien. Zu den Haupt- oder Stichwörtern sind
nah zugehörige Formen vielfach sogleich hinzugestellt, dann aber
auch immer mit Belegstellen versehen. So beläuft sich denn die Ge-
sammtzahl der Belegstellen auf ungefähr hunderttausend.
Meyer, Handbuch der Griechischen Etymologie. Erster Band. 829
Wo sichs geben ließ, sind zu den einzelnen Wörtern mit ihren
Belegstellen nah- und nächstzugehörige Formen aus den verwandten
Sprachen zugefügt, da so zur genaueren Beurtheilung der Vorge-
schichte der in Frage stehenden Wörter der sicherste Maßstab ge-
wonnen wird. Dabei ist nicht bloß das Altindische und Altost- und
Altwestpersische, das Lateinische, das Keltische, Deutsche, Littaui-
sche und Slavische berücksichtigt, sondern auch das Armenische und
das Albanesische, das letztere meist nach Gustav Meyers Vorgang,
zur Vergleichung herangezogen. In Bezug auf die Wiedergabe der
Laute oder die sogenannte Transscription ist in manchen Fällen vom
Gewöhnlichen abgewichen. Es ist damit den Kennern der einzelnen
angezogenen Sprachen nichts Unverständliches gegeben, auf der an-
deren Seite aber der weit verbreiteten ganz abgeschmackten An-
schauung entgegengetreten, als ob überhaupt die ganze große
Mannichfaltigkeit menschlicher Sprachlaute sich in mathematische
Formeln einklemmen und durch wenn auch noch so zahlreiche ver-
schiedenartige Zeichen sich wirklich ganz genau wiedergeben ließe.
Zum Schluß sind dann noch in möglichster Kürze die wichtig-
sten erläuternden Angaben über die geschichtliche Entwicklung der
aufgeführten Wörter hinzugefügt und vielfach auch noch Andeutun-
gen darüber gegeben, wo weitere Forschung etwa einzusetzen haben
würde. Alles was an früheren Worterklärungen nach dem gegen-
wärtigen Stande der Wissenschaft als ganz verfehlt angesehen wer-
den darf, ist ganz unerwähnt geblieben, ebenso aber auch alles, was
etwa an allzu unsicheren und verwegenen Muthmaßungen sich hie
und da leicht hätte vordrängen mögen. Wo ausreichende Erklärun-
gen noch fehlen, ist es unverblümt ausgesprochen ; mit Wendungen
wie »>dunklen Ursprungs<, »etymologisch noch unaufgeklärt« und
ähnlichen ist durchaus nicht gespart.
Zum Schluß dieser Anzeige kann ich nicht umhin noch hervor-
zuheben, wie der Verleger, Herr S. Hirzel, mir in jeder Beziehung
aufs Liebenswürdigste entgegengekommen ist. Vor allem aber bin
ich ihm von Herzen dankbar dafür, daß er den Druck des Werkes
nicht vor völligem Abschluß des Manuscripts beginnen zu lassen
wünschte. So liegt nun das letztere in 6458 Quartblättern fertig
vor und der Druck des nun abgeschlossenen ersten Bandes konnte
sehr rasch zu Ende geführt werden, und ebenso werden es nun hof-
fentlich auch die drei Bände, die sich noch anschließen werden. -
Leo Meyer.
Gött, gel. Anz. 1901. Nr. 4 23
830 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
Kayser, H., Handbuch der Spectroscopie. I. Band. Leipzig, 8. Hirzel
1900. XXIV u. 781. Preis Mk. 40.
Der gewichtige dem Referenten vorliegende Band eröffnet ein
fünfbändiges Werk über Spectroscopie, das »eine zusammenhängende
und möglichst vollständige Uebersicht< über unsere Kenntnisse des
betreffenden Gebietes verspricht. Zieht man in Betracht, daß es
sich hierbei um einen Gegenstand handelt, der erst seit etwa 80
Jahren nachdrücklicher bearbeitet worden ist, so ergiebt der zur
Aufnahme des angesammelten Materiales nöthig befundene bedeu-
tende Raum eine Vorstellung davon, welche Intensität die wissen-
schaftliche Production in den letzten Decennien erreicht hat. Der
Eindruck wird nur noch verstärkt, wenn man berücksichtigt, daß
die hier behandelten Erscheinungen so gut wie keinerlei Beziehungen
zur Technik haben, daß also ausschließlich ein wissenschaftliches
Interesse die Triebfeder jener Forschungen gewesen ist.
Noch nach einer anderen Richtung erweckt der bloße äußere
Anblick des Buches angenehmste Empfindungen. Er legt von einem
Idealismus des Verfassers Zeugnis ab, der noch seltener ist, als der-
jenige, der sich in eigenen wissenschaftlichen Untersuchungen be-
thätigt. Diese Arbeiten zur Förderung der Thätigkeiten Anderer,
insbesondere solche, die sich, wie das vorliegende Handbuch, nur
an ein verhältnismäßig kleines Publikum wenden, gehören zu den
undankbarsten, die man sich denken kann, und wenn ein Mann, der,
wie der Verfasser, auf einem Gebiete erste Autorität ist, sich einer
solchen unterzieht, so gebührt ihm ganz besonderer Dank.
Einer weiten Verbreitung des Handbuches steht schon allein
sein hoher Preis entgegen, der, wie es scheint, für das vollständige
Werk 200 Mk. erreichen, wenn die weiteren Bände zahlreiche Ta-
feln bringen sollten, vielleicht übersteigen wird. Dies ist gewiß zu
bedauern, und man möchte glauben, daß der Verfasser der Sache
in mancher Hinsicht noch etwas besser gedient hätte, wenn er den
Programmpunkt der Vollständigkeit nicht so in den Vordergrund
gestellt hätte. Bei zahlreichen Angaben über experimentelle Me-
thoden und Resultate läßt das (stets wohlbegründete) abweisende
Urtheil des Verfassers deren ausführliche Mittheilung eigentlich über-
flüssig erscheinen; diesen gegenüber hätte eine Beschränkung
auf ein bloßes Citat wohl genügt und an Text und Figuren Er-
sparnis gebracht.
Dem Specialforscher geben natürlich auch diese Abschnitte An-
regung und Belehrung; Fernerstehende würden sie gerne entbehren
Kayser, Handbuch der Spectroscopie. I. 831
und sich mit dem durch des Verfassers Autorität als gut und richtig
bezeichneten begnügen.
Um alles mehr Aeußerliche zuerst zu erledigen, so ist die Dar-
stellung durchaus klar, die Sprache bis auf ganz vereinzelte Flüchtig-
keiten fließend und anziehend. Als einen kleinen Uebelstand empfindet
der das Buch Durchblätternde das Fehlen von Paragraphen- oder
Columnenüberschriften; ein Abschnitt von über 80 Seiten ohne eine
einzige gliedernde Zwischenüberschrift hat etwas Abschreckendes.
Das Inhaltsverzeichnis ist sehr ausführlich, mildert also diesen kleinen
Uebelstand, ohne ihn doch völlig zu beseitigen. Die Ausstattung
ist würdig, ja bezüglich der Illustrationen reich zu nennen. —
Bei dem Character des Buches als einer Zusammenarbeitung
einer ungeheuren Zahl von Originalabhandlungen verschiedenster
Art kann eine Besprechung sich naturgemäß nur auf die Disposition
des Werkes und auf die hier und da hervortretende persönliche
Stellungnahme des Verfassers beziehen.
Das erste Capitel von 126 Seiten ist der Geschichte der
Spectroscopie gewidmet. Es ist sehr lehrreich zu sehen, wie
schwer es den Forschern geworden ist, die einfachsten Erscheinungen
des neu erschlossenen Gebietes richtig aufzufassen, während wenige
Decennien vorher die höchst complicierten Phänomene der Polarisation,
der Interferenz und der Doppelbrechung verhältnismäßig schnell ge-
deutet worden waren. Die Ursache hiervon war wohl nicht so der
Mangel an großen Talenten unter den Beobachtern, als der Mangel
an theoretischen Vorstellungen, welche die Anwendung auf jene
neuen Vorgänge gestatteten. Die Undulationstheorie des Lichtes lag
in einer ziemlich durchgearbeiteten Gestalt bereits vor, als Fresnel
seine Forschungen begann, und die neu entdeckten Erscheinungen
ließen sich von ihr aus verstehen. Aber diese Theorie, so viel sie
durch die Fresnel’schen Anwendungen an Tiefe und Klarheit ge-
wonnen hatte, lieferte in der damaligen Gestalt zum Verständnis
der Spectralerscheinungen nur sehr wenig Hülfsmittel, wie sie auch
in ihrer neuesten Gestalt viele Fragen noch nicht zu beantworten
vermag. So sind zahlreiche verunglückte Versuche der Deutung
sowohl der Gasspectren als des Sonnenspectrums entstanden; immer
wieder werden die Gasspectren als Absorptions-, das Sonnenspectrum
als Emanationsspectrum verstanden, die Umkehrungserscheinungen
werden wiederholt beobachtet, aber in ihrer wahren Bedeutung nicht
erkannt.
Gegenüber den mißrathenen oder unvollständigen Erklärungs-
versuchen der Vorgänger gewinnt die That Kirchhoffs und Bunsens,
die mit einem Schlage in das Chaos der Beobachtungen Licht und
Ordnung brachte, erst ihr volles Gewicht. Man sieht nit Erstaunen,
23 *
832 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
wie nahe einige andere Forscher, z. B. Foucault, Angström, Plücker
und insbesondere Stewart der ganzen Wahrheit waren, wie schwer
es also sein mußte, die letzte trennende Wand zu durchbrechen.
Der Autor hat die heikele Aufgabe, über eine große Zahl viel-
fach äußerst ähnlicher Untersuchungen zu berichten, mit vielem
Geschick gelöst; eine gewisse Monotonie ließ sich natürlich hier
nicht ganz vermeiden. Bei der Darstellung der Prioritätsstreitig-
keiten bezüglich der Kirchhoff-Bunsenschen Resultate bewahrt er
eine musterhafte kühle Objektivität, die im Allgemeinen gewiß am
Platze ist. Wenn direct nach der großen Entdeckung ihre Beur-
theilung eine schiefe war, so ist das zu entschuldigen, zumal da in der
Mitte des XIX. Jahrhunderts Deutschland doch eben erst anfing, in
die Reihe der Großmächte auf dem Gebiete der Physik zu treten,
und Engländer und Franzosen sich von der Gewöhnung, große Ent-
deckungen nur allein aus den Reihen ihrer Forscher hervorgehen
zu sehen, nicht so schnell losmachen konnten. So erklärt sich
einigermaßen die Voreingenommenheit, mit der die neuen Resultate
in den Kreisen englischer und französischer Gelehrter aufgenommen
wurde, wenn es auch befremdlich ist, Männer allerersten Ranges
dem Urtheil: das Neue sei nicht richtig und das Richtige sei nicht
neu, beistimmen zu sehen.
Anders liegt die Sache aber doch, wenn auch noch viele Jahre
nach der Entdeckung sich in den Werken namhafter Gelehrter das
Bestreben findet, Kirchhoff und Bunsen ihr Verdienst zu Gunsten
eines Landsmannes zu nehmen; dieser wissenschaftliche Chauvinismus,
der in Herrn Tait in Edinburgh einen besonders unliebenswürdigen
Vertreter gefunden hat — man erinnere sich hierbei auch an dessen
Versuche, Clausius den Ruhm seiner bahnbrechenden Entdeckungen
in gleicher Tendenz zu nehmen — hätte wohl ein kräftig Wörtlein
vertragen.
Wahrhaft erquickend wirkt gegenüber solchen Bestrebungen die
runde Ablehnung des trefflichen G. Stokes, dem von englischer Seite
die Vorwegnahme der Kirchhoffschen Entdeckungen beigelegt worden
war: I have never attempted to claim for myself any part of Kırch-
hoffs admirable discovery, und cannot help thinking, that some of my
friends have been over zealous in my cause. —
Der Verfasser beschränkt sich in seinem historischen Bericht
natürlich keineswegs auf die Spectroscopie im engeren Sinne des
Wortes, nämlich auf die dem Auge wahrnehmbaren Spectralerschei-
nungen, sondern behandelt so ziemlich Alles, was an einem pris-
matisch zerlegten Strahlenbündel auf irgend eine Art und Weise
wahrnehmbar gemacht ist. Die thermischen, die chemischen, die
Fluorescenzwirkungen finden ausführliche Würdigung. Die Arbeiten
Kayser, Handbuch der Spectroscopie. I. 833
der letzten Decennien werden mit Recht nur kurz characterisiert,
da ihr Inhalt ja das Material der systematischen Darstellung bildet,
der das Buch gewidmet ist.
Das zweite Capitel von 112 Seiten behandelt die Mittel zur
Erzeugung leuchtender Dämpfe und zwar der Reihe nach die Flammen,
den galvanischen Lichtbogen und die electrischen Entladungen. Bei
jedem dieser Gegenstände werden zahlreiche experimentelle Anord-
nungen besprochen und die Versuche zur allseitigen Aufklärung der
betreffenden Erscheinungsklassen mitgetheilt. Daß in letzterer Hin-
sicht noch wenig sichere Resultate erhalten worden sind, ist bereits
oben angedeutet worden. Bemerkenswerth ist die überaus vorsich-
tige Stellung, die der Verfasser auf Grund eigner vielseitigster Er-
fahrungen gewissen neuesten Theorien, insbesondere der electro-
lytischen Theorie der electrischen Entladungen gegenüber einnimmt.
Das den Prismen gewidmete dritte Capitel von 144 Seiten hat
Dr. Konen-Bonn geschrieben. Es bietet zunächst eine höchst reich-
haltige Zusammenstellung aller auf die spectroscopischen Wirkun-
gen von Prismen bezüglichen theoretischen Untersuchungen, wobei
der Antheil der Beugung an der Erzeugung von Bildern gebührend
berücksichtigt wird. Daran schließt sich ein practischer Theil, die
spectroscopischen Messungen mit Prismen, die gebräuchlichen Pris-
menmaterialien und -formen betreffend. Der erste Abschnitt des
letzteren Theiles wird den mit Spectroscopen Arbeitenden besonders
willkommen sein; die Uebersicht über alle in Betracht kommenden
Justierungen und Kunstgriffe ist sehr nützlich.
Von der Größe des bewältigten Materiales giebt der Umstand
eine Vorstellung, daß allein für den Abschnitt über die Prismen-
materialien 263 Originalarbeiten herangezogen sind.
Wenn dieser Theil bei der immerhin stark verringerten Be-
deutung der Prismen für die practische Spectroscopie die meisten
Leser weniger anziehen wird, so darf das vierte, die Gitter betref-
fende Capitel von 92 Seiten dagegen auf allseitiges Interesse rechnen.
Der Verfasser beginnt mit einer Schilderung der Verdienste Fraun-
hofers um Eröffnung und Erforschung dieses Gebietes, die er
durch ausführliche Citate aus dessen Abhandlungen in das rechte
Licht setzt, und wendet sich dann unter kurzer Erwähnung des
Antheiles, den Nobert, Rutherfurd, Rogers u. A. an der Entwickelung
der Technik der Gittertheilung haben, zu den epochemachenden Ar-
beiten Rowlands. Was er hier giebt, erhält eine ganz besondere
Bedeutung dadurch, daß Rowland über seine technischen Arbeiten
nur wenig publiciert hat, und der Verfasser mit dem Bericht über
das, was er gelegentlich eines Besuches bei Rowland gesehen hat,
die dürftigen Originalabhandlungen in der erfreulichsten Weise er-
384 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
gänzt. Man begreift nach dieser Schilderung, daß Rowland die Her-
stellung von Gittern nahezu in Monopol bekommen hat, und daß neben
seinen directen und bei aller Genialität einfachen Methoden die von
Anderen versuchten indirecten mit Hülfe von Photographie und Gal-
vanoplastik garnicht in Betracht kommen.
Auch in den folgenden theoretischen Abschnitten spielt neben
Lord Rayleighs Arbeiten über die Bilder idealer Gitter wiederum
Rowland mit seinen Untersuchungen über die optischen Wirkungen
von Theilungsfehlern die hervorragendste Rolle. Es kommen hierbei
drei in Betracht: die Abweichungen der Intensitätsvertheilung von
der normalen, das Auftreten von Nebenbildern oder »Geistern« (ghosts)
und die focalen Eigenschaften, die das Gitter ähnlich wie eine Linse
oder einen Hohlspiegel wirken lassen. Durch eine ausführlichere
und in Einzelheiten berichtigte Wiedergabe dieser Theorien hat sich
der Verfasser gleichfalls ein hervorragendes Verdienst erworben.
In dem die Concavgitter betreffenden Abschnitt steht im Mittel-
punkt eine ausführliche Theorie von Runge, deren Mittheilung sehr
dankenswerth ist, da sie bisher nur in einem Auszug veröffentlicht
war und doch den ganzen Mechanismus der Wirkung der concaven
Gitter am tiefsten aufklärt, z. B. durch die von andern Autoren
nicht durchgeführte rechnerische Verfolgung der Strahlen, die aus
der Einfallsebene abweichen.
Außerordentlich nützlich ist auch die am Ende des Abschnittes
gegebene Zusammenstellung der Vorschriften für die Aufstellung und
Justierung von Concavgittern, zu denen der Verfasser durch seine
reiche Erfahrung befähigt ist wie Wenige.
Der letzte Abschnitt des Capitels ist der Besprechung des so
überaus geistreich ersonnenen Stufengitters von Michelson gewidmet.
Daß der Verfasser demselben keine allgemeine Bedeutung bei-
legt, wird Jeder billigen, der das merkwürdige Instrument auch
nur ein Mal benutzt hat; aber selbst in Bezug auf die Erscheinung,
für deren Studiumes es erfunden ist, nämlich das; Zeeman-Phänomen,
scheint es durch die besten Rowlandschen Gitter übertroffen zu
werden.
Es folgt ein umfängliches fünftes Capitel (102 Seiten umfassend)
über die spectroscopischen Apparate, in dem hauptsächlich
die mit den Prismen oder Gittern zu verbindenden instrumen-
tellen Teile besprochen werden. Bei dieser Disposition ließ sich
nicht vermeiden, daß einige kleine Inconsequenzen unterlaufen. Es
wird in dem Kapitel natürlich nochmals viel von Prismen und Gittern
gehandelt, daneben treten aber auch mehr nebenbei ganz neue
spectroscopische Wirkungen auf, z. B. die bei dem Michelsonschen
Interferometer und dem Perot-Fabryschen Spectrometer verwendeten,
Kayser, Handbuch der Spectroscopie. I. 835
die man vielleicht ebenso selbstständig stellen möchte, wie die der
Gitter und Prismen.
Im Uebrigen ist die Zusammenstellung äußerst reichhaltig und
lehrreich. Jeder, der Aufklärung über constructive oder theoretische
Fragen in Betreff der Spectroscopie verlangt, wird den auf sie ver-
wandten Fleiß dankbar rühmen. Insbesondere mag auf die ausführ-
liche Darstellung der sehr interessanten Arbeiten von Wadsworth
über die Theorie der Spectroscope hingewiesen werden. Ueber die
Hülfsmittel, welche Photographie, Fluorescenz und Thermometrie
(letztere durch Langley ganz neu gestaltet) bei spectroscopischen
Messungen gewähren, ist ausführlich gehandelt; für die Ausmessung
photographierter Spectren wird u. a. ein neuer vom Verfasser con-
struierter Comparator beschrieben.
Den Schluß des Bandes bildet ein kürzeres sechstes Ca-
pitel (63 Seiten) über die spectroscopischen Messungen.
Es umfaßt die zur Bestimmung der absoluten und der relativen
Längen der Lichtwellen benutzten Messungsmethoden, erstere im
sichtbaren Theil des Spectrums angestellt, letztere auch auf die
ultrarothen und ultravioletten Bereiche erstreckt, wo sie dann ver-
schiedene Hülfsmittel verlangen. Der Verfasser beginnt mit einer
Geschichte der absoluten Bestimmung von Lichtwellenlängen durch
Gitter, die wiederum mit Fraunhofer beginnt und mit den Arbeiten
von Müller und Kempf, Kurlbaum, Bell ausmündet. Dann geht er
zu den Beobachtungen von Michelson und Perot-Fabry über, die
durch Anwendung neuer Principien eine so erhebliche Steigerung
der Genauigkeit erzielten.
Bei den relativen Messungen kommt besonders die Rowlandsche
Coincidenzmethode zur Besprechung, die ebensowohl im sichtbaren,
wie im unsichtbaren Bereich des Spectrums anwendbar ist; sodann
wird die Methode der Vergleichung auszumessender Spectren mit
dem Eisenspectrum erörtert und für deren Anwendung eine ausführ-
liche Tabelle der Wellenlängen des letzteren Spectrum mitgetheilt.
Eine Darstellung der speciell für das ultrarothe und das ultraviolette
Spectralbereich angewandten Hülfsmittel bildet den Schluß.
Da die Anforderungen an die Genauigkeit der Zahlenwerthe von
Lichtwellenlängen in den letzten Decennien ungemein gestiegen sind,
so hat die kritische Würdigung aller wichtigen Arbeiten über diesen
Gegenstand, von so autoritativer Seite gegeben, eine erhebliche
practische Bedeutung.
Möge dem Verfasser beschieden sein, sein kühn und groß ange-
legtes Werk zum glücklichen Abschluß zu führen.
Göttingen, Februar 1901. W. Voigt.
836 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4,
Schweizer, P., Die Wallenstein-Fragen in der Geschichte und im
Drama. Zürich, Verlag von Fäsi und Beer. 1899. VIII und 3548S. Preis 7 Mk.
Nachdem einige Zeit die Ankläger Wallensteins die Oberhand
gehabt, meldet sich in der vorliegenden Schrift wieder ein Verthei-
diger zum Worte. Seine Auffassung ist sichtlich von der des Schiller-
schen Dramas beeinflußt, welchem der erste, 56 Seiten umfassende
Theil des Buches gewidmet ist. Dieser Theil ist insofern lesenswert,
als die Frage nach den von Schiller benützten Quellen, die bisher
vorzugsweise von Literaturhistorikern behandelt wurde, nun auch
einmal vom historischen Standpunkte untersucht wird, wobei immer-
hin, namentlich bezüglich des Wertes der benützten Werke als Ge-
schichtsquellen, manche neue Resultate gewonnen werden. Das
Schlußergebnis der auf Schillers Trilogie bezüglichen Ausführungen
ist der Nachweis, daß Schiller, indem er Wallensteins Absichten
und Handlungen aus ästhetischen Gründen günstiger darstellte, als
die von ihm benützten, Wallenstein ausnahmslos feindseligen Quellen,
unbewußt ein Vorläufer jener neueren Historiker war, welche im
Sinne Rankes »an Stelle aburtheilender Sittenrichterei über die Ver-
brechen und Fehler historischer Personen eine objective Untersuchung
setzen, die Nothwendigkeit der Handlungen aus der Lage der Person
heraus und aus der unwiderstehlichen Macht der drängenden Um-
stände und der allgemeinen Entwicklung zu erweisen suchen«.
Rankes Autorität wird also von dem Verf. zu Gunsten der
neueren Vertheidiger Wallensteins angerufen, während Ranke in
Wirklichkeit einer bestimmten Stellungnahme zu Gunsten Wallen-
steins sich ebenso enthalten hat wie einer Stellungnahme gegen ihn.
Die ganze auf Ranke folgende Literatur für und gegen Wallenstein
hat vielmehr ihren Ausgangspunkt eben darin, daß man in der Schuld-
frage im Widerspruche zu Ranke zu einem entschiedenen »Ja<« oder
»Nein« gelangen wollte, mit einer bloßen Erklärung der Handlungen
Wallensteins aus seiner Lage, den drängenden Umständen, der ganzen
politischen Entwickelung sich nicht zufrieden gab. Um einen großen
Schritt ist man ja, insbesondere durch die Entdeckungen in den
schwedischen Archiven, doch weiter gekommen; daß von Wallenstein,
oder von Personen aus seiner vertrauten Umgebung, mit den Feinden
des Kaisers nicht bloß über einen abzuschließenden Frieden, sondern
über den Abfall Wallensteins vom Kaiser und Anschluß an Schweden
oder Frankreich verhandelt wurde, darüber kann füglich kein Zweifel
sein, und auch der Verf. zweifelt nicht daran. Diese Entdeckungen
waren es ja auch, welche in letzter Zeit den Anklägern Wallensteins
das Uebergewicht gaben.
Entscheidend ist nun für die Stellungnahme des Verfassers, wie
Schweizer, Die Wallenstein-Fragen in der Geschichte und im Drama. 337
er diese Unterhandlungen glaubt deuten zu müssen. Er sieht darin
nichts weiter als Versuche Wallensteins, die Schweden und Franzosen
über seine wahren Absichten, die auf Herbeiführung eines Separat-
friedens mit Sachsen und Brandenburg nach Art des späteren Prager
Friedens, also auf den Abfall der beiden protestantischen Kurfürsten
vom Bündnisse mit dem Auslande, gerichtet waren, zu täuschen.
Die Möglichkeit einer solchen Deutung muß zugegeben werden;
denn, wie der Verf. richtig bemerkt, in den damaligen Unterhand-
lungen spielt absichtliche Irreführung, ja Verlogenheit auf allen Seiten
eine so große Rolle, daß man niemals sicher sein kann, in einer noch
so gut bezeugten Aeußerung einer historischen Persönlichkeit den
Ausdruck ihrer wahren Gesinnung wiederzufinden. Dennoch fehlt
viel, daß die Anschauung des Verf. als erwiesen angesehen werden
könnte. Zunächst welch gefährliches, ja vom Standpunkte seiner
persönlichen Sicherheit aus geradezu einfältiges Spiel müßte Wallen-
stein gespielt haben, wenn er, der doch wußte, wie groß die Zahl
seiner Feinde am Hofe sei, diesen durch derartige »Täuschungs-
versuche« Stoff zu Anklagen gab! Mindestens hätte er gerade zu
solchen Schritten, wovon doch nichts bekannt ist, die vorherige Zu-
stimmung des Kaisers einholen müssen, wenn er es, wie der Verf.
voraussetzt, mit diesem ehrlich meinte. Daß auch die Schweden
und Franzosen den Anerbietungen Wallensteins nicht völlig trauten,
ist noch kein Gegenbeweis. Diese Anerbietungen waren so unge-
wohnlich , konnten so weittragende Folgen haben, daß z.B. die
Vorsicht Oxenstjernas begreiflich ist. Auch mußte ja das ganze
zögernde, verschlossene, unberechenbare Verhalten Wallensteins,
wie es den Kaiser mißtrauisch machte, ebenso, ja in noch höhe-
rem Grade den Argwohn der Schweden und Franzosen erregen.
Wenn sie übrigens die Anerbietungen benützten, um sie zu ver-
öffentlichen und so mindestens Mißtrauen zwischen dem Kaiser und
seinem Generalissimus zu erregen, so ist darin keineswegs eine Be-
stätigung dessen zu erblicken, dass sie die Anerbietungen für bloße
Täuschung hielten. Wie hätte ein Täuschungsversuch, von Wallen-
stein im Einverständnis mit dem Kaiser unternommen, wenn er auch
bekannt wurde, Mistrauen zwischen diesen beiden hervorrufen sollen!
Weit eher dürfte der Veröffentlichung die Nebenabsicht zu Grunde
gelegen haben, den zögernden Wallenstein zum Entschlusse zu drän-
gen, seinen Bruch mit dem Kaiser zu beschleunigen.
Richtig ist, daß Wallensteins Verhalten gegenüber Sachsen und
Brandenburg vollkommen verständlich ist, wenn man des Verfassers
Ansicht gelten läßt, daß es dagegen widerspruchsvoll wird, wenn
man annimmt, er habe auch mit Schweden und Frankreich ernsthaft,
338 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
nicht bloß zum Scheine, verhandelt. Indessen darf man dabei wohl
an die »zwei Eisen« denken, die auch heutige Staatsmänner im Feuer
haben, um bei sich darbietender Gelegenheit dasjenige zu ergreifen,
das mehr Vortheil bietet. Daß das »eine Eisen« nach modernen Be-
griffen als »Verrath« zu kennzeichnen wäre, dürfte einen Wallenstein
nicht zurückgeschreckt haben. Schon Ranke hat darauf hingewiesen,
daß seine Haltung nicht nach den Anschauungen der Gegenwart be-
urtbeilt werden darf; Wallenstein war ja kein bloßer General, er war
ein Reichsfürst, der sich den Kurfürsten gleichberechtigt, wenn nicht
überlegen fühlte. Wenn nun z. B. der Kurfürst von Sachsen vom
Kaiser zu den Schweden und später wieder von den Schweden zum
Kaiser übergieng, ohne sich viel Skrupel zu machen, daß er das eine-
mal seinen »kaiserlichen Herrn«, das anderemal seine Freunde und
Bundesgenossen »verrieth«, wenn selbst Maximilian von Bayern mit
Frankreich in Beziehungen trat, die man heute sehr bedenklich fin-
den würde, so hielt sich Wallenstein ohne Zweifel zu gleichem Vor-
gehen befugt, wenn er dabei seinen Vortheil zu finden glaubte.
Ueberhaupt scheint der Verf. den egoistischen Zug im Charakter
Wallensteins zu wenig zu beachten. Ueber den von Gindely und
anderen gebrachten Nachweis, wie Wallenstein die Gütereinziehungen
in Böhmen und die Münzverschlechterung zu seiner eigenen Be-
reicherung ausbeutete, geht er ebenso leicht hinweg wie über die
Aussaugung der von seinen Truppen besetzten Landesstriche. Es ist
wahr, Wallenstein handelte in der einen Hinsicht nicht schlechter als
die Liechtenstein, Slawata u. a., in der zweiten nicht anders als Tilly
und andere Generale jener Zeit. Dennoch ist die Geschicklichkeit,
mit der er diese Mittel anwendete, und im Zusammenhang damit der
großartige Erfolg, den er erzielte, für ihn charakteristisch. Die Lite-
ratur des Hasses, die sein Vorgehen hervorgerufen hat, ist freilich
von Uebertreibungen nicht frei, und Gindely und andere haben ge-
fehlt, wenn sie ihr allzu willig glaubten; aber der Haß, der sich ge-
gen Wallenstein richtete und der ihn schließlich ins Verderben
stürzte, hatte gewiß nicht bloß in der Bosheit eines Slawata, wie
Schebek meinte, oder in den krankhaften Zuständen, an denen Wal-
lenstein litt, und seiner Neigung zur Astrologie, wie der Verf. an-
nehmen möchte, seinen Grund.
Von Schebek hat sich der Verf. überhaupt zu sehr beeinflussen
lassen. Wenn Schebek fast alle gegen Wallenstein gerichteten Schrift-
stücke, die er kennt, Slawata zuschreibt, weil er diesen für den Dä-
mon hält, der Wallenstein zugrunde gerichtet hat, so folgt ihm der
Verf. insofern, als er die Autorschaft Slawatas in einzelnen Fällen
als sicher annimmt, wo sie doch nur mehr oder minder wahrschein-
Schweizer, Die Wallenstein-Fragen in der Geschichte und im Drama. 839
lich ist. Auch der närrische Einfall Schebeks, Feucquiéres habe mit
einem Pseudo-Kinsky, einem Strohmanne Slawatas, verhandelt, wird
vom Verf. noch zu ernst genommen. Wie sehr der Verf. auf Sche-
beks Ideen eingeht, zeigt die Bemerkung, Raschins Bericht aus den
October 1631 über eine Aeußerung, die ihm Wallenstein unter vier
Augen gemacht, lege die Annahme nahe, daß Raschin schon damals
(1631!) Beziehungen zu Slawata oder ähnlichen Gegnern Wallensteins
hatte. Die Behauptung des Verfassers, Wallenstein habe wegen seiner
Absetzung gar keinen Groll gegen den Kaiser gehegt und die ent-
gegengesetzt lautenden AeuGerungen nur gethan, um die böhmischen
Emigranten und durch diese die Schweden zu täuschen, ist nichts
weniger als erwiesen, erinnert vielmehr stark an die Art, wie auch
Schebek mit Berichten, die in seine Geschichtsconstruction nicht pas-
sen, verfährt. |
Uebrigens urtheilt der Verf. auch über Berichte Arnims, wo sie
die Absichten Wallensteins in ähnlichem Lichte darstellen, er erzähle
»Märchen«, berichte mit Bewußtsein Falsches. Ebenso ungünstig ist
des Verf. Urtheil über die Wahrheitsliebe Maximilians von Bayern,
Schlicks, Piccolominis, kurz aller Feinde Wallensteins. In der Cha-
rakteristik Piccolominis ist auch der Einfluß des Schillerschen Dramas
unverkennbar.
Und doch werden mit diesen oft recht gezwungenen Darlegungen
nicht alle Räthsel gelöst; namentlich das Verhalten des Kaisers, sein
anfangs unerschütterlich scheinendes Vertrauen zu Wallenstein und
dann der plötzliche Umschwung sind schwer verständlich, wenn Wal-
lenstein so unschuldig war, wie der Verf. glaubt. In Wirklichkeit
dürfte, wie Wallenstein schon lange vor seinem zweiten Sturze zu
Mißtrauen Anlaß gab, der Kaiser auch schon lange von Argwohn er-
füllt gewesen sein, ehe er ihn auch äußerlich dem übermächtigen
Heerführer gegenüber zu zeigen wagte.
Von kleineren Versehen hat der Verf. eins, die Verwechslung des
Erzherzogs Ferdinand von Tirol in der Jugendgeschichte Wallensteins
mit dem Kaiser gleichen Namens, selbst richtig gestellt. Sonderbar
ist, daß der Verf. die Namensformen Leutmaritz für Leitmeritz und
Dachau für Tachau (in Böhmen) gebraucht. Unrichtig ist auch die
Angabe, daß Gindely aus Würzburg stamme.
Alles in allem bringt auch das Buch Schweizers nicht die »Lö-
sung der Wallensteinfrage<, und es ist zweifelhaft, ob wir in dieser
Hinsicht jemals zur vollen Klarheit vordringen werden. Das Ziel,
das gesteckt ist, geht eigentlich über das, was die historische For-
schung zu leisten vermag, hinaus; denn nicht, was Wallenstein ge-
than und gesprochen, sondern was er gedacht und beabsichtigt hat,
840 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
steht in Frage. Das ist aber gerade bei einem verschlossenen,
schwankenden, zögernden, leidenschaftlichen und doch wieder berech-
nenden, der Verstellung fähigen Manne fast unmöglich zu ergründen.
Prag. Tupetz.
Geib, O., Theorie der gerichtlichen Compensation. Tübingen 1897.
Verlag der H. Lauppschen Buchhandlung. XVIII u. 357 S.
Der Verfasser steht auf dem Standpunkt, daß die Compensation
nach gemeinem Recht außer durch Vertrag nur durch Richterspruch
vollzogen werden könne. Manche Anhänger dieser Auffassung halten
zur gerichtlichen Compensation ein Urteil über die Gegenforderung
für erforderlich und meinen, daß mit Rücksicht auf dieses gemein-
rechtliche Erfordernis die Civilprozeßordnung zum Compensationsvoll-
zug auch ein das Bestehen der Gegenforderung aussprechendes Iu-
dicat vorschreibe. Diese Lehre führt nach der Ansicht des Verf. zu
dem ebenso unannehmbaren als unvermeidlichen Resultat, daß sie eine
gleichmäßige Anwendung der die Compensation berührenden Vor-
schriften der Civilprozeßordnung für alle deutschen Rechtsgebiete un-
möglich macht; denn wo bereits bisher die Tilgung compensabler
Forderungen durch ihre Coexistenz oder durch einseitige Aufrechnungs-
erklärung herbeigeführt wird, könne der Richter nur über die Klag-
forderung, nicht auch über das Bestehen der Gegenforderung eine
Entscheidung abgeben. Der Verfasser will nun den rechtlichen Vor-
gang bei dem gerichtlichen Compensationsvollzug in einer Civilisten
und Processualisten gleichermaßen befriedigenden Weise aufklären,
indem er darlegt, daß weder das gemeine Recht noch die Vorschriften
der Civilprozeßordnung zum Compensationsvollzug eine Entscheidung
über die Gegenforderung erfordern.
Von der Aufgabe, über den Inhalt der vom Verf. entwickelten
Theorie zu berichten, wird Ref. sich dispensieren dürfen. Nicht des-
halb, weil das gemeine Compensationsrecht bald seine praktische Be-
deutung verliert, sondern weil das Studium der zwar etwas breiten
und sich vielfach wiederholenden, aber sachkundigen und gründlich
durchdachten Ausführungen Geibs Jedem nötig sein wird, dem an
einem tieferen Verständnis des künftigen Aufrechnungsrechtes gelegen
ist, und weil der Verfasser selbst sein Buch mit einer kurzen Dar-
stellung seiner Theorie abgeschlossen hat.
Der Wert des vorliegenden Werkes für die künftige Rechts-
wissenschaft wird nicht erheblich durch den Zweifel beeinträchtigt,
ob die Theorie Geibs zu dem von ihm ins Auge gefaßten Ziel führt
und ob alle ihre Stützen tragfähig sind.
Geib, Theorie der gerichtlichen Compensation. 841
Geib glaubt bewiesen zu haben, daß die Compensation lediglich
durch das die Klagforderung um der Gegenforderung willen abwei-
sende Urteil vollzogen werde. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn
man von einer vollzogenen Compensation da sprechen will, wo nichts
weiter geschehen ist, als daß eine Klage um einer Gegenforderung
willen abgewiesen ist. Wenn die Klagabweisung um einer Gegen-
forderung willen Compensation genannt wird, so bedarf es freilich
kaum des Beweises dafür, daß die Compensation lediglich durch das
die Klagforderung um der Gegenforderung willen abweisende Urteil
vollzogen wird. Anders, wenn man unter Compensation die defini-
tive Tilgung der sich gegenüberstehenden Forderungen versteht. Die
neuerdings in Folge der Darlegungen Stölzels viel verhandelte Frage,
ob der Richter unter Umständen die Klage um der Gegenforderung
willen abweisen darf oder soll, ohne sich über den Bestand der Klag-
forderung zu äußern, braucht hier nicht erörtert zu werden. Jeden-
falls hätte auch schon vor dem Erscheinen von Stölzels Abhandlung
über die Eventualaufrechnung — deren erste Auflage kurz nach dem
Buche Geibs erschienen ist — mit der Möglichkeit solcher Urteile
gerechnet werden können. Wenn aber das Gericht die Klage um
der Gegenforderung willen abgewiesen hat, ohne darüber zu ent-
scheiden, ob die Klagforderung bestand, so unterliegt es schwerlich
einem Zweifel, daß in einem neuen Prozeß die Forderung des ehe-
maligen Beklagten eingeklagt und die Forderung des ehemaligen
Klägers compensando geltend gemacht werden kann. Denn in sol-
chem Falle war die Forderung desjenigen, der im ersten Prozeß als
Beklagter auftrat, nicht satisfactione getilgt, wenn die Forderung des
damaligen Klägers nicht bestand; andererseits hat das erste Urteil
rechtskräftig nur entschieden, daß der Kläger wegen der Gegenfor-
derung keinen Anspruch auf Erfüllung hat, nicht auch, daß dein Klä-
ger keine Forderung zusteht. Daraus ergiebt sich, daß ein die Klage
um der Gegenforderung willen abweisendes Urteil an sich noch nicht
den Vollzug der Compensation bewirkt, wenn man darunter die de-
finitive Tilgung der beiderseitigen Forderungen versteht.
Was den Verf. zu der Meinung verführt hat, bewiesen zu haben,
daß dem die Klage um der Gegenforderung willen abweisenden Ur-
teil die Kraft des Compensationsvollzuges in dem angegebenen Sinne
innewohne, ist leicht ersichtlich. Der Verf. hat seiner Untersuchung
den Fall zu Grunde gelegt, daß sowohl die Gegenforderung als die
Klagforderung unbestritten sind (S. 34). In solchen Fällen kann
allerdings die in den Entscheidungsgründen versteckte Feststellung
der beiderseitigen Forderungen leicht übersehen werden.
Freilich ist selbst dann, wenn diese Feststellungen rechtskräftig
842 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
erfolgen konnten und erfolgt sind, nicht jeder Zweifel ausgeschlossen,
ob das gemeine Recht mit dem die Klage um der Gegenforderung
willen abweisenden Urteil die beiderseitigen Forderungen endgiltig
untergehen läßt. Eine Erörterung der Frage, ob oder wie der Rich-
ter nach der Prozeßordnung die definitive Tilgung gegenüberstehender
Forderungen in einem Rechtsgebiete herbeiführen kann, in dem —
nach der Meinung des Verfassers — weder der einseitigen Aufrech-
nungserklärung Wirkung zukommt noch eine Compensationspflicht an-
zuerkennen ist, würde nicht hierher gehören, da sie mit den Ausfüh-
rungen Geibs nicht Fühlung bewahren könnte.
Zu bedauern ist, daß Geib das unmittelbar vorher erschienene
Buch Leonhards über die Aufrechnung nicht mehr benutzen konnte.
Er hätte sonst vielleicht seine Ablehnung der Compensation durch
einseitige Erklärung und seine Wertschätzung der exceptio doli gegen-
über den durchaus abweichenden Ausführungen Leonhards verteidigen
können. Keiner Verteidigung fähig scheint mir die Behauptung zu
sein, daß zur rechtskräftigen Entscheidung über das Nichtbestehen
der Gegenforderung nach CPO. 293 (jetzt 322) eine Widerklage er-
forderlich sei.
Gießen, Oktober 1900. A. Leist.
Ibrahim ibn Muhammad al-Baihagi, Kitab al-mahäsin val-masävi, hag.
von Fr. Schwally. Mit Unterstützung der Kgl. Preußischen Akademie der
Wissenschaften. 1. Teil. Gießen. J. Ricker'sche Verlagsbuchhandlung (A.
Töpelmann) 1900. pff S. gr. 8. Preis 12 M.
Dies Buch, dessen Verfasser unter dem Halifen al Mugtadir
(908 —32) lebte, ist der älteste uns erhaltene Repräsentant der so-
genannten Mahäsin-Litteratur. Es stellt in parallelen Abschnitten
die Vorzüge und die Fehler historischer Personen und Ereignisse
sowie moralischer Eigenschaften zusammen und erläutert sie durch
Erzählung von Anekdoten und Anführung von Versen. So enthält
das Buch manchen wichtigen Beitrag zur politischen wie zur Kultur-
und Sittengeschichte des Isläms und verdient vollauf die von Schwally
unternommene Ausgabe.
Da der Herausgeber für den dritten und letzten Teil eine aus-
führliche Einleitung über die litterarhistorische Stellung und die
Hdss. des Werks verspricht, so begnügen wir uns fürs erste mit
einigen Bemerkungen zu dem bis jetzt vorliegenden Teile des Textes.
Das Buch ist in zwei Hdss. in Leiden und Calcutta erhalten. Wie
bei den meisten Werken der älteren Adablitteratur, die fast nur von
Gelehrten gelesen und auch abgeschrieben wurden, ist der Text im
ganzen gut erhalten. Seine Schäden hat der Herausgeber durch-
Ibrähim ibn Muhammad al-Baihagi von Fr. Schwally. I. 348
weg mit Geschick geheilt, doch hätte er in der Anwendung der Con-
jecturalkritik mehrfach uoch etwas vorsichtiger zu Werke gehn kön-
nen. Mit der Setzung von Vocalen ist Sch. äußerst sparsam gewesen;
nur die Verse hat er vollständig vocalisiert. Dagegen ist nichts zu
sagen. Hamza und TeSdid aber, die von guten Hdss. und Ausgaben
mit Recht als ein integrierender Bestandteil des Konsonantentextes
angesehen werden, hätte Sch. mit größerer Consequenz anwenden
sollen. Formen wie ‚ss u. 4. sollte man in europäischen Drucken nicht
mehr begegnen. Sehr wünschenswert wäre es gewesen, wenn Sch.
an den zahlreichen Stellen, wo er die Mahäsin des Pseudo-Gahiz als
Textzeugen heranzieht, jedesmal die Seite der Vlotenschen Ausgabe
vermerkt hatte, umsomehr, da diese leider indexlos geblieben ist.
Warum hat Sch. seine kritischen Noten in oft recht ungefügem Latein
gegeben, während doch Titel und Vorbemerkungen deutsch sind ?
Das alles hätte sich doch deutsch ebenso kurz sagen lassen. In der
Umschrift von Namen und Titeln hätte Sch. etwas weniger willkürlich
oder wenigstens folgerichtig verfahren sollen; ‚%# schreibt er bald 8,
bald sh, ‘Ain übergeht er zumeist, während er Hamza zuweilen aus-
drückt.
Zur Erläuterung des eben Gesagten besprechen wir nun noch
einzelne Stellen des Textes, berichtigen gelegentlich auch einige
Druckfehler. 28 AS ist richtig als Gegensatz zu gl Eb. 9 1.
5. 34 1. lu Eb.s 1. gu mit G”. 51 1 pie, mit G 6%.
612 1. st ohne Hamza, Wright Gr. ? I 19. ‘Eb. 15 giles. 84
Ass |. neil. lle 1. gl ar ‚wenn er hört«, vgl. Nöldeke
Zur Gramm. § 7. Eb. 5 pomndy, Eb. 18 slaw 146 neil. 18 8
keine Lücke; der Satz mit „> ist Praedicat zu „9, vgl. Reckendorf,
Synt. § 4,8. 1813 1. hels&. Eb. u >. 257 Die Conjectur ist
überflüssig ; of steht gleich 53 vgl. GGA 1899, 972. Eb. s 1. Ji.
3018 1. una ohne Teddid. 3517 1. with. 466 Die beiden Con-
jecturen sind unmöglich; das 3. und das 6. Pferd wäre doch eine
zu wenig schmeichelhafte Bezeichnung für ‘Ali. Lies: Is um
unelndtia. Eb. 7 1. us. 457 1. kam) würde sie umfassen«.
461475 esilb. 491s Die Conjectur dreht den Sinn um. Wozu n.4
gehört ist nicht zu ersehen. Uebrigens fehlt nichts im Text. 5011
1. Linas cys. Eb. 13 1. wal 5410. Das Metrum Ragaz verlangt
poss Eb. n. 31. mul. 600 >. Eb. 20 Lan, 624 erstes
td
844 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 4.
Wort 1. „„1. Gegen diese bekannte orthographische Regel verstößt
Sch. auch sonst allzu oft (s. 6416 712 976 10111 u.s.w.). 67n.2
und 3 sind umzustellen. 68¢ I]. wJb. 699 Ose Eb. 28 da.
711 1. a5 ues! seilte ihm entgegen<. 73 u. alasyig. 7816 1. gt.
834 >. 87 ı7 laa’. 8814 Die LA. al Baihagis ist als pass ai
wiederherzustellen; de Goeje’s Conjectur gilt für G’s Text. 966
Haben CL wirklich (452 statt des von Vloten Mab. p. 158 n. k.
bezeugten und jedenfalls allein richtigen (3542? 972 xt, 9810
1. Wiel} ohne Hamza. Eb. |. 26 ze iuß. Eb. sfl. Nach b. Qutaiba
‘Ujan cod. Köpr. 304" ist der Dichter 3,1,; ( JoaiJ. Eb. 1s I. Kn.
1265 „555. 1291 Das Metrum verlangt St wie bei G. 42s. Eb. «
Gus. 131 u. Sollten die Hdss. wirklich das unsinnige ‚Axt JNaxt
Kat vy haben; jedenfalls ist nach G 3916 zu verbessern. 13415
bed, 13615 oleng Sl. 1435 1. did ohne Tesdid. 1458 pale. 15115
las. 152: 1. Iai>l; past heißt »weggehn«, Tabari II 4912. 1565
gb für gib giebt es nicht; 1. adlb. 1599 Kal, 1614 n.1. Die
LA von CL war beizubehalten. Eb. u. pgslen. 1648 053,6. Eb.»
SiS. 174 all. 17812 ele 1. ee. 180 18 pes 185 14 tt:
1865.6 rss Y; es fehit nichts; vgl. Ag. XX 7 11: dap why Gh gy! und
“Iqd! I 29819, Mubarrad 56315: wh} ¥. 18794) wail, ist ein vollständiger
Satz, wie in den von Noldeke Zur Gramm. § 42 gesammelten Redensarten,
in denen ich keine Ellipse sehen möchte. 18817 Lust. 1894 aad gill.
1907 1. wKmis3 ohne Hamza. 1952 1. any. 20410 all. 221 10
Die von Sch. gestrichene Negation ist durchaus notwendig; sonst
müßte es ja .,) MS statt .,J 3! heißen. Der Esel stirbt erst, wenn
das Futter reif ist, ohne es jedoch genießen zu können. Ebenso
starb der Kufier, als er grade nach Kermän gekommen war, ehe er
sich dort hatte bereichern können.
Die Ausstattung des Buches ist so schön, wie man es von der
Drugulinschen Druckerei gewöhnt ist.
Berlin d. 1. Aug. 1900. C. Brockelmann.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen.
Mai 1901. Nr. 5.
Ehrhard, A., Die altchristliche Litteratur und ihre Erforschung
von 1884—1900. Erste Abteilung. Die vornicänische Litteratur. (Straßburger
theologische Studien hrsg. von A. Ehrhard und E. Müller. I Supplementband).
Freiburg i.Br. Herder, 1900. XII u. 644 S. 8°. Preis 15 Mk.
Ein musterhaftes Referat über die gesamte, in den 16 Jahren
von 1884 bis Mitte 1900 erschienene Litteratur zur Patristik der
ersten 3 Jahrhunderte, ebenso ausgezeichnet durch Vollständigkeit
wie durch Klarheit und sachkundiges Urteil. In einer 2. Abteilung,
deren Erscheinen für das laufende Jahr verheißen wird, soll in glei-
cher Weise die Forschung der Gegenwart, die den nachnicänischen
Jahrhunderten der alten Kirche gewidmet ist, beleuchtet werden;
wie reichhaltig aber der vorliegende Band ist, trotzdem er bereits
den Kirchenhistoriker Eusebius am Ende und die kanonische Litte-
ratur des Neuen Testaments am Anfang fortläßt, kann man daraus
ersehen, daß er von mehr als 2000 Büchern, Abhandlungen, gelehr-
ten Notizen Kenntnis giebt, übersichtlich auf 10 Abschnitte verteilt,
von denen der erste, umfänglichste (S. 35—198) die ältesten Denk-
mäler der altchristlichen Litteratur — apostolische Väter, Apokryphen,
darunter auch jüdisch-christliche, und gnostische Litteraturwerke —
zum Gegenstande hat, 2—8, nach einleuchtender Disposition in 35 Para-
graphen zerlegt, die Kirchenschriftsteller von den ältesten Apolo-
geten um 130 an bis zu Lactanz, endlich 9 das apostolische Symbol
und die Anfänge der ascetischen und der kirchenrechtlichen Litte-
ratur, 10 die Märtyreracten. Vorzüglich versteht es E. bei aller
Fülle der Einzelheiten seinem Buche doch den Charakter einer fest-
geschlossenen Einheit zu wahren; in der Einleitung S. 1—34, die
hier ihren Namen wirklich verdient, erfährt der Liebhaber patristischer
Studien das für ihn unbedingt Wissenswerte, z. B. über die neuesten
patristischen Sammelausgaben, den Stand der altchristlichen Dogmen-
geschichte: auch Desiderata, wie die Errichtung eigner Lehrstühle
für das christliche Altertum in seinem ganzen Umfange an allen
Universitäten und, wenn möglich, an den theologischen Fachschulen,
gelangen zur Erörterung. |
Gott, gel. Ans, 1001. Nr. 5. 24
346 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
Die Zuverlässigkeit des Berichterstatters verdient das höchste
Lob: wo er ein Buch nicht hat einsehen können oder von seinem
Inhalt nur durch einen Vermittler weiß, notiert er es genau, selten
ist solche »Unzugänglichkeit« für uns ein Verlust; Baljons griechisch-
theologisches Wörterbuch würde allerdings E., wenn er es kennen
gelernt hätte, wohl aus seiner Liste S. 19 gestrichen haben. Daß
ihm Wichtiges entgangen wäre, habe ich äußerst selten constatieren
können: allerdings Uhlhorns Artikel über den Diognetbrief in der
Prot. Realencyclop. IV? von 1898 und die auf Hegesippus, Barnabas,
Justin, Ignatius bezüglichen Abschnitte in F. J. A. Hort, Judaistic
Christianity 1894 sowie A. Links Aufsatz über die Dolmetscher des
Petrus in den Stud. und Krit. 1896 hätten m. E. eine Erwähnung ver-
dient. Für solche kleinen Lücken entschädigt uns E. aber durch
Mitteilungen aus noch nicht publicierten Werken, so S. 227, wonach
W. Widmann wieder einmal die Echtheit des pseudojustinischen Adyos
mapaverinos tod “EAAnvag »gründlich« nachweisen wird, oder S. 348.
422 n. 2. — Irrtümliche Angaben wie S. 344, daß Gregor von Nyssa
— vielmehr Gr. von Nazianz! — mit Basilius zusammen die Philokalia
componiert hat, begegnen uns ganz vereinzelt, beim Hebräerevange-
lium S. 140 gehört zu den gesicherten Resultaten No. 2: daß es
‚ursprünglich in griechischer Sprache abgefaßt ist unter Benutzung
des Matthäus- und Lukasevangeliums<, No. 7 daß »es von den ka-
nonischen Evangelien durchaus unabhängig ist<« — für mich ein un-
lösbarer Widerspruch ! Der Druck ist wunderbar correct, namentlich
auch in den vielen Zahlen. Namen sind eher einmal falsch geschrie-
ben, so heißt — natürlich — der berühmte Bibliophile Phillipps S. 2
n. 2 Philipps; S. 9 Lechner (st. Lechler), S. 74 Hatsch (st. Hatch),
S. 192 A. F. Brooken (st. A. E. Brooke) und 593 (vgl. 642) Nietzsch
(st. Nitzsch) gehören in diese Kategorie; 476 n. 1 lies Revue st. Etudes
und 600 2.5 v.u. doch wol >nicht« statt »nach<?
Die Sprache des Verf. ist dem Gegenstande gemäß schlicht und
durchsichtig ; neben seiner Vorliebe für den »letzteren« fallen einige
Stilfehler unangenehm auf, z.B. S. 596. 598 die »grundgelegten« An-
lagen resp. Zweige, S. 243 Z. 24 »nachdem< st. da oder seit. Der
letzte Satz auf S. 122 ist schlechthin unverständlich. — Selbstver-
ständlich wird Niemand alle Urteile Ehrhards sich ohne Weiteres
aneignen; während er mir z.B. Autoren wie Nöldechen, Freppel und
Wehofer stark zu überschätzen scheint, findet in Bezug auf Wrede
S. 74 oder Kattenbusch S. 509 ff. das Gegenteil statt. Die Censur
»ungenügend« S. 331 für Weymans Arguınente zu Gunsten Novatians
als des Verfassers der Batiffolschen »tractatus« ist zu niedrig, und
gegenüber J. Langen klingt mir der Ton, obschon ich in der Sache E.
Ehrhard, Die altchristliche Litteratur u. ihre Erforschung von 1884— 1900. I. 347
beistimme, S. 58 und 172 unangenehm animos. Aber in der Regel
trifft E. in der Ablehnung von Unwahrscheinlichem, wie in der Zu-
rückhaltung angesichts von Hypothesen m. E. fast immer das Rechte,
und mit gediegener Sachkenntnis geht ein gewissenhaftes Streben
nach Objectivität Hand in Hand. Wertlose Schreibereien könnten
wol noch häufiger als solche markiert, Hinweise auf der Erledigung
harrende Arbeiten, wie sie sich S. 312. 530 finden, reichlicher aus-
geteilt werden: implicite liegen sie für den aufmerksamen Leser
massenhaft in dem Buche vor.
Mit dem Wunsche, daß Erhards auch durch das durchweg zuver-
lässige Namenregister S. 637—44 in Verbindung mit dem Inhalts-
verzeichnis S. IX— XI das Auffinden jeder Einzelheit äußerst er-
leichterndes Buch von den Arbeitsgenossen nicht blos gelegentlich
benutzt, sondern im Zusammenhang studiert werden möchte, würde
ich meine Besprechung schließen, wenn nicht der Verf. auf S. 592—
635 einen Abschnitt beigegeben hätte, der als ein donum superad-
ditum zu betrachten ist, insofern hier E. nicht mehr über fremde
Leistungen referiert, sondern durch Aufstellung eines neuen Pro-
gramms und durch methodologische Vorschläge der vornicänischen
christlichen Litteraturgeschichte die richtigen Bahnen zu weisen
sucht. Ich fürchtete mich vor diesem »Schluß« zunächst, denn in
dem ersten, die Jahre 1880—1884 umfassenden Litteraturbericht
Ehrhards, der 1894 erschien, war »Rückblick und Schlußwort«
S. 220—230 lediglich geeignet gewesen, den Dank, den sich der
Schriftsteller durch seine auch dort 'schon fleißige und gediegene
Berichterstattung erworben hatte, in Widerwillen zu verwandeln;
denn im Tone der gröbsten Hetzpresse hatte er dort die Auffassung
der »katholischen Wissenschaft, dieser hehren Tochter der himmlischen
Weisheit< in ihrem Ausgangspunkt wie in ihrem Ziel der Auffassung
aller übrigen Mitarbeiter, die er als christus- und kirchenfeindlich
glaubte charakterisieren zu dürfen, entgegengestellt und angesichts
patristischer Studien über »widerliches Spiel mit der Wahrheit und
dem christlichen Volke« unaufrichtige Angriffe auf das Erbe der Väter
u. dgl. gejammert. Mit Freude stelle ich fest, daß E. in dem neuen
Buche, gewiß ohne seinen kirchlichen Standpunkt zu verändern, sich
von solchen Gehässigkeiten völlig frei gehalten hat. Er verleugnet den
römischen Katholiken nicht, aber gerade sein Nachtrag über »die
Entwicklungsstadien der vornicänischen Litteratur< beweist, wie wenig
Anlaß vorliegt bei den patristischen Studien jene confessionellen
Gegensätze aufzurollen. Die Mangelhaftigkeit der bisherigen katho-
lischen »Patrologieen« gesteht E. rund zu, m. E. sogar zu scharf in
Bezug auf Bardenhewer; er ist bereit in die Geschichte der kirch-
| 24 *
348 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
lichen Litteratur auch die Reste häretischer Provenienz aufzunehmen,
und blos aus praktischen Gründen überläßt er die kanonischen Bücher,
die sonst die erste Hälfte des 1. Teils füllen würden, einer besonde-
ren Disciplin, der NTlichen Einleitung; er scheut sich nicht den
doch von einer ökumenischen Synode verdammten Origenes den
Großen zu nennen, der für alle Zeiten vor dem Vorwurf des Ketzer-
tums hätte bewahrt bleiben sollen (S. 615); er hat nicht blos von
Th. Zahn, sondern auch von Overbeck und namentlich von Harnack
viel gelernt. Seine Vorschläge, die »altchristliche« Litteratur durch
das constantinische Zeitalter von der im besonderen Sinne »patristi-
schen« getrennt sein zu lassen und bei der altchristlichen wiederum
4 Epochen zu unterscheiden, die der christlichen Urlitteratur bis
etwa 125, die der ersten vom Kampf nach innen und außen leben-
den Gelehrtenlitteratur 125—198, die der Entstehung einer eigent-
lichen Wissenschaft in der Kirche 198—260 und endlich das Zeit-
alter der Origenisten und der ersten Antiochener 260—325, werden
wissenschaftlich motiviert, obwohl ich eine deutliche Scheidelinie
nur zwischen der 2. und 3. Gruppe, gar keine zwischen der 3. und
4. wahrnehme Wenn E. hier u. A. die Kirche in Schutz nimmt
gegen den Vorwurf, sie habe bewußt die Vernichtung der meisten
Schätze aus ihrer ältesten Litteratur herbeigeführt, dürfte er sach-
lich im Rechte sein, ebenso mit seinem Protest gegen die Abfalls-
und Hellenisierungstheorien in ihrer modernen Zuspitzung. Aber E.
selber vermag uns auch nur einen interessanten Compromiß zwischen
geläuterter wissenschaftlicher Einsicht und kirchlichem Vorurteil zu
bieten. Daß er F. Chr. Baur nicht gerecht wird und dessen groß-
artige historische Construction einfach auf einen circulus vitiosus
zurückführt (S. 22), L. Lemme S. 76 zum Repristinator der Baur-
schen Hauptthese stempelt und S. 502f. den für die patristische
Forschung wahrlich gleichgiltigen Apostolicumsstreit in der evange-
lischen Kirche Deutschlands zur Besprechung bringt, mag dem Be-
rufspatristiker hingehen, — er begiebt sich da auf fremde Gebiete.
Aber die vornicänische Zeit als »den Höhepunkt der Religionsge-
schichte der Menschheit darstellend« zu erachten, ihre Schriftwerke
himmelhoch über alle früheren Litteraturwerke erhaben S. 632 — also
der erbärmliche Hermas und der dummdreiste Arnobius himmelhoch
über Plato und Aeschylus! — das sind keine aus der Geschichte ge-
wonnenen Urtheile, so wenig wie S. 600 der Enthusiasmus für den
Geistesfrühling und das gewaltig pulsierende Leben in der ganzen
Kirche des 4. und 5. Jahrh. Die Zumuthung an uns, mit der die viel-
fachen Hinweise auf die bischöfliche Lehrverkündigung als Hüterin des
Glaubens, besonders erbaulich in der Entschuldigung der anscheinend
Ehrhard, Die altchristliche Litteratur u. ihre Erforschung von 1884—1900. I. 849
zum Monarchianismus neigenden Päpste, S. 634 gekrönt werden,
wir müßten »den wesentlichen Unterschied beachten zwischen den
Versuchen, den Inhalt des Christentums durch geistige Arbeit zu er-
fassen und der autoritativen Vertretung dieses Inhalts selbst durch
die Träger der kirchlichen Glaubensverkiindigung< ist kein Schutz-
mittel gegen Harnackschen Radicalismus, sondern eine arge Bloß-
stellung jener angeblich autoritativ getragenen Glaubensverkündigung.
Diese kann demnach wie der heilige Stein von Mekka auch ohne
»geistige Erfassung< behütet werden!
Welcher Unklarheiten E., der S. 603 ein Dogma vom Neuen
Testament als Hinweis unbefangener Forschung stolz ablehnt, hier
fähig ist, ergiebt sich wohl daraus, daß er zwischen »der NTlichen
Litteratur< und dem ersten sicher datierbaren Schriftstück der nach- .
apostolischen Zeit, dem ersten Clemensbriefe (nämlich 93—95 von
E. angesetzt) einen Hiatus von 30 und mehr Jahren klaffen sieht,
der zu denken gebe! Sofort nachher ist aber von der späten litte-
rarischen Thätigkeit des Apostels Johannes, der tief in die nach-
apostolische Zeit hineinrage, dankbare Rede: liegen dessen neu-
testamentliche Schriften trotzdem auch noch vor dem Hiatus? Und
wie kann man im Besitz von Evangelium und Apostelgeschichte des
Lucas, von Marcus-Evangelium, von Hebräerbrief, um alle von Ehr-
hards S. 603, Z. 4 offen bekannter »Voraussetzung< abweichenden
kritischen Thesen außer Betracht zu lassen, »ewig beklagen, daß die
erste Generation von Apostelschülern, die in der Apgsch. und den
Paulusbriefen genannt wird, keine litterarischen Denk-
mäler hinterlassen hat?
So erwarte ich von der »echt kritischen Forschungsarbeit< des
20. Jahrhunderts nicht wie E. S. 603 für die neutestamentliche Ein-
leitungswissenschaft eine weitere Annäherung der Schulen. Auch das
Urteil über das, was genuin-christlich, consequente Fortentwicklung
der christlichen — in dem »der< liegt die ganze Täuschung — Ge-
danken und Ideale, Gepräge des wahren Christentums u. s. w. ist,
wird, wo sich Glaubensüberzeugungen einmischen, immer gebunden
sein. Gottlob bestätigt Ehrhards neuestes Buch, daß auf weiten Ge-
bieten ein gedeihliches Zusammenarbeiten möglich ist, ohne daß der
principielle Gegensatz stets betont werden müßte. Werturteile kön-
nen schwer allgemeine Giltigkeit erwerben, aber die altchristliche
Litteraturgeschichte hat mit solchen ziemlich wenig zu thun: wenn
sie nur erst mehr Thatsachen sicher besäße !
Marburg, 3. April 1901. Ad. Jülicher.
850 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
Mitteilungen aus dem Naturhistorischen Museum in Hamburg. Jahrgang
XIV—XVI. 2. Beiheft. Hamburg 1897—1899. Preis Mk. 28,50.
Seit 1883 giebt das Naturhistorische Museum zu Hamburg eine
Serie zoologischer Abhandlungen heraus, welche hauptsächlich die
wissenschaftliche Ausbeute der reichen Sammlungen enthalten, die
jenem Staatsinstitute zuströmen. In den dreizehn stattlichen, bis
1895 vollständig erschienenen Jahrgängen herrschen anfangs jene
Aufsätze vor, welche der Fauna von Süd-Georgien nach der Ausbeute
der deutschen Station 1882—83 gewidmet sind, später die zoologi-
schen Ergebnisse der Reisen Stuhlmanns auf Sansibar und in Ost-
afrika. In den jüngsten Heften tritt die von Hamburg aus mit be-
sonderer Vorliebe gepflegte Erforschung der Antarctis wiederum in
den Vordergrund durch die reichen Sammlungen, welche Michaelsen
aus Südpatagonien heimbrachte. Das große und vielseitige Material
führte namentlich in neuerer Zeit eine Inanspruchnahme auch zahl-
reicher, auswärtiger Forscher mit sich.
Die drei mir vorliegenden Hefte zeigen einen sehr mannigfälti-
gen Inhalt. Mit der Sammlung Dr. Stuhlmanns befassen sich:
Michaelsen (Hamburg) Terricolen, Kolbe (Berlin) Coleopteren,
Ehlers (Göttingen) Polychaeten, v. Martens (Berlin) Mollusken,
May (Jena) Aleyonaceen, Weltner (Berlin) Süßwasserschwämme
und Cladoceren darstellend. Dazwischen reihen sich Aufsätze von
Bösenberg (Pforzheim) über die echten Spinnen der Umgebung
Hamburgs, Michaelsen, welcher weitere Studien an Terricolen
Ceylons, Celebes, der Südseeinseln und anderer Gebiete der Erde
veröffentlicht, Pfeffer (Hamburg), der neue Palinuren und Krae-
pelin (Hamburg), welcher neue Pedipalpen und Scorpione beschreibt
und zur Systematik der Solifugen beiträgt. Bolau (Hamburg) be-
schäftigt sich mit den Typen der hamburger Vogelsammlung und
Sorhagen mit Wittmaaks Biologischer Sammlung europäischer
Lepidopteren, die einen hervorragenden Schatz des Museums bildet,
v. Brunn (Hamburg) berichtet über Parthenogenese bei Phasmiden
auf Grund der Beobachtungen eines überseeischen Kaufmanns, Reh
(Hamburg) über Untersuchungen an amerikanischen Obstschildläusen,
May (Hamburg) über das Ventralschild der Diaspinen und die Larven
einiger Aspidiotus-Arten und endlich beschreibt Breddin (Halle a.S.)
Hemipteren der Insel Lombok. Es verbietet sich leider, auf alle
diese interessanten Aufsätze einzugehen, indessen möchte ich einiger
specieller gedenken.
Michaelsens Terricolenstudien liefern wichtige Beiträge zur
Mitteilungen aus dem Naturhistorischen Museum in Hamburg. XIV—XVL2. 351
Thiergeographie. Die meisten Arten der Erdregenwürmer des tro-
pischen Afrikas gehören den Endrilini und Benhamini an, welche
beide characteristisch für dieses Gebiet sind; es ist zweifellos ihre
Urheimat; wo sie sich sonst auf der Erde finden, wie beispielsweise
Benhamia bolavi Mchlsn., die in Deutschland, vielen Orten Nord- und
Südamerikas, Madagascar und Ostindien vorkommt, sind sie durch
den gärtnerischen Verkehr verschleppt. Während die afrikanische
Fauna der Erdregenwürmer, abgesehen vom Nordrande, wo sie innige
Beziehungen zu der europäischen aufweist, ein durchaus eigenartiges
Gepräge besitzt, zeigen die Wasserregenwürmer, selbst in Central-
afrika, eine auffallende Verwandtschaft zu denen des malayischen
Gebietes, der wärmeren Teile Nord- und Südamerikas und Europas.
In Afrika selbst stimmt, im Gegensatz zur Verbreitung der Land-
regenwürmer, Unter- und Mittelagypten in Bezug auf seine Wasser-
würmer mit dem äquatorialen Afrika überein. Es sind diese Befunde
ein weiterer Beweis für die Verschiedenheit der geographischen Be-
ziehungen der Land- und Süßwasserbewohner selbst ein und dessel-
ben Tierstammes.
Jenem Aufsatze Michaelsens, welcher die Terricolenfauna
Ceylons behandelt, liegt hauptsächlich das reiche Material zu Grunde,
welches die Gebrüder Sarasin heimführten. Die Untersuchung der
Formen ergab das überraschende Resultat, daß mehr als die Hälfte
der auf Ceylon endemischen Arten einer Gattung (Megascolex) ange-
hören, deren Hauptwohngebiet der australische Kontinent ist. Die
ceylonischen sind aber komplicierter gebaut als die australischen.
Außerdem weist die Terricolenfauna Ceylons auf Beziehungen mit
Ostindien, Hinterindien und dem malayischen Archipel bis zu den
Philippinen und Japan hin, so daß Ceylon hinsichtlich seiner Regen-
wiirmer eine Zwischenstellung zwischen diesen Territorien und Austra-
lien einnimmt, freilich bedeutend mehr nach Australien gravitiert.
Die Sammlungen der Dres. P. und F. Sarasin gestatteten
Michaelsen ferner die Regenwurmfauna von Celebes, einer bekannt-
lich tiergeographisch hervorragend interessanten Insel, zu studieren.
Der faunistische Character von Celebes beruht, was die ins Auge ge-
fate Tiergruppe anbetrifft, auf der Vorherrschaft des Geschlechtes
Amyntas, denn von den 29 dort nachgewiesenen Arten gehören 27
zu diesem. Die Amyntas-Arten ergeben eine sehr enge Beziehung
zwischen Celebes und der kleinen, südlich davon gelegenen Insel
Djampeja nebst der östlich gelegenen Insel Halmahera samt den nahe
davon liegenden Inseln Batjan und Ternate. Außerdem »läßt sich
eine deutliche geographische Beziehungslinie erkennen, die sich von
Borneo über das Nordgebiet von Celebes nach Sangir erstreckt«
852 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
und wahrscheinlich nach Norden über Luzon bis in die Philippinen
hinein fortsetzen läßt. Nicht weniger bedeutungsvoll ist für die fau-
nistischen Beziehungen von Celebes ein negatives Ergebnis, nämlich
das Fehlen einer Familie (der Moniligastriden), welche sich von Ost-
indien und Ceylon, wo sie ihr Hauptquartier hat, einerseits nach
Birma, andererseits nach Sumatra und Flores und über Borneo und
die Philippinen bis nach Japan ausdehnt. Wir kommen also schließ-
lich zu dem Ergebnis, daß die »Wallace’sche Linie« auch für die
Terricolen zu Recht besteht. Dieser Satz gewinnt noch eine wesent-
liche Bestätigung durch G. Breddins Abhandlung über die Blatt-
wanzen der Insel Lombok, jenes Eilandes, an dem die Wallace’sche
Linie herstreift, dasselbe, wie Celebes, dem australischen Tiergebiet
zuteilend. Denn aus des Verf. Untersuchungen ergiebt sich, um mit
seinen eigenen Worten zu reden: »daß die alte Wallace’sche Trenn-
ungslinie in ihrem südliche Teile eine, wenn auch von ihrem Ent-
decker in ihrer Bedeutung überschätzte, sicherlich aber unverkenn-
bare und, ... wie es scheint, uralte Grenzscheide darstellt, die ein
Gebiet von verhältnismäßig hoher faunistischer Selbständigkeit von
der westmalayisch-indischen Hemipterenfauna abtrennt«.
Die Abhandlungen von Ehlers und v. Martens sind in den
Hamburger Beiheften nur auszugsweise wiedergegeben, da sie bereits
an anderen Orten veröffentlicht wurden.
Von allgemeinerem Interesse dürfte der Aufsatz M. v. Brunns
sein, welcher der Parthenogenese bei Phasmiden gewidmet ist. Diese
merkwürdige Art der Fortpflanzung durch unbefruchtete Eier
ist als eine regelmäßige oder gelegentliche Erscheinung, gewisser-
maßen >eingesprengt< in die zwei-geschlechtliche Fortpflanzung, bei
Würmern, Krebsen und Insecten bekannt, aber bei den Gradtlüglern,
zu welchen die Phasmiden gehören, erst von einem deutschen Kauf-
mann auf Java, Herrn Wolf v. Wülfing entdeckt worden. Es ist
v. Brunns Verdienst seine Beobachtungen in wissenschaftlicher
Weise zusammengefügt zu haben. Herr v. W. kaufte auf Java zwei
gewaltige Phasmidenweibchen oder Gespenstheuschrecken wie wir
diese Geschöpfe ihres langen, schmächtigen, stabartigen Körpers und
der immensen, dünnen Gliedmaßen wegen nennen — die Flügel feh-
len oder sind verkümmert — und züchtete von ihnen vier auseinan-
der hervorgegangene Generationen ohne die Mitwirkung eines Männ-
chens. Auch der Nachwuchs waren Weibchen vielleicht mit Ausnahme
eines Exemplares der zweiten Generation, das aber nicht zur Be-
gattung kam und bald einging. Aus den gleichzeitigen oder späte-
ren Beobachtungen verschiedener Entomologen geht hervor, daß die
Parthenogenese bei mehreren Phasmidenarten existiert, und das Ge-
Mitteilungen aus dem Naturhistorischen Museum in Hamburg. XIV—XVI. 2. 358
schlecht in den verschiedenen, aus unbefruchteten Eiern hervorge-
gangenen Generationen in unregelmäßiger Weise wechselt. Der Nach-
wuchs kann nur aus Weibchen bestehen oder lauter Männchen vor-
stellen (wie die Drohnen der Honigbiene) oder es können Männchen
und Weibchen zusammen auftreten. Indessen scheint die Anzahl der
sich in parthenogenetischer Fortpflanzung aneinanderreihenden Gene-
rationen eine geringe zu sein und die Lebensfähigkeit der späteren
abzunehmen. Die Individuen wurden kleiner und ihre Lebensdauer
verkürzte sich. Herr v. W. hat sich auch die Frage vorgelegt, wes-
halb Parthenogenese eintritt. Er geht davon aus, daß die Männchen
im Kampf ums Dasein gegen die Weibchen im Nachteil sind, weil
sie fliegen können, die Weibchen aber nicht. Indessen sind die
Männchen sehr schwerfällige Flieger und werden somit leicht eine
Beute der Vögel und ihrer anderen Feinde, von denen sie eine große
Menge haben. Die Weibchen hingegen, welche nur langsam zu krie-
chen vermögen, verlassen die Blätter und Stengel, an denen sie wei-
den, und an die sie vorzüglich durch Form und Farbe angepaßt
sind — nennt man sie doch auch treffend »wandelnde Stengel!« —
kaum. Hieraus erklärt sich die relative Seltenheit der Männchen;
und mithin wäre die Erhaltung der Art bedroht, wenn die Fortpflan-
zung stets an die Begattung gebunden wäre. Die Natur kommt also
der Erhaltung dieser Geschöpfe zu Hilfe, indem sie für etliche Gene-
rationen, unbeschadet der Qualität, eine Fortpflanzung lediglich durch
Weibchen gestattet.
Wirtschaftliches und biologisches Interesse beanspruchen die
Untersuchungen von L. Reh an amerikanischen Obstschildläusen,
welche in der Station für Pflanzenschutz zu Hamburg angestellt wur-
den. Reh stellte fest, daß für die Einschleppungsgefahr im Wesent-
lichen nur die San José Schildlaus (Aspidiotus perniciosus Comst) in
Betracht kommt und nur durch die Einfuhr frischen Obstes ermög-
licht wird, da bis jetzt an getrocknetem keine Laus gefunden ist,
»die auch nur einen Zweifel zuließ, daß sie nicht tot seic. Ferner
dürfte die Einschleppungsgefahr der im Spätherbste ankommenden
Sendungen eine verschwindend geringe sein, dagegen mit dem be-
ginnenden Frühjahr wachsen, um von März bis Mai ihren Höhepunkt
zu erreichen. Durch die Verpackung erscheint die Uebertragung nicht
gefährlich. Auf faulenden Aepfeln erhalten sich diese Schädlinge an-
nähernd 3 Wochen am Leben. Im Uebrigen sind sie ziemlich wider-
standsfähig; z. B. ertragen sie Formalindämpfe, Uebertriefen mit
Alkohol, Chloroform und anderen, im allgemeinen schädlichen Flüssig-
keiten und gehen in einer Brütofentemperatur von 45—53°C. erst
nach 1!/s Stunden zu Grunde.
Göttingen. Otto Bürger.
354 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
Gottlieb, Th., Die Ambraser Handschriften. Beitrag zur Geschichte der
Wiener Hofbibliothek. I. Büchersammlung Kaiser Maximilians I. Leipzig,
Verlag von M. Spirgatis. 1900 (VI u. 172 S.); 8° Preis Mk. 8.—.
Ueber den Charakter des vorliegenden Werkes, das auf vier
Bände berechnet ist (Vorrede S. V), eine deutliche Vorstellung und
damit die Grundlage zu seiner richtigen Beurtheilung zu geben, ist
nicht ganz leicht. Es ist weder eine Geschichte der Wiener Hof-
bibliothek noch ein, etwa mit Untersuchungen über Herkunft und
Schicksal versehenes Verzeichnis ihrer Handschriften. Zu beidem
liefert es aber Vorarbeiten, indem die Zusammensetzung und Ge-
schichte der berühmten Ambraser Handschriftensammlung,
von welcher ein großer Teil im J. 1665 der kaiserlichen Hofbiblio-
thek einverleibt wurde, durch alle Stadien auf das eingehendste ver-
folgt werden soll. Der Verfasser, der übrigens Beamte der Hofbib-
liothek ist und durch sein Buch über mittelalterliche Bibliotheken
(Leipzig 1890) sich bereits auf gleichem Gebiete einen Namen er-
worben hat, giebt selbst a. O. als Zweck seiner Arbeit an, »die ein-
zelnen Bestände, aus denen sich die alte Hofbibliothek zusammen-
setzt, übersichtlich vorzuführen«. Nach Behandlung der Ambraser
Handschriften sind also noch weitere Spezialgeschichten von Samm-
lungen, die in die Hofbibliothek gelangten, zu erwarten. Wenn dem-
nach die Wiener Hofbibliothek doch Ziel und ideeller Mittelpunkt
aller der geplanten Beiträge ist, so darf man die berechtigte Frage
aufwerfen, ob nicht besser gerade sie von vorn herein zum Gegen-
stand der Untersuchung und Darstellung gemacht und das was zu
ibr in allzuloser Beziehung zu stehen schien, in Beilagen oder Zeit-
schriftenaufsätze verwiesen worden wäre. Gegenwärtig ist zu be-
fürchten, daß die Behandlung von Stoffen, die nur zum Theil die
Hofbibliothek betreffen, zum Theil aber außerhalb ihrer Sphaere lie-
gen, das Interesse an diesem Gegenstand ablenkt und andrerseits
so umfangreich wird, daß eine zusammenfassende Geschichte dieses
hervorragenden Institutes, welche gerade wegen der neuen Beiträge
nach der von Jg. Fr. von Mosel (Wien 1835) wünschenswerth sein
würde, schon aus Furcht vor vielen Wiederholungen so bald nicht
zu Stande kommen kann. Wahrscheinlich hält aber der Verf. eine
neue Geschichte der Bibliothek für entbehrlich und will nur einzelne
Theile der Sammlung und ihrer Geschichte ergänzend und berichti-
gend behandeln. Auf die Handschriftenbestände hat er sein beson-
deres Augenmerk gerichtet, und die Manuscriptenabtheilung der Hof-
bibliothek, welche mit einem Bestand von etwa 24000 Codices nur
Gottlieb, Die Ambraser Handschriften. I. 855
wenigen Bibliotheken an Umfang und Bedeutung nachsteht, verdient
in der That eine sehr eingehende Berücksichtigung.
Auch von diesem Standpunkt aus, auf den wir uns mit dem
Verf. stellen müssen, angesehen, holt das vorliegende Buch sehr weit
aus. Es enthält im Grunde nur die Vorgeschichte der Ambraser
Handschriftensammlung; S. 88 ist von dieser (als Sammlung) zuerst
im Vorübergehen die Rede. Immerhin verträgt sie, die jetzt zwar
nicht mehr selbständig und nirgends vollständig erhalten ist, wegen
ihrer Bedeutung auch eine ausführliche Behandlung, zumal wir in
dieser, während die allerersten Anfänge der eigentlich erst im letz-
ten Drittel des 16. Jahrhunderts durch Erzherzog Ferdinand begrün-
deten Sammlung dargelegt werden, zugleich Näheres erfahren von
den mehr oder weniger tiefen und ausgedehnten litterarischen Nei-
gungen verschiedener Glieder des Hauses Habsburg. Daß unser
Buch sich auf eine ganze: größere Sammlung bezieht, deren Bestehen
sich über mehrere Generationen erstreckte, hebt es heraus vor den
verschiedenen Einzelaufsätzen, zumal des Jahrbuchs der kunsthistor.
Sammlungen d. Allerhöchsten Kaiserhauses (Wien 1883), in welchen
die litterarischen Bestrebungen und Büchersammlungen einzelner
österreichischer Fürsten oder einzelne Handschriften ihres Besitzes
behandelt werden, obschon hier wiederum die Ausführung unbestreit-
bare Vorzüge vor Gottliebs Buche hat’).
Der Verf. hofft (Vorr. S. V) durch seine Untersuchungen einen
festen Boden zu gewinnen für unsre Kenntnis von der Entstehung
und ältesten Geschichte der Hofbibliothek; die bisherige Tradition
darüber wird als eine »langjährige, unrichtige< bezeichnet. Noch
bestimmter faßt er S. 122 die »belangreichsten Ergebnisse seiner
Darlegungen< kurz so zusammen:
1. »Die Ansicht, daß die von Friedrich III. gesammelten Bücher
den Grundstock zu einer von Maximilian I. in Wien gegründeten
Hofbibliothek gebildet hätten, ist aufzugeben.
2. Nur eine Anzahl von Büchern in Wiener-Neustadt ist
unter beiden Kaisern nachweisbar.
3. Diese kamen schon zu Maximilians I. Zeiten in mehreren
Transporten größtentheils nach Innsbruck, ein Theil 1577 nach
Prag, ein anderer zwischen 1577—1586 nach Wien in die nunmehr
schon bestehende Hofbibliotheke.
1) Die schöne Arbeit von Heinr. Modern, Die Zimmern’schen Handschriften
der K. K. Hofbibliothek. Ein Beitrag zur Geschichte der Ambraser Sammlung
und der K. K. Hofbibliothek, aus Bd. 20 des Jahrbuchs (1899), wird wohl erst in
einem späteren Theile des Gottlicb’scheu Werkes Erwähnung und Beachtung
finden.
356 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
Seit welcher Zeit er ihr Bestehen datiert, ist nirgends gesagt
und läßt sich auch nicht sagen. Die Wiener Hofbibliothek theilt
darin das Schicksal vieler alter Gründungen gleicher Art. Der Zeit-
punkt, an welchem die Privatbibliothek des einzelnen Herrschers anfıng
untheilbarer Hausbesitz zu werden, womit der erste Schritt zum Ueber-
gang in ein Staatsinstitut gethan ist, läßt sich meist gar nicht fest-
stellen; die Folgen der Unsicherheit müssen daher, sobald es darauf
ankommt, wie z. B. bei der ehemals Königlichen Bibliothek in Hanno-
ver, hinterher vertragsinäßig ausgeglichen werden. Während v. Mosel
a. QO. S. 4 die Geschichte der K. K. Hofbibliothek mit der Regierung
Maximilians I. beginnen lässt (1493), führt E. G. Vogel, Literatur
Off. u. Corporat.-Bibl. (1840) S. 224 nur an, daß sie 1575 »eröffnet«
sei, ohne Angabe eines Gründungsjahres. In jenem Jahr trat näm-
lich der Jurist Hugo Blotius an die Spitze der Bibliothek. Diejeni-
gen welche deren Anfang bereits ins J. 1440 verlegen, stützen sich
allein darauf, daß Friedrich III. (bez. IV.), dessen Regierung mit
dem J. 1440 begann, Aeneas Sylvius, den klugen und geistvollen
Freund der Wissenschaften, in seine Dienste nahm (1442) und viel-
leicht durch ihn mehrere Handschriften erwarb!). Im neuen Adreß-
buch d. Biblioth. d. österr.-ungar. Monarchie von Joh. Bohatta und
Mich. Holzmann (1900) wird S. 290 f. die Frage nach dem Grün-
dungsjahr nicht aufgeworfen, aber berichtet, daß i. J. 1495 Maximi-
lian I. dem Conrad Celtes die Aufsicht über seinen Bücherschatz
übertragen habe. Dieser spricht bereits im J. 1504 von einer bib-
liotheca . .. . regia (s. Gottlieb S. 32) und mag selbst sich mit der
Idee einer dauernden, größeren Schöpfung getragen haben, ohne daß
es zu einer solchen damals gleich gekommen ist.
Um nun zunächst die Ausführung des besprochenen Planes im
allgemeinen zu charakterisieren, so ist eine gewisse Breite der Dar-
stellung, in welcher überdies das mehr oder weniger Wichtige nicht
einmal durch den Druck unterschieden wird, nicht zu leugnen. Zum
Theil liegt das am Stoffe selbst und dem Gange der Darstellung,
der nothwendig einzuschlagen war. Wenn in chronologischer Folge
Alles was über die Büchersammlungen der einzelnen Glieder des
Hauses Habsburg an Nachrichten erhalten ist, vorgeführt wird, müssen
vielfach dieselben Handschriften und Drucke natürlich wiederholt dem
Leser unter die Augen treten. Ihre Identifizierung sowohl innerhalb
der abgedruckten alten Inventare wie besonders mit den jetzt noch
1) Für die unbelegte Angabe älterer Bücher (ähnlich z. B. v. Mosel, Gesch.
d. Hofbibl. zu Wien, S. 2), daß Friedrich III. dem Aeneas Sylvius den Auftrag
zur Anschaffung von Ilandschriften oder zur Ordnung seiner Bibliothek ertheilt
habe, finde ich keine Zeugnisse.
Gottlieb, Die Ambraser Handschriften. 1. 357
vorhandenen Manuscripten und Drucken ist oft unmöglich, noch
öfter sehr unsicher; denn jene Inventare sind keine modernen Hand-
schriftenkataloge, sondern meist nur schnelle, von unkundiger Hand
abgefaßte Aufnahmen des Bestandes, welche diesen zunächst vor
Entfremdung sichern, nicht aber der Welt Kenntnis von dem Inhalt
und Werthe jedes Buches geben sollten. Die räumliche Zugehörig-
keit zu einem bestimmt bezeichneten Kasten, einer Truhe u. dergl.,
die heute nicht mehr gilt, genügte damals zur Noth die Stücke zu
kennzeichnen und vor Verwechselung zu sichern; heute aber können
wir uns in vielen Fällen kein klares Bild mehr von dem machen,
was überhaupt im einzelnen gemeint ist. Der Verf. hat vieles zur
Aufhellung gethan und hätte m. Er. vielleicht statt »lieber weniger
als zu viel zu geben« (Vorr. S. VI) sogar unsichere Vermuthungen
— dann aber mit dem Zeichen des Zweifels — aussprechen und
damit weiteren Forschungen einen Fingerzeig geben sollen; denn
dem von den Schätzen der Wiener Bibliotheken Entfernten wird eine
Identifizierung noch weniger möglich sein. Gerade die sehr be-
schränkte Verwendbarkeit der alten Inventare für Provenienznach-
weise hätte auch vor ihrer Ueberschätzung bewahren und unter
anderem dazu führen müssen ihnen schon im Druck eine geringere
Bedeutung beizulegen. Entbehrliche Wiederholungen enthält z.B.
auf S. 35 und 58 die zweimalige Beschreibung des Gedenkbuches
Perpetue Maximilians I. (an erster Stelle hätte ein kurzer Hinweis
auf die spätere genügt). Als übermäßig umständlich ist ferner S. 12
Anm. 1 a. E. die »Ergänzung« über Georg Sigfried Zott, den älte-
ren Besitzer einer benutzten Handschrift zu bezeichnen; S. 125 ff.
die Beschreibung zweier Codices der Wiener Hofbibliothek; S. 143
die Erwähnung eines in den Tabulae cod. Vind. fälschlich mit Maxi-
milian I. in Beziehung gebrachten Codex der Hofbibliothek, da doch
bereits im gleichen Bande der Tabulae der Irrthum berichtigt ist,
wie Gottlieb selbst angiebt. Auch das Anführen bekannter Nach-
schlagewerke wie des Fabricius’ Bibliotheca mit vollem Titel, Druck-
ort und Jahreszahl (S. 23) rechne ich hierher.
Mit Erwähnung dieses, so zu sagen redaktionellen Fehlers
komme ich auf den Hauptmangel des ganzen Buches zu sprechen.
Eine ungenügende Druckfertigkeit macht sich recht oft bemerkbar.
Wenn der Verfasser, dessen große Gelehrsamkeit und allgemeine
Vertrautheit mit seinem Stoffe außer Zweifel steht, sich damit be-
gnügte Material zu einer künftigen Geschichte der Hofbibliothek,
also nur Steine zu einem Bau zu liefern, so mußte er diese vorher
in sauber behauenen Zustand bringen, der den Leser und Benutzer
des Buches der Mühe überhebt, selbst die Fehler der Ueberlieferung
858 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
zu verbessern, ihre Lücken auszufüllen, die Erklärung schwieriger
oder veralteter Wörter sich zu suchen u. dergl. Gottlieb hat gegen-
über einer scharfen Bemerkung über sein Buch in der Münch. Allg.
Zeit. von 1900 Beil. No. 64 ebenda in No. 78 sich darauf berufen,
daß seine Arbeit eine bibliographische sei. Dann mußte er
aber dessen eingedenk sein, daß man gerade von Bibliographien
Weglassen des Entbehrlichen, Hervorhebung des Wichtigeren auch
durch den Druck, Kenntlichmachung wörtlicher Citate, Berichtigung
des Falschen, knappe Erklärung des Zweifelhaften, kurz eine gute
Redaktion erwartet. Darin aber leistet das Buch zu wenig. Selten
wird durch einen erläuternden Zusatz dem Leser die Arbeit abge-
nommen, die ihm dialektische Wortformen und mangelhafte Ortho-
graphie oder Interpunktion der alten urkundlichen Texte verursachen,
und ihn zwingen, anderswoher sich darüber zu unterrichten, wenn
er nicht aus Ungeduld diese Mühe ganz aufgiebt.
Doch ich will nunmehr den Gang der Darstellung zu skizzieren
versuchen und einige Einzelbemerkungen daran knüpfen. Einleitend
werden (S. 1—24) die litterarischen Neigungen der älteren Habs-
burger vor Maximilian I. besprochen, soweit sie im Besitz von Büchern
sich kundgaben. Hier wäre bereits S. 3 Anm. 4 (vergl. S. 20 und 24)
die Erklärung der Buchstaben O. E. I. O. V., welche Besitzzeichen
Herzogs Friedrich V., des späteren Kaisers Friedrich HI. sind, am
Platze gewesen. Es sind die Anfangsbuchstaben seines Wahlspruches,
doch wird dieser verschieden angegeben, wie sich jene auch ver-
schieden in sinnreicher Weise ergänzen lassen; vergl. Jos. Chmel,
Gesch. Friedrich IV. u. s. w. (1840) S. 578f. und Biogr. Lexik. d.
Kais. Oesterr. VI, 266. Das auf S. 24 als Eintragung einer Hand-
schrift mitgetheilte Distichon versucht im Hexameter eine Deutung
der Buchstaben, doch ist er an dieser Stelle fehlerhaft (Zn amor
electis iustis ordinum ultor). In der bei Chmel a. O. gegebenen
Fassung wird der Vers berichtigt (en amor ellectis iniustis ordinor
ultor); Gottlieb aber überlässt es dem Leser, in jenem Verse die
Beziehung auf Friedrichs Devise zu erkennen, einen Sinn heraus-
zusuchen und ihn zu verbessern; er begnügt sich damit, Chmels
Buch zu citieren. — Das S.3 Anm. 4 a. E. erwähnte Stift (»Rewn
ewer stift vergesset nicht«) ist natürlich das Cisterzienserstift Rein
(ältere Namensform: Reun), das noch jetzt eine angesehene Biblio-
thek besitzt.
Der Haupttheil des Buches (S. 25—122), an den sich ein An-
hang (S. 123--144) in mehreren Abschnitten und drei — übrigens
nicht lückenlose — Indices anschliessen, behandelt Kaiser Maxi-
milians I. Bücher selbst. Lambecks Angaben über das, was sich
Gottlieb, Die Ambraser Handschriften. 1. 359
an Handschriften aus der Ambraser Sammlung auf den Besitz jenes
Kaisers zurückführen läßt, werden in Einzelheiten als irrig erwiesen ;
sodann wird zur Sache selbst dargelegt, was Maximilian noch bei
Lebzeiten seines Vaters durch seine erste Frau Maria von Burgund
sowie durch die zweite, Blanca Maria aus dem Hause der Sforza in
Mailand, an Codices erwarb, und was vor allem ihm als Erbschaft
von seinem Vater zufiel. Hiervon blieb ein Theil in Wiener Neu-
stadt; der werthvollere wurde nach Innsbruck und später nach
Schloß Taur gebracht. In den etwas jüngeren Inventaren, welche
der Verf. zum Beleg heranzieht, können indel, wie er selbst hervor-
hebt, auch Stücke andrer Herkunft stecken. Weiter werden die
Bücher besprochen, welche auf besonderem Wege in seinem Besitz
gelangten, zunächst die von Dr. Joh. Fuchsmagen stanımenden
(S. 46 ff.); die literarischen Reisen, welche im Auftrage des Kaisers
zur Aufspürung von Manuscripten und andern Seltenheiten unter-
nommen wurden (S. 49 ff.), seine vier Gedenkbücher, die mancherlei
Notizen über Bücher enthalten (S.53ff.), und endlich (S. 65 ff.)
die von ihm zur Herstellung von Büchern ertheilten Aufträge. Den
Inhalt eines besondern Abschnittes bildet »Die Bibliothek Maximi-
lians I. zu Innsbruck« (S. 68—109). Von dieser, soweit sie sich in
einem dortigen Gewölbe befand, wurde bald nach dem Tode des
Kaisers ein Inventar aufgenommen (um 1525), von dem sich zwei
spätere Abschriften erhalten haben. Von der einen, Cod. 7999* der
Wiener Hofbibliothek, etwa aus dem J. 1564, ist die zweite Hälfte
verloren (S. 71); das erhaltene Stück (W. bei Gottlieb) liefert über-
dies am ‘Anfang verschiedene für die Geschichte der Innsbrucker
Büchersammlung bedeutsame Notizen (S. 73). Unabhängig davon
ist eine andere vollständige Abschrift vom J. 1538 (J), welche Gott-
lieb so glücklich war im Codex 909 der Innsbrucker Universitäts-
Bibliothek ausfindig zu machen. L. C. Bethmann war auf einer
Forschungsreise für die Monumenta Germ. hist. bereits darauf auf-
merksam geworden, und eine handschriftliche Notiz darüber von
ihm hatte für Gottlieb einen Fingerzeig gegeben (S. 69f.). Daneben
muß es wenigstens noch eine dritte Abschrift gegeben haben (S. 71 ff.).
S. 90—109 folgt ein Abdruck dieses »Inventari<; vorher sind die
Ergebnisse des Fundes nach verschiedenen Seiten hin dargestellt.
Trotz einer gewissen Breite — wozu dient z.B. S.81f. die Auf-
zählung der ausdrücklich als Pergamenthandschriften u. s. w. be-
zeichneten Nummern, nachdem diese Gruppierung vorher bereits
besprochen ist und da doch das Verzeichnis selbst noch folgt? —,
vermißt man in diesem Abschnitte ungern eine Zählung der Bücher
nach ihrer Sprache. Man findet dabei, daß unter den 329 Nummern
860 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
des Inventars etwa bei 30 sich die Sprache nicht feststellen läßt
nach dem Wortlaut der Beschreibung oder weil es sich nur um
Bilder handelt; daß von den andern aber 170 deutsch, 115 latei-
nisch, 4 französisch, 3 burgundisch, 1 niederländisch, 3 böhmisch
geschrieben sind. Das Deutsche bildet somit, abweichend von dem
Bestande andrer gleichzeitiger Bibliotheken, bei weitem den Haupt-
theil, und wir dürfen darin eine Bestätigung sehen der Vorliebe
jenes Kaisers für deutsche Sprache und Kunst; eine Neigung, die
er übrigens mit andern Fürsten und dem Adel Süddeutschlands
theilte. |
Natürlich steht dieser ganze Abschnitt im Mittelpunkt des Gott-
lieb’schen Buches und ist ohne Zweifel interessant. Leider ist bei
der Mehrzahl der Nummern des Inventars die Beschreibung, wie
gewöhnlich, so ungenau (z.B. gleich No. 1: As» teutsche gedruckte
Bibel in rot gepunden mit mölling [pangen groß und gar dick;
2: Noch ain foliche), daß es meist ganz unmöglich ist aus ihrer
Zahl sonst bekannte Handschriften oder Drucke herauszufinden. Von
Handschriften, die Maximilian I. außerdem besessen, handelt be-
sonders Anhang V (S. 131 ff). Zuletzt verfolgt Gottlieb (S. 109 ff.)
noch die Schicksale jener Innsbrucker Bibliothek sowie der damals
noch bestehenden von Wiener Neustadt in späterer Zeit, wobei der
Zusammenhang mit der Bücherei Maximilians I. stellenweise ganz
verloren geht. Aus ersterer kam durch Ferdinand I., aus letzterer
durch Maximilian II. und Rudolf H. ein Theil nach Wien. Rudolf Il.
ließ aber außer Akten und Kunstsachen auch Bücher von Wiener
Neustadt nach Prag bringen (S. 111 ff.); später kamen durch Fer-
dinand II. wieder manche Biicher und Handschriften aus Prag nach
Wiener Neustadt. Dies alles wird urkundlich belegt, wenn auch
öfters die Quellen versagen und der Verf. dann auf Vermuthungen
angewiesen war.
Die zusamınenhängende Belehrung über die verschiedenen Wege
des Erwerbs, der Vererbung und Theilung der Habsburgischen Bücher-
sammlungen in mehreren Generationen, der Abdruck aller zugehö-
rigen alten Dokumente und Inventare, darunter einzelner noch un-
bekannter, die Ermittelung noch erhaltener Handschriften in den
alten Verzeichnissen und die Berichtigung irriger Ansichten Aelterer
zur Geschichte einzelner Manuscripte wie natürlich ganzer Samm-
lungen sind das, worauf der Hauptwerth des Buches beruht. Neues
bieten vor allem die Inventare S. 15 ff., 36 ff. (im Auszug; ein Aus-
zug mit mehrfach anderer Auswahl ist im Jahrb. d. Kunsts. Bd. 5
veröffentlicht), S. 90 ff. (s. oben), S. 112 ff. 123 ff. (Anhang I), die
Aktenstücke S. 9 ff. u. a, sowie die Mittheilungen aus Handschriften
Gottlieb, Die Ambraser Handschriften. I. 361
in Anhang III und IV (S. 127 ff.). An der ersten Stelle (Anhang III)
berichtet Sebastian Ranck, gen. Greiff, über den ihm vom Kaiser
Maximilian I. gewordenen Auftrag, die Kirchen und Klöster des
Reichs nach Büchern über Alterthümer, Geschichte und Naturbe-
schreibung zn durchforschen, sie abzuschreiben und einzuliefern.
Der Abdruck der alten Schriftstücke erfolgt, auch wenn frühere
Veröffentlichungen vorliegen, lobenswertherweise, so weit es anging,
aus den Originalen. Daß er buchstabengetreu ist bis zur Wieder-
gabe des langen und kurzen s sowie des v am Anfang und des «
im Innern der Wörter (vergl. Vorr. S. VI), ist weniger zu billigen.
Bei der Beschreibung von Wiegendrucken, wo es darauf ankommt,
den einzelnen Druck von jedem andern, auch von Parallel- und
Nachdrucken sicher zu unterscheiden, ist für die abgedruckten Wörter
und Zeilen eine solche Genauigkeit durchaus am Platze, ja unbe-
dingt zu verlangen. Beim Abdruck von handschriftlichen Stücken
dagegen, bei denen der Inhalt allein uns interessiert, hat man be-
reits über gewisse Modernisierungen in der Schreibung und Inter-
punktion sich geeinigt; da dient die Sorgfalt, mit welcher die alte,
an sich gar nicht eigenartige oder einheitliche, Schreibung von möjling,
vnd u.dergl. wiedergegeben wird, nur dazu den Leser etwas aufzu-
halten'). Uebrigens kommen wesentliche Abweichungen vereinzelt
selbst in Fällen vor, wo nur eine moderne Quelle abgedruckt worden
ist; so lesen wir bei Gottlieb S. 31 Anm. 1 aus dem Jahrb. d. kunsth.
Samml. 1. Bd. 2. Th. S. XXXVIO: »Dazu am Rande von anderer
Hd. bemerkt. Ist dermassen beschehn und in das vorgemelt gewelb
kumen«, während im Jahrbuch steht: ... ist dermassen beschehn
und in beruert gewelb in ain almar dermassen getan und nit auf
Thaur. Hoffentlich braucht man wegen eines solchen Versehens
keinen Argwohn zu schöpfen in Bezug auf die Genauigkeit der
Wiedergabe von Stücken, die sich nicht so leicht kontrollieren lassen.
Wo aus handschriftlichen Texten nur ein Auszug gegeben wird,
wie S. 36 ff. aus dem Inventar von 1507 über Bücher und Urkunden,
die sich in der Burg von Wiener Neustadt befanden, wird man über
die Grenzen öfters im Zweifel sein können und im allgemeinen lieber
etwas zu viel als zu wenig annehmen. Daß Fälle hier nicht fehlen,
wo Ausgelassenes besser mitgetheilt worden wäre, scheint eine Ver-
gleichung von S. 38 mit dem Auszug im Jahrbuch d. kunsth. Samml.
5. Bd. (I. Th. S. CXXIII) zu lehren. Die Nummer »Ain scatel darinn
ain sentbrief von khunig von Partigal an die Römisch khgl. maj.
1) Ob hierin bei der Abschrift oder dem Abdruck nicht zahlreiche Versehen
untergelaufen sind, scheint mir zweifelhaft; z.B. steht S.38 im gleichen Text
wiederholt ge/chriben und geschriben, 8. 37 huebmat/ters und priesterfchafft.
Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 5, 25
362 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
der neugefunden insl halben<, durfte schon wegen der Beziehungen
dieses Stückes zu dem bekannten Columbusbriefe nicht wegbleiben.
Nicht leicht hat das vom Verf. gesammelte Material ausdrück-
lich eine falsche Erklärung oder Beurtheilung gefunden; doch fehlt
es auch an solchen Fällen nicht. So ist z.B. auf S. 17 Anm. 2 in
dem Verse des Jo. Tiberinus an Sigmund (O dux Tiheutonice decus et
spes inclyta linguae; aus A. Zingerle, De carmin. lat. saec. 15. et 16.
[1830] S. 128) Theutomice (= -cae) nicht wohl anders als mit Iin-
gae zu verbinden. S. 32. 34 haben wir unter erotics libri, welche
Conrad Celtes ausser griechischen und lateinischen Büchern für die
Königliche Bibliothek anschaffte, gewiß nicht bloß an orientalische
Bücher (so Gottlieb), sondern ebenso an italienische, französische,
auch böhmische u. s. w. zu denken; deutsche mögen freilich im Hin-
tergrunde seiner Interessen gestanden haben. Recht überzeugend
ist die Vermuthung (S. 127) nicht, daß in Cod. Vindob. 485 die
handschriftliche Datierung (Bl. 86a) 1545 für 1455 verschrieben sei.
Es erhebt sich zunächst die Frage, auf welche bei Gottlieb trotz
der ausführlichen Beschreibung des Codex keine Antwort zu finden
ist, ob die Zahl zum ursprünglichen czechischen Text oder zu den
wesentlich jüngeren lateinischen Unterschriften gehört. Im Inns-
brucker Inventar (Gottlieb S. 95 no. 80) ist nur von > Behemifcher
under[chriffts die Rede. Wenn G. den Schriftcharakter der beiden
Texte für »nicht sehr verschieden< erklärt, so stimmt dazu nicht,
daß nach ihm selbst die lateinischen Texte »beträchtlich später fallen«.
Eine photochemische Nachbildung der Zahl und einer Probe der
beiden Texte wäre hier wohl am Platze gewesen. S. 136 Anm. 2
ist in den da mitgetheilten Versen des Jo. Mich. Nagonius, >»civis
Romunus poeta laureatus« (Caesar suscipe candidum volumen, Quod
mittit phrygius tibt poeta Montes coritios colens et antra) bei cortttos
nicht mit Gottlieb an Cortana (mit Fragezeichen), sondern wahr-
scheinlich an Cori, das auf dem Westabhang der monti Lepini bei
Velletri gelegene Städtchen, zu denken. Auch S. 143 kann ich die
Nachricht (aus Casp. Bruschius, Monast. germ. cent. I f. 140a), daß
der Mönch Leonhard Wirstelin, al. Hamaxurgus, librum centum
diversarum scripturarum ... anno Domini 1522 Divo Maximiliano
dedicavit, den zur Zeit des Bruschius der Abt noch besaß und ibm
zeigte, nicht mit G. >unklar und in sich widersprechend< finden.
Die Widmung galt$ wie das Jahr und das Attribut divus zeigen,
nur dem Andenken Maximilians, dessen warme Fürsorge für Kalli-
graphie und schöne Ausstattung von Handschriften und Drucken
auch noch nach seinem Tode eine Ehrung zu verdienen schien.
Ferner sind mitunter offenkundige Fehler der Ueberlieferung
Gottlieb, Die Ambraser Handschriften. I. 868
unverbessert geblieben; so wenn S. 31 in einer kaiserlichen Instruc-
tion vom 30. XII. 1500 verlangt wird, man solle gewisse »piiecher
mitsambt dem pulpret auch auf Thawr fuern und die puecher auf
das pulpret in ain lustigs (so nach dem Jahrbuch d. kunsth. Samml.
1. Bd. 2. Th. 8. XXXVI; vergl. oben S. 361) allmar thun und in
sölher gestalt verwaren lassen, damit die püecher nit verderben u. s.w.«
Natürlich ist »luftigs«e zu lesen, wie auf S. 35 eine andere Stelle
ähnlichen Sinnes angeführt wird: »Item, die Lyberey mit lufftigen
truchn [bei Primisser im Taschenb. f. vaterl. Gesch. 1824 S. 40 liest
man: truchin) dannen zu richten<. Auf S. 133 ist Z.8 v. u. in dem
Citat aus einer Wiener Handschrift natürlich transferenda in Latinum
zu lesen statt in Latium, falls nicht einer der Druckfehler vorliegt,
die leider ziemlich zahlreich sind.
Vor allem häufig aber werden Erklärungen zum leichteren Ver-
ständnis überlieferter Textstellen vermißt, die sich oft durch ein
einzelnes, in Klammern zugefügtes Wort geben liessen. Z. B. wären
Manche S. 22 für eine Deutung der Worte Jaro warollo uaralo wyte
etc.; S. 31 für die der Worte »eu früchten gebracht werden<; S. 64
des Wortes »(restäch puech« [= Turnierbuch]; S. 124 für den Nach-
weis des libro ... intitulato Maestro Zoan Berso und (ebd.) der
lettere impresse de Tobias; S. 144 für die Erklärung des Wortes
[yxtwis/fien (ndtsch., wohl vom Taufnamen Sixtus) gewiß dankbar.
S.59 2.19 ist der Sinn der Worte »Ist der Junckfrawen die Fran-
ckenland ubergeben hat ain gewesen« wohl Manchem dunkel, bis er
aus einer anderen Stelle (S. 62: »ob Gotbertus der Junnckfrawen vater
gewesen sey, die Frannckn landt vergeben hat«) ersieht, daß vorher
ain = Ahn ist.
Abgesehen von dem was als nächstes und als weiteres Ziel des
Buches bezeichnet wurde und erreicht ist, lernen wir aus ihm neben-
bei über das Buchwesen der behandelten Zeiten mancherlei kennen.
Bemerkenswerth sind so in dem S. 91 ff. herausgegebenen Verzeichnis
der Innsbrucker Bibliothek aus dem Nachlass Maximilians I. (s. oben
S. 359 f.) zwei Formatbezeichnungen (neben anderen gewöhnlicher
Art), »Donatblätter« (die zahlreichen Stellen sind von Gottlieb S. 84
zusammengestellt) und »Lateinblätter« (No. 105. 115). Die Donatblätter
sind wohl dem Quartformat der Wiegendrucke annähernd gleich, für
die andere Bezeichnung hat G. keine Erklärung gegeben und vermag
ich auch keine zu finden. Die fraglichen Worte (No. 105: Ain gedruckts
psalterlin mit rot uberzogen von latein plettlein; No. 115: Ain perga-
meniner geschribner illuminierter Curs de beata virgine in schwars ge-
punden von latein plettlein) stehn an der Stelle, wo sonst in der Regel
eine Art Formatbezeichnung sich findet. Man könnte ja daran denken,
25 *
364 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
daß zum Einband Blätter mit lateinischem Text verwendet wurden,
die man vorher, was nicht selten geschah, dunkel gefärbt hatte,
weil der einfarbige Einband passender schien als die Verwendung
beschriebener oder bedruckter Makulaturblatter. Dem widerspricht
aber, daß in Abschrift W das Buch No. 115 durch eine Randbemer-
kung ausdrücklich als mit Damast überzogen bezeichnet wird.
Mancherlei fand ich auszusetzen an der Art, wie Gottlieb die
Aufgabe durchgeführt hat, die er sich gestellt. Die folgenden Theile
werden ihm bald Gelegenheit geben, zu zeigen, daß er des reichen
Stoffes auch äußerlich immer fester und sicherer Herr wird, daß er
seinen Gegenstand, über den voraussichtlich so bald kein Werk
gleichen Umfangs wird erscheinen können, bis zu einem gewissen
Grade abschliessend zu behandeln vermag. Hinsichtlich der weiteren
Arbeitspläne des gelehrten Verfassers dürfen wir uns freuen, daß
er für eine kritische Ausgabe der mittelalterlichen lateinischen Hand-
schriftenkataloge seine Kenntnisse und die gewaltige Arbeitskraft in
den Dienst einer planvoll bestimmten und geleiteten Aufgabe ge-
stellt hat.
Göttingen, 28. März 1901. Karl Dziatzko.
von Meier, E., Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsge-
schichte. 1680—1866. Erster Band. Die Verfassungsgeschichte. X 566 S.
Zweiter Band. Die Verwaltungsgeschichte. VIII 647 S. Leipzig, Duncker &
Humblot 1898 und 1899. Preis 11,60 und 13,40 Mk.
Im Jahre 1881 bemerkte E. v. Meier in seiner Darstellung der
»Reform der Verwaltungsorganisation unter Stein und Hardenberg«:
»Die heutigen Franzosen sind von den Zuständen vor der Revolution
‘sehr viel besser unterrichtet, als wir von denen vor der Reform«.
Im Vorwort zu dem vorliegenden Werke meint er, daß dieser Satz
für Preußen nicht mehr gelte. Wir möchten hinzufügen, daß doch
auch für die Erforschung der Zustände in den übrigen deutschen
Ländern in der Zwischenzeit mancherlei geschehen ist. Wir ver-
danken z. B. viel Aufklärung mehreren von der badischen historischen
Kommission veröffentlichten Werken, ferner mehreren Arbeiten aus
der Schule G. F. Knapps, nicht am wenigsten der kleinen, aber
lehrreichen Schrift von Th. Ludwig »Der badische Bauer im 18.
_Jahrhundert« (1896)!). Indessen es bleibt richtig, daß man West-
1) Ueber Wittichs Grundherrschaft in Nordwestdeutschland, s. unten näheres.
Besonders möchte ich bier auch auf die verfassungs- und verwaltungsgeschicht-
von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. 365
und Süddeutschland nicht den gleichen Eifer gewidmet hat wie dem
deutschen Nordosten. Und da die Litteratur über sie zu wünschen
übrig läßt, so sind die Eigentümlichkeiten der west- und süddeut-
schen Territorien dem allgemeinen Urteil noch nicht recht geläufig.
Es kommt noch immer vor, daß jemand, der Zustände des ancien
regime schildern will, sein Urteil, ohne es zu wissen, lediglich von
den nordostdeutschen Verhältnissen abstrahiert'). Unter diesen -
Umständen begrüßen wir es mit großer Freude, wenn uns, wie
jetzt von E. v. Meier, eine sehr eingehende Verfassungs- und Ver-
waltungsgeschichte eines der namhaftesten unter den nichtpreußischen
Territorien geboten wird.
Ueber den allgemeinen Nutzen der Beschäftigung mit den Ver-
hältnissen der älteren deutschen Territorien habe ich mich an an-
deren Stellen mehrfach geiuGert”). Kürzlich hat Ulrich Stutz‘)
treffend bemerkt, daß »ohne gründliche Kenntnis der Landesrechts-
geschichte die deutsche Rechtsgeschichte ein Messer ohne Heft ist«.
Ich möchte an dieser Stelle noch daran erinnern, daß H. v. Sybel
schon vor vierzig Jahren in der Münchener historischen Kommission
den Plan einer Geschichte der baierischen Landesverwaltung in den
letzten vier Jahrhunderten, mit besonderer Rücksicht auf die Ent-
wicklung der Preise und Löhne und die hienach zu beurteilende
soziale Lage der verschiedenen Bevölkerungsklassen, vorgelegt hat‘).
Man bezeichnet heute in manchen Kreisen Sybel als Vertreter der
»politischene Geschichte im engsten Sinne des Wortes. Wer seine
Arbeiten und seinen Entwicklungsgang kennt, der weiß, daß seine
litterarische Tätigkeit sehr vielseitig und seine Ziele weitausschau-
ender Art waren.
In einem so umfassenden Sinne wie Sybel jene Darstellung der
lichen Partien in M. Ritters Deutscher Geschichte im Zeitalter der Gegen-
reformation und des dreißigjährigen Krieges hinweisen und zwar um so mehr,
als sie von Juristen und Nationalökonomen leicht übersehen werden können. Die
neueste (17.) Lieferung enthält in dem Abschnitt »Neuordnungen in dem Reich
und den kaiserlichen Erblanden« (S. 170—222) höchst ausgiebige Schilderungen.
Namentlich die Darstellung der Umwälzung der Verhältnisse in Böhmen, die
nach dem Siege des Kaisers erfolgte, ist ebenso anschaulich wie lehrreich.
1) Ich habe mich hierüber schon im Jahre 1890 ausgesprochen. S. meine
landständ. Verfassung in Jülich und Berg III, 1, S. 8. Vgl. dazu meine Bemer-
kungen in diesen Anzeigen 1898, S. 927.
2) Z. B. Territorium und Stadt S. VIII.
3) Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, germanist. Abt.,
Bd. 20 (1899), S. 840.
4) Vorträge und Abhandlungen von H. von Sybel, mit einer biographischen
Einleitung von K. Varrentrapp S. 346 f.
866 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
baierischen Verwaltungsgeschichte hat E. v. Meier eine Schilderung
der hannoverschen Verwaltungsgeschichte nicht beabsichtigt. Er
räumt selbst ein, daß seine Verwaltungsgeschichte »vielmehr die
Geschichte der Verwaltungsorganisation, teils der Behörden, des Mi-
nisteriums, der Kammer, der Kriegskanzlei, der Landdrosteien und
der Aemter, teils der Kommunalverbände, der Städte und der Land-
gemeinden« sei. Diese Beschränkung des Stoffes wird man ge-
rechtfertigt finden, wenn man berücksichtigt, daß M. die Verwaltungs-
mit der Verfassungsgeschichte verbindet. In einem solchen Rahmen
würde die Hereinziehung der Geschichte der einzelnen Zweige der
materiellen Verwaltung, wie der Steuergeschichte und der staatlichen
agrarischen Verwaltung, Ungleichmäßigkeiten hervorrufen.
Hinsichtlich des für die Darstellung verwerteten Aktenmaterials
könnte man die Ausstellung machen, daß M. hauptsächlich Akten
der Centralverwaltung benutzt hat und nicht genug zu denen der
lokalen Instanzen vorgedrungen ist. Indessen wer wird bei Dar-
stellungen aus der neueren Geschichte sofort vollständige Verwer-
tung des Quellenmaterials verlangen! In den meisten Fällen muß
man, wenn man überhaupt bis zur Darstellung gelangen will, seiner
archivalischen Arbeit eine mehr oder weniger willkürliche Grenze
ziehen. Genug, wenn sie so ergiebig gewesen ist, daß man eine
originale Anschauung von den Dingen gewonnen hat.
Wenn wir hiermit auf etwaige Lücken, die jemand in M.s Werk
entdecken könnte, hingewiesen haben, so wollen wir um so ener-
gischer auf seine großen Vorzüge hinweisen. Zunächst ist M. in
der glücklichen Lage, die Beobachtungen und Erwägungen des
Praktikers mit den Studien des Gelehrten zu vereinigen. Vielleicht
stammt gerade hieraus ein weiterer Vorzug seiner Darstellung. Er
hat ein lebhaftes Bewußtsein für die Bedeutung des persönlichen
Elements: er erkennt, daß auch die Verfassungs- und Verwaltungs-
geschichte, nicht blos die Geschichte der Kriege und diplomatischen
Verhandlungen persönlich bedingt ist. Die Organisation des Aemter-
wesens ist nicht blos ein Produkt einer Rechtsidee oder ein Aus-
druck eines bestimmten Culturzeitalters, sondern in hohem Maße
und in den verschiedensten Beziehungen von den Zufälligkeiten per-
sönlicher Antriebe abhängig. Es ist ein charakteristischer Fall,
übrigens aber blos einer unter vielen, wenn M. Bd. 2, S. 141 (vgl.
auch S. 78) erwähnt, daß nur unter dem Gesichtspunkt, sum Em-
pfindlichkeiten zu schonen<, eine Organisationsfrage erledigt wurde.
Namentlich von dieser Erkenntnis aus widmet er der Frage nach
den Familien, aus denen sich die Beamten rekrutieren, eingehende
Aufmerksamkeit. Durch die Berücksichtigung des persönlichen Mo-
von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. 367
ments gewinnt die Darstellung wesentlich an Lebendigkeit ; sie hat
nichts von dem kahl schematischen, das manchen verwaltungsge-
schichtlichen Arbeiten, die hauptsächlich nur die Amtsordnungen und
-instruktionen ausschöpfen, anhaftet. Großes Lob verdient es ferner,
daß M. regelmäßig einen Vergleich der Verhältnisse Hannovers mit
denen anderer deutscher Territorien, insbesondere Preußens, zieht.
Und diese Hinweise auf andere Staaten sind bei ihm nicht gelehrter
Prunk, sondern dienen dazu, die Eigenart des Landes, dessen Ver-
fassung und Verwaltung er schildern will, wirklich anschaulich zu
machen. Man hat an den Darstellungen, die die Vorzüge der preußi-
schen Verwaltung in helleres Licht setzen wollten, es getadelt, daß
ihnen eine ausreichende Kenntnis der Zustände der anderen Staaten
fehle). Wenn jetzt M. solchen Anforderungen entspricht, so setzen
ihn dazu namentlich die trefflichen Arbeiten, die inzwischen über
die preußische Verwaltungsgeschichte erschienen sind, in Stand.
Mit den eben hervorgehobenen Vorzügen vereinigen sich Gründ-
lichkeit der Forschung, Klarheit und Sauberkeit der Darstellung.
Es giebt Monographien und Abhandlungen, die durch die Lösung
einzelner wichtiger Probleme aus der neueren deutschen Verfassungs-
und Verwaltungsgeschichte mehr gewirkt und mehr Aufsehen erregt
haben. Es giebt auch größere und darum dankbarere Stoffe in der
neueren Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte als die Zustände
von Hannover. Allein da der abgeschlossenen Darstellung vor der
Monographie doch immer ein Vorzug zukommt, so dürfen wir unter
jenen Einschränkungen M.s Werk wohl als das beste Buch über
heuere deutsche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte ansehen.
Ein ausführliches Referat über den reichen Inhalt der beiden
Binde zu geben, würde viel zu weit führen. Ich begnüge mich mit
der Namhaftmachung einiger Punkte.
Im ersten Bande schildert M. in einem ersten Abschnitt die
Bildung des hannoverschen Landesverbands. Hier und ebenso in
dem zweiten Abschnitt >der Landesherr und die oberste Landes-
fegierung«e ist von besonderem Interesse die Beobachtung der Wir-
kungen, die die Abwesenheit des Herrschers, der während eines
en Zeitraums ja zugleich König von England war, zur Folge
. Am meisten Raum nimmt im ersten Bande der dritte Ab-
“nit »Der Landesherr und die Landstände« ein. In Hannover
lt die alte landständische Verfassung nicht, wie in andern deutschen
Territorien, durch den Absolutismus beseitigt worden, vielmehr bis
tr Einführung konstitutioneller Formen in verhältnismäßiger Kraft
I) Wagner, Finanzwissenschaft Bd. 8, S. 106.
868 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
bestehen geblieben. M. hat daher Veranlassung, den ganzen Orga-
nismus des Ständetums mit seinem Anteil an den verschiedenen
Zweigen der Verwaltung eingehend zu schildern. Ich bekenne
dankbar, aus seinen Darlegungen fiir meine Darstellung der deutschen
landständischen Verfassung (in meinem Buch »Territorium und Stadt«
S. 163 ff.) Nutzen gezogen zu haben. Seinem allgemeinen Urteil‘)
über die Bedeutung der alten Landstände vermag ich freilich nicht
zuzustimmen. Er räumt zwar ein, daß die Stände ein Hindernis
für schlechte Handlungen des Landesherrn gewesen sind. Aber er
meint (S. 36), daß »die ständischen Institutionen zu keiner Zeit ein
treibendes Element in der staatlichen Entwicklung gewesen sind;
sie haben stets nur retardierend gewirkt«. Dem gegenüber ver-
weise ich auf meine ausführlichen Erörterungen a.a.0O.*). Doch
diese Differenz macht im vorliegenden Falle nicht viel aus: mit der
besten Zeit der ständischen Tätigkeit haben wir es hier jedenfalls
nicht zu tun®). Sehr wertvoll ist M.s Schilderung des Uebergangs
vom alten ständischen zum modernen Staat. Dahlmanns Anteil an
den Verfassungskämpfen wird von M. genauer festgestellt, zugleich
auch ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte seiner politischen An-
schauungen (S. 355 Anm. 2) gegeben. Sogleich an dieser Stelle mag
notiert werden, daß Max Bär in den Mitteilungen des Vereins für
die Geschichte von Osnabrück, Bd. 24, S. 200 ff. und 251 ff. Stüve
gegen M.s Vorwürfe in einigen Punkten in Schutz nimmt. In den
Erörterungen über die Verfassungsreformen stellt M. S. 354 den
1) Gegen dieses hat sich übrigens schon Rachfahl, Histor. Ztschr. 85, S. 125
erklärt.
2) Neuerdings glaubt Wilh. Stolze, Zur Vorgeschichte des Bauernkrieges
(Schmollers Forschungen XVIII, Heft 4), S. 21 Anm. 1 meinen Satz, daß die
Landstände mit den Laudesherren zusammen an der Ausbildung des deutschen
Territorialstaates gearbeitet haben, für Südwestdeutschland bestreiten zu müssen.
Er stützt sich namentlich darauf, daß hier Landstände erst spät vorkommen.
Aber sie lassen sich doch selbst nach seinen Kriterien wenigstens seit dem Aus-
gang des Mittelalters nachweisen, und von da an hatten sie noch genug Gelegen-
heit, sich an dem Ausbau des Territoriums zu beteiligen. Weiter reichen Stolzes
Kriterien für die Bestimmung des Alters der Stände nicht aus. Sie brauchen kei-
neswegs erst seit dem Moment zu existieren, von dem ab cs Berufungsschreiben
zum Landtag und Landtagsakten giebt; in der älteren Zeit erfahren wir von
ihnen regelmäßig aus Privilegien und gelegentlichen Erwähnungen. Weun in
Südwestdeutschland die Territorialbildung unvollkommener als anderswo ist, so
liegt dies zum großen Teil daran, daß sich hier oft eine Klasse, die Ritterschaft,
vom Landtag fern gehalten hat. Darin sehe ich eine Bestätigung meines Satzes.
3) Zu M.s Ausführungen über die lüneburgischen Stände vgl. Adolf Wrede,
die Einführung der Reformation im Fürstentum Lüneburg (Göttinger Dissertation
von 1887), S. 25.
von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. 369
Satz auf: »Noch niemals hat eine zu staatlicher Macht gelangte so-
ciale Gruppe im Interesse der Gesamtheit freiwillig verzichtet; es
sind immer nur Individuen gewesen, welche auf einem idealistischen
Standpunkte gestanden haben<. Aehnliche Aeußerungen sind ja un-
endlich oft gefallen. Indessen ich möchte ihre Berechtigung doch
bestreiten. Die ostpreußischen Großgrundbesitzer waren in den
40er Jahren des 19. Jahrhunderts in ihrer Mehrheit bereit, wesent-
liche Stücke ihrer Vorrechte aufzugeben. Es lag nicht an ihnen,
wenn die von ihnen vorgeschlagenen Reformen einstweilen nicht
durchgeführt wurden. Im vierten Abschnitt »der Staatsdienst< kommt
in ganz besonderem Sinne das zur Geltung, was ich vorhin über
das Interesse bemerkt habe, das M. dem persönlichen Moment ent-
gegenbringt. Im Hannöverschen Beamtentum herrschte der Adel,
vermöge der Stellung, die ihm die Landtagsverfassung gab; die
Arbeit aber fiel bürgerlichen Beamten zu, die nun freilich allmäh-
lich auch ihrerseits auf Umwegen zu Macht gelangten. »Die üblen
Folgen zeigten sich nicht blos in dem Herunterkommen des Adels,
sondern auch im Charakterverderb der Sekretäre« (S. 496). Die
Familien der »Sekretariokratie< bezeichnet man als die »hübschen«
oder »schönen Familien<. Zur Familiengeschichte der altadligen,
der neuadligen und der »schönen« Familien trägt M.s Buch vieles
bei (vgl. die Zusammenstellung im Personenregister, Bd. 2, S. 642).
In diesem Zusammenhang giebt M. sehr interessante Erörterungen
über das Elend der kaiserlichen Adelserhebungen (Bd. I, S. 465 f.).
‚Niemals in der Welt ist weniger als bei diesen kaiserlichen oder
reichsvikariatischen Nobilitierungen auf irgend welches Verdienst ge-
sehen .... Es ist unter diesen Umständen schwer verständlich, was
es heißen soll, wenn noch heute die Eigenschaft eines Reichsgrafen
oder eines Reichsfreiherrn in Familien-, namentlich in Todesanzeigen
hervorgehoben wird<. Dem Vergleich mit den Zuständen anderer
Länder!), namentlich Preußens, widmet M. in diesem Abschnitt be-
sonders eingehende Betrachtungen (S. 501). »Der preußische Staats-
dienst bedurfte der Talente< (S. 505). »Niemals ist in Preußen den
Adligen vor den Bürgerlichen in gleicher amtlicher Stellung ein
prinzipieller Vorrang eingeräumt worden< (S. 507). Uebrigens hat
in Hannover Georg V. »eine gewisse Vorliebe für Bürgerliche ge-
habt und solche mehrfach in auffallender Weise begiinstigt< (S. 499).
Anders als mit dem Civildienst verhielt es sich mit dem Militärdienst.
In diesem galt das bürgerliche Element, auch bei der Kavallerie,
0) Nur ein lapsus calami ist es zweifellos, wenn M. S. 493 Schimmelmann
zu den »altadligen« Familien Holsteins rechnet.
870 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
als gleichberechtigt (S. 501). Es hing dies damit zusammen, daß
der Civildienst in Hannover größeres Ansehen genoß als der Mili-
tirdienst. Im übrigen heben wir aus diesem Abschnitt die richtige
Bestimmung des Wesens der »adligen< und der »gelehrten« Bank
im Gericht (S. 478 ff.), den Vergleich der Gehälter der hannoverschen
und der preußischen Richter (S. 524) und namentlich die instruktive
Schilderung des alten Sportelwesens (S. 524 ff.) hervor. Gerade
dieses ist etwas, woran uns das alte System recht anschaulich wird).
Der zweite Band ist ganz der Verwaltungsgeschichte gewidmet
und stellt in einem ersten, sehr eingehenden, Abschnitt die Cen-
tralverwaltung, in einem zweiten, kurzen, die Provinzialverwaltung,
in einem dritten, wiederum sehr eingehenden, die Lokalverwaltung
dar. Es sind meistens wenig erfreuliche Dinge, die M. hier uns
vorzuführen genötigt ist; seine Schilderung wird auf viele ernüch-
ternd wirken. Die Vorzüge der preußischen Verwaltung treten uns
hier deutlich ins Bewußtsein. Wie in einem Brennpunkt konzen-
triert sich die preußische und die hannoversche Art in dem Amte
des Landrats, bez. des Amtmanns. Der Vergleich, den M. S. 412 ff.
durchführt, ist sehr lehrreich*). Freilich läßt sich wohl einiges, was
M. nicht dargestellt hat, zu Gunsten der hannoverschen Verwaltung
geltend machen. Doch müßten wir, um dies zu erläutern, auf die
materielle Verwaltung eingehen, während M.s Augenmerk auf die
Verwaltungsorganisation und das Beamtentum gerichtet ist. Aber
auch in einer Organisationsfrage möchten wir ihr widersprechen.
Die Lokalverwaltung Hannovers war, wiewohl nicht in allen, so doch
in vielen Beziehungen vor dem Erscheinen von M.s Werk schon von
W. Wittich (s. meine Besprechung seines Buches »Die Grundherr-
schaft in Nordwestdeutschland« in diesen Anzeigen 1898 Nr. 12,
S. 923 ff.) ausführlich behandelt worden. Gegen dessen Behauptungen
eröffnet M. eine entschiedene Polemik. Vgl. S. 311, 376—382, 584.
1) Aus den Erörterungen über den Staatskanzler in Preußen und in Hannover
(8. 210f.) ersieht man gut, wie dasselbe Amt verschiedenen Zwecken dienen, je
nach der Persönlichkeit des Herrschers und den allgemeinen Verhältnissen ver-
schiedene Inhalte haben kann.
2) 8. auch das Referat in den Forschungen zur brandenburgischen und
preußischen Geschichte 12 (1899), S. 579 über einen Vortrag E. v. Meiers über
die in einigen Teilen Hannovers (namentlich im Fürstentum Lüneburg) seit dem
17. Jahrhundert neben den landesherrlichen Aemtern als Organe der Kriegs- und
Steuerverwaltung entstandenen ritterschaftlichen Landkommissarien, über deren
Verwandtschaft mit den preußischen Landräten und über die Frage, wie es zu
erklären sei, daß die preußische Aemterverfassung immer mehr vor der Land-
ratsverfassung zurückgetreten sei, während die für eine solche in Hannover vor-
handenen Keime sich nicht weiter eutwickelt hätten.
von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. 871
M. erhebt gegen Wittich namentlich folgenden Vorwurf: »W. schil-
dert aus seiner theoretischen Betrachtungsweise heraus die Zustände
des niedersächsischen Mutterbodens in den rosigsten, die des über-
elbischen Kolonialbodens in den schwärzesten Farben; er ist von
seinem Standpunkte aus eigentlich inkonsequent, wenn er die Exi-
stenz einer östlichen Landgemeinde überhaupt zugiebt<. Wir be-
grüßen jede Arbeit, die geeignet ist, die Legendenbildung über die
»ostelbischen< Verhältnisse zu zerstören, mit Freuden'). Und so
verzeichnen wir es dankbar, wenn M. seinen alten) Verdiensten auf
diesem Gebiet neue hinzufügt. Aber ich glaube, daß M. sich nicht
an die richtige Adresse wendet, wenn er Wittich angreift. Beide
Forscher weichen im tatsächlichen gar nicht so sehr von einander
ab. Es sind nur verschiedene Aussichtspunkte, von denen aus sie
die Dinge ansehen. Das Verhältnis, das zwischen beiden besteht,
scheint von der Art zu sein, daß Wittich die Thatsache, daß in
Hannover adliges Gericht und adliger Grundbesitz sich nicht decken,
stark betont, während M. umgekehrt darzulegen sucht, daß die
Adligen dahin strebten, nach Möglichkeit ihre Gerichtsbarkeit über
ihren ganzen Grundbesitz auszudehnen. Man kann sagen, daß nicht
blos Wittich, sondern auch M. im Recht ist, wenn er seinen Ge-
sichtspunkt energisch hervorhebt. Aber das Bild der Vergangenheit
wird doch erst vollständig, wenn wir uns gegenwärtig halten, daß
die Adligen jenes Ziel in Hannover nicht erreicht haben. Die Po-
lemik M.s (S. 376) gegen Wittichs Anwendung des Wortes Selbst-
verwaltung auf die adligen Gerichte dürfte gegenstandslos sein, weil
Wittich hier von einem andern juristischen Begriff ausgeht als M.
Jedenfalls hat er mit der Wahl dieses Ausdrucks kaum etwas zum
Lobe der hannoverschen adligen Gerichte sagen wollen. Im ein-
zelnen sei folgendes bemerkt. Seckendorffs Schilderung (M. S. 376)
kann nicht unbedingt für Hannover in Betracht kommen, da er min-
destens nicht blos dessen Verhältnisse im Auge hat. S. 378 2.4
von oben wäre statt »Rittergüter«e »adlige Gerichte« zu sagen.
S. 381 bestreitet M. Wittichs Behauptung, daß >die Güter der Edel-
leute neben den Dörfern und neben dem Domänengute im Amtsbe-
zirke gelegen hatten<. Allerdings »die< Güter nicht; aber ein sehr
1) Vgl. mein Territorium und Stadt S. 83 Anm. 2.
2) E. v. Meier, die Reform der Verwaltungsorganisation unter Stein und
Hardenberg S. 120 ff.; Encyclopädie der Rechtswissenschaft (hrsg. von F. v. Holtzen-
dorff), 5. Aufl., S. 1175. Vgl. zu diesen Fragen auch Loening, Verwaltungsrecht
S. 145 und speziell über die südwestdeutsche Landgemeinde Th. Knapp, die vor-
malige Verfassung der Laudorte des jetzigen Oberamts Heilbronn, Württember-
gische Jahrbücher 1899, Heft 1.
872 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
beträchtlicher Teil! Die S. 382 citierte Bemerkung Bülows spricht
doch für Wittich. Die Privilegierung der Rittergüter in ihrem Ver-
hältnis zur Gemeinde ist im Osten zweifellos stärker als im Westen.
Vgl. mein Territorium und Stadt S. 131 Anm. 3. Die richtige Be-
stimmung der Natur der Gemeindeverfassung und des Verhältnisses
zwischen Gemeinde- und Gerichtsgrenzen ist natürlich von größter
Wichtigkeit für die kürzlich mehrfach diskutierte Frage nach der
Verwertbarkeit der sog. Grundkarten. Ueber Beispiele, daß Ge-
meindegrenzen von Gerichts- und politischen Grenzen geschnitten
werden, s. M. S. 322 und 384. Die Tatsachen, welche Fabricius
soeben im Korrespondenzblatt der Westdeutschen Zeitschrift 1900,
Sp. 183 ff. konstatiert, liefern doch, wiewohl es Fabricius wohl nicht
ganz einräumen will, den Beweis, wie berechtigt Seeligers Kritik
(Historische Vierteljabrsschrift III S. 449f.) an der »Grundkarten-
forschung< gewesen ist. — M. S.311 Anm. 1 nimmt auch auf Wittichs
Ansichten über den Ursprung der Grundherrschaft Bezug. Hierüber
mich zu äußern unterlasse ich, da sie für die Schilderung des Zeit-
abschnittes, den M. darstellt, gleichgiltig sind. Neuerdings vgl. dazu
Heck, Die Gemeinfreien der karolingischen Volksrechte (Halle 1900).
— Zu dem Abschnitt über die Centralverwaltung bemerke ich, daß
sich M.s Anschauung von dem »völligen Siege« der landesherrlichen
Gewalt, durch den zu Anfang des 16. Jahrhunderts »jeder Dualismus
auf den Gebieten der auswärtigen, der Heeres- und der neu ent-
stehenden innern Verwaltung beseitigt war<, schwerlich halten läßt.
In Bezug auf die letztere mag sie gelten. Auf dem Gebiete der
auswärtigen und der Heeresverwaltung hat dagegen, wohl in den
meisten deutschen Territorien, ein gewisser Dualismus noch das
ganze 16. Jahrhundert hindurch und teilweise darüber hinaus be-
standen. S.6 läßt M. »überall in Deutschland« ein Konsistorium
früher als eine Kammer (für die Finanzen) entstehen. Wohl die
meisten Territorien haben gar kein Konsistorium erhalten und von
den anderen vielleicht manche dieses später als eine Kammer. Doch
solche Ausstellungen sind Kleinigkeiten und kommen gegenüber dem
schönen und reichen Inhalt, den das Buch auch in diesen Partieen
zeigt — es sei nur noch!) auf die Erörterung über die Domänen-
verwaltung und den Einfluß des preußischen Vorbildes (S. 349 ff.)
verwiesen — nicht in Betracht.
1) Ucber die Frage, ob und inwiefern die administrative Justiz des 18. Jahr-
hunderts als eine Verwaltungsgerichtsbarkeit im neueren Sinne, d.h. als eine Ge-
richtsbarkeit des öffentlichen Rechts betrachtet werden darf, vgl. M. S. 237 ff.
und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 12, 8. 579.
Marburg i. H., den 27. Oktober 1900. G. v. Below.
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. 378
Waitz, Georg, Deutsche Verfassungsgeschichte. Sechster Band: =
Die Deutsche Reichsverfassung von der Mitte des neunten bis zur Mitte des
zwölften Jahrhunderts. Zweiter Band. Zweite Auflage bearbeitet von Ger-
hard Seeliger. Berlin. Weidmannsche Buchhandlung 1896. XIV, 625 S.
Waitz hat auf der Hohe der verfassungsgeschichtlichen Bildung
seiner Zeit gestanden, als er vor zwei Menschenaltern seine deutsche
Verfassungsgeschichte unternahm. Er konnte sich an politischem
Wissen und Verständnis mit Dahlmann und an juristischem mit
Zöpfl und Zachariae messen; in seiner übrigen historischen Aus-
rüstung hat er die Mehrzahl seiner Zeitgenossen übertroffen.
Er war nicht der Meinung, daß die Geschichte eines Staats-
wesens ohne allgemeine Kenntnis des Staats geschrieben werden
könne oder daß der Verfassungshistoriker auf einer Stufe der Wissen-
schaft von den beiden Seiten des staatlichen Lebens, der politischen
und der rechtlichen, stehen bleiben dürfe, welche die fortschreitende
Entwicklung hinter sich gelassen habe. Die Politik als Wissenschaft
ist allerdings seit Waitz wenig und am wenigsten von Deutschen
gefördert worden, doch ist sie bei ihnen nicht auf die Niedrigkeit
der Vorlesungen Treitschke’s über Politik zurückgegangen. Das
Staatsrecht hingegen ist unter stärkerer Betheiligung Deutschlands
vollkommener geworden, obschon hier der von Albrecht eröffneten,
von Gerber fortgesetzten und heute von Haenel vertretenen Rich-
tung eine falsche geschichtslose Jurisprudenz entgegensteht, deren
Art und Weise durch Rechtsgutachten wie das des Berliner Docen-
ten Hinschius wider die Privatdocenten in Preußen vom Jahre 1895
in weitere Kreise gedrungen ist.
Mit der Fortbildung des Staatsrechts ist die Fähigkeit Politik
und Recht zu scheiden so gewachsen, daß beide Gebiete auch
in der Geschichtschreibung eine gesonderte Behandlung erfahren
werden. Bei der Durchführung der Trennung wird freilich das eine
im Dienste des anderen als Hülfswissenschaft verbleiben. Und die Ge-
schichte des Staatsrechts bedarf wohl eines stärkeren Zusatzes von
Politik, als ihr Mommsen in seinem römischen Staatsrecht hat geben
wollen; eher könnte ein Politiker Verfassungsgeschichte schreiben,
ohne mit dem öffentlichen Recht vertraut zu sein.
Die Verschiedenheit der beiden Geschichtschreibungen würde
deutlicher vor Augen treten, wenn Waitz Fortsetzer gefunden hätte.
Juristen mag die Abneigung abgehalten haben sich mit einer Zeit
zu beschäftigen, in welcher das Öffentliche Recht immer mehr Recht
ohne Macht und die Verfassungen Formen ohne Lebenskraft gewor-
374 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
den sind; wo nach Beseitigung der Landstände und der Ertödtung
‘des germanischen Gedankens der selbstthätigen politischen Freiheit
nur die Territorialherren als Familienfideikommißbesitzer und eine
Regierung mit unverantwortlichen Beamten übrig blieben; wo das
bisher von den Rechtshistorikern vergeblich gesuchte Beispiel von
Staaten ohne Justiz zu erscheinen begann, in denen die Richter
durch Ernennung, Beförderung und Entlassung in völlige Abhängig-
keit von den Herrschenden kamen und das Strafrecht durch die den
Machthabern zu Gehorsam verpflichteten Staatsanwälte zu einem dem
Zweck unseres Strafrechts fremden Machtmittel der Politiker wurde;
wo ein Militärbeamtenstand mit Vorrechten und Bevorzugungen über-
häuft wurde, weil seine Gunst die Privilegierenden nothwendig
däuchte, um sie im Genuß ihres Erbrechts zu schützen; wo endlich
so machtlose Volksvertretungen geschaffen wurden, daß sie keine von
ihren wenigen Befugnissen gegen die Gewalthaber zu vertheidigen
vermochten. Ä
Politische Verfassungshistoriker würden von einer derartigen
Zeit schwerlich so abgestoßen werden, um sich von ihr abzuwenden,
sie könnten jedoch nur in einem freien Lande schreiben. Oder
dürfte bei uns das Öffentliche Leben des 19. Jahrhunderts mit der
Wahrhaftigkeit geschildert werden, wie es Gregor von Tours im 6.
‘Jahrhundert erlaubt war? Selbst ein Bischof dürfte bei uns nicht
so frei erzählen und ein Docent an einer Universität würde Amt
und Gehalt wagen. Zwar den Staatszuschuß von durchschnittlich
3000 Mark, wenn sie überhaupt einen empfangen, könnten die mei-
sten Docenten wohl entbehren, aber sie hängen an ihrem Beruf, so
sehr er auch unter der Mißachtung der herrschenden Parteien leidet.
Die feindselige Gesinnung der in Preußen und seinen Nebenländern
machthabenden Klassen hat bereits einen allgemeinen Verfall der
Universitäten und des durch sie vertretenen Theils der Civilisation
zur Folge gehabt. Wir haben keinen Historiker’) und keinen Juri-
sten ersten Ranges mehr und in anderen Fächern sieht es schwerlich
besser aus.
So hat die neue Bearbeitung der Verfassungsgeschichte von Waitz
auch keinen Historiker vorgefunden, der sich im Zusammenhange
mit unserem Staate bis in das 12. Jahrhundert oder mit einem größe-
ren Theile dieser Zeit beschäftigt hätte. Unter solchen Umständen
war keiner in der Lage die acht Bände oder eine ihrer Abtheilun-
1) Die drei großen Historiker der römischen Geschichte, der Kunstgeschichte
und der Religionsgeschichte — in Berlin, Bonn und Göttingen — sind nicht
Historiker von Fach. Keiner von ihnen ist Preuße von Geburt.
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. 875
gen so zu edieren, daß dem Werke eine wirkliche Verjüngung be-
schieden würde. Die Herausgeber des 5. und des 6. Bandes haben
sicherlich große Mühe an ihre Arbeit gewendet. Sie haben ver-
schriebene oder verdruckte Citate korrigiert, Anführungen nach alten
Ausgaben durch die neuen ersetzt, einige Irrthümer berichtigt und
zahlreiche Zugaben aus den Quellen und aus der Literatur geliefert,
und doch kann sich der Benutzer bei allem Dank für die gebotenen
vielen Verbesserungen nicht verbergen, daß die zweite Ausgabe den
heutigen Stand des Wissens nur unvollkommen wiedergiebt.
Ich unterlasse Zusätze aus meinen vor 20 Jahren bis zum Aus-
gang des 13. Jahrhunderts gesammelten verfassungsgeschichtlichen
Materialien, deren einheitliche Bearbeitung ich schon 1881 wegen
eines meiner Beförderung hinderlichen Beamten einstellen und nach
dessen Tode in Folge der 1884 eingetretenen Zerstörung meines
Lebens für immer aufgeben mußte.
Da ich eine bald nach Erscheinen des 5. Bandes angefangene
und größtentheils fertige Besprechung bald zu Ende führe, so be-
merke ich hier nur, daß der Herausgeber den richtigen Grundsatz
befolgt hat die erste Auflage zu wiederholen, soweit nicht Waitz
Aenderungen hinterlassen hat. Denn weitere Abweichungen würden
nothwendig machen zu der alten statt zu der neuen Ausgabe zu
greifen oder beide neben einander zu lesen. Es würde für viele Be-
nutzer von Vortheil und für die übrigen ohne Schaden gewesen sein,
wenn im 6. Bande die erste Auflage in gleichem Maße unangetastet
gelassen wäre, Die Aenderungen machen nicht selten eine Verglei-
chung mit der früheren Ausgabe rathsam, die durch Angabe der
entsprechenden Seitenzahlen erleichtert worden wäre.
Nachdem der Herausgeber des 5. Bandes von der Bearbeitung
zurückgetreten ist, ist die Fortsetzung an einen Docenten der histo-
rischen Hülfswissenschaften gekommen, dessen Name in der Ver-
fassungsgeschichte kaum bekannt war und auch später wenig und
nicht immer vortheilhaft bekannt geworden ist. Den Vertretern der
historischen Hülfswissenschaften ist ein Tübinger Jurist in Erinne-
rung, welchen sie auf einem Irrgang in ihr Gebiet betroffen haben.
Möchte Docenten der Hülfswissenschaften nicht das gleiche Mißge-
schick in der Jurisprudenz widerfahren in dem Glauben, daß die
Rechtssätze aufhören Gegenstand der Rechtswissenschaft zu sein,
wenn sie aufhören in Geltung zu sein.
Die Beigaben der neuen Auflage sind lückenhaft und soweit sie
nicht wie die Kanzleistudien S. 346 ff. 361 ff. dem besonderen Arbeits-
felde des Herausgebers angehören, wenigstens theilweise wie zufällig.
Ich will sie nicht erörtern. Einzelne fehlerhafte Citate sind unbe-
376 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
richtigt geblieben, z. B. S. 274, 3 Migne 159, 943 statt 934 und
S. 525, 2 Adam II 25 statt III 25 (Schulausgabe 1876 S. 113 f.). Hin
und wieder ist auch ein neuer Druck übergangen, z. B. S. 270, 6,
Stumpf 2043: Fontes rerum Austriac. II 31 S. 78. S. 25, 5 steht
firma ratione convaluit für f. radice c. in Vita Conradi archiepiscopi
SS. XI 75, 26.
Die beiden Versprechungen des zukünftigen Kaisers an die Rö-
mer S. 240 kennt schon Josippon VI 30 (S. 670 der Ausgabe von
1707). Da Waitz VI 240, 2 über dieses Buch nur auf Giesebrecht
verweist, so füge ich einige literarische Bemerkungen hinzu. Der
Verfasser hat in Italien geschrieben, Fraenkel, Zeitschrift der deut-
schen morgenl. Gesellschaft L 421 (gegen Gregorovius, Rom IV‘
643, 1). Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden? 1892
S. 159 setzt das Buch unbedenklich in das Jahr 940 und rechnet
S. 161 das Kapitel 30 des 6. Buches nicht zu den Interpolationen;
ihm schließt sich in der Datierung an Güdemann, Gesch. der Kultur
der Juden in Italien 1884 S.41 f. Daß die Abfassungszeit um die
Mitte des 10. Jahrhunderts nur äußerst geringe Berichtigung erfah-
ren könne, ist das Urtheil von Steinschneider, Die hebräischen Ueber-
setzungen des Mittelalters 1893 S. 898. Josippon ist schon von
Dunash citiert, Neubauer, The Jewish Quarterly Review ed. by Abra-
hams and Montefiore XI, 1899, S. 357, und zwar nach Munk, Jour-
nal Asiatique IV 16, 1850, S. 15. 18 im Jahre 955 oder 956; auch
Karpeles, Gesch. der jüdischen Literatur 1886 S. 432 setzt diesen
Dunash ungefähr zwischen 900 und 960, vgl. Steinschneider a. a. O.
Eine zweite chronologische Bestimmung ergiebt eine von Josippon
benutzte Lebensbeschreibung Alexanders, auf die z. B. Levi, Revue
des études juives III, 1881, S. 240 (mit weiteren Citaten), Hartwig,
Centralblatt für Bibliothekwesen III, 1886, S. 165 f. und Winter und
Wünsche, Die jüdische Litteratur III, 1896, S. 310 sich beziehen;
nach Winter und Wünsche a. a. O0. wurde diese Alexandersage zwi-
schen 941 und 965, nach Hartwig in der 2. Hälfte des 10. Jahrhun-
derts geschrieben. Wie der von Giesebrecht 1836 angeführte Cassel,
haben auch Vogelstein und Rieger, Geschichte der Juden in Rom I,
1896, S. 138. 193. 196 die Mittheilungen auf Otto I. Kaiserkrönung
gedeutet, Rieger S. 193 wegen der Benutzung der nach ihm um 950
verfaßten Vita Alexandri.
Um den römisch - byzantinischen Ursprung einiger Benennungen
abendländischer Fürsten deutlicher als S. 151 ff. hervortreten zu
lassen, stelle ich Angaben zusammen, bei denen ich des beschränkten
Raumes halber auf wenige Epitheta und der Zeit nach auf die occi-
dentalischen Nachahmungen fast nur im 9. Jahrh. eingehe.
|
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 877
a deo coronatus magnus pacificus sind die drei Beinamen gewe-
sen, welche 800 bei Karls Ausrufung als Imperator Verwendung und
801 Aufnahme in seine Kaisertitulatur gefunden haben. Ludwig I.
hat aus unbekannten Gründen die Zusätze in seinem Titel aufgege-
ben und seine Nachfolger haben sich an die von ihm getroffene An-
ordnung gehalten. Aber durch die Macht der römischen Gewohnheit
haben die Wörter, nachdem sie aus dem Sprachgebrauch der Kaiser
verschwunden waren, in Italien, wo sie heimisch waren, fortgelebt').
magnus S. 153f., ein großer Herrscher, ist jeder byzantinische
Imperator gewesen. ueyas Baordevc nannte sich z. B. Constantin IV.,
Mansi XI 196, und das Beiwort »der große« ist dem Kaiser von
Constantinopel beständig gegeben worden ?). Ein Urtheil über den
Werth des einzelnen Herrschers enthält das Prädicat nicht; er heißt
groß nicht wegen persönlicher Vorzüge sondern wegen des Staates,
den er regiert. Sein Reich ist rö ueyıorov BaaiAsıov, wie Marcian
an Leo I. geschrieben hat, Leo, Opera I 1753, epist. 73 S. 1018.
Den abendländischen Kaisern hat die päpstliche Kanzlei magnus
bewahrt *), zwar nicht stetig, aber doch regelmäßiger als andere
1) Die drei Bezeichnungen erhalten sich in Litaneien, welche bis in das 8.
Jahrh., unter Hadrian I. und Leo III., zurückreichen. Die nächste ist eine rö-
mische um 858, Revue Bénédictine XIV 484 = Grisar, Anal. Rom. I 280, eine
gleichzeitige bei Goldast, Alam. rer. script. II 1661, S. 186; spätere bei Dunod,
Hist. de l’&glise de Besancon I 1750, preuves S. VI. Chevalier, Biblioth&que litur-
gique VIS 368. Vgl. Leges Ila 192,12. Waitz VI 154,6.
2) Corp. inscr. graec. IV, Ind. S. 58—61. Mai, Script. vet. nov. coll. V 194;
228. 355. Byz. Synoden 680. 787. 869. 879, Mansi XI 549. 608. 788. 742. 744.
767. 776. 857. 887. XI 201. XVI 27. XVII 408. 417. 420. 421. 424. 456. 517.
524. Patriarch Nicolaus I., Epist. 139, Migne, Patr. gr. 111, 364. Petrus Sicu-
lus, Hist. Manich. c. 2. 22, das. 104, 1241. 1276. Demetrius Chomatianus c. 114,
Pitra, Anal. sacra Solesm. VI 492. Päpste, Jaffé, Reg. pont.? 2109 f. 2157 f. 2160 f.
2168. 2174. 2251. 2264 f. 2270 f. 2274. 2276. 2278. 2286. 2291 f. 2307. 2330. 2331
(als Forme) Coll. Dionys. 12 S. 504,2 Zeumer). 2342. 2346. 2350. 2395. 2448 f.
(Mansi XII 1075. 1084). 2692; die römischen Synoden 721, 745, Mansi XII 261.
Epist, III $19, 12. 320,30 und der Eid des Bonifatius 722, Mon. Germ., Epist. IH
265,8.10. Liudprand, Legatio c. 51. Privaturkunden Cod. d. di Arezzo I Nr. 11.
Reg. Sublac. Nr. 111. Reg. di Farfa II Nr. 41. Muratori, Ant. III 889. Neap.
archivi mon. Nr. 4 ff. Gloria, Cod. dipl. Padovano I Nr. 4. 7. 92. Cod. dipl. Ca-
jetanus I Nr. 2. 5. 12. 14. 19. 21. 26. 81. 33—86. 53. Ughelli, Italia sacra V?
4. 8687, 882? Capasso, Monum. Neapol. I 266 f. Kukuljevie, Cod. dipl. Croatiae
I Nr. 104. Cod. dipl. Cavensis I Nr. 103. 131. 142. 178. II Nr. 250. 336. IV Nr.
64. Morea (unten 8. 388, 2) Nr. 10f. 19. Vulgarius, Poet. Carol. IV 424. 425.
Dieses Prädicat scheint von orientalischen Fürsten entlehnt zu sein.
3) Jaffé 2544. 2546. 2549 (echt nach Hacke, Palliumverleihungen 1898
8.17). 2551. 2658. 2606. 2616. 2653. 2663. 2666. 2668. 2672. 2676. 2718f.
3033. 3052. 3104. 3109. 3389. 3401. 3429. 3465. 3473 f. 3497. 3611. 3514 f. 3529.
3533. 3558; vgl. Lib. diurnus 108 S. 137,8. Römische Synode 826 Capit. I 370, 80.
Gis, gel. Ans. 1901. Mr. 5. 26
378 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
italienische Documente, in denen nach Lothar I. die Gebräuchlichkeit
des Zusatzes abnahm '); außerhalb Italiens wurde er selten wiederholt ?).
Eine bedeutsamere Vorgeschichte als magnus hat pacificus S. 154.
Sie reicht bis in die Zeit zurück, als die Römer die von ihnen be-
zwungenen Völker zum Frieden gebracht hatten. populus Romanus
ad Caesarem Augustum totum orbem pacavit, Florus, Epit. praef. S 7;
vgl. Wissowa, Röm. Religion 1901 S. 277 f. pace data terris, durch
die Römer hatte die Menschheit Frieden, Ovid, Metam. XV 832:
durch sie war auf der gemeinsamen Erde societas festae pacts ent-
standen, Plinius, Hist. nat. XIV § 2, immensa Romanae pacts matestas
das. XXVII § 3; zu einer Weltordnung des Friedens, eis xdopoy ef-
orvns, waren die Nationen vereinigt, Plutarch, Fortuna Rom. c. 2.
civitas Romana per quam deo placuit orbem debellare terrarum ed in
unam societatem reipublicae legumque perductam longe lateque pacare,
Augustin, Civ. dei XVIII 22. Aehnliche Aussprüche bei Aristides,
In Romam § 103 f. ed. Keil II 122. Eusebius, Laud. Constant. c. 16, 2.
Themistius ed. Dindorf S. 108, 24 f. Cyrillus Alex., In Esaiam I 2,
Mich. c. 4, Opera II 38. III 428 ed. 1638; vgl. Laurent, Hist. du
1) Karl im byzantinischen Sinne magnus imperator z.B. in Risano, Kukul-
jevid a.2.0. I S.36. LudwigI.: Atto, Epist. V 839,21. Reg. di Farfa II Nr. 210.
218—215. 218 f. 221 f. 227 f. 232. 240. 251. 253 f. 259. 270. 274. 283 f. Cod. dipl.
Langob. Nr. 97. Archivio della Soc. Rom. XVI 297 ff. Reg. Sublac. Nr. 55.
60. Mem. di Lucca IV, Nr. 12 ff.; app. Nr. 15ff., Vp Nr. 393 ff. Muratori, An-
tig. III 1019. 1021. 1028. Cod. dipl. Langob. Nr. 107. 129. Pippin nennt ihn
888 magnus Caesar, Bouquet VI 675 (Böhmer 2079), vgl. Capit. II 258, 836. —
Lothar L: Jaffé 2586. 2618. Cod. dipl. Langob. Nr. 129. 143. 147. 152. 157. 162.
185. 215. Vita Sergii II. c. 15. Reg. di Farfa II Nr. 240. Kandler, Cod. dipl.
Istriano 847. Muratori, Antiq. III 1027. Reg. Sublac. Nr. 31. 55. 60. 853, Acta
deposit. Anastasii, Mansi XIV 1017. Cod. di Arezzo I Nr. 27. Arch. Soc. Rom.
XVI 301 ff. Ludwig II.: Arch. Soc. Rom. XVI 321 ff. Cod. d. Langob. Nr. 185.
Reg. Sublac. Nr. 18. 88. 87. Fantuzzi, Mon. Ravennati I 88. Libellus SS. II
721, 11. Karl II.: electio 876 Capit. II 99, 11 (348, 13). Synode von Ravenna
877, Mansi XVII app. 174. Karl IIJ.: Reg. di Farfa III Nr. 329. Reg. Sublac.
Nr. 6. Cod. dipl. Cajet. I Nr.1. Cod. di Arezzo I Nr. 50. Tonini, Rimini II 468.
Wido: Reg. di Farfa III Nr. 338. Fantuzzi a.a.0. VI 5. Lambert: Fantuzzi I
94. 96. Reg. Sublac. Nr. 116. Ludwig d. Bl.: Fantuzzi I 102. IV 168. Berengar:
das. I 112. 114. 116. 117. Hartmann, S. Mariae tabul. Nr. 1. Reg. Subl. Nr. 207.
Arch. Soc. Rom. XVI 881. Die Langobardenkönige magni 768 Troya IV Nr. 882.
2) Die Formeln Coll. Havn. 1, Extrav. 1, Zeumer S. 522, 30. 533, 22, welche
Ludwig I. alle drei Prädicate seines Vaters ertheilen, sind nur Nachwirkungen
des väterlichen Brauchs und von keiner anderen Bedeutung als die Urkunden,
welche ihm den vollen Titel seines Vaters gegeben haben. Die Erklärung, daß er
die übrigen Sterblichen überrage (z. B. Vaissete IIb 125 [Mühlbacher? 686];
Form. imper. 17 8. 298, 14), geht nicht auf Vorrang vor anderen Herrschern,
sondern gilt seinen Unterthanen, wie bei seinem Sohne Ludwig, Escher u. Schwei-
zer, Urkb. Zürich 1 Nr.111 (Mühlb. 1434), vgl. Capit. II 436, 10. Waitz VI 159, 4.
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 979
droit des gens III 1851, S. 313f. 382 ff. Diese Wirkung des Welt-
reichs haben seine Angehörigen als das höchste Gut empfunden,
welches sie ihrem Staat verdankten. Seine Sache war es für den
Frieden zu sorgen, Theodoretus, Hist. eccl. II 16, 13. Ihn im Innern
und nach außen zu hüten ist die gemeinnützigste und volksthiim-
lichste Aufgabe des Imperators geworden, vgl. Epictetus, Dissert.
II 13, 9. Um diesen seinen Beruf zum Ausdruck zu bringen, sind
ihm Bezeichnungen gegeben worden, welche den Untergang der rö-
mischen Welt und ihres Friedens überdauert haben.
Julius Pollux, Onomast. I 41, nennt als Beinamen des Impera-
tors elenvixds, eigmvonouds, eipnvopviAckt. Sie sind dem Wächter des
Friedens des römischen Erdkreises, welcher den Reichsangehörigen
nicht viel weniger als die Welt überhaupt bedeutete, oft zu Theil
geworden'). In demselben Sinne, daß paz saecli quam fovet indid-
gens terrae regnator apertae (Juvencus, Evangel. IV 805 f.) betont
wurde, war pacificus ein verbreitetes Epitheton des Imperators, das
der eine oder andere in seinen Titel aufgenommen hat, z. B. Mau-
ricius (Gregor I., Reg. I 165 S. 22,2 und Mon. Germ., Epist. II
148, 21) und Justinian II., Mansi XI 737; auch als pacator tritt er
entgegen?) Er war paz orbis terrarum (Cohen, Monnaies VIII? 413),
1) elenvexog im Titel eines Kaisers Nov. Coll. I 12. 22, Zachariae, Jus
graeco-rom. III 24. 34. 680 Mansi XI 201. 697; in der Ueberschrift von Leo,
Tactica, Migne 107, 672; in den Adressen Theophylactus Simocatta ed. de Boor
IV 11, 1.8 und 879 Mansi XVII 460. — elonvonouös: 787, 879 Mansi XII 1006.
XIII 201. 416. XVII 440. 477. 520. In der Acclamation Constant. Porphyr.,
Cerim. II 43 S. 650, 20, in der Anrede das. II 47 S. 685,12. Ferner bei Petrus
Siculus a. a.0. c. 22 8.1276. — elenvopdiaé: Philo, Leg. ad Gaium § 21 p. 567.
— Synoden riefen 451,787 weis 7) elonvn rs olnovuesns, Mansi VII 169. XIII
353. Die Kaiserherrschaft friedet, rae navreyod elenvederar, Socrates, Hist. eccles.
I 34,9. duds» Paoılele eignvogyos, 821 Mansi XIV 400. Nur der Perserkönig
erhebt neben dem Imperator der Römer den Anspruch Erhalter des Weltfriedens
zu sein, &ignvorargıos, 562 Menander fr. 11, Müller IV 209; Chosroes II. eionv-
doyns, Theophylactus Simoc. IV 8,5 S. 164, 18; vgl. Braun, Das Buch der Syn-
hados 1900 S. 38.
2) pacificus ist Gratian, Corp. inscr. lat. VIII 995. Diese Eigenschaft des
Imperators erwähnen mit demselben Ausdruck Mai (oben S. 377,2) V 228.
Mansi XI 887. XVI 27. 36. 43. 53. 74. 81; 721 die Synode in Rom das. XII 261.
Jaffé 2286. Reg. di Farfa, Gloria und Cod. dipl. Cajet. (ausgenommen Nr. 21. 58)
oben S. 377,2. Ughelli V* 41. 1200. orbis pacalor ist ein Kaiser Corp. inscr.
lat. II 1669. 1670. 1969. VIIL 1579. 7003. 10072. XII 5549. 5561; fundator
pacis ebd. VI 1145. 1146. VIII 7008; conservator pacts ebd. IX 5942; conser-
vator orbis das. V 4319. VI 5, 760*; conservator t(otius orbis) ebd. VIII 7010 mit
S. 1055. Münzen zeigen ihn gleichfalls als pacator gentium, pacator orbis, Eckhel
VIII? 547. Cohen VIII? 411. Mit diesen staatlichen Idealen hängen auch reli-
giöse Vorstellungen der Heiden und der Christen zusammen. elenvaiog ist ein
26 *
880 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
mundı servator (Propertius IV 6, 37), nach den Worten eines Dogen
von Venedig 814—820 conservator totius mundi, Font. rer. Austriac.
H 12 8. 2. Die Geschichtschreiber achteten auch darauf, ob er dem
Frieden diene').
In diese Vorstellungswelt ist das karolingische Kaiserthum ein-
getreten. Karl ist nach seinen großen Kriegen Kaiser geworden
und jetzt schien unter ihm der Friede hergestellt und gesichert,
welcher seit vielen Menschenaltern seinen Völkern gefehlt hatte.
Durch sein Kaiserthum ließ Modoin der Welt den Frieden bringen:
una datur toto requies moderamine mundo, um 805, II 85, Neues
Archiv XI 89; Karl war paz orbis opima, Hibernicus III 5, Poet.
Carol. I 399. obit Karolus imperator pacificus, Chron. Moiss. 813
SS. I 311, 11. IL 259, 40. Aber dieser kaiserliche Weltfriede war
nicht mehr eine politische Kraft sondern ein überkommenes Attribut,
welches in den Denkmälern des 9. Jahrh. nach und nach ungewöhn-
lich wurde. Nur Ludwig I. ist der Titel pactficus bei vielen Zeit-
genossen, die ja dem antiken Imperium noch nahe standen, verblie-
ben. Und um 820 schrieb ihm Amalar in byzantinischer Fassung:
pax mundi vos estis. deus pacificet regnum vestrum. lumina pacis,
Domine, serva. vita vestra tutela omnium est, Epist. V 259, vgl.
Mansi XII, 170f. XIII 354. Carm. Cenom. V 31 (Poet. Carol. II 626)
nannten ihn um 845 puctfer orbis. Ludovicus imperator pacificus
obiit, Ann. Lob. 840 SS. XIII 232°).
Epitheton des Zeus, Studemund, Anecdota graeca 1886 S. 265. 266. pacifer ist
Mars, Corp. inscr. lat. VII 219. IX 5060, Apollo das. VI 37, Hercules das. X
5885, der ebenso auf Münzen vorkommt (Cohen VIII? 389. 390) wie Mars puca-
tor, Cohen VIII? 406. Johannes II. gedachte 1126 dem Papste gegenüber rod
elonvınoö Baoıldog Xoıoroö, Theiner et Miklosich, Monum. ad unionem eccles.
1872 8. 4; so ist Gott 6 Paaulebg rijg eionvns, Goar, Euchologion*® 733. Ka-
rolingisch ist Christus rez pacifer, Petrus, Carm. 16, Poet. Carol. I 73, oder rez
pacificus das. Il 247 wie später bei Thietmar, Chron. IX 17 ed. Kurze, vgl.
Hrotsuit, Gesta Odd. 17, SS. IV 319.
1) Aelius Spartianus, Hadrian c. ‚5,1: adeptus imperium tenendae per orbem
terrurum pact operam intendit. Flav. Vopiscus, Probus c. 1,3: cutus imperio
ortens occidens mertdies seplentrio ommesqyue orbis partes in totam securitatem
redactae sunt. Aurelian schreibt bei Flav. Vopiscus, Firmus c. 5,3: pacato un-
dique gentium toto qua late patet orbe terrarum.
2) Karl wurde gemäß seinem Titel auch als pacificus angeredet z.B. von
dem Patriarchen von Aquileja, Epist. IV 537,10, er heißt pacificus bei Hiberni-
cus V 12, Poet. I 401 und in Privaturkunden, z.B. Mem. di Lucca IVb Nr. 1.3ff.
Vb Nr. 298. Die päpstliche Kanzlei, die ihn seit Jaffé 2510 so titulierte, hat
das Beiwort bei seinen’ Nachfolgern im Kaiserthum fortgeführt, Jaffé 2544. 2546.
2549. 2551. 2558. 2668. 2672. 2676. 2718—2720. 3465. Ludwig I.: Candidus,
Vita Aegili II 8,1, Poet. Carol. II 100. Reg. di Farfa II Nr. 210. 213—215.
218f. 222. 227. 232. 240. 253 f. 274. Cod. dipl. Langob. Nr. 97. Archivio della
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 881
Den Glaubenssatz des alten Orients, daß der Staatsgott die
Staatsgewalt verleihe, haben die Christen sich angeeignet, ehe ihr
Soc. Rom. XVI 300. 301. 307. 309. Muratori, Antiq. III 1021. 1023. Mem. di Lucca
TV> Nr. 12 ff., app. Nr. 15ff., V> Nr. 393 ff. — Lothar I.: Kandler, Muratori
und Mansi ob. S. 378,1. Die Urkunde auf seinen Namen mit pacifico imperatore
Muratori, Antig. IT 197 (Mühlbacher? 1093) ist Fälschung. Ludwig IL: Cod. dipl.
Langob. Nr. 198. Fantuzzi I 88. Karl. II.: electio und Mansi oben S. 378,1
Karl III.: Reg. Sublac. Nr. 6 S. 12. Tonini, Rimini II 468. Wido: Fantuzzi
VI 5. Lambert: Fantuzzi I 94. 96. Ludwig d. Bl. das. I 102. Berengar das. I 112.
116. Muratori, Antiq. II 969 (echt?). — Der Sinn von pacificus kann nicht
aus dem Worte für sich bestimmt werden, vgl. Waitz III 241. Dahn, Könige
VIII6, 264, 10; im römischen Zuruf 800 gibt Poeta Saxo IV 17 (Poet. Carol.
IV 46) pacificus mit pacem ferens wieder. Karl hat sich als König nicht so genannt,
Marini 71 S. 107 ist unecht, Mühlbacher? 340. Hingegen wird er und mancher
andere Fürst pacifieus nicht in seiner Eigenschaft als Weltherrscher, sondern
etwa in der biblischen Bedeutung (beats pactfici, Matth. V 9) genannt. So schreibt
Alcuin 799 und 800 seinem Könige pacifico David regi, epist. 174, 197, Epist.
IV 288, 1. 325,19 und 798 epist. 186 S. 205,13: vestram pacificam et amabilem
potentiam. pacificus bei Godescalc, Fardulf I 12 und im Carmen de Carolo et
Leone 66, Poet. Carol. I 94. 353. 367. Als pacificus belobt Leo III. Karl, Epist.
V 88, 16} (Jaffé 2515) und Ludwig I. Ermoldus, Hlud. II 60. 108 pacificusque
ptus; III 111 pactfieus; IIT 119 pace fideque prior; Pippin II 191: pactficus pru-
dens doctus. Hier ist er pacts amator, Poet. Carol. II 673, 25, pactficus cultorque
dei, Carmen de exordio Francorum 118, Poet. II 144. Wer mit den Franken
verbündet ist, lebt pactficeque pie, Ermoldus, Hlud. III 158, das Frankenvolk
pacem semper umat das. III 155. So predigt Sedulius, De rectoribus christianis
c. 9, Mai, Spicil. Rom. VIII 27 über den rez pacificus in gloria regni sut. rez
tustus et pacificus laeta facie bona dividit — iudicio vera tudicia loquitur. —
Christus paz est et in pace requiescere cupit (Worte des Basilius von Caesarea,
Admon. c. 5, Migne, Patr. lat. 108,688). porro ubi par est, in disputationibus
veritas et in operibus suslitia inventtur; S. 28 spricht er von der clementia et pa-
cifiea serenttas römischer und karolingischer Imperatoren. Unter Karl nach Modoin
II 94, Neues Archiv XI 90 civtbus una manet cunctis concordia pacis. Die Fried-
fertigkeit des Fürsten meinen 832 epitaphium Siconis 35, Poet. Carol. II 650:
pacificus, milis, prudens und 852 epitaphium Radelchis 14 das. II 657: pacificus,
veraz. So war rex pacificus Karlmann (Regino 880), der Bretonenfürst Alanus
(de la Borderie, Hist. de Bretagne II 339, 2), Ludwig III., Wolfhard, Mir.
Waldburg. c. 6 SS. XV 553,5. Ludwig IV. erscheint 938 als pacificus augustus
invictus rex mit zwei kaiserlichen Beiwörtern, Brucl, Chartes de Cluny I 499
S. 483 f. — Karolingische Hofdichter haben ihre Herrscher dem Könige Salomo
gleichgestellt, dessen Eigenschaft als pacifeus Wigbod und Alcuin, Carm. 69, 117
(Poet. Carol. I 96, 19. 290) schon im 8. Jahrh. und ein Unbekannter 846 das. II
656, 15 gerühmt haben. Ludwig I. pacificus sapiens Salemonis ad instar, Theo-
dulf, Carm. 76,13; Lothar I. alter Salemon redolens charisma pacis, Sedulius U
54, 8; pacificus princeps hie tuus (est) Salemon das. II 59, 26; pactfer ductor Sa-
lemonis instar, das. Il 60, 18, Poet. Carol. I 577. III 213. 216. 217. Auch ein
König — Karl Il. — ist pacifer ut Salemon sceptra paterna tenens, pacifer ut
Salemon regia sceptra tenens, Sedulius II 12,12. 28,52, S. 180. 194. — Die grie-
382 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
Gott der Gott des römischen Reiches wurde. Den Imperator, be-
hauptete Tertullian, erwählt unser Gott, er setzt ihn ein: dominus |
noster elegit, a nostro deo constitutus, Apol. c. 33; Christianus sciens
a deo suo constitu: (imperatorem), Ad Scapulam c. 2, Migne I 510.
773. Valerian und Gallien, so lie& Eusebius, Hist. eccles. VII 11, 3
einen Bischof sagen, sind durch unseren Gott Kaiser geworden, und
ihm selbst war außer Zweifel, daß er Konstantin die Herrschaft ge-
geben habe, das. VIII 13,8 und Vita Constantini I 24.
Seit das Christenthum die Reichsreligion geworden war, hat der
Glaube, daß der Gott der Christen den Kaiser bestimme, die By-
zantiner nicht wieder verlassen. Er wurde von Allen angenommen
und von Vielen laut verkündet. «deus vobis Romanum imperium de-
dit, sprach die Synode von Aquileja 381 aus, Mansi III 615. Die
Kaiser selbst theilten diese Ansicht. Marcian bekannte 451: divino
iudicio ad imperium sumus electi (Spicil. Casin. I 53), durch Gottes
Vorsehung, Senat und Heer bin ich Kaiser geworden, an Leo lI.
epist. 73 oben 8.377; Justin I. schrieb 518 an Hormisda, er sei zu-
nächst durch die Gunst der Dreieinigkeit und sodann durch Palast,
Senat und Heer gewählt worden, Guenther, Epist. imperatorum pon-
tificum II 586. Justinian I. schloß sich der Lehre der Kirche in
seinen Gesetzen an, z. B. De concept. Dig. pr. = Cod. I 17, 1 pr.:
deo auctore nostrum gubernantes imperium, quod nobis a caelesti maie-
state traditum est; Cod. VII 37, 3,5 ist er mutu divino Kaiser;
vgl. Cod. I 27, 2 pr. Nov. 8, edict. pr. Nov. 81 pr. 86 pr. 148 pr.
163 pr. Konstantin IV. erklirte dem Papst, Gott habe ihm die Herr-
schaft anbefohlen, Mansi XI 196. Nach Leo, Tactica Epil. 7, Migne
107, 1077 bestellte Gott den Herrscher, denn er sprach: durch mich
herrschen die Herrscher. Wahler flehten zu Gott, dem Reiche einen
Kaiser zu geben, Constant. Porphyr., Cerim. I 92 S. 419, 7. 16 (bei
Anastasius I.). Schriftsteller der verschiedensten Art sagten dasselbe
aus. deus fecit imperatorem, Optatus III 3 ed. Ziwsa S. 75, 11; deo
regnat auctore, Vegetius IL 5; (deus) tabi regna dedit, Priscian, Anast. 6
(Baehrens, Poet. lat. min. V 265); von ti Peoeddtm cov Paoıdeia
redete Theodor von Studion in einem Briefe an Irene 801, Epist. I 7,
Migne 99, 933 und Patriarch Nicolaus I. ließ Gott den Kaiser auf
den Thron erheben, Epist. 16, vgl. 86, Migne 111, 112 vgl. 292.
Aber auch die Absetzung eines Kaisers konnte ovv ded geschehen,
wie Konstans II. anerkannte, Theophanes 342, 16; Irene wurde um
chischen Kaiser hingegen haben, als sie Ludwig I. 824 mit pacificu gloria und
als pacificus amteus (Mansi XIV 417. 419) anredeten, ihn sich, den wahren römi-
schen Imperatoren und Weltherrschern, nicht gleichstellen wollen.
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 388
der Siinden ihrer Unterthanen willen und durch Gottes unerforsch-
lichen Rathschluß gestürzt das. 476,5f. Denn schlechte Kaiser
setzte Gott nicht ein, sondern er ließ sie nur zu durch eine Ent-
scheidung, deren Gründe den Menschen verborgen bleiben das. 412,
29 f. 439, 15f. Vermittelst einer solchen noch von Johannes VI.
Cantacuz. III 56 S. 340 f. behandelten Unterscheidung wurde eine
Entthronung mit dem göttlichen Willen in Einklang gebracht.
Die kürzeste und sinnfälligste Formulierung der von Gott ver-
liehenen Kaisergewalt war die, daß Gott die Krone, das Sinnbild der
Herrschaft, gegeben habe. Diese Fassung hat eine freiere Wieder-
gabe desselben Gedankens nicht verdrängt!), jedoch im Laufe der
1) a deo dominationem sortitus, Mansi VII 581. regnum oder imperium
a deo concessum, 591, Istrische Bischöfe bei Gregor IL, Reg. I 168 8. 18,1. Mansi
XII 1057. 1076, Jaffé 2448. 680 Mansi XI 660: 6 Baodedoag ce Badg. imperium
largitus est, Metrophanes von Smyrna, Baronius 870 Nr. 50. a Christo suscipiunt
imperis dignitatem , Constantin und Irene an Hadrian I., Mansi XII 984. odd
#e0d Baolets, Theophilus bei Cedrenus II 102,24. Constant. Porphyr., Admin.
imp. S. 65,4. 67,2f. Du hast mich zum Herrn über deine Geschöpfe gesetzt,
spricht ein Kaiser zu Gott bei Joh. Mauropus 75,1 S. 38 Lagarde. Nicetas
Acom. S. 59,3—6. Joh. VI. Cantacuz. III 77 S. 481, 17. IV 2 8. 17,20. nv
Baoılelav xaga Deod elAnpdhs, Psellus, Epist. 4, Sathas, Bibl. graeca V 227. Die
Dreieinigkeit gab mir das Imperium, sagt ein Kaiser bei Phrantzes III 11
8. 306,4 f. Gott hat den Imperator erkoren, electos vos praedestinatione divinitatis,
Guenther, Epist. Il 595,23 (Jaffé 806), wobei er seine Absicht auch wohl im
voraus offenbarte, z.B. Nicetas Acom. S. 61; Cedrenus II 192. eleetus a deo et
purpura ezornatus, Mansi VII 524. electos vos caelesti constat esse tudicio secun-
dum apostolum dicentem: non est potestas nist a deo, Guenther II 687,3 (Jaffé
801). Nicht nur der Wille des Volkes habe einen sta deo placitum principem
zur Herrschaft berufen, te sidi divinus favor ante formaverat, Thiel, Epist. I 877
(Jaffé 819). det gratia disponente ad culmen impert pervenisse, Gregor I. an Pho-
cas, Reg. XIII 41 S. 404,5 (Jaffé 1906). deus vos in impertals culmine eligere
dignatus est, Mansi XV 173. XVI 68 (Jaffé 2692). Gott erwählte ihn wie David,
Synode 1166 I 1, Mai, Script. vet. nova coll. IV 2. Constant. Porphyr., Admin.
imp. c. 13 S. 82,14: 6 Beög Baoılda exotnoe. Er ist Heorpnpıorog, 787, 879 Mansi
XII 1130. XVII 401; Baoılsdvoas yipo Heod, Michael Attal. S. 3,10; yıpo piv
Peso, wiga dt rg ovyxdtirov, Nicetas, Vita Ignatii, Migne 105, 489. Nicht nur
po Ge0d, sondern auch durch das Heer, Vita Stepbani jun., Migne 100, 1086.
Joh. VI. Cantacuz. III 27 S. 169,16 f. wijgm nal Bovdf Bela thw Paaılelav
&yyeıpıodels, Johannes Docianus, Hopf, Chroniques gréco-romanes 1873 S. 249.
Basilius I., zum Kaiser ausgerufen, betete: Herrscher Christus, durch deine Ent-
scheidung habe ich das Imperium erhalten, Theophanes cont. S. 255. Die Herr-
schaft ist éx ®soö, Tardif, Monum. histor. Nr. 102. Mansi XVI 425. XVII 429.
468; Romanus I., Jeirlov rijg 'EMadog I 658. II 399. 400. Pitra, Anal. noviss.
spicil. Solesm., Cont. II t. 1, 474. Petrus Siculus, c. 2, Migne 104, 1241. Joh.
Mauropus 31,37 S. 17. Miklosich et Müller, Acta graeca IV 330. Vgl. Nice-
phorus Gregoras II S. 1282. Beödev, Vita Germani Constant. patr. c. 28, Migne
98, 65. Manuel I. bei Cinnamus III 3 8. 98,24. 824 Mansi XIV 417. 418,
384 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
Jahre so überhand genommen, daß sie formelhaft geworden ist. Sie
ist auch in die Kaisertitulatur eingedrungen.
Die feste Weise, den Kaiser als Hsdorentog!) oder Feosrspns *)
und a deo coronatus*) zu bezeichnen, geht in frühe Zeit des christ-
1) Corp. inscr. graec. IV 8658 (Heraclius I.) 8742 (Constantin. I.). Mir. De-
metrii Thessalon. II 5, 206, Acta SS., October IV 184. Theoguostus an Leo V.,
Cramer, Anecd. Oxon. II 2. Theodor von Studion an Michael II., Epist. II 86,
Migne 99, 1329. Constant. Porphyr., Cerim. I 9 S.59f. Petrus Siculus a.O. c. 2.
22 S. 1241. 1276. Joh. Mauropus 125 ed. Lagarde S. 68. Theorianus, Disp. I.
II, Migne 183, 121. 213. 233; Mai, Script. vet. nova coll. VI 316. 338. Psellus,
Epist. 3, Sathas, Bibl. graeca V 226. Byzantinische Synoden Mansi XI 549. 608.
XII 1119. XIII 209. XIV 400. XVI 309. 344. 345. 357. 389. 397. XVII 429. 461.
1156, Mai, Spicil. Rom. X 58. 83. 1166, Mai, Script. vet. nova coll. IV 37. 54.
68. 69. 1169 Mansi XXII 37. 40. Vgl. Du Cange, De numismat. § 37, ed. Favre
X 136. Daß Gott ihn krönte, sagen von dem Kaiser ohne jene Formel aus
Mansi VII 595 (a deo infulas imperiales adeptus). Mansi XI 201. 718. Patriarch
Nicephorus, Mansi XIV 56. 879, Mansi XVII 432. Joh. Catholicus, Hist. d’Arménie
c. 101. 107 trad. 1841 S. 266. 270. Michael Attal. S. 4, 21. Constant. Porphyr a, 0.
Joh. Mauropus $1, 56. 54,115 S. 17. 31. Johannes II., Berichte der sachs. Ges,
der Wissensch., phil.-hist. Cl. XIII 19 Vers 10. Vgl. Ducas c. 5 S. 23,21 über
die Anwendung auf einen Ausländer. Gott ist orspoöörns, Ignatius, Vita Tarasii
212>,11 her. von Heikel, Acta soc. scient. Fennicae XVII 411 (Acta SS., Februar
III 584 § 33). 6 gersroorepns nuwv Baoleds, Mir. Demetrii Thessalon. II 4, 191,
October IV 175. orépavog é Sc00, Ermahnungsschrift bei Migne 107, XXXII.
Gott gab das Scepter, Ignatius, Vita Nicephori c. 10, Migne 100, 52; Vita Josephi
Hymn. c. 28 das. 105, 968. Vgl. Nicolaus I, Epist. 156, Migne 111, 385. He-
lena heißt Hedorsnros, Corp. inscr. graec. IV 8742. Theophanes 26, 4; Irene 787,
Mansi XII 1114. XIII 1. 157. 204. 364. 369. 413; Eudocia das. XVII 432. #s0-
orente ist die gekrönte Kaiserin anzureden, Titularbuch bei Migne 107, 408.
2) 616 Heraclius, Greek papyri in the British Museum ed. by Kenyon II S. 324,
vgl. I S. 222. 787 Mansi XII 1130. Photius, Nomoc., Migne 104, 976. Patriarch
Nicolaus I, Migne 111,169. 184. 189. 285. 308. 309. 864. Genesius S. 114, 21.
Anna Comnena XIII 12 S. 328, 2 ed. Bonn. Theorianus, Disput. I, Migne 133, 121.
1156 Mai, Spicil. Rom. X 62. 86. 1166, Mai, Script. vet. nova coll. IV 37. 91.
Theodorus Hyrtacenus, Notices et extraits V (1798) S. 723. 724. Im Titel nen-
nen sich so Manuel I. (Theorianus, Disput., Migne 133, 120. 233; Mai, Script. vet.
nov. coll. VI 314. 338), Isaac II., Miklosich et Müller, Acta graeca III 1. 24. 37),
Alexius III. das. III 46. Justinians Gemahlin Theodora ist Beoorepns, Corp.
inscr. graec. 1V 8639 und desgleichen Anna, die Gattin Andronikus II., Nice-
phorus Gregoras II S. 1282.
3) Leo I, Mansi VII 552. 553. 555. Phocassäule, Corp. inscr. lat. VI 1200.
666 spricht Constans II. von a deo coronatis filiis, Script. rerum Langob. 351, 45.
Anastasius, Passio Cyri et Johannis c. 14, Mai, Spicil. Rom. IV 261. 681, 869
Mansi XI 887. XVI 27. Zugleich mit a deo electus das. XI 778. 798. 857. 882.
889. 892. 894 f. Die Privaturkunden Arezzo, Reg. Subl., Farfa, Muratori, Gloria,
Cod. dipl. Cajet. (ohne Nr. 2. 53), Ughelli, Kukuljevid und Jaffé Nr. 2110 bis 2449
oben S. 377,2; Neap. archivi mon. II Nr. 108f. 114. Die römische Synode 721
S.377,2. Mai ob. 379,2. Der Eid des Bonifatius, Epist. III 265, 8. Lib. diurn. 73. 85
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 385
lichen Römerreiches zurück und hat bis zu seinem Untergange be-
standen. Noch ein Titularbuch des 15. Jahrhunderts schrieb vor, den
Kaiser Hedorente anzureden, Migne 107, 405.
Daß ihr Gott den Imperator auserwähle, hatten die Römer ge-
glaubt, ehe sie an einen karolingischen Imperator dachten. Sie
änderten ihre Ansicht nicht, als sie Karl erkoren. Indem sie ihn
als a deo coronatus ausriefen und indem er sich so betitelte und
seine Nachfolger von anderen so betitelt wurden, galt es nur ein
überliefertes Prädicat auf den Imperator aus karolingischem Ge-
schlechte anzuwenden, ohne mit dem Epitheton — sowenig als mit
magnus und pacificus — einen neuen, abendländischen Gedanken zu
verbinden und zum Ausdruck zu bringen '!). Auch nach Karl haben
die Karolinger und ihre Franken keine eigenartige Auffassung von
dem Verhältnis ihrer Herrschaft zu Gott ausgebildet. Weder der
Unterschied, daß sie das Imperium als göttliche Veranstaltung und
das Frankenreich als Menschenwerk ansahen, noch der Gegensatz,
daß sie die kaiserliche Gewalt durch eine Handlung des Imperium
und die königliche Gewalt durch Erbrecht erwarben, hielt sie und
ihre Zeitgenossen ab, den König in seiner Beziehung zu Gott dem
Imperator gleichzustellen. Zwar war a deo coronatus nur bei dem
Kaiser üblich *), jedoch nicht um seine besondere Verbindung mit
8.73,9. 109, 13. — divinitus coronatus et a deo electus Mansi XI 737 f. 742. 744. 776.
171. — a deo coronatus betitelt sich Alexius IV. 1203, Font. rer. Austriac. II,
12 8. 496; divinitus coronatus Manuel I., Radulfus de Diceto ed. Stubbs II 418;
‘nn, Stad, 1179 SS. XVI 349,18. Isaac II., Ansbert, Fontes I 5 S. 38. Alexius
IL 1199, Innocenz IIL, Reg. II 210 (Migne 214, 765). Michael VIII. 1277, Font.
Ter. Austriac. II 14 S. 134.
1) Phillips, Kirchenrecht III 55 erklärte a deo coronatus 800 und divino
"su coronatus 801 Capit. I 204,27 aus Karls Willen das Kaiserthum aus den
Hinden des Stellvertreters Christi (was übrigens der Papst in diesem Sinne im
J. 300 noch nicht war) zu empfangen. Docent W. Uhl, Der Kaiser im Liede
189 3. 14 hat den Aberwitz oder Unfug begangen Königsbergern vorzureden,
daß Leo II, indem er Karl mit der Krone schmückte, den Begriff des Kaiser-
tkams von Gottes Gnaden schuf. — Alcuin schrieb 798 a deo coronato regi
eiva im Anschluß an Hadrian I. Litanei und gleichbedeutend 798 a deo electo
reg. epist. 149. 148. S. 242,4. 237, 27. a deo coronato datiert die Fälschung
Epit. III 96, 32 f. (Jaffé 2412). Paulinus von Aquileja an Karl 791 divina coro-
sanle clementia regs, Epist. IV 517,4. 813 gegenüber Michael I. bediente sich Karl
tur der Worte divina largiente gratia imperator ohne seine sonstigen Epitheta,
Spist. IV 556, 1.
2) a deo coronatus in Jaffé oben S. 377,83 und 2587. 2952. 3110. 3499. 3532.
fone. Rom. ebd. — Ludwig I. Reg. Subl., di Farfa — ausgenommen Nr. 251
= und Mem. di Lucca oben S. 378,1. Arch. della Soc. Rom. XVI 297 ff. Mu-
fori, Antiq. III 1021. 1023. Wartmann, Urkb. St. Gallen I Nr. 214. Amalar
986 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
Gott auszusprechen, sondern weil im 9. Jahrh. keine Ursache ge-
geben war, von der hergebrachten Formel abzuweichen'). In den
an Ludwig I. um 820, Epist. V 257, 32. Lothar I. bei Kandler, Muratori, Reg. Subl.,
Mansi, Arezzo oben S. 378,1. Ludwig II.: Acta dep. Anastasii, Mansi XIV 1017.
Fantuzzi I 88. Reg. Sublac. Nr. 18. 83. 87. Karl II.: das. Nr. 196. Capit. II 99, 11.
Karl II. Reg. Sublac., di Farfa, Cod. Cajet., Tonini oben S. 378,1. Wido: Fan-
tuzzi I 92. VI 5. Lambert oben S. 378. Ludwigd. Bl. Fantuzzi I 102. Berengar
ob. S. 378,1, ohne Fantuzzi I 114. 117. — Karl in Privaturkunden 806 und 812
a deo electus et coronatus, Brunetti, Cod. dipl. Tosc. IIs Nr. 70. Muratori, Antiq.
V 599. Ludwig I. 819 divina protectione coronatus, Marca, Marca Hisp. 1 S. 761.
divino nulu coronatus, 816 Capit. I 267,41. Lothar I. in der Fälschung bei Mura-
tori, Antiq. II 197 (Mühlbacher? 1093). Eine Kaiserin a deo coronata, Floss 81
(Mühlbacher 1433). Waitz VI 152. 160.
1) Der Glaube, daß Gott den König bestelle, hatte sich schon im 8. Jabrh.
weiter Kreise im fränkischen Reiche bemächtigt. Die dem Cod. Carol. seit 757 epist.
11 S. 505, 12 (ed. Gundlach) geläufige Zurückführung der karolingischen Herrscher
auf Gott (s. Weyl, Beziehungen des Papstthums zu den Karolingern 1892 8. 36) fand
in der fränkischen Geistlichkeit einen günstigen Boden, s. Waitz III 231f. Alcuin,
Carm. 45,56 (Poet. I 258) an Karl: rectorem regni te deus institut, in einem
Briefe an den König 800: vestra a deo ordinata potestas und an den Kaiser
801—804 imperatoriam potestatem a deo conlatam, epist. 202. 308 S. 336, 20.
471,16 f. Karl in der Ueberschrift der Libri Carol. nutu det rex und im Vor-
wort in regno a deo nobis concesso, Migne 98, 999. 1005. regnum a deo nobis
concessum, 806 Capit. I 127 Z. 4f. Ludwig I. urkundete: tmpersum und regnum
a deo nobis collatum, Bouquet VI 499. Tardif Nr. 107. a deo nobis potestatem
conlatam, Bibl. de l’&c. des chartes 59, 250; imperium a deo nobis conlatum,
Mohr I 22 8S. 37; imperium nobis divinitus conlatum, celitus, a deo commissum,
Dronke Nr. 489; divinitus nobis imperiali solio sublimatis, Vaissete IIb, 200 (Mühl-
bacher? 541. 554. 875. 952. 954. 969). Bischöfe erwähnten 829 imperium vobis
divinstus commissum, Capit. II 27, 31. Karl II. hat seinen Vater imperatorem a
deo ordinatum genannt, 867 Bouquet VII 557. Jonas von Orléans, Transl. Huc-
berti c. 1 SS. XV 235,22: sceptra imperialia sibi debita utque a deo tradita post
eum (Karl) suscepit. Gott oder Christus läßt Ermoldus die Herrschaft geben,
Hludov. II 60. 64. 71. 293 f. 296; Pipp. II 182. Agobard schrieb ihm 826
oder 827: deus vos ante tempora prescivit et preordinavit rectorem, aber auch dem
Hofmann Matfred sagte er 818—828: (deus) elegit vos ante mundi constitutionem
Juturum ministrum imperatoris et imperii, Epist. V 182,15. 201,33f., ein Ge
danke, welcher auch in einer Formel bei Zeumer S. 532,15 erscheint. Lothar I.
erklärte 852 Leo IV.: deus stbi principem et imperatorem elegit, Epist. V 606,3
(Jaffé 2619), bei dessen Ernennung zum Kaiser Agobard 833 Gottes Eingebung
betonte, Epist. V 224. Ueber Ludwig IJ. äußerte Andreas von Bergamo 877:
deus qui d. imperatore ad regni gubernacula imperialis ordinaverat, cum tpso
erat (871), Script. rer. Langob. 229,2f. Karl II. a deo electus, a deo constitutus
877, Mansi XVII, app. 171. 172. Berengar 920, Muratori, Antiq. Il 123: ben»
gnilali divinae deputare debemus, quod sua ineffabili clementia immeritos ad hoe
imperiale fastigium provexit. Daß ihn Gott auserwählt habe und ihm die Herr-
schaft verleihe, riefen die Römer dem zur Krönung einziehenden Fürsten za,
Josippon VI 30 S. 668. — Diesen kaiserlichen Aeußerungen stehen ähnliche könig-
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 387
Ländern, in welchen eine Königskrönung noch nicht eingeführt war,
mochte dieser Umstand der Aufnahme der Formel a deo coronatus
Widerstand leisten.
Auch die Vorstellung, daß Kaiser und Reich unter besonderer
Obhut Gottes stehen, ist auf Abendländer übergegangen ').
Die Heiligkeit des Kaisers (Waitz VI 155) ist aus zwei Quellen
entsprungen, einer römischen und einer christlichen. Durch die von
ihm übernommene Gewalt des Volkstribunats ist der Princeps sacro-
sanct geworden, eine Eigenschaft, die seine Unverletzlichkeit unter
den Schutz der Götter stellte”). Seine Person und alles was kaiser-
lich war, haben in diesem Sinne als geheiligt — sacrum°) oder
liche zur Seite. 823—825 sind schon die Könige im 8. Jahrh. a deo electi,
Capit. 1308,15; 829 lehrten die Bischöfe: regnum a deo dari, Paris II 5, Mansi
XV 580; Jonas, Instit. regia c. 7, Migne 106, 295f., und auch 844 machten sie
zwischen dem Kaiser und den Königen der Franken keinen Unterschied: Christus
vos elegit et exaltavit, Capit. II 115,21. Pippin 838, Bouquet VI 675 (Böhmer
2079), und Karl II. hatten regnum a deo commissum, Nithard II 2. Dhuoda lehrte
ihren Sohn 843, daß deus eos (die Karolinger) ut credimus elegit et praeelegit in
regno, Manuel c. 19, publ. p. Bondurand 1887 S. 104. Hraban hat 855 oder
8%6 dem Könige Lothar II. kaiserliche Epitheta gegeben: magno et pacifico atque
eoronato regi Lotharto, Epist. V 515,1, wobei er a deo ausläßt. Ludwig den
Ostfranken nannte sein Hofhistoriker regem a deo eleetum et ordinatum, Ann.
Fuld. 878 S. 77. Auch Pippin von Italien war a deo electus et sublimatus rez,
Coll. Dionys. 18, Zeumer 505,28 und Arnulf per Dominum electus, Tribur 895,
Capit. 11 210. Hierzu Waitz VI 160f. Boso 879 nutu Dei, Capit. II 368, 30.
Vgl. die Krönungsformel Capit. II 457,23. 461, 32.
I) Wie die Synode von Aquileja 381 den Imperatoren schrieb: Christus
reguum vestrum custodit (Mansi HII] 615) und der Kaiser oft Hsopviaxrog (Corp.
inser. graec. IV 8659. 8740. 8789. 9543) vgl. Mansi VIII 983. XII 1130 oder a deo
eustoditus (Metrophanes oben S. 383, 1) hieß, auch die byz. Kaiser Mansi XIV 418,
824 Ludwig I. versicherten: deus noster semper adiutor et protector imperii nostri est,
0 sprach Karl 806 von a deo conservatum et servandum imperium vel regnum
nosirum oder a deo conservatum reynum atque imperium istud (Capit. I 127 Z. 6.
130 Z. 12) und behielt 821 Reg. di Farfa I Nr. 251 a deo conservatus und die
Päpstliche Kanzlei die Formel vestrum divinitus protectum imperium (z. B. Mansi
AVI 28, Jaffé 3077) bei. Vgl. Brunetti a.a.O. Nr. 80. 82. 85. 88 (809f.).
2) Mommsen, Rom. Gesch. 17 273 f.; Staatsrecht II? 236. 286f. 753. 872 f.
874. 879; Strafrecht 581 f. sancti (tribuni) sunto, Cicero, Leg. III § 9.
3) Ich trenne hierbei nicht genau die heidnische und die christliche Zeit,
weil der Unterschied zunächst ohne Bedeutung geblieben ist. Zu sacer Hallier,
De ordinationibus III? 474. Gothofredus, Cod. Theod., Gloss. Nom. v. sacra,
sacri, Mommsen, Cassiodor S. 581. Vollmer, Statius 1898 S. 21]. Guenther,
Epist, imp. pontif. II 948. sacratissimus Corp. inscr. lat. XII 410. 594. Paneg.
ed.Baehrens S. 90,11. 101,22. 102,5. 160, 5. 179, 26. 180, 11; sacrum palatium
das. 162,19. sacrae pisces, Martial IV 30,3; sacra auris das. VII 99,4. sacra
mona, Cohen VIII? 429. Vgl. Iuvencus, Evangel. IV 408f.: Constantinus solus
regum sacri sibi nominis horret imponi pondus.
388 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
sanctum!) — gegolten. Auch die Christen bezeichneten den christlichen
Imperator als heilig‘), nicht nur weil er es nach der alten staat-
1) sanctus, Martial IV 2,4. sanctissimus, Plinius, Epist. X 1,1. Corp. inscr.
lat. 113413. 6278, 18. VIII 1628. 5699. 5700. 6340. 8411. 8710. 9283. 10570. Ephem.
epigr. VIII 190. Trebellius Pollio, Valeriani c. 6, 7; Claudius c. 10,7. Dig. 40,
11, 3. Auch sunctissimi milites et sacralissimi quirites, Vopiscus, Tacitus c. 7, 3.
2) Es war nicht nur amtlicher Sprachgebrauch (z. B. Cod. Justin. VI 30, 22
pr. vgl. X 11,8,12 sacratissimus, Constantinopel als Residenz sacra urbs das.
1, 5, 8 pr., sacratissimae constilutiones, 451 Spicil. Casin. I 60. De emendat. co-
dicis pr.; auch noch sacntissimi patres, De emendat. codicis § 6, wie an Leo I.
sacratissimus senatus, Mansi VII 586 und 787, 869 cyte ovyxdnrog das. XII 1154.
XVI 357), sondern der allgemeine. sanctissimus imperator, Lactantius, Div. inst.
VII 27 S. 668 (ed. Brandt, eine Handschrift). Ausonius, Gratian 227 Augustus
sunctitate, 371 sacratissime imperator. sagri imperatores Form. Bituric. 15. Le-
ges IV 662,18. In der Urkundensprache wurde sanctus oder sanctissimus stän-
dig, z.B. 814—820 Font. rer. Austr. IJ 12 S. 3. Morea, Chartul. di S. Benedetto
di Conversano I Nr. 2ff. (seit 889). Trinchera, Syllabus graec. membran. 1865
Nr. 3—5. 10. 17—19. 23. 25 (seit 892). Cod. dipl. Cavensis I Nr. 111. 143. 200. I
Nr. 229. 348. 407. III Nr. 525. IV Nr. 626. 648 f. 668. 679 (899—1014). Cod.
d. Barese I Nr. 1 ff. Kukuljevid (oben 8. 377,1) I Nr. 114. Beltrani, Doc. Langobardi
e Greci 1877 S.5. 13. 14. 17—21 (965— 1053). Epist. V 630, 10. Liudprand, Ant. I 11.
IV 9. 35. Legatio c. 20. 35. 38. 47. 50, der um der Gleichheit willen auch sei-
nem Kaiser dasselbe Prädicatgab, Hist. Ott. c. 1. 4. 6—8. 10 f. 16f. 19— 21; Legatio
c. 26. 53. 1163 wurde Manuel I. von seinem Gesandten sanctus genannt, Delaville
le Roulx, Cart. des Hospitaliers de S. Jean de Jerusalem I 321 S. 230. — äyıog
heißt der Kaiser z.B. Corp. inscr. graec. III 4447. Synoden 869. 879. 1054.
1169, Mansi XVI 312. 380. XVII 388. 483. 517. 521. XIX 820. XXII 37. 40.
1156, Mai, spic. Rom. X 86. 1166, Mai, Script. vet. nova coll. IV 37f. 54 f. 68f.
86. 91. Migne, Patr. gr. 152, 1155. 1157. 1350 Mansi XXVI 150. 187. 190. 198.
Photius, Nomoc. pr.; I 2, Migne 104, 976. 981. Constant. Porphyr., Cerim. II 47
S. 680,18. 681,14. 682, 10. 13. 684, 18. 20. 685, 5. De velitatione bellica Ni-
cephori c. 19. 24 S. 239, 9 f. 22. 240, 12. 21. 241,2. 256,9 ed. Bonn. Joh. Mauropus
125 ed. Lagarde S. 68. Petrus Siculus, Hist. Manich. c. 22, Migne 104, 1276.
Joh. Tzetzes, Epist. ed. Pressel S. 39. 51. Michael Italicus, Cramer, Anecd.
Oxon. III 176. Nicetas Acom. S. 437, 12. Manuel I. Theorianus, Disp., Mai, Script.
vet. nova coll. VI 388; Migne 133, 121. 280. Matthaeus Cantacuz., Migne 152,
1387 f. Theodorus Hyrtac., Notices et extraits V 723, 724. Andronicus IV.
1381, Wiener Sitzungsber. VO 345. 346. Johannes Docianus, Hopf, Chroniques
256. Phrantzes II 15 S. 188,3. ayl« nepgain, 879 Mansi XVII 432. N on dacd-
ns, Vita Nicolai Stud., Migne 105, 918. +d feed» naldrıov, 801 Theodor
von Studion an Irene, Epist. I 7 das. 99, 929. — Die Kaiserin ist feedwuzos
das. I 7 S. 932; cyte Theophylactus von Bulgarien das. 126, 501. Joh. Tzetzes
2.2.0. 8. 39. 45. 46. Nicephorus Gregoras II 1282. Titularbuch Migne 107, 408.
Ein Cäsar ist &yıog bei Theophylactus a.a.O. 126, 377. 512. 517. — Constantin
und Helena sind kirchliche Heilige geworden, Helena jedoch nur in der griechi-
schen Kirche, Martinov, Annus eccles. graeco-slav. 1863 S. 133 f. zum 2]. Mai;
ihrer gedenkt als tay ayiav Baotlewy Corp. inscr. graec. IV 8694. 8742. 8765.
9070; Coustantin ist @yıos Constant. Porphyrog., Cerim. Il 15 S. 587,7; sanctus,
Liudprand, Legatio c. 5l. Tillemont, Emp. IV 271 ed. Ven.
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 389
lichen Ordnung war, sondern auch weil ihr Gott ihn unter der
Menge des Volkes zum Herrscher auserkoren hatte. Schätzten sie
ihn in diesem biblischen Sinne als heilig, so konnten sie auch sein
Verhältnis zu Gott durch eine Salbung zum Ausdruck bringen und
bekräftigen. Das geschah wahrscheinlich erst ein halbes Jahrtausend
nach der Zeit, wo der Gott der Christen der Reichsgott geworden
war. Seitdem wurden Stimmen in der Literatur laut, daß es die
kirchliche Verrichtung sei, welche die [leiligkeit verleihe; der Kaiser
werde durch das Chrisma nicht nur ein Gesalbter des Herrn, son-
dern heilig. So erklärte der theologischen Neigungen zugängliche
Pachymeres VI 30 S. 507, 3f., der Kaiser sei heilig, weil er gesalbt
sel. Diese Verbindung von Ieiligkeit und Salbung ist nicht allge-
mein angenommen worden'). Nach einem Adressenbuch des 15.
Jahrh. war der noch ungekrönte Kaiser &og zu titulieren (Migne
107, 405) und der ungekronte war auch ungesalbt.
Aus der Heiligkeit des Kaisers ist die Heiligkeit des römischen
Reiches hervorgegangen, wohl in der Weise, daß an die persönliche
Eigenschaft des Imperators sich die Vorstellung anschloß, auch der
von ihm regierte Staat sei ein heiliger Staat, ohne daß diese neue
1) In einem Schreiben armenischer Bischöfe war schon Leo I. — bildlich —
6 deo unctus in regem, Mansi VII 587. Männer, welche Kaiser Michael II. —
medy xvefov, Cedrenus II 100, 23 — getödtet hatten, richtete Theophilus ge-
nib zoig woderexoig vduors hin, das. II 100, 20 (nach Theophanes cont. S. 86);
la II. sagte zu Normannen, sie hätten in ihm den Gesalbten des Herrn, zeı-
ar byte xvedov, beleidigt, Nicetas Acom. S. 477,6. Wer das Leben ta #2@
“zeopévov nehme, sei nicht nur unter Menschen ohne Sühne, sondern auch Gott
Verde, wie wir glauben, seine That mit der härtesten Strafe vergelten, Joh. VI.
Cantacuz. 1,9 S. 45, 17—21, nach jüdischer Vorstellung, z.B. 1 Sam. 24, 7. 26, 9.
Der Kaiser war freilich durch das Chrisma in Wirklichkeit ein Gesalbter Gottes,
wie z.B. Demetrius Chomatianus (bei Leunclavius, Ius graeco-rom. I 317) und
Symeon von Thessalonich c. 214 (Migne 155,429) sich ausdrücken, vgl. De-
merits Chomatianus c. 114, Pitra, Anal. sacra Solesm. VI 493 ff. Die Salbung
Vest anf den biblischen Sinn der Heiligkeit des Kaisers hin, vgl. Goar, Eucho-
lg" 126. Daß er jedoch auch heilig durch das Chrisma werde, d.h. daß die
Eigenschaft der Heiligkeit durch eine gültige Salbung entstehe, hat Allatius, De
teelesine oceid. atque orient. consensione 1648 S. 219, vgl. auch Du Cange, Gloss.
tec, 14. mit Quellen beweisen wollen, die es schwerlich ergeben. Rechtliche
Wirkung hatte die Salbung nicht. Mit der von Theodor Balsamon aufgestellten
Beauptung, der Kaiser habe durch die Salbung die Fähigkeit die Christen zu
erweisen (wohl im Hinblick auf 1 Johann. II 20), bei Rhalles und Potles,
& can. IV 544, würde Symeon von Thessalonich c. 207 S. 417 nicht ein-
"erstanden gewesen sein. Unter Justinian I., vor der Einführung der Salbung,
oe Paulus Silentiarius, Descriptio s. Sophiae 53 f. S. 5, wer diesen Kaiser
a? en lassen wolle, erhebe sich gegen Gott. Aber wie begrindete er
Kaiser ist tauglich und mild. Vgl. Smend, Religionsgesch.? 66 f. 147.
390 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
Staatseigenschaft bei den Griechen die persönliche Heiligkeit des
Kaisers beseitigt oder auch nur in den Hintergrund gedrängt hätte.
Der neue Begriff des heiligen römischen Reiches ist, soviel ich be-
merkt habe, erst in christlicher Zeit und wahrscheinlich auch durch
christliche Ideale geschaffen worden ').
Bevor Karl Imperator wurde, war der Ausdruck sacrum palatium
in seine Kanzlei eingedrungen ?) und hatten Männer wie Alcuin ihm
1) 7 ayla Poolete ist gleichbedeutend mit 6 &yıos Baotlevs, z.B. Mansi XVII
432. 461. 517. 521 (ebenso rö &yıov xearog XVII 464). Constant. Porpbyrog,,
Cerim. I 2. 83 S. 38, 22. 334, 9. 1092 Coll. Nov. IV 31, Zachariae, Ius III 376.
378. 1166 Synode, Mai, Script. vet. nova coll. IV 37. 55. Panag. cum Azym.
disput., Vassiliev, Anecdota graeco-byz. I 179. Demetrius Chomatianus c. 26 bei
Pitra a.a.O. VI 109. 111. Theorianus, Disput. I. II ebd. VI 316. 318; Migne
133, 121. 213. Eustathius von Thessalonich, Regel, Font. rer. byzant. I 126, 14.
Michael Acominatus ed. Lampros I 311, 14. If 150, 2. Theodorus Hyrtac., Notices
et extraits V 723. 724. Adressenbuch, Migne 107, 405. Joh. Docianus, Hopf,
Chroniques 256. Phrantzes III 1 S.211,3f. In einem Schreiben an die Kaiserin
1306, Miklosich et Müller, Acta III 242. Vgl. DuCange ed. Favre X 143 8 51.
In demselben persönlichen Sinne sagen Lateiner vestrum sanctum imperium, z. B.
Johann VIIL, Mansi XVII 187 (Jaffé 3323). 1118 Alexius I: notum est sancto
imperio nostro, Trinchera a.a. O. Nr. 86. smperium tuum sanetum Liudprand,
Antap. I 11, vgl. Legatio c. 15. 32. 33. 35. Eine byzantinische Prinzessin nennt
filiam sancti impertt 988 Gerbert, Epist. 111 8. 102 ed. Havet. Die Uebertragung
der leiligkeit auf das römische Reich verbreitete sich von Italien aus, wenn sie
nicht gar dort ihren Ursprung hatte. Der Exarch Smaragdus schrieb 585 oder
590 an Childebert II. von sancta Romana respublica, Mon. Germ., Epist. II
147, 4 und sancta respublica S. 147, 30; Mauricius sprach von sacratissima res-
publica nostra das. III 148,26 f. Die Bischöfe Istriens an Mauricius Gregor L,
Reg. I 168 S. 18,6. 21, 4 sancta respublica vestru; 18, 29. 34. 20, 1f. 17 sancta
respublica. Gregor I. 591, 592, Reg. I 73. II 34 8.94, 2. 130, 20 (Jaffé 1142. 1189)
sancta respublica; ebeuso Gregor III., Epist. IIL 702, 13. 29 (Jaffé 2177 f.), zu dessen
Briefen s. Monticolo, Bullet. dell’ Ist. stor. ital. Nr. 9 S.184—199. Vita Gregorii IIL.
c. 15 versteht unter sancta respublica das römische Reich; so auch Duchesne,
Lib. pontific. I 424, 32. Schnürer, Kirchenstaat 1894 S, 28. Gundlach, Kirchen-
staat 1899 S. 21f. Hingegen nehmen den Ausdruck im Sinne von Ducat von
Rom Thelen, Verhandlungen Pippins mit Stephan II. 1881 S. 13. 15. Armbrust,
Territoriale Politik der Päpste 1885 S. 61. 62. Hauck, Kirchengesch. II? 29, 1.
Lindner, die Schenkungen Pippins 1896 S. 23. Hamel, Territorialgesch. des
Kirchenstaates 1899 S. 5. Beide Bedeutungen hält Gregorovius, Rom II* 242 für
zulässig. sanctum Romanum imperium 814—820 in einer Urkunde des Dogen
von Venedig, Font. rer. Austriac. II 12 8.2. 879 Johann VIII: vos imperatores
qui sanctae reipublicae gubernatis imperium, Mansi XVI 482. XVII 138 (Jaffé
3271). sanctum imperium ist das byzantinische Reich Ann. Januenses ed. Belgrano
S. 235,16. 236,1. sancta dominatio augusts Vulgarius, Poet. Carol. IV 428, 14.
2) 794 sacri palacıı capella, Capit. I 74,18; a sacro palatio das. I 203, 2.
Aber tudex sacri palates neben caudex d. imperatoris ist nicht 790 (Brunetti, Cod.
dipl. Tosc. II 30 5S. 282), s. tmperti notartus neben Karl und Pippin magni impe-
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 891
seit einigen Jahren von seiner geheiligten Person geschrieben ').
Durch das Imperium ist die Heiligkeit eine von der Persönlichkeit
des Herrschers unabhängige Bezeichnung des karolingischen Impe-
rators geworden, welche in der ersten Hälfte des 9. Jahrh. in weitem
Umfang Anwendung gefunden hat’).
ratores nicht 800 (Tiraboschi, Nonantola II Nr.17), sacra auctoritas in G. abb. Fontan.
c. 14 8. 42 nicht im 8. Jahrh. geschrieben. sanctum palatium schon Exhort. ad Franc.
regem, Digot, Hist. d’ Austrasie III 352; sacrum palatium, Pardessus, Dipl. II Nr. 348
= Chronique de S. Pierre de Béze 1875 S. 242; außerdem sind merovingisch sa-
erae litterae, Marculf 19. Auch der Westgothenkönig hatte 653 sanctae animae vo-
luniatem als sacratissimus princeps (Conc. Tolet. VIII pr.) und 599 sacra regalia,
Bruns, Canones I 266. II 66. sacrum palatium, Liutprand, Leges IV 109, 14.
149, 4. 443. Romuald II., Troya IV Nr, 384. Gisulf Il. sacratissimum p. das.
Nr. 568. 582. 592. 601. 604. 639, vgl. Nr. 618; sacrum p. Arichis das. IV Nr. 903
— sacralissimum nostrum p. befahl er seiner Kanzlei zu schreiben, Leo Marsic. I 8
SS. VII 586,19 — und Grimoald, Ughelli VIII? 38. Muratori SS. Ib 374; später
Maratori SS. Ib 387. Seit 9. Jahrh. schlossen sich ihnen darin die Fürsten von
Salerno an, das. Ib 393. 394. Cod. dipl. Cavensis I Nr. 55. 106. 111. 115 f. 120.
174. 179. 202. VI Nr. 875. Vgl. Gattola, Access. I 44.
1) 796-800 Epist. IV 110 8. 158, 4 sanctissima pietas; 148 S. 241,22 sancta
pietas; 121 S. 176,3 sancta dilectio; 203 S. 336, 20 sancia voluntas; sanctissima
136. 178 S. 208,36. 294, 17 voluntas, 136 S. 209,8 saptentsa; 171 S. 281, 24. 32
soliteitudo; 203 S. 336, 33 auctoritas; 211 S. 352,2 (vor 801 ?) consideratio, 200
S. 381, 7 sacratissimae imperii aures, 261 S. 419, 4 (vor 801?) sacratissima
sollicitudo. — sacra praecepla, sacrum palalium, Libell. sacrosyll. c. I, Paulinus
ed. Madrisius S. 1. sacri syllabi, Paulinus 800, Epist. IV 523,6.
2) Karl I.: 801 und 802 Alcuin, Epist. 240 S. 386,4 sancta mens; 245
S. 397,27 sanctissimus animus; 245 f. S. 393,36. 398,13 sanctssima presentia;
257 S. 414, 35 sanctissima auctoritas; 414,23 sanctus tmperator; 229 S. 878, 16
sacratissimum pectus. Leidrad an Karl um 813 das. IV 542,8 sacer imperator.
Amalar an Karl um 811, Epist. V 243,16 sanetum regimen, 244,1 sanclissima
gubernatio. 811, Baluze, Capit. II 1402, 22 sacra epistola. Dungal an Karl 811 Epist.
IV 578, 1 sacra progenies; das. IV 543,2. 552,27, Formulae ed. Zeumer 455, 25.
632,15 und Angilbert, Eccles. Centul. c. 2 SS. XV 175,42 sacrum palatium.
Venerius, Epist. V 315,2 sua sancla anima. Gesta abb. Fontanell. c. 16 S. 47
sacra auctoritas. Sedulius, De rectoribus c. 9, Mai VIII 28 sacratissimus au-
gustus. Privaturkunden 804 (Neues Archiv XIII 155, 12) und Trad. Lunael.
11. 14. 21. 36 6. (Urkb. Enns I) saeré palacti capellanus; das. 84 sacrı palacti in-
perialis custus. — Ludwig I. sacratissimus imperator, Epist. V 414,31. 419, 45.
sacer das. V 160, 1. 166, 29. Ermoldus, Hlud. Il 204. 418. Hraban Ill 11, Poet. Carol.
11 164. sanctus Amalar, Migne 105, 1243. Poet. Il 634. sanctissimus Form. Senon.
9 S. 215,9. Epist. V 310,45. 626,25 (um 851). sacratissimus, Transl. Viti, Jaffé
I 14. Radbert, Epitaph. Arsenii II 9,17 S. 71. 85, sancta paternitas das. Il 17
8. 87. sanctitas vestra, Epist. V 389,24 f. 340,6. sacrum nomen das. 183, 3;
Walahfrid 24,25 f., Poet. II 379. sancta imperialis potestas, Epist. V 314, 7. 38.
sancla pielas das. 309,35. sanctisssma sollicıtudo das. 182, 26, excellentia 301,30,
honorificentia 419,46, voluntas 324,39. sacrum acumen das. 155,8, preceptum
226,30, regimen 309, 20. sacra sollscitudo 311,15, vestigia 314,9. 815,27. sacri
pedes, Formulae 522,31. sacratissima serenitas, Epist. IV 597,27. sacri palati
392 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
Die abendländischen Kaiser!) und Synoden?) haben von ihr
sparsameren Gebrauch als die byzantinischen gemacht und auch
die päpstliche Kanzlei hat sie nicht häufig aufgenommen). Bei
dem seit unvordenklicher Zeit bestehenden kaiserlichen Prädicat
haben die Abendländer nach Grund oder Wirkung wenig gefragt.
Von einer Salbung war es nach ihrer Meinung nicht abhängig, denn
sie haben es weder Karl, der als Kaiser nicht gesalbt worden ist,
noch seinen zwei nächsten Nachfolgern bis zu ihrer Salbung vorent-
halten. Der Ausdruck heiliges Reich hat sich im abendländischen
Imperium erst später eingebürgert; er ist weder für den von Karl
antistes das. V 179, 29, archicapellanus das. 402, 6. Vita Hludow. c. 26 SS. II 620, 39,
archidiaconus Epist. V 424,15, ostiarius das. 233, 18. 292,9. sacrorum serintorum
praelatus, Vita Hludow. c. 40 SS. II 629,45. — Lothar I. sanctissimus tmperator,
Hraban 840—842, Epist. V 444,22. sanctus Caesar, 841 Walahfrid 76,75, Poet.
II 415. sanctu voluntas, Epist. V 444, 28, sunctae tusstones das. 626,33. sagra
tussio imperialis, 847 Mem. di Lucca V> 643 S. 383. sacrum palatium Epist.
V 625, 26. sacri palatu capellanus, Neues Archiv XIII 154,9. Catal. ep. Mett.
SS. IL 269, 41; comes 852 Cod. dipl. Langob. Nr. 180. — Ludwig II. 871 dreimal
sanctus, Poet. Carol. III 404. sacrs palatii capella, Cod. dipl. Langob. Nr. 236;
comes Mabillon, Dipl. 117. 544. Muratori SS. Ilb 506. 938. 944; iudtces Cod.
dipl. Langob. Nr. 234. Cod. dipl. di Arezzo I Nr. 39. Mem. di Lucca V> 742
S. 446. Später nennt sich auch ein Gerichtsschreiber noturıus sacri palatsi,
Cipolla, Mon. Novalic. I S. 94 (Mühlbacher 1562 vgl. 1569). — Der Kaiserin
Judith sacra vestigia, Formulae 526, 23, deren sacrae iussiunes und sacratissimum
nomen Freculf um 829 Epist. V 319, 36. 320,2 erwähnt. Lothars I. verstorbene
Gemahlin Irmingard ist sanctissima das. 625,37. Hier und sonst können solche
Prädicate auf Gottesfurcht gehen; so ist Ludwig I. sacer vir, ein frommer Mann,
bei Ermoldus, Hlud. [ 588, Ludwig II. sanctissimus, Erchempert, Hist. Langob.
Benev. c. 34 S. 247,25 ed. Waitz; Sico, Grabschrift 832 Poet. Carol. H 650, 35
sanctus. Liudprand, Antapod. II, 52. Hugo sanctisstmus rez, Ughelli V? 229.
1) in sacro palatio, fir Grado 803, Mühlbacher? 400. sacr# palatii capellanus
das.? 691. 746f. 803 f. 844. 846f. 952, cancellurtus das.? 726. L111 f., notarius
das.? 946. 988. 996. 1132, iudsces das.! 1228, 1569, minister das.! 1163. Capit.
II 99, 38. 104,2. Bouquet VIII 656. So urkundeten auch Könige, bei Kaplanen
der ostfränkische Ludwig schon 830 (Mühlbacher! 1302) und Karl II. (Bouquet
VIIE 481. 490), bei Notaren 931,935 Hugo, Bullet. dell’ Ist. stor. ital. Nr. 21
S, 147. Ficker, Forschungen IV Nr. 23. Karl II. hat seinen Vater sacratissimus
genannt, Bouquet VIII 658. — Ilincmar, Ord. pal. c. 1. 16, Capit. II 518, 14.
523,18 sacrum palatium; de praedestin. c. 2, Op. 1 21 Aeneas notarius sacrı
palatii. — 725 Romuald II., Troya IV Nr. 388 sacri palatii iudex.
2) Mainz 813 pr., Mansi XIV 64 Hildebuldus sacri palais archiepiscopus.
Pavia 850 c. 15, Capit. II 121, 13 sacrutissimus imperator, c. 16 2. 16 sacrum palatium.
3) sacra iussio imperalis, Epist. V 228, 37. 229,8 (Jaffé 2578) nach älterem
Sprachgebrauch, z. B. imperialia sacra, Vita Hadriani I c. 88 und sacra, Mansi
XII 1073 (J. 2448). 853 sacratissimi imperatores, Acta deposit. Anastasii das.
XIV 1017. sacratissimam caput das. XVII 30 (J. 3079); sucrae uures das. XVII 43
(J. 3093, wie das XVIII 12, J. 3403) imperator sanctissimus, Bouquet IX 211 (J. 3532).
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 893
beherrschten Theil des Romerreiches noch fiir den Kaiserstaat unter
Ludwig I. noch auch für das unter Lothar I. entstandene neue Im-
perium Sitte gewesen').
Ob das von dem Kaiser bei seiner Krönung abgegebene Ver-
sprechen, die römische Kirche zu schützen (Waitz VI 234) schon
karolingisch ist, gestattet unsere Ueberlieferung kaum mit Bestimmt-
heit zu bejahen oder zu verneinen. Karl lassen die Quellen des
9. Jahrh. bei seiner Krönung 800 unthätig bleiben, nur vielleicht
Agnellus nicht. Er schrieb c. 94 S. 338: cum Karolus Romanorum
percepisset a Leone papa imperium, postquam ad corpus b. Petri sa-
cramentum praebuit, revertens Franciam. Wenn die Mittheilung mit
Dahn, Urgeschichte III 1081 Anm. vgl. Könige VIII 6, 240 und
Mühlbacher, Reg.? 370° S. 165, Deutsche Gesch. unter den Karo-
lingern 1896 S. 201 dahin zu verstehen ist, daß der »Eid< am 25.
December 800 vor der Krönung geleistet sei, so ist an ihrer Un-
richtigkeit kein Zweifel. Eine derartige Aeußerung Karls ist durch
die Thatsache ausgeschlossen, daß die Krönung ihm unvermuthet
und gegen seinen Wunsch zu Theil geworden ist?). Allein es ist
nicht nöthig, den Bericht so auszulegen, daß er einen Irrthum ent-
hält. Möglicher Weise war die Meinung des Schriftstellers die, daß
Karl an einem früheren oder an einem späteren Tage als dem, an
welchem die Krönung stattgefunden hat, an der Gruft des h. Petrus
eine Zusage gemacht habe. Auch Agnellus bezieht postquam bald
auf das Vorhergehende, bald auf das Nachfolgende, s. z.B. c. 39.
95 f. 154 S. 304, 2. 338, 32. 341,6. 377,30. Daß Leo III. vor dem
Krönungstage von Karl eine durch seinen Eid bekräftigte urkund-
liche Versicherung verlangt und erhalten habe, Rom nie feindlich
zu sein, ohne päpstliche Aufforderung nicht nach Rom zu kommen
1) Wie bei Alcuin um 798 Epist. 1V 136 S. 205, 14 sacralissimi gubernacula
imperss, auch Amalar um 811 oben S. 391,2, ist sanctum imperium bei Venerius
um 826 das. V 315,11 und sucrum imperium bei Radbert, Epitaph. Arsenii II
10 8. 76 der tmperator. Auch sub ipsius (Karls) sancto imperio mag Venerius
a.0. 315,5 persönlich meinen wie Victor II. von Chur 823 das. 309, 20 f. sub
sacro vestro regimine. 829 ist Lothar I. sancté spes regnı, Walahfrid 23, 158,
Poet. II 3756. Bei Benedict Lev.. Leges Ilb 41,36 ist smpertum sacrum Gottes
Reich. Später Otto III, Dipl. II S. 700, 25. Otto Fris., Gesta Frid. II 50. Wei-
land, Constitutiones I 519,17. Vgl. Bryce, Holy Rom. empire ed. 8 S. 8192.
2) Sigonius, Hist. de regno Italiae 1575 S. 161 (Opera II 1732, S. 252) hat
das Krönungsversprechen im Ordo Rom. auf Karls Kaiserkrönung bezogen ; ebenso
Baronius 800 und nach ihm z.B. Cenni, Mon. domin. pontif. II 1761, S. 40.
Carli, Antichita Italiche IV 1790, S. 37; hingegen war Leibniz, Ann. 800 § 22
8. 216 geneigt, die Formel auf Karl Il. zu deuten. Marcellino da Civezza, I
romano pontificato I 1886 S. 486 läßt Karl sogleich nach der Kaiserkrönung
der römischen Kirche seinen Schutz geloben.
Gött, gel. Ans. 1901. Nr. 5. 27
394 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
und dem Papste stets beizustehen erzählt zwar 1143 Nilus Doxo-
patres (Hierocles, Synecdemus ed. Parthey S. 379 f. $ 379—382),
aber seine Angabe ist nicht nur zum Theil inhaltlich unmöglich,
sondern kann auch nicht als Zeugnis für- die an sich mögliche Er-
klärung, die römische Kirche beschirmen zu wollen gelten; sie ist
in allen ihren Stücken zu verwerfen. Indeß die Aussage des Ra-
vennaten ist die eines Mannes, welcher in der Lage war, von dem
Vorgang sichere Nachricht zu erfahren und sich an Leser wandte,
die von dem Ereignis, wenn es ihnen unbekannt war, sich unter-
richten konnten. Obschon er nicht sagte, welchen Inhalt Karls
Verheißung gehabt habe, so ließ er doch aus der Stätte, die er
angab, schließen, daß sie zu Gunsten der römischen Kirche gethan
sei; er stellte sie hierbei nicht als ein Leo III. geleistetes Ver-
sprechen oder als Verlautbarung eines mit ihm eingegangenen Ver-
trages hin, sondern als ein Gelöbnis, das Gott mündlich und so
feierlich gemacht wurde, daß es sacramentum heißen mochte. Und
da Karl vor oder nach dem Tage seiner Kaiserkrönung wegen der
Thätigkeit, die er im Begriff stand vorzunehmen oder ausgeführt
hatte, ein Anlaß nicht fehlte, in der Peterskirche sich förmlich zum
Vertheidiger der römischen Kirche zu erklären, so verdient unser
Gewährsmann wohl Vertrauen).
Im J. 818 erinnerte Paschalis den Kaiser Ludwig an sein in
Gegenwart von Reliquien, Klerikern und Laien zu Ehren des h. Pe-
trus vor kurzer Zeit abgegebenes Versprechen — votiones sanctae —,
um auf Grund desselben die Beschützung römischer Patrimonien und
eines päpstlichen Legaten zu begehren; bei Nichterfüllung würde
ihn das Volk für einen Meineidigen halten, Epist. V 68, 22—26
(Jafié 2550). Hampe, Epist. V 68 Anm. 3 bezog die Zusage auf
das von Ludwig mit Paschalis 817 erneuerte Pactum; Simson, Lud-
wig | 70,5 hielt für möglich und I 213 für wahrscheinlich, daß der
Papst seinem Vorgänger 816 in Reims ertheilte Verheißungen im
1) Simson, Karl II 241 spricht nur von einem angeblichen Eide bei Agnellus.
Die Annahme, daß Agnellus ein anderes Krönungsversprechen irrthümlich als
von Karl gethan vorausgesetzt und auch ihm zugeschrieben habe, scheint mir nicht
haltbar. Von der byzantinischen Kaiserkrönung konnte er seine Meldung nicht
entlehnen, obschon ein Versprechen des zu krönenden Imperators über 800 zu-
rückreicht, s. Bury, Later Rom. Empire II 390, vgl. Gibbon ch. 53 n. 74 ed.
Bury VI 90. Inhalt und Form haben — abgesehen von dem Ort — das byzan-
tinische und das abendlindische Versprechen unterschieden. Mühlbacher, Ge-
schichte 201 vermuthete bei seiner Auffassung, daß Agnellus das sacramentum
als Bestandtheil der Krönungshandlung meinte, er habe ein späteres Krönung»
versprechen eines karolingischen Kaisers auf Karl übertragen. Dieser Kaiser
könnte für Agnellus nur Lothar I. sein.
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VI. 395
Auge hatte. Gegen 817 fällt ins Gewicht, daß Paschalis sich auf
eine mündliche Erklärung Ludwigs stützte, durch welche er zu der
geforderten Thätigkeit verpflichtet sei. Wenn der Kaiser das Pac-
tum, ehe er es dem päpstlichen Gesandten aushändigte, nach einer
Verlesung vor einer Hofversammlung gutgeheißen hatte, so würde
Paschalis, falls er für sein Verlangen diese Aeußerung geltend machte,
sich auf eine Handlung berufen haben, aus welcher sein Recht auf
Schutz sich nicht ableiten ließ. Denn nicht die der Uebergabe der
Urkunde vorausgehenden Worte, sondern die Uebergabe der Ur-
kunde war der Verpflichtungsgrund und jene mündliche Bestätigung
würde auch nicht eine besondere Verpflichtung neben dieser be-
gründet haben. Allein der Fehler in der Begründung seiner An-
sprüche beweist noch nicht, daß ihn Paschalis nicht begangen hat, sei
es mit Kenntnis der Unrichtigkeit seiner Argumentation, aber in der
Erwägung, daß es zweckmäßiger sei, den Kaiser zu ermahnen, jener
Worte eingedenk zu sein, oder sei es, daß er sich in der Begrün-
dung vergriff. Die falsche Beweisführung würde daher 817 unwahr-
scheinlich, jedoch nicht unmöglich machen. Die Behauptung, daß
der Bruch der mündlichen Zusage den Vorwurf des Perjurium recht-
fertige, mochte in deren Form einen Anhalt haben’).
Das »heilige Gelübde« könnte auf eine Handlung von 816 gehen,
entweder auf ein einseitiges nur vor Gott verpflichtendes Versprechen
die römische Kirche zu schützen, welches einen Bestandtheil der
Krönungsfeier in Reims bildete, oder auf eine andere damalige Zu-
sicherung des Kaisers an den Papst und zwar wohl auf eine unab-
hängig von dem 816 abgeschlossenen Pactum ausgesprochene Willens-
äußerung, weil Paschalis schwerlich ein älteres Pactum statt des
in Geltung befindlichen angerufen hätte. Im ersteren Falle wäre
das Krönungsversprechen als Theil der kirchlichen Weihe des zweiten
karolingischen Kaisers in die Geschichte eingetreten und aus der
Zeit der päpstlichen Kaiserweihe anscheinend in seinem Wesen un-
verändert in die Zeit der päpstlichen Kaisercreirung übergegangen.
Gegen diese und gegen eine sonstige Verlegung des Gelöbnisses in
das Jahr 816 spricht jedoch der Umstand, daß Paschalis unter denen,
vor welchen Ludwig I. sein Wort verpfändet habe, den Papst Ste-
phan IV. nicht namhaft gemacht, sondern sich begnügt hat als
Zeugen Kleriker überhaupt zu erwähnen. Wägen wir die Gründe
1) 878 brachte Johann VIII. Karl III. das pactum in Erinnerung, quod aus
et paires vesiri s. Romanae ecclesiae wureiurando promiserunt, Mansi XVII 92, J.
3205. patres sind hier Vorfahren überhaupt, sodaß Ludwig I. in den Schwur
nicht einbezogen werden muß. Es sind die sacramenta quae Pippinus et Carolus
obtulerunt b. Petro, 878 das. XVII 347 c. 4.
27”
896 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
für und wider 816 und 817 ab, so dürften die für die Einführung
des Krönungsversprechens 816 und zwar bei der durch die Krö-
nungsfeier gegebenen Gelegenheit überwiegen, aber mehr als Wahr-
scheinlichkeit wäre nicht erreicht'). Daß ein späterer karolingischer
Kaiser bei seiner Krönung gelobt habe, die römische Kirche zu ver-
theidigen, kann ich aus den Quellen nicht erweisen ?).
Der römische Patriciat kommt früher zum Vorschein als S. 252
eingeräumt wird.
Nach Karl I. ist kein König der Franken Patricius der Römer
gewesen. Es ist nicht nur der Titel, welcher aus ihren Urkunden
verschwunden ist, oder die zufällige Thatsache, daß sie staatsrecht-
1) Ludwig I. sagte nach Radbert, Epitaph. Arsenii II 17 S. 86, er habe den
Schutz der römischen Kirche vorlängst übernommen; die Uebernahmehandlung
nennt er und auch Vita Hludovici c. 55 SS. II 641,15 nicht. Die väterliche
Ermahnung 813 richtete sich auf allgemeine Regentenpflichten ohne besondere
Beziehung auf die römische Kirche, Thegan c. 6 SS. II 591f., vgl. Capit. II 54
c. 1. 816 erneuerte Ludwig I. vor der Kaiserweihe das Pactum; Ermoldus II
889 ff. hat die beiden zeitlich und örtlich geschiedenen Vorgänge mit dichte-
rischer Freiheit zusammengerückt, vgl. Simson, Ludwig I 70f. — Der Zusats
des Ueberarbeiters der Reichsannalen 754, daß der Papst Pippin salbte, postguam
a rege ecclesiae Romanae defensionis firmitatem accepit, legte Armbrust (S. 890, 1)
67 dahin aus, daß Pippin unmittelbar vor der päpstlichen Verrichtung ein neues
Versprechen, die römische Kirche zu schützen, mündlich leistete, was Waitz
III 87,2 für wahrscheinlich hielt. Eher dürfte die Meinung des Schriftstellers
sein, daß der König Stephan Il. vor dem Tage der Salbung die beiden Urkunden
ausgehändigt hatte; so faßt Gundlach, Kirchenstaat 73 die Mittheilung auf.
2) Radbert a. O. erzählt nur, was Paschalis I. 823 that, und erstreckt dessen
Handlung sowohl auf die römische Kirche als auf das Reich. Auch von Lud-
wig II. wird bei seiner Kaiserkrönung m. W. keine Erklärung über den Schutz
der römischen Kirche gemeldet. Er erhielt dabei nach Nicolaus I. vom Papste
machaerue usum contra infideles, Mansi XV 290, J. 2774, vgl. Waitz VI 214.
Karl II. wurde Kaiser, postquam solemniter vota regsa persolvisset ad sepulcrum
b. Petri, Sloet, Oorkb. Gelre en Zutien I 55 S. 56, J. 3022, d.h. er betete an
einem Tage vor der Krönung wie Berengar, Gesta Bereng. IV 156f. Sein Ver-
sprechen der Vertheidigung, auf das Johann VIII. sich berief (Ann. Bertin. 877
S. 134 f.), ergibt kein Krönungsversprechen; ebensowenig Neues Archiv VIII 363
(Jaffé 3029), falls das Schreiben sich auf Karl II. bezieht (so das. VIII 606) und
verläßlich ist, s. Jaffé, Nachtrag zu 3029. Für die Vermuthung von Schwarzer,
daß die Karolinger ein später wieder abgekommenes Glaubensbekenntnis ab-
gelegt hätten (Forsch. z. d. Gesch. XXII 189, vgl. Waitz VI 245, 2f.), finde
ich keinen Grund. Den Ring (Waitz VI 300) kennt bereits Josippon VI 30, 25
8. 671 und wohl als annulus fidei, wie Nicolaus I. den Bischofsring nannte,
Mansi XV 699, J. 2785. Das Kirchenamt des byzantinischen Kaisers — er
wurde deputatus, ein Amt, dessen Thätigkeit Clugnet, Revue de l’Orient chre-
tien IV 122 bespricht — ist seiner Entstehungszeit nach noch weniger be-
stimmt (s. Hallier, De ordinationibus II]? 475) als das des abendländischen Kaisers.
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, VI. 897
liche Befugnisse über die Römer auch sonst nicht erwähnt haben,
sondern sie haben kein Herrschaftsrecht im Gebiete der römischen
Kirche gehabt und sind selbst während der Erledigung des Impe-
rium nicht an die Stelle des Kaisers getreten, um den Römern per-
sönlich oder durch Bevollmächtigte Rechtshülfe zu gewähren. Die
Römer haben keinen von ihnen zu ihrem Schutz aufgefordert oder
eine Oberhoheit durch Aufnahme der königlichen Regierungsjahre
in ihre Urkunden anerkannt. Die Päpste haben die Freiheit des
Kirchenstaates von den Karolingern, die nicht Kaiser waren, fest-
gehalten. Sie haben nur mit den Jahren des Imperators geurkundet,
weil sie keinem anderen Herrscher eine Gewalt in ihrem Lande zu-
gestanden !), und sind Versuchen einzelner, hier Rechte zur Geltung
zu bringen, entgegengetreten. Die erste Gelegenheit bot sich schon
844. Ludwig II., der als Langobardenkönig einen Eid von den
Römern und mit ihm eine Herrschaft im Kirchenstaate neben der
seines kaiserlichen Vaters begehrte, hat sich eine Zurückweisung
seines Anspruchs durch Sergius II. zugezogen, der er sich in Aner-
kennung, daß sein Verlangen unberechtigt sei, gefügt hat. Und
ein späterer Papst, der ihn zum Kaiser gekrönt hatte, hat ihm ge-
schrieben, bloß dem Kaiser und dem Papste dürften die Römer
Treue schwören (Epist. V 585, 24 ff., Jaffé 2620). Wenn nur sie
ein Recht auf den Eid hatten, so hatten auch nur sie ein Recht
auf Herrschaft. Ludwig II. erklärte selbst 871, Rom und die Römer
ständen unter dem Kaiser, SS. III 523,26. Einem anderen Karo-
linger gebührte weder als König noch als Patricius Gewalt über sie ?).
1) 988 Bouquet IX 220 (Jaffé 3604) hat den falschen Zusatz Ludovico Fran-
corum rege. Nicht selten sind Datierungen wie das. IX 212 (Jaffé 3527) post
obitum imperatoris oder in Privaturkunden 889 bei Fantuzzi I 90: nomen d. im-
peratoris non habemus; vgl. 937 das. I 119: imperatore nemine.
2) Während der Reichsvacanz nach Karl II. 878 haben zwei Unterthanen
König Karlmanns, der Kaiser zu werden wünschte, nachdem sie den Papst ge-
fangen genommen hatten, die Optimaten Roms durch ihre Uebermacht genöthigt
dem Könige Treue zu schwören. Der Annalist von Fulda, der den Hergang er-
zählt, unterrichtet uns nicht, wie Karlmann sich hierzu verhalten hat. Seine
Beamten beriefen sich nach einem gleichzeitigen Briefe Johanns VIII. (Mansi
XVII 77, J. 3138) auf einen Befehl des Königs, aber auch wenn er ihn nicht er-
theilt hätte, würden sie, da sie aus eigenem Recht in Rom nicht zu gebieten
hatten, als seine Geschäftsführer eine. ihm nach ihrer Meinung günstige Hand-
lung vorgenommen haben, auf deren Genehmigung sie hofften, mochten sie auch
bei dem Entschluß zu der Maßregel oder bei ihrer Ausführung von ihren Sonder-
interessen geleitet oder beeinflußt werden, vgl. Mansi XVII 60. 72—76. 79,
J. 3119. 3122—3124. 3137. 3142. Die Bedeutung jenes Schwurs ist fraglich.
Gregorovius, Rom 3‘, 191 dachte an die Verheißung Karlmann zum Kaiser zu
wählen; die Vereidigung sollte ein Mittel sein um seine Bewerbung um das Im-
398 . Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
Unter Ludwig II. stellte Hadrian II. Karl Il. die Kaiserkrone
mit den Worten in Aussicht: te optamus ducem et regem, patricium
perium, über welches er mit dem Papste in Unterhandlungen stand, dadurch zu
unterstützen, daß er sich der Hauptstadt bemächtigte, um das Uebrige leichter
zu erlangen, und der Männer sich versicherte, deren Zustimmung bei der vorigen
Kaiserwahl bemerklich geworden war. Die Treupflicht kann sich jedoch nicht
wohl auf ein einzelnes Recht und eine zukünftige Handlung beschränken, sie
geht auf eine allgemeinere und gegenwärtige Befugnis, welche allerdings Karl-
manns Kaiserwahl erleichtern mochte, ohne doch den Rechtsinhalt der Verpflich-
tung der Römer auszumachen. Jung, Forsch. z. d. Gesch. XIV 446 erklärte,
daß die Römer Karlmann als künftigem Kaiser schwuren. Sie schwuren nicht
ihm zum Kaiserthum zu verhelfen, sondern im voraus für den Fall, daß er Kaiser
würde. Diese Deutung vermeidet einen Fehler der vorigen, verfällt aber in den
anderen, die Wirksamkeit des auf eine sofortige Gewalt gerichteten Treuschwurs
an eine Bedingung zu knüpfen, die übrigens nicht eingetreten ist, denn Karlmann
ist nicht Kaiser geworden. Dümmler, Ostfränk. Reich III 74 läßt dem Könige
als Patricius den Eid leisten, wobei er den Patriciat als Schirmherrschaft über
die römische Kirche nimmt. Der Beschützer der Kirche war jedoch nicht Lan-
desherr; der Schutzvertrag ist nicht nur ursprünglich von dem Patriciat ver-
schieden gewesen, sondern auch später nicht mit ihm zu Einem Recht vereinigt
worden. Die durch den Eid gesicherte oder erworbene Gewalt über die Römer
leitete Leopold Ranke, WG. VI 1,231 weder aus dem Kaiserthum noch aus dem
Patriciat, sondern aus der Beerbung Ludwigs II. ab, aber außer dem Königreich
Italien hatte Karlmann von Ludwig Il. nichts geerbt , insbesondere keine Herr-
schaft im Kirchenstaate. Doch dürfte Rankes Urtheil soweit den Tendenzen der
Abnehmer des Eides entsprechen, als sie zwischen dem Königreich Italien und
dem Kirchenstaate eine neue Verbindung herstellen wollten, die weder durch
Erbrecht noch durch Ernennung noch durch Gewohnheitsrecht bei Karlmann be-
gründet war. Wenn diese MuthmaBung richtig ist, so wären sie die Vorläufer
jener Politiker, die unter Kaiser Lambert in der Schrift über die kaiserliche Ge-
walt in Rom eine literarische Vertretung gefunden haben, vgl. zu der Ausführung
von Lapötre Kehr in diesen Anzeigen 1899 S. 379 und Schirmeyer, Kaiser Lam-
bert 1900 S. 80ff. Es war wohl nicht ohne Absicht, daß Johann VIII. 878
gegenüber Lambert von Spoleto hervorhob, Rom sei von jeher eine kaiserliche
Stadt gewesen. Aber in jedem Falle ist das Vorgehen für Karlmanı 878 nicht
karolingische Herrschaftsübung, sondern eine rechtswidrige Gewaltthat gewesen,
durch welche Rom nicht eine Stadt des Königs geworden ist, auch wenn der
Treueid auf die Herstellung einer solchen Macht abzielte. Karlmann hat sie
nicht weiter fortgesetzt, er hat keine staatsrechtlichen Befugnisse, weder kaiser-
liche noch königliche oder patriciale, in Rom wahrgenommen, sondern sich mit
dem Papste verständigt, den er im nächsten Jahre mit der Sorge für das König-
reich Italien, welches er in seine Gewalt gebracht hatte, betraute, Mansi XVII
175, J. 8297. Auch sein Nachfolger im Königreich ist von einer Herrschaft im
Kirchenstaate ausgeschlossen geblieben. Da er kein Theil des Königreichs Italien
oder des Frankenreichs war, da der König von Italien dort ebenso wenig als ein
anderer König der Franken oder ein sonstiger König zu befehlen hatte, war der
Papst berechtigt das Betreten seines Landes Karl Ill, der nicht zur Erfüllung
seines Kirchenschutzes kam, zu untersagen, das. XVII 192, J. 3838. Der König
Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte. VL 899
et imperatorem, Mansi XV 858, J. 2951. Als König war er so wenig
patricius, als er imperator war, er soll beides erst werden und an-
scheinend nicht nur gleichzeitig, sondern auch zusammen durch eine
und dieselbe Handlung, durch die Krönung, sollte er die vom Papste
aufgezählten Gewalten erwerben. dux und rex, Leiter und Beherr-
scher, gehen wohl auf die kaiserliche Oberhoheit im Kirchenstaate,
die von dem iibrigen Inhalt des Imperium gesondert werden konnte;
in diesem Sinne dürfte die in dem Briefe vorhergehende Erklärung
gemeint sein: nunguam sponte suscipiemus alium in regnum et im-
pertum Romanun nisi teipsum. Neben der das ganze päpstliche
Gebiet umfassenden Herrschaft bleibt für den Patriciat eine welt-
liche Gewalt in Rom, welche neben die in dem übrigen Lande der
Kirche gestellt werden konnte, weil sie durch städtische Vorgänge
eine abweichende Ausbildung erfuhr. Jedoch nahm Hadrian I. an,
daß Karl II. auch ihr Träger werden würde. Unter Lothar I. hatte
Benedict primatum et dominium Romae, Vita Sergii II. c. 41; zu
Ludwigs II. Zeit Gratianus plures ad suam fidelitatem per Tusiuran’
dum constrinzit, 852? Epist. V 585, 24 (Jaffé 2620), er maßte sich
eine Herrschaft in Rom an. Die römische Nobilitat war bei der
Kaiserwahl Karls II. thätig, ohne daß ein einzelner aus ihrem Kreise
als Führer hervortritt. Da in dem Menschenalter seit Karl II. die
Kaiser nur geringe, durch Reichsvacanzen unterbrochene und beein-
trächtigte Macht über Rom besaßen, erlangten Weltleute eine Stadt-
herrschaft, für welche später der Name Pafriciat aufgekommen ist.
Er war nicht amtliche Bezeichnung , sondern eine volksthümliche
Benennung der Machthaber in undeutlicher Erinnerung an die by-
zantinischen Patricier, von denen Libellus SS. IH 719, 52. 720, 1
sagte: tunc Roma per patricios principabatur, und an die karolin-
gischen Patricier der Römer. Seit Ausgang des 10. Jahrh. werden
die Wirkungen der nachlassenden Kaiserherrschaft in Rom deutlicher
sichtbar ).. Es wurde behauptet, Formosus habe 891 nicht Papst
mißachtete das Verbot, jedoch nicht um in Rom als König von Italien oder in
anderer Eigenschaft zu herrschen, sondern um den Papst zu zwingen ihn, den
Karolinger, zum Kaiser zu krönen. Nur insoweit als er auf diese päpstliche
Handlung ein Recht hatte, war er zum eigenmächtigen Ueberschreiten der päpst-
lichen Grenze befugt.
1) Le Blanc, Monnoyes de Charlemagne 1692 S. 83 folgerte aus Urkunden
im Chron. Farf., in denen Patriciat und Imperium unter Ludwig I. und Ludwig II.
neben einander ständen, daß der karolingische Patriciat durch das karolingische
Imperium nicht beseitigt sei. Vermuthlich ein Irrthum aus falscher Lesung.
Reg. di Farfa II Nr. 215. 219. 222. 228 (815—817) datierte nach dem Postcon-
sulat, gemäß dem byzantinischen Brauche, s. z. B. Marini, Papiri S. 368. Beda,
Hist. V 7 (Grisar, Anal. Rom. I 103). Rossi, Inscr. urbis Romae I S. L. 516.
400 .. Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
werden können nist cum imperatore, patricio vel tiranno Roma cap
et imvadı impossibile videtur, Vulgarius, De causa Formosiana ed.
Diimmler S. 120, wonach Invectiva in Romam pro Formoso, ed.
Diimmler S. 145: nz timperiali aut regali vel patriciali aut tirannica
potestate suffultus. Der Kaiser, der König von Italien, der Stadt-
herr von Rom und ein Tyrann wie Markgraf Adalbert (Liudprand,
Antapod. I 30) können einem Manne das Papstthum verschaffen.
Die patriciale Gewalt ist hier eine rechtmäßige, läßt jedoch die
Möglichkeit offen, daß ein anderer als der Imperator Patricius sei
oder werden könne. Um jene Zeit, etwa 901, hat ein Privatmann
Karl III. den Titel rex Germanorum et patricius Romanorum atque
imperator Francorum gegeben, Visio Karoli, Hariulf III 21 publ. p.
Lot S. 145. |
666, Script. rer. Langobard. 351, 44. 680, Mansi XI 738. 742. 744. 776. 722,
Mon. Germ., Epist. III 265, 9. 830, Cod. dipl. Cajet. I Nr. 2. Diese Datierung
hat auf die karolingischen Kaiser Anwendung gefunden, 821 Archivio della Soc.
Rom. XVI 298 und in der päpstlichen Kanzlei, welche sie aus der byzantinischen
Zeit (Jaffe 1434. 1436. 1827. 1829. 1836. 1848. 2020. 2172. 2264. 2307. 2331) in
die karolingische Kaiserzeit hinübernahm, das. 2616. 2663. 2672. 2717. 2904.
2947 (echt ?). 3053. 3110. $111 (echt?). 3473 f, wohl auch das. 3465. Durch
falsche Auflösung der Abkürzung PC hat der Patriciat zuweilen die Stelle des
Postconsulats eingenommen, s. Marini a. O. S. 219f. Mabillon, De re dipl.
S. 73 f. Jaffe, Bibl. III 17. Beispiele bieten Epist. ID 98, 15 (Jaffé 2549), s. Ma-
billon a. O. 183. Hacke, Palliumverleihungen 17 f. 8$f. Dronke Nr. 575 (J. 2676),
8. Tangl, Oesterr. Mittheil. XX 233. Marini 18 S. 27 (J. 3052), ist irrig post
coronationem gesetzt, s. Mabillon 183. In der Urkunde 917 Dronke Nr. 665
(J. 3558) wird der zweimalige Patrictus aus Eberhards Feder stammen, der erste
statt perpetuus, 8. Tangl a.0., gl. Dronke Nr. 574 f, (J. 2668. 2676), der zweite
statt Postconsulat, a. M. Giry, Manuel de diplomatique 1894 S.85, 2. Vgl. Bresslau,
Urkundenlehre I 830, 9. Noch länger als die päpstliche Kanzlei haben Private
nach dem Postconsulat datiert, so 968, Reg. Sublac. Nr. 52, vgl. aus Sutri Ri-
vista storica italiana 1900 S. 339. Ob die Angabe von Gregorovius, Rom ILI*
208 richtig ist, daß Wido »seine Decrete mit dem Postconsulat zeichnete«,
weiß ich nicht; ich kenne kein solches Document, habe jedoch ein paar Urkunden
dieses Kaisers nicht einsehen können. — Lothar I. heißt Romanorum patricius in
der Fälschung oben S. 386 und Eberhard von Fulda hat Karl III. Karls I. Kö-
nigstitel gegeben, Waitz VI 141,1, den auch König Karl Il. bei Vaissete IIb 326
hat, eine Interpolation das. oder nach Pückert, Aniane und Gellone S. 44 f. eine
späte Fälschung; falscher Titel 874 mit romunorum patriciatio, Chartael Nr. 32.
Nachtrag zu S. 378,1 Ludwig II. Cod. de Langob. Nr. 196. 206. 210.
217. 232. 242. 250. Chartae I Nr. 31. — Zu S. 391,1: sacralissimus fiscus 771,
775, Jahrb. f. lothring. Gesch. X 379. 381.
Straßburg, 31. December 1900. W. Sickel.
Pieper, Die päpstlichen Legaten nnd Nuntien in Deutschland etc. I. 401
Pieper, A., Die päpstlichen Legaten und Nuntien in Deutschland,
Frankreich und Spanien seit der Mitte des 16. Jahrhunderts.
I. Theil. Die Legaten und Nuntien Julius III., Marcellus II. und Pauls IV,
(1550—1559) und ihre Instruktionen. Münster, Aschendorff, 1897. VII 218 S.
Preis 5 Mark.
Der Verfasser hat in einer früheren Arbeit i. J. 1894 die Ent-
stehungsgeschichte der ständigen Nuntiaturen dargestellt und beab-
sichtigt in der vorliegenden Schrift deren weitere Entwicklung zu
verfolgen und das Eingreifen außerordentlicher Missionen darzulegen.
Dieser Aufgabe hat er sich mit großer Sorgfalt unterzogen; er giebt
überall genaue Mitteilungen über die vorhandene Litteratur, und
er stellt was noch werthvoller ist, in dem Anhange die Liste der
vorhandenen Instruktionen und ihre Fundorte zusammen und giebt
für die bereits publicierten aus den Originalen oder besseren Hand-
schriften zahlreiche Lesarten. Dadurch wird sein Buch zu einem
sehr erwünschten litterarischen Hilfsmittel für den behandelten Zeit-
raum. Eine ziemlich ansehnliche Reihe bisher unbekannter Instruk-
tionen hat er als Einlagen selber veröffentlicht. Er hat für diese
Zusammenstellungen außer dem vatikanischen Archiv die bekannten
römischen Bibliotheken der Nepotenfamilien und die seit Ranke
viel benutzten, namentlich für Druffels Publikationen ergiebigen
Sammlungen in Berlin und München zu Grunde gelegt; er ver-
hehlt sich nicht, daß das Nachsuchen namentlich in italienischen
Archiven und Bibliotheken noch manchen Fund ergeben werde.
Namentlich scheint mir dies vom Florentiner Archiv fast sicher zu
sein. Die Arbeit Duruys über den Cardinal Carlo Caraffa hat erst
kürzlich wieder gezeigt, wie reichhaltig dieses Archiv für diese
Epoche ist, in der der klügste Politiker Italiens, Großherzog Cosimo,
seine Fäden nach allen Seiten spann. Außerdem befindet sich der
reiche Schatz der Carte Cerviniane, der Nachlaß Papst Marcellus II.
aus der Zeit seiner Legaten- Wirksamkeit in Florenz. Pieper zieht
von dem Florentiner Material außer dem, was Duruy bietet, nur die
bereits gedruckten Depeschen des Gesandten Cosimos, Serristori, an.
Ich glaube aber nach den beiläufigen Einblicken, die ich früher in
diese Florentiner Materialien genommen habe, daß aus ihnen eine
viel größere Abhängigkeit Julius III. von Cosimo hervorgeht als
Pieper annimmt, der auch hier bei dem schlaffen Papst vor Allem
Ruhebedürfnis und Neutralitätswünsche annimmt. Cosimo war für
Julius III. der bequemste Nachbar, auf dessen politische Virtuosität
er sich am Liebsten verließ; und soweit der Papst überhaupt eine
politisch - selbständige Stellung einzunehmen suchte, sprach sie sich
402 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
in dem Wunsch aus, das italienische Kleinfürstentum nach Möglich-
keit zu erhalten und zu kräftigen, wobei noch der beste Anhalt an
Toskana war. Es wäre aber natürlich unbillig von einer Arbeit
eines Privatmannes zu verlangen, daß sie eine archivalische Voll-
ständigkeit erreicht.
Die Darstellung legt sich eine außerordentliche Selbstbeschrän-
kung auf. P. ist weit davon entfernt eine Geschichte der päpst-
lichen Politik zu geben, obwohl er einige Male hierzu einen Anlauf
zu nehmen scheint; er erklärt vielmehr selber, daß er die Vorgänge
nur so weit berühren wolle, als sie Instruktionen oder besondere
Sendungen von Seiten des Papstes veranlaßten. Das beeinträchtigt
natürlich das Interesse des Buches nicht unwesentlich, macht es
aber wohl für seinen besonderen Zweck brauchbarer. Das Urteil ist
durchweg gemäßigt, fast möchte man sagen zu gemäßigt, und im
Ganzen unbefangen. Ueber den Charakter Julius Ill. und über seine
Giinstlingswirthschaft macht sich P. gar keine Illusionen; nur möchte
er gern wenigstens für die ersten 1?/s Jahre eine Ausnahme machen.
Julius III. sei, so meint P. mit seinen großen Aufgaben gescheitert;
dies habe so niederdrückend auf ihn gewirkt, daß er sich jetzt erst
von ihnen zurückgezogen habe, um der Ruhe und des Wohllebens
zu pflegen. Schon psychologisch ist das nach Allem, was wir von
dem bequemen und lässigen Mann wissen, nicht grade wahrschein-
lich; der Versuch aber, den Pieper macht, seine Thätigkeit während
des Anfangs des Pontifikats als eifrig und ernsthaft darzustellen, ist
recht wenig gelungen. P. polemisiert gegen Druffel, der der übri-
gens allgemein angenommenen Meinung ist, daß es Julius HI. mit
dem Concil recht wenig Ernst gewesen sei, und daß er nur dem
Drängen Karls V. nachgegeben habe. Hierfür sprachen nicht nur
die bekannten Thatsachen, sondern auch ein ausdrückliches Zeugnis
des Cardinals Otto von Augsburg, der als Entschuldigung, weshalb
er nicht zum Concil komme, schreibt: sunderlich aber, das die B.
Heil. durch den Herrn cardinal Mapheum mir schreiben lassen, mich
amheinbs, bis B. Heil. mich und andere cardinal erfordern, zu ent-
halten (Druffel I.n. 812). Hieraus liest doch wohl jeder, daß
Julius II. nach Möglichkeit die deutschen Besucher fern halten
wollte, denn Otto Truchseß war ganz unzweifelhaft der Führer der
ganzen streng-katholischen Partei in Deutschland, und sein Beispiel
für diese von großer Bedeutung. Einen solchen Schluß zieht denn
auch Druffel. P. glaubt ihn widerlegen zu können durch die Be-
merkung: Dr. übersieht dabei, daß es in dem Schreiben ausdrück-
lich heißt »mich und andere cardinäl.< Um seine Anklage zu be-
gründen, müßte er Briefe der Kurie an Bischöfe auffinden. Denn bei
Pieper, Die päpstlichen Legaten und Nuntien in Deutschland etc. I. 403
der Sonderstellung der Cardinäle und angesichts der Thatsache, daß
man beim Tode Pauls III. eine schismatische Wahl in Trient be-
fürchtete, lassen sich doch wohl andre Erklärungen für obiges Schrei-
ben beibringen.< P. scheint also anzunehmen, daß Julius III. auch
nach erfolgter Wahl ein Cardinal-Schisma in Trient befürchtete, daß
er Otto Truchseß beargwohnte, daß er aber den Beargwohnten zu-
gleich bat fern zu bleiben, daß er in ihm nur den Cardinal und
nicht den deutschen Bischof, während er doch nur als solcher jenen
Titel erhalten hatte, erblickte. Das ist doch alles so unwahrschein-
lich wie möglich und nur der Ansicht zu Liebe geschrieben, daß es
durchaus dem Papst Ernst sein muß. Uebrigens findet sich in den
von P. selbst im Anhang herausgegebenen Instruktionen eine recht
offenherzige Aeußerung des Papstes über seine Stellung zum Concil,
wie das überhaupt eine seiner guten Seiten war, daß er seine Mei-
nungen unverstellt heraussagte. In der Instruktion für den Legaten
Muzzarelli vom 21. Jan. 1554, äußert er seine Unzufriedenheit mit
dem Verhalten der Spanier auf dem Concil, die ja auch in den spä-
teren Sessionen der Curie immer am Unbequemsten waren, und
lehnt strikt jede Wiederaufnahme des Concils ab, obgleich doch that-
sächlich die unter ihn fallende Epoche der Kirchenversammlung wie
die unbedeutendste so auch die stillste gewesen war ').
In derselben Instruktion spricht sich Julius III. auch über den
Krieg gegen die Farneses aus. Sehr unbefangen äußert er sich da-
hin, daß der Ungehorsam dieses Lehensmannes gegen den päpst-
lichen Stuhl ein bloßer Vorwand gewesen sei und daß man in Wirk-
lichkeit nur Vorsorge habe treffen wollen, daß von jenem Orte
(Parma) den Staaten des Kaisers in Italien kein Schaden zugefügt
werde. Das habe der Legat zu betonen, wenn etwa der Kaiser den
Sachverhalt umgekehrt darstellen wolle. Deutlicher kann denn doch
der Papst seine Unselbständigkeit nicht aussprechen. Auch hier hat
er nie daran gedacht, eine eigene Aufgabe aufzunehmen. Dasselbe
Ergebnis würde auch bei einer genaueren Betrachtung des Ver-
haltens: des Papstes in dem letzten Freiheitskampfe Silvas ergeben.
Neutral wollte er freilich bleiben, schon damit dem Kirchenstaat
keine Unbequemlichkeiten und Lasten erwüchsen, aber nach Möglich-
keit hat er auch hier Karl V. und Cosimo begünstigt. Der Kaiser
hat nie mit einem gefügigeren Papst zu thun gehabt; freilich nützte
1) p. 173. Quest’ avvertimento ha da servire, se mai accedessi di parlarsi
di resumere il Concilio, o d’indirlo in qualite altro luogo, per una prefatione et
unu massima che dua Bre non vi se lasourcbbe mai indurre per non cognoscervi
alcun benefitto per ıl ben publico, massimamente per la religione, et potersene as
rettare maggiori dieturbi et inconrenients,
404 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
auch die Gefügigkeit eines so schlafen, unthätigen Mannes nicht
viel, zumal gerade in sein Pontifikat die Katastrophe der Politik
Karls V. fiel. Aus diesen bei P. veröffentlichten Instruktionen sieht
man recht deutlich, wie auch die Nothlage Karls den Papst nicht
einen Augenblick in die Versuchung führte, sich der Abhängigkeit
von ihm, bei der er sich offenbar ganz wohl befand, zu entziehen.
Beinahe empfindsam bittet er König Heinrich II. seine Vorteile nicht
weiter zu verfolgen, da es dem Kaiser doch schon schlecht genug
gegangen sei; namentlich der Gedanke, daß es in Italien Unruhe
geben könne, ist ihm begreiflicher Weise sehr peinlich. In diesen
Instruktionen des nach Frankreich gehenden Legaten zeigt sich Ju-
lius’ subalterne Natur noch deutlicher als in den übrigen. Es kommt
ihm namentlich darauf an, Heinrich zu versichern, daß er ihm nie
Vorwürfe über jenen Bund mit Türken und Ketzern machen werde,
ihn vielmehr immer gegen den hieraus entspringenden Tadel in
Schutz genommen habe’). Er will eben auch da alle Dinge laufen
lassen und selber in seinem behaglichen Leben, seinem Kunstdilet-
tantismus, man mag sagen im alten Schlendrian, nicht gestört wer-
den. Das meisterhafte Bild, das Ranke von ihm gezeichnet hat,
findet thatsächlich nur überall seine Bestätigung !).
So wenig sich P. für die Person des Papstes erwärmt, so sehr
ist ihm doch im Ganzen seine Politik sympathisch, denn er stellt
sich ganz unbedingt auf den kaiserlichen und spanischen Standpunkt.
Das ist einmal alter Gebrauch der specifisch katholischen Geschichts-
schreiber, und das persönliche Recht zu einer solchen Auffassung
soll ihnen nicht bestritten werden; man möchte ihnen aber doch
einmal bemerklich machen, daß sie bei dieser Einseitigkeit der poli-
tischen Beurteilung gerade den originellsten Naturen der Gegen-
reformationszeit gar nicht gerecht werden können, wie es Ranke und
die, welche in seiner Bahn weiter arbeiten, viel leichter vermögen.
Die Darstellung der Politik Pauls IV. bei P. ist demgemäß nichts
als eine fortgesetzte Anklageakte. Daß dann Paul IV. zur persön-
lichen Entlastung als weltfremder Asket dargestellt werden soll, ist
ganz verfehlt. Es gab doch thatsächlich damals keinen Cardinal
— Ildrone stand noch in seinen Anfängen —, der von Jugend an ein
langes Leben hindurch in so viel bedeutsamen Stellen und Lagen
gewesen wäre und solchen politischen Einfluß — man denke nur an
1) p. 179. A tutte Vhore & interpellata S. Sta di risentirst per questa venula
ogni anno de’ Turchi nelli mari nostri et per tl fomento che at da alli heretici et
ne sono state fatte parole publicamente in Concistoro: non dt meno S. Bre non
ha fatto demonstratione alcuna contra Uhonor del re, ma Cha diffeso opportuna-
mente gui, quando & bisognato.
Pieper, Die päpstlichen Legaten und Nuntien in Deutschland etc. I. 405
seinen venetianischen Aufenthalt — ausgeübt hätte, wie Caraffa.
Daß dieser furchtbare Greis eine der gewaltigsten Naturen war, die
auf dem Stuhl Petri gesessen haben, daß er in allen Punkten der
Gegenreformation die Bahnen gewiesen hat, daß er der letzte Papst
gewesen ist, der zugleich ein geistlicher Weltherrscher und ein ita-
lienischer Patriot gewesen ist, daß auch rein ınenschlich betrachtet
sein Pontifikat eine der eigenartigsten Tragödien, die die Geschichte
kennt, gewesen ist, davon bekommt man hier keine Ahnung; denn
P. schreibt als Anwalt Philipps II., abgesehen freilich von den Diffe-
renzen, wo es sich um die innere spanische Kirchenpolitik Philipps
und der Bischöfe handelt, die zugleich die Domkapitel und die
päpstlichen Befugnisse einschränkten. Die spanischen kirchlichen
Verhältnisse werden ja nach dieser letzten Richtung hin geradeso
wie später die französischen unter Ludwig XIV. von katholischer
Seite sehr streng beurteilt. Das mag aber jeder halten, wie er will,
wenn nur das Material sorgfältig verwerthet ist, und dies muß man
P. entschieden nachrühmen. Für das Pontifikat Pauls IV. hat er
nicht so viel Neues beibringen können wie für dasjenige Julius II.
Ueber Duruy geht er meistens nur durch die ausgiebige Verwen-
dung der zum großen Teil erst seitdem veröffentlichten venetiani-
schen Papiere hinaus. Von hervorragender Bedeutung unter den
von P. neu gegebenen Aktenstücken ist aber die Instruktion für
Zaccaria Dolfino, den für Deutschland Januar 1556 bestimmten Le-
gaten. Sie ist eine der merkwürdigsten Urkunden zur Geschichte der
Gegenreformation in Deutschland, besonders was die Weisungen, die
der Legat für Herzog Albrecht von Baiern erhielt, anlangt. Er sollte
ihm die Reformbestrebungen, die von Knöpfler sorgfältig behandelt
worden sind, ausreden. Es ist bezeichnend, wie der Papst Baiern
die Stellung an der Spitze der deutschen Katholiken anträgt ’).
Uebrigens sind die Instruktionen Pauls IV. sofort weit geistreicher
und lebhafter geschrieben, hat doch der liebenswürdigste Schrift-
steller jener Tage, Casa, bei ihnen die Feder geführt; und unter
den mancherlei Seltsamkeiten dieser an Widersprüchen reichen Zeit,
bleibt es eine der seltsamsten, daß der Verfasser des Galateo zu-
gleich der Geheimsekretär Pauls IV. war.
1) Nostro Sre et questa santa sede le restera con perpetuo obligo et cercara
sempre di favorirlo, honorarlo et esaliarlo; Sa Ecc® ancora quasi come capo tra
principi secondari dalla parte catholica ne acquistura gran reputatione, et con pro-
cesso di tempo grand’ utile: perche li principi ecclesiastict ragionevolmente saranno
astrotti colligarsi insieme, et in tal caso facilmente torcara tl carico a S, Ecca
_ della lor protettione.
Bonn, 18. Marz 1901. E. Gothein.
406 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
Beiträge zur Romanischen Philologie. Festzabe für Gustav Gröber
von Ph. A. Becker, D. Behrens, E. Freymond, M.Kaluza, E. Kosch-
witz, H. R. Lang, F. E. Schneegans, H. Schneegans, C. This,
G. Thurau, K. Vossler, H. Waitz, L. Zéliqzon, R. Zenker. Halle,
Niemeyer 1899"), V 541 S. Preis 16 Mk.
Gustav Gröber, der 1873 zum ordentlichen Professor in Breslau
ernannt worden war, haben zur fünfundzwanzigsten Widerkehr
dieses Tages vierzehn seiner Schüler den vorliegenden Band ge-
widmet, aus dem man übrigens den Tag des Festes gar nicht er-
fährt. Es war, um diese Angabe hier nachzuholen, der 31. Dezember.
Gröber hat von diesen fünfundzwanzig Jahren sechs in Breslau und
neunzehn in Straßburg gelehrt. Er ist als Lehrer wie als Forscher
einer der vielseitigsten unserer Romanisten, und kaum ein andrer
hat so viele neue und fruchtbare Gedanken in unsere Wissenschaft
hineingetragen, die den verschiedensten Gebieten, die sie umschließt,
zu Gute gekommen sind.
Als ich im Herbst 1868 als jüngerer Student die Universität
Leipzig bezog, lernte ich dort Gröber ais Famulus Adolf Eberts
kennen, doch ohne ihm persönlich näher zu treten, der bereits vor
dem Abschluß seiner Studien stand. Erst nachdem ich Gröbers
Nachfolger als außerordentlicher Professor in Zürich geworden war
(Herbst 1874), bahnte sich zwischen uns eine Freundschaft an, die,
der Verehrung für den gemeinsamen Meister entsprossen, seitdem
niemals eine 'Trübung erfahren hat, vielmehr im Laufe der Jahre
durch mancherlei neu gefestigt worden ist).
Für ein Vermächtnis Eberts, der bekanntlich weit mehr Litterar-
historiker als Sprachforscher gewesen ist, an seine Schüler darf eine
Richtung auf das Encyclopädische gelten, die besonders durch seine
Vorlesung über die lateinische Litteratur des Mittelalters vertreten
1) Besprochen von A. Tobler in der Deutschen Litteraturzeitung 1900 Sp. 44,
von G. Paris in der Romania XXIX 38.117, von O. Schultz-Gora in der Zeit-
schrift tir Französische Sprache und Littteratur, 1900, S. 72, von A. Wailenskéld
in der Revue des langues romanes XLIII S. 161.
2) Von akademischen Lehrern sind aus der Schule Adolf Eberts noch fol-
gende Romanisten hervorgegangen: Gustav Körting (in Kiel), Heinrich Körting
(gest. 1890 in Leipzig), Alfred Odin (gest. 1896 in Sofia), Adolf Birch-Hirschfeld,
Franz Settegast, Gustav Weigand (alle drei in Leipzig). Ferner sind als ge-
lehrte Forscher auf dem Gebiete des Romanischen hier zu nennen: Ludwig
Fränkel (in Aschaffenburg), Otto Knauer (in Leipzig), Hermann Knust (gest.
1889 bei Clarens), Max Mann (in Leipzig), Richard Otto (in München) und gewiß
noch andre. Von Germanisten, wie Eduard Sievers und Richard Wülker, darf
hier abgesehen werden.
Beiträge zur Romanischen Philologie. 407
war. Diese Richtung findet sich wohl am ausgesprochensten bei
G. Körting und bei Gröber, von jenem mehr nach der pädagogischen
Seite und mehr in die Breite, von diesem mehr nach der streng-
wissenschaftlichen Seite und mehr in die Tiefe gehandhabt.
Im »Gröberband« eröffnet den Reigen 1) 8.1 Koschwitz,
Ueber einen Volksdichter und die Mundart von Amiens.
Man liest gern die Erzählung von K.s Aufenthalt in Amiens, die
mitgetheilten von Pierre Dupuis verfaßten Dichtungen, deren Autor
in einem Armenhaus aufgesucht werden mußte, die angehängte
Formenlehre der Mundart von Amiens. Die Texte sind in der
Graphie, in der sie früher veröffentlicht wurden, und daneben in
phonetischer Umschreibung gedruckt. Beim aufmerksamen Lesen
fallen manche Schwankungen auf. Die Priiposition dans, Patoisform
da, tritt im ersten Lied mit 4 verschiedenen « auf, das Wort Hotoie
im zweiten mit 3 verschiedenen 0, von denen eins 5 mal, eins 4 mal,
eins 3 mal vertreten ist. Solche Unterschiede kommen selbst da
vor, wo eine Refrainzeile lediglich widerholt wird. Offenbar soll
hier die Aussprache jeder Silbe möglichst getreu reproduziert werden.
Nur wüßte man gern, ob auch Vorkehrungen getroffen wurden, um
ganz zufällige Entgleisungen der Aussprache als solche zu ermitteln,
um zu vermeiden, daß Lautformen verewigt werden, die möglicher
Weise durch eine ganz vorübergehende Störung in der Disposition
der Sprachwerkzeuge hervorgerufen sind. Es fällt ferner auf, daß
die für den Gesang bestimmten Lieder keineswegs immer in den
einander entsprechenden Strophenzeilen die selbe Silbenzahl aufweisen;
wenigstens ist dies nicht immer ersichtlich. So muß gleich in der
zweiten Zeile 10 zweisilbig gesungen werden, während es nach K.
einsilbig gesprochen ist. Es handelt sich hier um subtile Unter-
scheidungen ; doch kann man kaum glauben, daß der Dichter diesen
Zwiespalt so gewollt hat. Er streut zwar französische Formen und
Phrasen ein (z. B. du, au, soit, eux, on, dise), will aber offenbar seine
Versbildung auf dem rein volksmäßigen Niveau halten, sie keines-
wegs dem litterarisch-klassischen Typus anpassen. Im ersten Liede
hätte V. 14 s’mi pante ruhig mit sa demi-pinte widergegeben werden
dürfen. In V.50 weiß ich nicht, was der Accent in kerél* bedeutet.
Druckfehler scheinen vorzuliegen in 17, 39 Variante (é statt 2), 19, 39
(l statt Zi), 23,32 (s statt 2), 24,7 (ge statt ge), 29,50 (/’ fehlt).
Auf Edouard Paris, le Saint Evangile selon st. Matthieu, tra-
duit en picard amienois, London 1863, ist gar kein Bezug genommen
worden, und doch hätte man einige Unterschiede gern erläutert
gesehen. So lautet die Form des lat. veniant bei K. vient, im
Matthäus vg@nst (um bei K.s Transscription zu bleiben). Für Fehler
408 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
in K.s Formenlehre müssen gelten bidmrue statt blamre S. 33, ve-
ducm statt veduem S. 34, wohl auch pärt lab. partiant statt parst
S. 36.
2) S. 39 Hugo Waitz, Der kritische Text der Ge-
dichte von Gillebert de Berneville mit Angabe sämt-
licher Lesarten nach den Pariser Ilandschriften. Eine
kritische Ausgabe Gilleberts ist auch nach Scheler dankenswerth.
Waitz hat dazu das gesammte handschriftliche Material verwerthet.
Weshalb er aber die graphischen Varianten auch solcher Texte aufs
Neue verzeichnet, die bereits nach der Handschrift in extenso ge-
druckt waren, ist nicht einzusehen. Auch wäre Sonderung der Sinn-
varianten von den graphischen zu empfehlen gewesen. Einen Nach-
trag zu seiner Ausgabe veröffentlicht Waitz in Gröbers Zeitschrift
XXIV. 310 fg.
3) S. 119 Max Kaluza, Ueber den Anteil des Raoul
de Houdenc an der Verfasserschaft der Vengeance
Raguidel. Kaluza führt sehr beachtenswerthe Gründe dafür an,
daß Raoul de Houdenc — um bei seiner Schreibung zu bleiben —
die von einem andern unvollendet gelassene Vengeance Raguidel
überarbeitet und fortgesetzt hat. Auch werden über die Reihen-
folge, in der Raoul seine Werke verfaßte, Betrachtungen angestellt,
die die Sache fördern.
4) S. 149 Behrens, Zur Wortgeschichte des Fran-
zösischen. 22 etymologische Artikel, die meist entlegenere Worte
betreffen. Bei allen bis auf zwei handelt es sich um germanische
Etyma. Die gegebenen Erklärungen sind fast durchweg überzeugend.
Ich füge hier ein Paar Bemerkungen linzu. S.153 lifecop (bei
Godefroy) ist schon mittelniederländisch (vgl. Verwijs en Verdam,
Middennederlandsch woordenboek) vorhanden. — S. 159 die Ver-
wendung von laban im Sinne von »Faulpelz« ist wohl erst durch
volksetymologischen Zusammenhang mit lubben (schwätzen) hervor-
gerufen, wie man in Hessen eine ungeschickte (/ahme) Person >du
Lama!« schimpft. — S. 161 /urelle »Windel« ist jetzt auch im
Bretonischen nachgewiesen, Revue critique 1900, LU 221, wie auch
Behrens gesehen haben wird. — Auf S. 165 sagt B.: »So weit ich
sehe, ist lat. stimulus sonst auf galloromanischem Gebiet in volks-
tümlicher Gestalt nicht erhalten<. Ich weiß nicht, ob er Meyer-
Lübke I S. 53 hier übersehen hat, oder ob er Oberitalien nicht
zum galloromanischen Gebiet rechnen will, zu dem es unzweifelhaft
gehört. — Zu varlope 8. 167 hätte eine werthvolle Bemerkung Tob-
lers angeführt werden sollen (Sitzungsber. der Berliner Ak., philos.-
histor. Klasse, 1896, 869).
Beiträge zur Romanischen Philologie. 409
5) 8. 171 Zenker, Die historischen Grundlagen der
zweiten Branche des »Couronnement de Louis« Die
zweite Branche des Couronnement de Louis erzählt, wie Guillaume
d’Orange Rom und Unteritalien von den Sarrazenen befreit und von
einer Verletzung seiner Nase den Beinamen »Kurznase« erhält. Seit
einiger Zeit nehmen die Gelehrten ziemlich allgemein an — auch
der neueste Herausgeber, Ernest Langlois, vertritt diese Ansicht
mit wahrhaft epischer Breite —, daß historische Ereignisse des IX.
Jahrhunderts, der Zeit von 871—-873, die Sagenbildung hervorgerufen
haben. Indessen hatte Paulin Paris (Hist. litt. XXII 487 Manu-
scrits franc. III 126) die Ansicht vertreten, daß die historische Grund-
lage der Chanson vielmehr in den Kämpfen der Jahre 1016—1042
zu suchen sei, und Zenker vertheidigt diese Ansicht, ohne die er-
ste ganz fallen zu lassen: er nimmt an, daß das XI. Jahrhundert
den Hauptstoff der Branche geliefert habe, daß aber auch ein Wider-
schein der ältern Begebenheiten des IX. Jahrhunderts darin zu er-
kennen ist. Ich war unabhängig von Zenker zu dem gleichen Er-
gebnis gelangt, nur daß ich diesen Widerschein nicht einmal für
ganz sicher hielt, und hatte die Absicht, über den Gegenstand eine
Untersuchung zu veröffentlichen, als Zenker mir mit der seinigen
zuvorkam. Obwohl nun meine wichtigsten Ergebnisse von Zenker
vorweggenommen sind, möchte ich doch hier auf die Sache kurz ein-
gehen, einmal weil Gaston Paris in der Romania XXIX S. 119—121
Zenkers Ansicht angegriffen hat, und weil ich einige Beobachtungen
meinerseits den von Zenker beigebrachten hinzufügen möchte. Was
gegen die Herleitung der zweiten Branche aus Ereignissen des
XI. Jahrhunderts von Jonckbloet und Langlois vorgebracht war,
hatte Cloétta als zum guten Theil auf Irrthum beruhend widerlegt
und bereits dadurch der jetzt von Zenker und mir vertretenen Auf-
fassung den Weg bereitet. Dienlich war mir besonders das ausge-
zeichnete Werk Lothar von Heinemanns, meines frühern, seitdem
nach Tübingen berufenen Kollegen, Geschichte der Normannen in
Unteritalien und Sicilien, Band I, Leipzig 1894, an das auch Zenker
anknüpft.
Wenn wir die Thatsachen des IX. und die des XI. Jahrhunderts
neben die Erzählung unserer Branche stellen, so sieht man leicht,
daß die Uebereinstimmung mit dem XI. Jahrhundert eine weit größere
ist. Im neunten Jahrhundert leitete König Ludwig persönlich den
Feldzug; in der Chanson bleibt er ruhig in Frankreich. Dieser
Unterschied muß stark in die Wagschale fallen. Für das IX. Jahr-
hundert läßt sich nicht viel mehr als der Name Gaifier anführen,
der als der bekanntere und episch ältere, zumal bei der Aehnlich-
Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5. 98
410 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
keit von Waifarius und Waimarius, leicht an die Stelle des letztern
gesetzt werden konnte. Die Vertauschung ähnlicher Namen findet
sich ja im Leben des Epos nicht selten. Ich erinnere nur an die
Verwechslung von Childertch und Chilperich in der Geschichte, an
die von Rainfroi und Hainfros in der Sage von Karl Martell. Man
könnte etwa noch die Kämpfe um Capua und die Bedrängung Gai-
fiers durch die Sarrazenen auf das IX. Jahrhundert deuten. Doch
hat Capua auch in den Kämpfen des XI. Jahrhunderts zwischen
Normannen und Griechen eine Rolle gespielt, und Waimarius IIL,
dessen Regierung ohnedies für das Epos mit in Betracht kommen
muß, ist von den Sarrazenen ähnlich wie einst Waifarius bedrängt
worden. Ich halte daher die Beziehung der zweiten Branche auf
das IX. Jahrhundert für ganz unsicher, will aber freilich die Möglich-
keit nicht bestreiten, daß die Branche den Einfluß eines ältern Liedes
erfahren haben kann, da die Ereignisse von 866—872, wie Zenker
zeigt, in anderen Epen Spuren hinterlassen haben'). Dagegen liegen
unzweifelhaft der zweiten Branche Ereignisse des XI. Jahrhunderts
zu Grunde, und da dieses bestritten wird, stelle ich hier die wich-
tigsten Züge des sagenhaften Berichts neben die Angaben der Ge-
schichte.
Angaben der Sage: Guillaume Historische Thatsachen: Guil-
genannt Fierebrace vertheidigt in
Unteritalien den König Gaifier
gegen die Sarrazenen und wird
mit der Halfte von Gaifiers Reich
und mit der Hand seiner Tochter
belohnt. Der Führer der Sarra-
zenen heißt Galafre.
laume de Hauteville genannt Fera-
brachius oderFerreabrachia kämpft
in Unteritalien für den Fürsten
Waimarius IV., Mitregenten seines
Vaters seit 1018, gegen die Sarra-
zenen und Griechen und erhält
1042 mit der Grafschaft Apulien
die Hand von W.s Nichte. Zwei
seiner Brüder heiraten Töchter
des W. Der Führer der Sarra-
zenen heißt Apolaffar.
Daß der Guillaume dieser Sage zunächst ein ganz anderer ge-
wesen ist, als Guillaume d’Orange, mit dem er in der Chanson nicht
ohne Gewaltsamkeit identifiziert wird, gibt auch Gaston Paris zu.
Dagegen bestreitet dieser sowohl die Identität des Guillaume de
Hauteville mit dem Guillaume des Couronnement de Louis als auch
die Identität des historischen Apolaffar mit Galafre. In beiden
Puncten muß ich ihm widersprechen.
1) Sollte dahin nicht auch die Erwähnung der Stadt Bar im Munde König
Ludwigs gehören? Vgl. Enf. Vivien 2857. 2863. 3100.
Beiträge zur Romanischen Philologie. 411
Zenker hat nicht erwähnt, daß, wie Drogo, so auch ein zweiter
Bruder Wilhelms, Robert Guiscart, eine Tochter Waimarius des IV.
zur Frau erhielt. Weiter hat Rajna, Romania XXVI 65, auf eine
Chronik von Faenza hingewiesen (sie ist vor 1219 verfaßt, von dem
1226 gestorbenen Magister Tolosanus), wo Bohemund von Tarent,
der älteste Sohn Robert Guiscarts, ein Nachkomme oder Verwandter
des Guillaume d’Orange genannt wird:
Abuiamons de stirpe G. de Orenga.
Nun stammte allerdings Bohemund aus erster Ehe, und die Tochter
Waimarius des IV. von Salern war seine Stiefmutter; doch hat die
Sage (oder der Chronist) diesen Umstand ignoriert. Die behauptete
Verwandtschaft aber wird auf unserer zweiten Branche beruhen und
die Identität des Guillaume Fierebrace mit Guillaume Ferabrachius
zur Voraussetzung haben. Damit ist die von Gaston Paris be-
strittene Identität zwar nicht erwiesen, aber doch wenigstens so viel
wahrscheinlich gemacht, daß sie schon im Mittelalter angenommen
wurde.
Zenker bespricht die Herleitung von Galafre aus Apolaffar auf
S. 217. Daß man Galafre früher aus El Fehri herleiten wollte
(Rajna, Origini S. 222), läßt er unerwähnt, und ist bemüht, die laut-
lichen Uebergänge von Apolaffar in Galafre nach Kräften plausibel
zu machen. »Wenn man bedenkt«, sagt er schließlich, »welche arge
Entstellungen gerade arabische Namen zu erfahren pflegten, so wird
man urteilen, daß Galafre dem Apolaffar — welche Form freilich
selbst schon aus Abu-Giafar verderbt ist — noch verhältnismäßig
sehr nahe steht«. Ich gebe zwar Zenker Recht; doch genügt mir
seine Begründung nicht; denn die Zwischenstufen zwischen Apolaffar
und Galafre sind noch erhalten. So kennen lateinische Chroniken
eine Form Abulafer - (Reinaud, Invasions des Sarrazins en France
S. 111 Anm. 2), und in den Chansons de geste findet sich Agolufre
(Fierabras S. 130, Narbonnais V. 7441, Aliscans ed. Rolin V. 373,
ed. Jonckbloet Bd. II S. 289, ed. Guessard. S. 192) und sogar Aba-
lafre (vgl. Siele, Ueber die Chanson Guibert d’Andrenas, Marburg
1891, S. 34 letzte Zeile). Gaston Paris richtet allerdings seine Po-
lemik nicht sowohl gegen den etymologischen als gegen den histori-
schen Zusammenhang, den Zenker annimmt; ich glaube aber, daß
beide nicht getrennt werden können.
Wenn der Guillaume der Chanson als Vertheidiger des Papstes
auftritt, so kann dieser Zug nicht auf Guillaume de Hauteville be-
zogen werden: er rührt wahrscheinlich von Guillaume de Montreuil
her, der in der That im Dienste des Papstes kämpfte. Er war eine Zeit
Jang der Fahnenträger des Fürsten Richard von Capua. Seine Heimat
28 *
412 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Montreuil wird — allerdings mit unrichtiger Lokalisierung — später
(V. 2649) in der Chanson genannt, was gegen die Annahme zu spre-
chen scheint, daß in der zweiten Branche ein älteres Lied fast un-
verändert dem Couronnement de Louis einverleibt worden sei. Auch
V. 391 ist offenbar nur im Hinblick auf die von dem letzten Redac-
tor erfundene Doppelehe des Helden gesetzt. Der Name Fierebrace
wird dem Helden Guillaume d’Orange schon früher gehört haben
und nicht erst aus der zweiten Branche stammen.
6) S. 233 This, Zur Lehre der Tempora und Modi
im Französischen. Die These, die This hier verficht, läuft dar-
auf hinaus, daß zu den drei anerkannten Modi des Französischen
noch zwei neue hinzukommen sollten: der Narrativ und der Condi-
tional (so schreibt This). Jener ist durch das Défini und das um-
schriebene Perfect, dieser durch das Futurum und das Condicionale
vertreten. Ich halte die These nicht für erwiesen. Weder vermag
ich einzusehen, was damit gewonnen ist, wenn écrivais und écrivis
als zwei verschiedene Modi getrennt werden, noch glaube ich, daß
das Futurum »ein Geschehen als (durch ein oder mehrere als wahr-
genommen gedachte Geschehen) bedingt gedacht hinstellt«. Die Aus—
sage »>ich werde den Brief beantworten< stellt den Eintritt dieser
Handlung fest und unbedingt in Aussicht. Wer dabei mit This eine
reservatio mentalis macht, kann sich ebenso wenig auf den Sprach—
gebrauch als auf die Entstehung der Verbalform des Futurums be—
rufen. Daß der so Sprechende nicht Herr über die Zukunft ist undl
z.B. durch den Tod an der Ausführung der Handlung verhindert
werden könnte, ist zwar richtig; doch ist dies bei der erwähnters
Aussage nicht in Betracht gezogen, die über den Eintritt der voraus-
gesagten Handlung keinerlei Zweifel ausdrückt. This äußert siche
über das Gebot Zu ne tueras pas — ich kenne nur Tu ne tueras
point — mit den Worten: »Hiermit soll doch wohl nicht auch ge-
sagt werden, daß man in einer spätern, einer kommenden Zeit nicht
töten werde; vielmehr hat man sich als wahrgenommenes Sein, das
zu jenem Geschehen die Bedingung ist, etwa zu denken: »Du willst
den Geboten Gottes folgen<: also hast du nicht zu töten, hast nicht
‚einen Schritt breit« die Disposition zu töten. Das als wahrgenom-
men gedachte Befolgen der Gebote Gottes bedingt das Nichttöten«.
Hier scheint mir weder berücksichtigt zu sein, daß das französische
Gebot auf dem lateinischen No vccides beruht noch auch, daß es
Gott selbst in den Mund gelegt ist. Gottes Gedanke ist nicht an
die Bedingung geknüpft: »wenn du meine Gebote befolgen willst«,
sondern lautet vollständig ausgedrückt: Mit meinem Willen wirst du
nicht töten. Damit ist allerdings die temporale Bedeutung des Fu-
Beiträge zur Romanischen Philologie. 418
turums zu einer modalen verschoben, wie denn solche Verschiebungen
in den Sprachen überaus häufig sind; aber diese modale Bedeutung
ist hier keine condicionale.
Auch sonst wird von This Manches geäußert, was ich bean-
stande. »Vor allem«, sagt er, »kennen wir die Syntax der in Frank-
reich geredeten lateinischen Sprache gar nicht«. Er dürfte sich hier
in einem Irrthum befinden. Denn seit Anfang des VI. Jahrhunderts
zahlreich vorhandene Urkunden und Texte der Merowingerzeit zeigen
eine ganz romanische Syntax, und Diez hat bereits mit Recht be-
tont, daß wir die Syntax des Galloromanischen an der Hand der
Quellen weit höher hinauf verfolgen können, als die Laute und For-
men. — >Man muß sich wundern«, sagt This einige Zeilen weiter,
»wenn in neuern Grammatiken noch von Verben und Adjektiven mit
einem Accusativ-, Dativ- oder Genitiv-Objekt die Rede ist«. Ich
stehe immer noch auf dem hier für veraltet erklärten Standpunkt,
der in 2 lut tend la main von dem Dativobject Zus und dem Ac-
cusativobject Ja main zu reden gestattet, und werde This sehr ver-
bunden sein, wenn er mich über meinen Irrthum aufklären will.
7) S. 252 P. Becker, Der Siege de Barbastre. Ana-
lyse des Gedichts auf Grund der Pariser Handschrift fr. 24369, de-
ren zwei Blätter umfassende Lücke aus fr. 1448 ergänzt ist.
8) S. 267 Heinrich Schneegans, Groteske Satire
bei Moliére? Der verdienstvolle Verfasser der Geschichte der
grotesken Satire stellt fest, daß sie bei Moliere kaum eine Rolle
spielt. Ist mit diesem negativen Ergebnis nicht viel gewonnen, so
scheint mir auch der Weg, der dahin geführt hat, nichts von Belang
zu bieten. Die Art, wie dabei das Wesen des Komischen und des
Witzes definiert wird, dürfte den Kern der Sache nicht getroffen
haben, und geradezu protestieren muß ich gegen den Ausspruch
(S. 275): »Das Schürzen des Knotens ist ja überhaupt nie Moliéres
starke Seite gewesen<. Bisher waren alle Urtheile darin einig, daß
Moliére im Schürzen des Knotens Meister ist, während er allerdings
die Lösung des Knotens öfter gewaltsam oder unvermittelt herbeiführt.
9) §. 311 Freymond, Artus’ Kampf mit dem Katzen-
ungetüm. Die merkwürdige Sage von Arthurs Kampf mit einer
Riesenkatze wird hier mit einer wahrhaft erschöpfenden Gründlich-
keit behandelt. Freymond geht von der Darstellung des Merlin-
fortsetzers aus, die er nach der Darmstädter Handschrift heraus-
giebt'). Die Geschichte ist hier bereits in der Nahe des Genfer
1) Vielleicht hatte er besser gethan, pisson, utr, courchies nicht in poisson,
weir, courouchies zu ändern, da es sich um ganz übliche Formen der Pikardischen
Mundart handelt. S. 325 Z. 1 ist für chas zu setzen cas.
414 Gött. gel. Anz, 1901. Nr. 5.
Sees, am Mont du Chat in Savoyen, lokalisiert. Einen bestimmten
Namen führt die Katze hier nicht, wohl aber in andern Texten, in
denen sie Chatpalu oder Chapalu heißt. Freymond zeigt, daß diese
‚Benennung kymrischen Ursprungs ist und sich bereits in dem unter
Heinrich II. geschriebenen schwarzen Buch von Caermarthen (als Cath
Palug) findet. Etwas Wesentliches wüßte ich dem von Freymond
beigebrachten nicht hinzuzusetzen. Auf den Chapalu der Bataille
Loquifer ist schon oft hingewiesen worden. Daß dieser Text auch
im Ogier eine Nachahmung gefunden hat, darauf hatte Harry Ward
in seinem Catalogue of Romances in the British Museum I 607 auf-
merksam gemacht, einem Werke, das für die mittelalterliche Litte-
raturgeschichte eine Fülle der Belehrung bietet. Der Name ist mir
auch sonst einige Male vorgekommen. Eine Anspielung an Capallu
findet sich in Hugues Capet S. 159. In einer Version des Schwanen-
ritters heißt das Pferd Gottfrieds von Bouillon Capalu (Franc. Mi-
chel, Charlemagne, London 1836, S. LIII). Ein Gaufridus Chatpalu
wird von Wilhelm von Tyrus erwähnt (Buch XIV Kap. 25). Beson-
ders richtig, weil besonders eingehend ist die Schilderung des Cha-
palu in der Bataille Loquifer, die bekanntlich von dem Spielmann
Grandor de Brie in Sizilien verfaßt ist. Grandor hat dabei Bretoni-
sche Sagen mit Sizilischen Lokalsagen verkniipft. Zu den letztern
rechne ich die Gestalt des Loquifer, dessen Benennung von Engli-
schen Gelehrten aus dem Kymrischen hergeleitet wird (Lock Ifern,
dieses = infernus). Ich halte diesen Zusammenhang mit kymri-
schen Worten, wenn er iiberhaupt anzunehmen ist, fiir eine nach-
trägliche volksetymologische Deutung ; denn ich glaube, daß Loguifer
nichts andres ist als Lucifer. In der Chanson Renier wird Loquiferne
ausdrücklich als die Gegend um Messina erklärt, und da Loquifer
Flammen speit, so wird man mit Nothwendigkeit auf den Aetna ge-
führt. Die Griechen Unteritaliens versetzten Lucifer in den Aetna;
ihre Aussprache des c zeigt sich noch in dem k-Laut von Loqutfer.
Es ist mir sehr wahrscheinlich, daß Dante, wenn er Lucifer in den
Mittelpunct der Erde versetzt hat, durch die Sizilische Lokalsage
dazu veranlaßt wurde, wobei er freilich das Flammenspeien wegließ.
Freymond stellt auch Betrachtungen darüber an, auf welchem
Wege die Sage von Arthurs Kampf mit der Riesenkatze nach Sa-
voyen gelangt sein könnte. Er weist hier auf allerlei Beziehungen
hin zwischen dem Grafengeschlecht von Savoyen und dem französi-
schen oder englischen Königshause, zumal verwandtschaftlicher Art.
Das Richtige ist wahrscheinlich aus der von Freymond aus dem
Briefe eines Lokalforschers angeführten Thatsache zu entnehmen,
daß noch heute an einem Felsen des Mont du Chat eine Vertiefung
Beiträge zur Romanischen Philologfe. 415
vorhanden ist, die dem Bas-Relief eines riesigen Katzenkörpers nicht
unähnlich sieht. Da nun eine vielbetretene Pilgerstraße, die von
Frankreich nach Italien führte, über den Mont du Chat ging und
der Katzenfelsen von dieser Straße aus sichtbar war — er ist es noch
heute! — so kann kein Zweifel obwalten, wie man dazu gekommen
ist, Arthurs Kampf gerade hier zu lokalisieren. Arthur schleuderte
das Ungethüm mit solcher Gewalt gegen den Felsen, daß sich der
Körper in diesem abgeprägt hat! Schade daß Freymond sich — und
uns — nicht eine Photographie des merkwürdigen Felsen verschafft
hat! (Auch Gaston Paris hat bereits diese Erklärung angegeben).
10) S. 397 Schneegans, Zur Chanson de geste Aiol
et Mirabel. Verf. gibt eine gute Characteristik der Chanson Aiol
und macht Riickschliisse auf die Vorstufe des erhaltenen Textes,
denen man zustimmen kann. Das Epos Aiol ist nach seiner Ansicht
(S. 407) »nicht wie andre Epen aus einem ursprünglichen Kern durch
Zuthaten fremder Episoden allmählich herausgebildet worden .. .,
sondern es ist das Kunstproduct eines geschickten Dichters, der mit
Benutzung bekannter epischer Motive etwas neues geschaffen hat«.
Das ist durchaus annehmbar. Allein dann verstehe ich nicht, wie
Verf. S. 411—412, von dem alten Sagenstoff reden kann, den der
Dichter neu zu beleben suchte. Also hat er doch den Stoff nicht er-
funden ? Wie ist dies mit dem Vorhergesagten in Einklang zu brin-
gen ? In den Eingangsworten über die Anfänge des Epos in Frank-
reich wird als Ausgangspunct eine zusammenhängende poetisch ge-
färbte Erzählung eines Dichters angenommen, also eine litterarische
oder litteraturfähige Prosa vor der Zeit der Kreuzzüge angesetzt.
Nichts ist unwahrscheinlicher !
11) S. 414 Karl Vossler, Benvenuto Cellinis Stil
in seiner Vita. Versuch einer psychologischen Stil-
betrachtung. Cellinis Stil wird im Einzelnen charakterisiert. Die
Einzelbeobachtungen scheinen mir ihren Werth zu haben. Von einer
neuen psychologischen Stilbetrachtung legt jedoch nur die allgemeine
Gruppierung des Stoffs Zeugnis ab. An den Aufsatz hat sich eine
Polemik angeschlossen, wofür auf das Giornale storico della lettera-
tura italiana XXXVI. 232—234 und auf Monaci e de Lollis, Studj
di filologia romanza VIII. 416 verwiesen sei.
12) S. 452 Gustav Thurau, Geheimwissenschaft-
liche Probleme und Motive in der modernen französi-
schen Erzählungslitteratur. So abstoßend auch der Gegen-
stand ist, muß man doch demVerf. Dank wissen, daß er uns darüber
eine so vielseitige und gründliche Orientierung giebt. Doch sollte er
Gautiers Spirite nicht als Masculinum behandeln (S. 472) und so
fehlerhafte Wortbildungen wie »initiert« (S. 478) lieber vermeiden.
416 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
13) S.484 Lang, The Descort in Old Portuguese and
Spanish Poetry. Der gelehrte Herausgeber des Dom Diniz be-
handelt die wenigen Gedichte, die hier in Betracht kommen: 4 Por-
tugiesische, die er zum Abdruck bringt, und drei Spanische, von de-
nen nur die metrische Form veranschaulichende Proben gegeben werden.
14) S. 507 Zéliqzon, Mundartliches aus Malmedy
(Preussische Wallonie). Den phonetisch-transscribierten Tex-
ten ist von dem auf diesem Gebiet bereits mehrfach bewährten Ver-
fasser eine französiche Uebersetzung und, soweit dies in Betracht
kam, auch die Melodie hinzugefügt. Auf S. 509 sollte es in der
Uebersetzung heißen recommenga. S. 510 torat? wäre wohl besser
mit naguere oder tantöt übersetzt, dümyes’ (domesticus) mit priv.
S. 513 in Strophe V. 2 fehlt ze. S. 514 tritt die Patoisform für
ronds in drei verschiedenen Formen auf, während solche Schwankungen
bei Zéliqzon sonst kaum vorkommen. S. 521 wird es heißen müs-
sen: A la facon de Barbari. Es sind lauter Texte, die für die Volks-
kunde Interesse bieten.
Möge es Gustav Gröber vergönnt sein, noch viele Jahr im aka-
demischen Hörsaal wie in dem weltweiten Kreis wissenschaftlicher
Leser fruchtbar und segensreich zu wirken!
Halle a.S., 21. Okt. 1900. Hermann Suchier.
Delitzsch, Fr., Assyrische Lesestücke mit grammatischen Tabellen und
vollständigem Glossar. Einführung in die assyrische und babylonische Keil-
schriftlitteratur bis hinauf zu Hammurabi, für akademischen Gebrauch und
Selbstunterricht. Vierte durchaus neu bearbeitete Auflage. Leipzig, Hinrichs
1900. XII und 193 S. in Autographie und Buchdruck. 4° Preis kart. Mk. 18.
Auch unter dem Titel: Assyriologische Bibliothek herausgeg. von Fried-
rich Delitzsch und Paul Haupt. Band XVI.
Im Interesse der assyriologischen Studien ist es mit großer
Freude und vielem Dank zu begrüßen, daß Delitzschs bekannte
»Assyrische Lesestücke« nunmehr in vierter Auflage fertig vorliegen.
Um mit einer Aeußerlichkeit zu beginnen, die aber gerade bei einem
für den Anfangsunterricht bestimmten Buche von nicht geringer Be-
deutung ist, so zeichnet sich die neue Auflage gegenüber ihrer Vor-
gängerin schon durch ihren wesentlich niedrigeren Preis aus — 18 Mk.
gegenüber 30 Mk. der dritten Auflage —, so daß es jetzt wie-
der möglich ist, Delitzschs Lesestücke beim akademischen Unter-
richt ohne zu große Schwierigkeit zu Grunde zu legen, was bei
dem hohen Preis der dritten Auflage wenigstens auf deutschen Uni-
versitäten kaum mehr angieng. Dadurch ist jetzt beinahe ein em-
Delitzsch, Assyrische Lesestücke. 417
barras de richesse für den Anfangsunterricht im Assyrischen ent-
standen, da neben Delitzschs Lesestücken, abgesehen von einigen
für deutsche Verhältnisse kaum in Betracht kommenden auslän-
dischen Elementarbüchern, ja auch noch Abel und Wincklers Keil-
schrifttexte zum Gebrauch bei Vorlesungen und Meissners Assyrisch-
babylonische Chrestomathie zu Gebote stehen, zwei Publikationen,
die auch fernerhin, trotzdem sie durch die neue Auflage von De-
litzschs Lesestücken voraussichtlich ziemlich in den Hintergrund ge-
drängt werden, doch neben diesen in Folge ihrer noch umfängliche-
ren Mitteilung von Textstücken immerhin eine gewisse Stellung be-
haupten werden.
In der vorliegenden Neubearbeitung sind nun endlich Delitzschs
Lesestücke wirklich ein Elementarbuch geworden, wie man es für
den Anfänger braucht, mit einem einigermaßen ausreichenden Mate-
rial an historischen Texten versehen und vor allem auch mit einem
Glossar, das nicht, wie bei der vorhergehenden Auflage, ohne Rück-
sichtnahme auf die Texte des Buches, sondern im engen Anschluß
an dieselben zusammengestellt ist. Man darf wohl in diesen Aende-
rungen eine segensreiche Frucht der durch das Abel - Wincklersche
und das Meissnersche Buch hervorgerufenen Konkurrenz, erblicken.
So hat es demnach auch nicht als Tadel, sondern nur als Lob zu
gelten, wenn sich von dieser vierten Auflage sagen läßt, daß sie für
den assyriologischen Fachgelehrten viel geringere Bedeutung bean-
spruchen kann, als die vorhergehenden Auflagen. War es doch
bei diesen gerade das Verhängnisvolle, daß sie rein praktische
und rein wissenschaftliche Bedürfnisse gleichzeitig befriedigen wollten.
So sind und bleiben auch fernerhin in der früheren dritten Auflage
eine ganze Anzahl von Texten, namentlich Vokabularen, für den
Fachgelehrten von großer Wichtigkeit, die aber für den Anfänger-
unterricht einfach nicht zu gebrauchen sind und darum auch mit
Fug und Recht in dieser neuen vierten Auflage ausgeschaltet worden
sind.
Ja ich hätte gewünscht, daß Delitzsch hierin noch etwas weiter
gegangen und z. B. von der Mitteilung der vollständigen Syllabare
S* und SP? Abstand genommen, dafür lieber noch etwas mehr histo-
rische Texte gegeben hätte. Für den Fachmann ist jetzt ja ohne-
hin durch die mittlerweile erfolgte Neuveröffentlichung dieser Sylla-
bare in den Cuneiform Texts Part XI, die Delitzsch allerdings kaum
voraussehen konnte, genügend gesorgt und auch manche bei De-
litzsch in S® noch klaffende Lücke ausgefüllt. Immerhin kann die
neue Ausgabe von S* und SP? durch Delitzsch schon wegen ihrer
wertvollen scharfsinnigen Ergänzungen und auch durch die Heran-
418 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
ziehung einiger in der Publikation des British Museum nicht berück-
sichtigter Fragmente ihren selbständigen Wert gegenüber der ge-
nannten Londoner Veröffentlichung beanspruchen. Schade übrigens,
daß Delitzsch von dem von mir in der Zeitschr. f. Assyr. IV (1889),
S. 394 veröffentlichten kleinen Fragment aus der Sammlung Müller-
Simonis keine Notiz genommen hat, da dieses für Col. VI von S*
einige Ergänzungen und interessante Varianten bietet, die nun in
Delitzschs Neuausgabe wieder unberücksichtigt geblieben sind. Als
recht willkommen für den Anfangsunterricht ist dagegen der neuein-
gestellte »Auszug aus sonstigen Syllabaren und Vokabularen« auf
S. 105—111 zu bezeichnen, da hier fast durchgängig nur bekannte
assyrische Wörter zusammengestellt sind, deren Lektüre für den
Anfänger darum erfreulicher und nutzenbringender ist, als diejenige
mancher Partieen von S* und Sb.
Auch anstatt der auf S. 76—80 mitgeteilten Briefe hätte ich
in einem solchen Einführungsbuche lieber noch einige weitere histo-
rische oder poetische Texte aufgenommen gesehen. Denn wie soll
ein Anfänger mit diesen teilweise recht schwierigen Briefen zurecht
kommen, wenn selbst ein Meister auf lexikalischem Gebiete, wie
Delitzsch, bei einzelnen Formen sich so gründlich irren kann, wie
2.B. bei issakis S. 76, c. 9, das Delitzsch im Glossar S. 179
als Nifal eines Verbums s«ahäsu auffaßt, während es in Wirklichkeit
eine Vulgärform für itt (isst) akamis ist. Vgl. z.B. K. 626 (Leh-
mann, Sama&sumukin Taf. XLIV), Z. 30: Sin Samas is-sa-ki-'-i5
innamerünt.
Bei dem aus IV R 21* entnommenen »Gebet zu Marduk<« auf
S. 81 hat Delitzsch leider übersehen, daß in Kings Babylonian Ma-
gic and Sorcery, London 1896, Nr. 9 ein Duplikat zu diesem Texte
vorliegt, das erstlich eine metrisch richtigere Zeilenabteilung bietet,
sodann auch nicht unwichtige Varianten (wie z.B. ki-ma für e-ma
Z. 16) und für Z. 11 die Lesung H-(?)-ru u na-an-za-eu, die ich
übrigens auf Grund von IV R 55, No. 2, 6f. 10a auch schon vor
dem Bekanntwerden des Kingschen Duplikats für IV R 21* stets
angenommen hatte. Es ist schwer verständlich, wie Delitzsch im
Glossar S. 191 die Worte schreiben konnte: »ti-ru 81, 11, noch un-
gewiß (ru phon. Kompl.?)<, zumal er doch auf derselben Seite
ganz richtig firu (mit dem Ideogr. GAL. TE) als syn. manzaz pans
aufführt.
Auch sonst gibt das in Rede stehende im Großen und Ganzen
natürlich sehr treffliche Glossar im Einzelnen doch zu mancherlei
Ausstellungen Anlaß. Zwar hat hier Delitzsch in einer Reihe von
Fällen Ausführungen von anderer Seite, namentlich von Jensen,
Delitzsch, Assyrische Lesestücke. 419
Meissner, Winckler und dem Referenten Rechnung getragen. So ist
auch bei Delitzsch z. B. binu jetzt »>Tamariske<, nicht mehr »Samen-
korn«, bassu »Sand« statt »feste Lehmmauer«, kür-su émid »er segnete
das Zeitliche< statt ma@ta-su mid »sein Land unterwarf ich«, anzillu
»Frevel« statt an sillö »Kerker«. Hierbei sieht man übrigens nicht
recht ein, weshalb in dem einen Falle Bemerkungen, wie »so zuerst
Zimmern< hinzugefügt werden, in andern Fällen nicht. Entweder
hätten, was für ein solches Glossar wol das Richtigste ist, derartige
Prioritätsangaben durchgehends wegfallen sollen, oder aber sie
mußten mit gleichmäßiger Konsequenz gesetzt werden. Abgesehen
aber von solchen mehr vereinzelten Fällen, die ein anerkennenswertes
Eingehen Delitzschs auf die Forschungen Anderer bekunden, begeg-
nen wir jedoch auch zahlreichen Angaben, die wieder deutlich zeigen,
wie schwer es bei Delitzsch hält, bis von anderen Fachgenossen aus-
gehende Berichtigungen hergebrachter falscher oder schiefer lexika-
lischer Aufstellungen bis zu ihm durchdringen. So wird uns z.B.
wieder ein »%ablatu Verbrechen, Frevel< vorgeführt, ein »nisu (zwei-
konson. Subst.) urspr. viell. Wesen, dann: Geist, Persönlichkeit:
(Schwurpartikel) bei<, ein »pirist« Entscheidung«, ein >pati leicht-
sinnig<, ein sénu »gut, fromm (opp. raggu), gleichen Stammes mit
scnu Kleinvieh, Schafe und Ziegen, die als die sanften Haustiere so
benannt seien von einem Stamme 7Xı3 gut, sanft fromm sein«, ein
ramaku »ausgießen, libieren«, ein saqummatu »Wehe, Leid«, ein tba
»kommen, herankommen, anriicken<, ein Zalimu »Zwillingsbruder«
u. 8. w., obwol in diesen wie in zahlreichen andern Fällen von an-
dern Fachgenossen längst das Richtige ausgesprochen worden ist.
Hoffen wir, daß es Delitzsch wenigstens vor Drucklegung seiner an-
gekündigten Supplemente zu dem Assyrischen Handwörterbuch mög-
lich wird, den im Vorwort zu diesem ausgesprochenen löblichen
Vorsatz auszuführen, »mit um so größerem Eifer es sich jetzt ange-
legen sein zu lassen, die Arbeiten der Fachgenossen zu studieren und
zu prüfen, um mit ihrer Hülfe, wo dies nöthig erscheint, die eigenen
Aufstellungen zu modifizieren, nachdem leider während der Vorbe-
reitung und Ausarbeitung des Handwörterbuches der assyriologischen
Fachlitteratur eingehendere Beachtung nicht geschenkt werden
konnte.<
Sehr dankenswert ist es vom pädagogischen Gesichtspunkt aus,
daß Delitzsch im Glossar möglichst durchgehends die hebräischen, in
bestimmten Fällen auch die araınäischen und arabischen Aequiva-
valente anführt. Nur hätte ich eine noch häufigere Hinzufügung der
Bezeichnung »Lehnwort« oder »wahrscheinlich Lehnwort< gewünscht,
da der Anfänger gar zu leicht an Urverwandtschaft denkt, wo solche
420 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
sicher oder aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vorliegt. Und warum
fehlt gerade bei ipru »Botschaft, Brief« das für den Ursprung der
alten palästinensischen Kultur so äußerst bezeichnende alte Lehn-
wort "20? Oder sollte etwa Delitzsch an der Erklärung von “80
als altem Lehnwort aus babyl. Sipru wirklich noch Zweifel hegen?
In der Schrifttafel hat Delitzsch in praktischer Weise manchen
unnötigen Ballast aus der dritten Auflage ausgeschieden , vor allem
auch nur solche Ideogramme und Ideogrammgruppen beibehalten und
teilweise neu hinzugefügt, die in zusammenhängenden assyrischen
Texten auch wirklich gebraucht werden und sich nicht etwa blos in
Vokabularen oder in sumerischen Texten finden. Sehr dankenswert
ist die auf S. 120—135 diesmal getrennt von der Schrifttafel und
in größerer Ausführlichkeit gegebene babylonische Zeichenliste, die
zugleich die Texte in specifisch babylonischer Schrift einleitet, welche
mit Recht einen breiteren Raum als in der dritten Auflage ein-
nehmen. Insbesondere ist die vollständige Aufnahme der sog. baby-
lonischen Chronik nach dem Vorgange von Abel und Winckler in
deren Keilschrifttexten und von Meissner in dessen Chrestomathie
eine gute Neuerung. Auch hat gerade die Neuveröffentlichung
dieses Textes einen gewissen eigenen wissenschaftlichen Wert, inso-
fern sie auf einer erneuten Kollation der Originale durch Delitzsch
beruht.
Die Elemente der Grammatik endlich, die Delitzsch in dankens-
werter Weise voranstellt, hätte ich wohl gerne um eine Reihe der
wichtigsten Erscheinungen aus der Lautlehre, wie auch um Einiges
innerhalb der Formenlehre bereichert gesehen. Doch entschädigt
Delitzsch hoffentlich recht bald auch den Anfänger hierfür durch die
Veröffentlichung der zweiten Auflage seiner Assyrischen Grammatik,
nachdem deren erste Auflage ein so rarer Artikel geworden ist, daß
sie selbst bei hohem Angebot im Buchhandel einfach nicht mehr zu
beschaffen ist und darum für Unterrichtszwecke einstweilen leider
ganz ausgeschaltet werden muß.
Trotz der mancherlei kleinen Ausstellungen, die vorzubringen
nun einmal zum Geschäft einer ehrlichen Kritik gehört, wiederhole
ich doch noch einmal gerne ausdrücklich, daß die neue Auflage von
Delitzschs Lesestücken als Ganzes eine äußerst erfreuliche und will-
kommene Erscheinung ist und daß dieses Buch gegenwärtig ohne
Zweifel als das empfehlenswerteste Hilfsmittel zur ersten Einführung
in das Studium des Assyrischen zu gelten hat.
Leipzig, 20. Februar 1901. H. Zimmern.
King, The Letters and Inscriptions of Hammurabi. I. III. 421
King, L. W., The Letters and Inscriptions of Hammurabi, King of
Babylon, about B. C. 2200, to which are added a series of letters of other
kings of the First Dynasty of Babylon. The original Babylonian texts, edited
from tablets in the British Museum, with English translations, summaries of
coutents, etc. Vol. II. Babylonian texts, continued. Vol. Ill. English transla-
tions, etc. London, Luzac 1900. XVIII S. u. 1085. in Autographie, LXXI u.
385 S. in Buchdruck. 8°. Preis Mk. 18 pro Band.
Auch unter dem Titel: Luzac’s Semitic Text and Translation Series.
Vol. WI u. VILL
Dem im Jahrgang 1899 dieser Anzeigen, S. 499—504 von mir
besprochenen ersten Bande obiger Publikation sind nach verhältnis-
mäßig nicht sehr langer Zeit jetzt zwei weitere, das Ganze zum Ab-
schluß bringende Bände gefolgt. In Band II, der wie Band I noch
ausschließlich Originaltexte in Keilschrift enthält, bringt King zu-
nächst noch eine Anzahl weiterer Briefe Hammurabis, sodann solche
von Samsuiltina und insbesondere von Abesu’. Es folgen die beiden
sog. Louvre-Inschriften Hammurabis, ferner u. a. ein allerdings ziem-
lich fragmentarisches Londoner Duplikat zu der Berliner Samsuilüna-
Inschrift in semitischer Version, darauf die schon früher bekannt ge-
machte sumerische Version der gleichen Inschrift, nebst einem neuen
Duplikate derselben. Endlich bietet King, abgesehen von einigen
kleineren Inschriften, eine nochmalige, in einzelnen Punkten ver-
besserte, Veröffentlichung der vor zwei Jahren von Pinches in den
Cuneiform Texts from Babylonian Tablets Part VI publizierten für
die ältere babylonische Chronologie so äußerst wichtigen Tafel Bu.
91—5—9, 284 (jetzt Brit. Mus. No. 92702), die eine fast über zwei
Jahrhunderte von Sumuabi bis Samsuilüna einschließlich reichende
chronologische Liste der hervorstechendsten Jahresereignisse enthält,
nach denen man in primitiver Weise auch noch in jener Zeit der
ersten babylonischen Dynastie zu Ende des dritten vorchristlichen
Jahrtausends anstatt wie später nach Königsjahren datierte. Daran
reiht sich nun aber bei King in erstmaliger Veröffentlichung eine
zweite, leider nur sehr fragmentarisch erhaltene Tafel Brit. Mus.
No. 16924, die zunächst ein ergänzendes Duplikat zu jener ersten
Tafel bildet und sodann eine Fortsetzung bis in das zehnte Jahr
Ammizadugas darstellt. Daß die Veröffentlichung der Texte durch
King auch in diesem zweiten Bande als mustergiltig anzusehen sein
wird, bedarf nach den jetzt so zahlreich vorliegenden Leistun-
gen Kings in dieser Richtung kaum einer ausdrücklichen Hervor-
hebung.
499 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
Der dritte Band bringt nun zunächst eine längere Einleitung,
in welcher in recht geschickter und ansprechender Zusammenfassung
der Inhalt der Briefe, der Königsinschriften und der oben erwähn-
ten chronologischen Listen für die Geschichte, speciell auch für die
Kulturgeschichte Babyloniens im Zeitalter Hammurabis verwertet
wird. Ob freilich King hier die z. T. sehr komplicierten historischen
Fragen alle richtig beantwortet hat, ist eine andere Frage. Dies
gilt namentlich davon, ob, wie King auch hier wieder meint, der
Siniddinam, an den die Korrespondenz Hammurabis gerichtet ist, zu
trennen ist von dem aus eigenen Inschriften bekannten Siniddinam,
König von Larsa. Ich habe bereits bei der Besprechung des ersten
Bandes meine Bedenken gegen diese Ansicht Kings geäußert. Ich
kann es mir aber um so eher versagen, hier näher auf diese sehr
weitschichtige Frage einzugehen, als erst vor kurzem Jensen in die-
sen Anzeigen (Jahrg. 1900, S. 975—984) ausführlich über diese
Dinge gehandelt hat und zwar gleichfalls in dem Sinne, daß er den
König Siniddinam von Larsa für identisch mit dem Adressaten der
Hammurabi-Briefe hält. Freilich lag dabei Jensen die Publikation
Kings offenbar noch nicht vor, auch nicht der bereits vor zwei Jah-
ren erschienene erste Band. Indessen würde Jensen z. B. in der
Bezeichnung Siniddinams als rab Amurr@ in dem Briefe an dessen
Frau (Nr. 48 bei King) nur eine Bestätigung seiner dort vorgetrage-
nen Ansicht gefunden haben, da ja auch Kudurmabug einen ähn-
lichen Titel führt.
Es folgt Transscription und zumeist auch vollständige Ueber-
setzung der sämmtlichen Briefe und der übrigen in den beiden er-
sten Bänden im Originaltext veröffentlichten Inschriften. Man kann
hier King die Anerkennung nicht versagen, daß er sich bei den
stellenweise gar nicht leichten Briefen sehr in seinen Gegenstand
hinein vertieft hat und im Großen und Ganzen durchaus seiner
Herr geworden ist. Freilich war für ihn hier die Schwierigkeit, die
etwa ein einzelner herausgegriffener von diesen Briefen bietet, durch
die Menge des gleichartigen Materials bedeutend erleichtert. Es
zeigt sich eben hier wieder an einem eklatanten Beispiele, daß das
beste Hilfsmittel, um eine schwierige Gattung von babylonisch - assy-
rischen Texten zu bemeistern, darin besteht, eine möglichst große
Anzahl von gleichartigen Texten zur Hand zu haben. Im Gegen-
satz zum ersten Bande sind hier in der Transscription und Ueber-
setzung die Briefe, wie ich es seiner Zeit als wünschenswert be-
zeichnet hatte, nach Möglichkeit dem Inhalte gemäß geordnet. Das
hat nun freilich einige Unbequemlichkeit im Gebrauch der Ausgabe
zur Folge. Doch kommt die Vergleichungstabelle auf S. 315 ff. dem
King, The Letters and Inscriptions of Hammurabi. I]. II. 428
Leser hiilfreich entgegen. Von einigen Kleinigkeiten, die mir beim
Durchlesen aufgestossen sind, mögen folgende erwähnt werden: Nr.
72 (S. 52), 25 ist i-ri-ik-ku sicher Pras. von rdqu >leer sein«, nicht
von araku »lang sein< , wie die Uebersetzung und das Glossar an-
nehmen. — SA.UD (s. S. 57, Anm. 3 und Glossar S. 308) ist na-
türlich sa-tam, satammu zu lesen. — Nr. 40 (S. 60), 16f. und Nr. 8
(S. 66), Rev. 3 ist verkannt, daß.die Redensart (una) tapp# ....
aläku »Jemand zu Hilfe kommen« vorliegt, die auch Nr. 46 (S. 82), 11
zu ergänzen sein wird. — Nr. 75 (S. 63), 26 ist doch gewiß einfach
Suframma »schreib!< zu lesen statt sudramma »befiehl!« von einem
für das Assyrische überhaupt äußerst problematischen sadaru »be-
fehlene. — SU.GEu TUR Nr. 27 (S. 83), Rev. 3 ist natürlich
Sibu u sehru »Alt und Junge. — Die KA. BAR (pl.) Nr. 3 (p.101)
werden doch wohl kaparr@ »Hirtenknaben« vorstellen.
Für die Uebersetzung der Königsinschriften von Hammurabi
hatte King schon sehr gute Vorarbeiten, namentlich durch die
trefflichen Uebersetzungen von Jensen in der Keilinschr. Biblioth.
Bd. II 1. King konnte daher naturgemäß hier weniger Neues
bieten. Als beachtenswert hebe ich hervor seine Zusammenstellung
von EN. LIL DA.GA. NI mit [ ]-mu Be und die Ergänzung
dieses Ausdrucks zu [se]-mu Bel S. 182, Anm. 3; S. 187, Anm. 1.
Warum ist aber girritu S. 182 und im Glossar bei King wieder
»Scepter« anstatt Jensens sicher richtigem »Zügel«? Hier wirkte
offenbar Delitzschs Handwörterbuch nicht fördernd auf King ein. —
Bei der Bearbeitung der Samsuiliina-Inschrift auf S. 199 ff. ver-
mochte King, gestützt auf die neuen Duplikate, naturgemäß ein
gutes Stück über die Uebersetzung von Winckler in Keilinschriftl.
Bibl. III 1, S. 131 ff. hinauszukommen. In Z. 19 dieser Inschrift ist
übrigens nach dem Sumerischen sicher [ilu ba-ni] ne-me-ki-im zu er-
gänzen und so, [ilu] ba-nz, sicher auch im Berliner Exemplar statt
[a]-pr-ir zu lesen. — Z. 28 ist schwerlich zu [sa-pa]-ra-am, vielmehr
wol sicher zu [i-tar]-ra-am zu ergänzen; vgl. dazu die beiden in
Brünnows Liste freilich nicht verzeichneten Stellen IV R 9, 49/51a
und IV R 12, Obv. 21/22, von denen namentlich die letzte unserer
Samsuilüna-Stelle im Ausdruck sehr nahe steht. — Z. 51 liegt nicht
eine obskure Gottheit Lugal-diri-tu-gab vor, vielmehr, wie auch der
sumerische Text von Nr. 98 noch ganz klar zeigt, der Gott Lugal-
gts-a-tu-gab-lis (Bél-sarbi). — Die angebliche Variante zu Z. 72
i-Sid-si-na im Berliner Exemplar existiert nur in der Transskription
Wincklers in der Keilinschr. Bibl., während die Wincklersche Ori-
ginaltextausgabe gleichfalls zSda-si-na bietet. — Zu HAR = Suatu
2. 84 vgl. die so häufige Schreibung HAR-t« für suatu in assyrischen
424 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 5.
Texten bestimmter Gattung. Die Bemerkung >»possibly TU< ist
darum zu streichen.
Recht dankenswert ist die Bearbeitung der oben erwähnten
chronologischen. Tafeln mit zahlreichen Ergänzungen und Nachweisen
aus Datierungen von Geschäftsurkunden aus dieser Zeit. Endlich
sind die ausführlichen Glossare und Indices eine sehr erwünschte
Beigabe. Freilich haben mich Stichproben zu der Ueberzeugung
geführt, daß die Glossare auf die Bezeichnung »complete vocabularies«,
die ihnen in der Vorrede gegeben wird, doch nicht ohne Einschrän-
kung Anspruch erheben können. So fehlen z. B., offenbar durch
ein eigenartiges Versehen, die sämmtlichen Vokabeln der Nummern
103 (S. 36), 104 (8. 126), und 105 (8. 128), mit Ausnahme der Eigen-
namen; desgleichen sonst vereinzelte Vokabeln, z. B. die Form tu-
ub-lum No. 82 (S. 141), 6, u-sa-us-ga-lu-ku-nu-[5i] No. 93 (S. 143), 27.
Wenn schon einmal eine Vollständigkeit in solchem Falle beabsichtigt
wird, dann sollte sie auch mit der peinlichsten Genauigkeit durch-
geführt werden.
Es sei endlich noch aufmerksam gemacht auf das möglicher
Weise Hammurabi darstellende Porträt, das King als Titelbild zu
bringen im Stande war.
Auch hier möchte ich zum Schlusse gern ausdrücklich betonen,
daß die kleinen Ausstellungen im Einzelnen, die ich im Obigen vor-
gebracht habe, den hervorragenden Wert der Publikation im Ganzen
nicht irgendwie erheblich in Frage zu stellen vermögen.
Leipzig, 22. Februar 1901. H. Zimmern.
Far die Redaktion verantwortlich: Prot. Dr. Georg Wentzel in Göttingen.
Juni (901. Nr. 6.
Abhandlungen zur germanischen Philologie. Festgabe für Richard Heinzel
von F. Detter, M. H. Jellinek, C. Kraus, R. Meringer, R. Much,
J. Seemüller, S. Singer, K. Zwierzina. Halle a/S. Max Niemeyer
1898. VIII, 534 S. gr. 8°. Preis Mk. 14.
Unter den zahlreichen Festschriften, die bei verschiedenen An-
lässen auch auf dem Gebiete der deutschen Philologie innerhalb des
letzten Jahrzehnts sich aufgethan haben, nimmt die vorliegende, neben
der 1894 für Rudolf Hildebrand gestifteten Festgabe, eine besonders
ausgezeichnete Stellung ein. Zuvörderst wegen der Persönlichkeit
dessen, dem sie gewidmet wurde, eines Mannes, der seit nah einem
Menschenalter als Lehrer an der ersten Universität Oesterreichs
einem ausgebreiteten Schülerkreise durch die lautere Sachlichkeit
seines Wesens und seiner Forschung ein Vorbild für Leben und Ar-
beit geworden ist. Ferner, weil sich hier der engste Kreis jüngerer
Genossen um den Meister schaart, Gelehrte, die von seinen Zög-
lingen sich zu seinen Mitforschern emporgearbeitet haben. Dadurch
erhält der gewichtige Band eine seltene und schätzenswerte Einheit-
lichkeit, ja man möchte ihn fast als eine Manifestation der Schule
Heinzels bezeichnen, wofern nicht gerade ihr Haupt selber einem
solchen Ausdrucke am lebhaftesten sich widersetzte. Der Inhalt
knüpft diese Verbindung freilich nicht, denn die acht Abhandlungen
streben nach sehr verschiedenen Richtungen auseinander, und Heinzel
hatte gewiß recht, wenn er gutem Vernehmen nach bei dem feier-
lichen Anlaß sich angesichts des ihm vorgelegten Werkes dahin aus-
sprach, es kündige ihm den Unterschied zwischen einem älteren und
einem jüngeren Geschlechte deutscher Philologen: ihn treibe die
Neigung und zwinge die Amtspflicht, das gesammte Fach immer
wieder von Neuem zu durchmessen, auch über die gewöhnlichen
Grenzen hinaus, bis ins Altfranzösische ; seine jüngeren Freunde hät-
ten sich, wie das Buch ausweise, jeder in seinem Sondergebiete zur
Einzelforschung dauernd festgesetzt. Auch bei solcher Aufteilung
umfaßt der Band nicht alle von Heinzel betriebenen Studienfächer,
nicht die Sagenforschung, vor Allem aber nicht die Syntax, der To-
Gött, gel. Ans, 1901. Nr. 6. 29
426 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
manetz viel zu früh weggestorben ist, und über die wir von Heinzel
selbst eine zeitweilig abschließende Arbeit gespannt erhoffen.
Das Verbindende zwischen diesen acht Gelehrten, die sich zur
schönsten wissenschaftlichen Huldigung zusammengethan haben, liegt
in einer gewissen Uebereinstimmung der Arbeitsweise. Vielleicht
drücke ich mich am wenigsten mißverständlich aus, wenn ich sage:
im Mittelpunkte der Bestrebungen dieses Forscherkreises steht ein
Ideal philologischer Statistik. Dem einzelnen Problem nähert man
sich durch gewissenhafteste Aufnahme aller äußeren Momente, des Wor-
tes, der Ueberlieferung, der Thatsachen: daraus werden allgemeine
Schlüsse geschöpft, die über das Wesen der Aufgabe neues Licht
verbreiten. Von der Peripherie aus, sozusagen, wird das Ziel, so
sehr es möglich ist, eingeengt, dadurch bestimmt umschrieben und
zuweilen auch erreicht. Wie förderlich dieses Verfahren ist, lehrt
die Geschichte der Wissenschaft während der jüngsten Decennien,
wir könnten ohne den schwersten Schaden die Forschungen der Wie-
ner Germanisten nicht vermissen.
Vielleicht ist es gerade mir gegönnt, das hohe Verdienst dieser
Arbeiten unbefangen und dankbar zu würdigen, weil ich die Dinge
von einem anderen Punkte aus zu sehen mich gewöhnt und erzogen
habe. Für mich ist beim Studium des geschöpften Werkes altdeut-
scher Litteratur der schöpfende Mensch, der darin oder dahinter
steckt, das zu erstrebende Ziel aller wissenschaftlichen Bemühung.
Textkritik, Metrik, Syntax, Einsicht in die poetische Technik, kurz,
sämmtliche philologische Mittel, dienen, meinem Ermessen nach, nur
dem einen Zweck, der Verlebendigung des Menschen der Vergangen-
heit. Selbst dort, wo es sich um einen Einzelnen gar nicht handelt,
sondern um eine dunkle Mehrheit, bei den Problemen der Sagen-
und Mythenforschung, ist es mir das Bedeutendste, den Athemzug
menschlicher Seelen zu belauschen, der die flatternden dichterischen
Gebilde belebt und sie treibt, wie sie über den Völkern dahin schwe-
ben. Das höchste Ziel philologischer Arbeit schiene mir zum Beispiel
— meiner schwachen Kraft kaum jemals wirklich erreichbar — aus
seinen Predigten Berthold von Regensburg so für mich und alle vor-
stellbar zu machen, im Kern seines Wesens wie in seinem ganzen
Gehaben, daß seine litterarische Erscheinung uns den Eindruck einer
lebenden und wirkenden Persönlichkeit hervorbrächte. Der ganze
Umgrund seiner Zeit und seines eigenen Lebens muß erforscht wer-
den und dazu dienen, die Umrisse seines Charakters deutlich er-
kennen zu lassen; der Abstand ihres Lichtes von dem, das aus dem
Inneren seiner Werke kommt, muß sein Bild so mannigfach abge-
stuft durchleuchten, daß sein bloßes Dasein uns überzeugend seine
Abhandlungen zur germanischen Philologie. 427
Wirklichkeit verbiirgt. — Allerdings müssen wir — denn andere
Forscher schreiten schon lang auf demselben Wege — es uns ge-
fallen lassen, wenn solche Aufgaben überhaupt gar nicht mehr als
philologische, sondern als historische gelten gelassen werden, wenn
die Philologie strengster und jüngster Observanz uns als Abtrünnige
aus dem Tempel weist. Nun denn, es sei: im Hause des Vaters
gibt es, gemäß dem edelsten Herrenwort, viele Wohnungen, und da
wird sich doch wol noch ein Kämmerchen für die philologischen
Schwarmgeister finden, die mit dem Aufgebot alles Vermögens die
Welt des deutschen Mittelalters und ihre Menschen lebenerfüllt uns
heute vors Auge stellen wollen. —
Es ist aber hohe Zeit, diese Betrachtungen abzubrechen, die
schon zu weit gediehen sind, und zu dem Werke zurückzukehren,
von dem sie ausgiengen. Den acht Theilen, aus denen es sich zu-
sammenfügt, gleichermaßen gerecht zu werden, geht weit über meine
Fähigkeit. Es muß mir genügen, wenn ich den Inhalt der einzelnen
Stücke vorführe, und zu dem einen oder andern, wie es die Sache
ergibt, Bemerkungen mitteile.
Ferdinand Detter erklärt S. 1—30 die Lausavisur der Egils-
saga. Gerade bei diesem, einem der schönsten Werke altnordischer
Prosa, bereiten die eingeschalteten Einzelstrophen besondere Schwie-
rigkeiten. Detter, auf diesem Gebiete erprobt, sucht sie nach Fin-
ur Jönssons Vorarbeiten mit eindringendem Scharfsinn zu bewälti-
gen, und das gelingt ihm öfters, soweit ich es zu beurteilen vermag.
Ueberrascht wird der Leser wiederholt durch die Kühnheit der Er-
klärungen vielmehr als durch die der Conjecturen. Es scheint zur
Stunde noch wenig Schranken für die combinatorische Phantasie
innerhalb dieser Gattung altnordischer Poesie zu geben. So ist es
möglich, für die Interpretation einer dunklen Stelle Mythen zu sta-
tuieren, die sonst noch gar nicht bezeugt sind. Die starken Ge-
dankensprünge, welche die überlieferten Kenningar bereits aufweisen,
die Abbreviaturen und Verdichtungen von Bildern, verlocken unwill-
kürlich zur Annahme ähnlicher Vorgänge dort, wo der Zusammen-
hang bloß erraten werden muß. Ich glaube, daß die Erklärung die-
ser überaus schwierigen Strophen nicht eher sicheren Boden unter
die Füße bekommt, als bis einmal sämmtliche Kenningar der altnor-
dischen Saga eines gewissen Zeitraumes in zwei Verzeichnisse ge-
bracht sind: eines nach den gebrauchten Ausdrücken geordnet, im-
mer mit Angabe ihrer Verbindungen, ein zweites nach den um-
schriebenen Begriffen gesichtet. Erst dann wird man wirklich sehen
können, was an Tropen überhaupt möglich ist und welche Gruppen
von Möglichkeiten bestehen. Ferner wird man dann erst die Auf-
29 *
428 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
gabe angreifen können, eine historische Entwicklung innerhalb der
Kenningar zu beobachten. Denn, so weit meine Kenntnis überhaupt
reicht, zweifle ich nicht, daß ältere und einfachere Umschreibungen
den jüngeren und complicierteren vorangegangen sind und von die-
sen vorausgesetzt werden. Ich meine sogar, daß vielleicht das zeit-
liche Verhältnis, das zwischen den einzelnen Sogur noch so vielfach
dunkel ist, durch eine Geschichte der Kenningar in den Strophen
möchte in etwas aufgehellt werden können. Aber ich bin zu wenig
über den Stand der gegenwärtigen Fachlitteratur unterrichtet (und
kann es in Graz auch nicht sein), um zu wissen, ob solche Arbeiten
nicht vielleicht schon im Gange sind. Jedesfalls sind Detters Er-
läuterungen förderlich und lehrreich.
M. H. Jellinek legt S.31—110 ein Kapitel aus der Geschichte
der deutschen Grammatik vor, das die Schicksale des auslautenden
-e im Neuhochdeutschen behandelt. Er hat damit, nach Burdachs
Aufsatz »Zur Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache< in
der Festgabe für Hildebrand, einen schweren Stand, denn dort ist
in weitgreifender Untersuchung die Genesis der Bemühungen von
Opitz um die Regelung des auslautenden -e dargestellt und ist ihr
internationaler Zusammenhang aufgezeigt. Jellinek beschränkt sein
Problem und sucht es von seinem linguistischen Interesse aus zu
vertiefen. Er nimmt zunächst den wirklichen Bestand in den Wie-
ner Drucken des 16. Jahrh. auf und vergleicht damit die Aeußerun-
gen der süddeutschen Grammatiker. Im zweiten Abschnitt bespricht
er die Haltung der norddeutschen Grammatiker, vornehmlich Schot-
telius und Gottsched, ihre Theorien und die der Poetiken, dann im
dritten Gegnerschaft und Zustimmung der Süddeutschen. Adelung
und seinem euphonischen e wird der vierte Abschnitt gewidmet, dem
eine Wortliste beigegeben ist und den ein Verzeichnis der bisher
wenig ausgenutzten und seltenen Grammatiken und Lehrschriften
beschließt. Die mühsame und, wie von dem Herausgeber des Me-
lissus nicht anders zu erwarten war, sorgfältige Arbeit bringt nicht
bloß eine Menge neuer Einzelheiten, sondern weist auch auf die Ver-
knüpfungen zwischen den verschiedenen Grammatiken, und lehrt uns
das Verhältnis zwischen Theorie und praktischer Regel, zwischen Mund-
art und Schriftsprache, in Bezug auf wichtige Punkte der neuhoch-
deutschen Formenlehre genauer kennen.
An vierter Stelle S. 173—188 trägt R. Meringer »Etymolo-
gien zum geflochtenen Haus< vor. Die Deutungen und Vergleichun-
gen germanischer Ausdrücke für das Haus, seinen Bau und seine
Theile zielen auf die Vorstellung ab, das älteste Haus der Germanen
sei aus Flechtwerk aufgerichtet gewesen. Den Schülern Müllenhoffs
Abhandlungen zur germanischen Philologie. 429
ist bekannt, daß in dessen Vorlesungen verschiedentlich eine solche
Ansicht ausgesprochen worden ist, und jetzt findet sich im vierten
Band der Deutschen Altertumskunde (1900), den wir Roediger ver-
danken, bei der Erklärung des 16. Kapitels der Taciteischen Ger-
mania S. 280—291 Manches von den Ergebnissen der Untersuchung
Meringers bereits niedergelegt. Ueber die Etymologien selbst, die
der Verfasser hübsch mit den Sachen zu verbinden weiß, steht mir
kein Urteil zu; erwähnt muß werden, daß v. Grienberger in seinen
neuesten »Untersuchungen zur gotischen Wortkunde« (Wiener SB.
1900) S. 45 unter baurgswaddjus der Deutung Meringers nicht zu-
stimmt, während er S. 162 unter mibgardawaddjus zwar Meringers
Auffassung des Wortes an seiner Stelle teilt, aber die mögliche Be-
ziehung auf Räume des älteren gotischen Hauses läugnet. — Für
Meringers Ansicht vom geflochtenen Haus der alten Germanen scheint
die Bedeutung zu sprechen, welche dem Flechtwerk in der germa-
nischen Criminaljustiz zukommt, wo gewisse schwere Verbrecher in
einen Sumpf versenkt und durch eine übergelegte Hürde die Lei-
chen in der Tiefe festgehalten werden. Darüber spricht bekanntlich
Tacitus im 12. Kapitel der Germania, vgl. Miillenhoff, DAK. 4, 245 f.
Grimm, RA? 2, 274—277. Die Vorstellung, daß auf diese Weise be-
sonders üble Verbrechen dem Sonnenlicht entzogen werden, erbte
sich bis auf Berthold von Regensburg fort, vgl. meine Studien z.
Gesch. d. altd. Predigt 2, 115 ff., wo ich die »gelehrte Ueberlieferung«,
aus der Berthold schöpft, bestimmt auf das römische Recht hätte
einengen sollen. — Unter den von Meringer angeführten Worten
vermisse ich mhd. glet = mlat. cleda, wahrscheinlich ein slavisches
Lehnwort, das eine schlechte Hütte aus Flechtwerk bezeichnet (im
Wigalois des Wirnt von Grafenberg gibt es davon eine anschauliche
Schilderung) und wegen seiner Bequemlichkeit als Reimwort sich zu-
weilen auch in spätere Dichtungen verirrt. — Meringer nennt in
seiner verdienstlichen- Studie keine Litteratur, sonst wäre wol die
Arbeit von E. Rautenberg, Sprachgeschichtliche Nachweise zur Kunde
des germanischen Altertums, Programm des Johanneums in Hamburg,
1880, zu erwähnen gewesen.
Es folgt der umfangreichste der Aufsätze, von R. Much S. 189
—278: »Der germanische Himmelsgott<. Diese Ueberschrift bezeich-
net aber nicht den Inhalt der schwer gelehrten Abhandlung genauer,
sondern nur, möchte ich sagen, das Leitmotiv für sie. Much knüpft
seine Darlegungen an Müllenhoffs Entdeckung, >»daß Wödan erst in-
folge einer Umwälzung der Herrscher im germanischen Götterstaate
geworden ist an Stelle eines älteren in urgermanischer und vorger-
manischer Zeit verehrten Himmelsgottes«. Von diesem Punkte aus
430 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
bespricht er germ. *Trwaz, dann die verschiedenen eruierbaren
“ Beinamen des alten Himmelsgottes, der nachmals sich auf die Funk-
tionen des Kriegsgottes einschränkt, und durchmustert mit bestän-
diger Rücksicht auf die internationalen Kulturverhältnisse des mitt-
leren und westlichen Europa vor der römischen Occupation alle Be-
züge der germanischen Mythologie, in denen der alte Gott und sein
Nachfolger Wödan vorkommen. Es gibt kaum eine Hauptfrage der
germanischen Mythengeschichte, die hier nicht wenigstens gestreift,
für die jedoch mehrmals neue Lösungen vorgeschlagen werden. Be-
sonders die Betrachtung des Krieges zwischen Asen und Vanen, der
als eine Parallele zum Titanenkampfe aufgefaßt wird, empfiehlt sich
der Aufmerksamkeit. Allerdings vermag ich auch bei dieser schönen
Untersuchung, die von dem Scharfsinn Muchs und der ihm eigenen
Beherrschung des weit ausgebreiteten Materiales neues Zeugnis gibt,
das mißliche Gefühl nicht ganz zu unterdrücken, wie unfest noch
heute die Forschung in germanischer Mythologie auf ihrem Boden
steht, wenn es innerhalb ganz kurzer Zwischenräume immer wieder
möglich ist, von einem gewählten Fixpunkte aus, den ganzen Com-
plex bisher aufgestellter Deutungen und Hypothesen aus den Angeln
zu heben und durch andere, wenn auch glänzende, so doch jedesfalls
recht lockere Combinationen zu ersetzen. Bevor nicht noch einige,
zum mindesten, Thatsachen aus der Geschichte der germanischen
Mythen, wie die von Müllenhoff aufgeklärte Verschiebung zwischen
Tiu und Wödan, an den Tag gebracht werden und die Beweglichkeit
und Vertauschbarkeit der Motive und Personen innerhalb der ger-
manischen Mythenwelt stärker einengen, haben doch die redlichsten
Bemühungen keinen höheren Wert denn die wechselnden Figuren
des Kaleidoskops als Illustration optischer Gesetze. Nun stelle ich
gar nicht in Abrede, daß es nicht wichtig sei, bei den immer er-
neuten Versuchen zusammenhangender Erklärung germanischer My-
then wenigstens zu allgemeinen Grundsätzen der Observation zu ge-
langen, oder andere und verfehlte bestimmt auszuschließen, und in
diesem Betrachte sind die Sätze gewiß wertvoll, die Much S. 277
am Schlusse seiner Abhandlung aufstellt: >»Eine heidnische Religion
ist eben kein naturwissenschaftliches System. Verschiedene Orte
und Zeiten liefern für dieselben Dinge immer neue mythische Bilder,
die dann neben einander zu stehen kommen. Und an Stätten ihres
Kultes, im Kreise ihrer Verehrer hebt sich das Ansehen , erweitern
sich die Befugnisse einer einzelnen Gottheit leicht so sehr, daß sie
in den Bereich anderer übergreift und mehr oder weniger allein dem
religiösen Bedürfnis ihrer Diener genügt. Der eine oder andere
Gott ließe sich deshalb leicht aus unserem Heidenglauben aus-
Abhandlungen zur germanischen Philologie. 431
schalten, ohne daß eine Lücke bemerkbar wäre, und ein wichtiger
Naturvorgang eines mythologischen Vertreters entbehren würde. —«
Diese trefflichen Sprüche klingen mir nicht ganz unbekannt, ähnlich
hatte sich schon Müllenhoff verschiedene male (vielleicht am bestimm-
testen in der Vorlesung über die Nibelungen) vernehmen lassen ;
aber gerade in dieser unwillkürlichen Uebereinstimmung zwischen
dem Altmeister und dem jüngeren Forscher liegt für diesen meines
Erachtens eine ehrenvolle Bezeugung der Richtigkeit seines Arbeits-
ganges.
Von S. 279—352 reicht J. Seemüllers »Studie zu den Ur-
sprüngen der altdeutschen Historiographie<. Verstehe ich den Autor
recht, so wünscht er durch seine Arbeit verschiedene Ziele zu er-
reichen: er möchte erstens, so weit es möglich ist, aus den Resten
althochdeutscher Ueberlieferung das Erwachen des historischen Be-
wußtseins und Interesses bestimmen ; zweitens aus einer erneuten
Ueberprüfung der Quellenverhältnisse den Grad des Verständnisses
für historische Dinge bei den ältesten Dichtern bemessen ; drittens
die vorhandenen Gattungen ahd. Lieder historischen Inhaltes mit
denen der entsprechenden lateinischen Denkmäler vergleichen und in
Beziehung bringen. Die erste Aufgabe war die schwierigste und ich
gestehe, daß ich Seemüllers darauf bezüglichen Erörterungen nicht
immer habe folgen können. In Bezug auf die zweite hat er durch
sorgsame Behandlung der einzelnen Stücke, besonders der Biogra-
phien des h. Gallus, des Ludwigsliedes und des Gedichtes de Hein-
rico, mannigfachen Gewinn erbracht. Die dritte Aufgabe hat ihre
besonderen Schwierigkeiten, welche mit dem Inhalt und der Form
der lateinischen historischen Lieder zusammenhängen, für die beide
wir hoffen, daß den bisher schon so ergebnißreichen Untersuchungen
Wilhelm Meyers weitere folgen werden. — Bei dem Dichter des Ie-
liand unterschätzt Seemiiller, wie ich glaube, die Stärke des histo-
rischen Bewußtseins. Ein gewisses Maß für den Abstand von Zeit
und Ort setzt ja bereits die Umstilisierung voraus, die sich im He-
liand von den Quellen bis zur Inszenierung ins Germanische voll-
zieht, und die ohne Ueberlegung nicht bewerkstelligt sein kann. An
verschiedenen Stellen zeigt der sächsische Dichter ein sachliches
Interesse an der Beschaffenheit des Locales sowie an den äußeren
Umständen der evangelischen Handlung, und befriedigt dieses Inter-
esse, indem er präcise Angaben aus Quellen entlehnt, die er sonst
nicht, sondern nur bei dieser Gelegenheit benutzt. Und ferner: der
Heliand steht ja doch nicht in der Luft, er war doch nicht das erste
altsächsische Dichtwerk, er hat seine ganz sicheren historischen
Voraussetzungen in der angelsächsischen Poesie, der er in so vielen
482 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
technischen Dingen gefolgt ist; es wird daher die Frage nach seiner
Auffassung der Geschichte um die eine Instanz wenigstens, auf alt-
englischen Boden hin zurückgeschoben werden. Doch muß ich hier
diese Erwägungen verlassen, wo ich ihnen ausreichenden Raum nicht
verstatten darf, und sie auf später versparen, was ja doch in mei-
nen längst geplanten und zugerüsteten Studien zur Geschichte der
ags. und as. Bibeldichtung noch wird geschehen können. Nur eines
merke ich hier an: die Versus de poeta möchte ich nicht als ein
Zeugnis selbständiger Beurteilung des Heliand anführen, denn das
ist eine ganz stümperhafte Schülerarbeit, die ihre Vorlage mit Hilfe
kürzlich aufgenommener Lektüre der Klassiker in schlechte Verse
umsetzt. — Was Otfrid anlangt, wünschte ich, daß Seemüller es der
Mühe wert erachtet hätte, sich mit den von mir vorgetragenen An-
schauungen über die Entstehung des Evangelienbuches auseinander-
zusetzen, und zwar deshalb, weil, je nachdem man diesen zustimmt
oder sie ablehnt, sich auch notwendiger Weise die Einschätzung von
Otfrids Verhältnis zur Historie ändern muß. An dem Endergebnis
meiner »Otfridstudien<, wie ich es Zeitschr. f. d. Altert. 40, 121 f.
formuliert habe, halte ich ebenso fest wie an der Richtigkeit des
von mir in den voraufgehenden Abschnitten eingeschlagenen Weges,
und lasse mich davon auch durch die seither erfolgten, stark per-
sönlich gefärbten und ohne wirkliche Sachkenntnis unternommenen An-
griffe nicht abbringen; der Tag für die Abrechnung wird ja wol
nicht ausbleiben. — Darf ich in Seemüllers Abhandlung den Vor-
läufer einer Geschichte der Historiographie des Mittelalters in deut-
scher Sprache begrüßen, vielleicht doch bis zum 14. Jahrh. hinauf,
so wäre das eine ganz besondere Freude: denn Jemand, den man
besser gerüstet und mit größerem Vertrauen an der Beschäftigung
mit dieser großen und schönen Aufgabe sähe, wäre unter den Fach-
genossen schwerlich namhaft zu machen.
Die Abhandlung von S. Singer, »Zu Wolframs Parzivalc,
S. 353—436, zerfällt in drei Abschnitte. Im ersten sucht der Ver-
fasser zu zeigen, indem er von dem Eingange des Epos seinen Stand-
punkt nimmt, daß Wolfram den darin ausgesprochenen ersten Plan
bei der Ausführung des Werkes nicht eingehalten habe. Dieser
ursprüngliche Plan wäre eine Erzählung von weisen Lehren gewesen,
die der Held wie im Ruodlieb erhalten hätte, denen er dann teil-
weise gefolgt sei, die er aber auch teilweise übertreten habe. Diese
Rahmenerzählung habe schon in der gemeinsamen Vorlage von Chre-
stien und Wolfram gestanden, von beiden jedoch selbständig zer-
schlagen worden. Singer sucht seine Combination dadurch wahr-
scheinlicher zu machen, daß er auf andere Punkte hinweist, in denen
Abhandlungen zur germanischen Philologie. 433
Wolfram von einem ersten Entwurfe seines Werkes nachmals abge-
wichen sei (Feirefiz wäre anfangs als Ausführung des elsterfarbigen
Mannes geplant gewesen) und erörtert im Zusammenhange damit
die viel discutierten neutralen Engel, über die er aus seiner unge-
mein weitgreifenden Belesenheit viel Nützliches und Belehrendes bei-
bringt. In dem Hauptpunkte, daß nämlich der Dichter und nicht
Trevrizent später die irrige zuerst geäußerte Ansicht widerruft, muß
ich Singer S. 371 durchaus gegen Heinzel beistimmen. Die Frage
von den neutralen Engeln überhaupt ist durch Singers Material we-
sentlich gefördert, aber noch nicht abgeschlossen worden: vielleicht
dürfen wir von neuen Funden in ungedruckter theologischer Litte-
ratur etwas erwarten. Was den Eingang des Parzival anlangt,
scheint mir Singers Auffassung jetzt durch Noltes besonnene und
einschneidende Interpretation überholt, obschon auch dieser gegen-
über noch Reste bleiben. Keinesfalls vermöchte ich zuzugeben, daß
Wolframs Lehre vom unsteten eine Polemik gegen Jacob. 1, 18
enthalte (S. 360); daß ihm die von den Predigern häufig erörterte
Briefstelle dabei in den Sinn gekommen sei, kann ich nicht völlig
ausschließen, doch widerspricht Singers Beurteilung Allem, was ich
über Wolfram zu wissen glaube. — Zu S. 362 merke ich an, daß
der Vergleich (hier der gestürzten Engel) mit dem Schneefall nicht
gar so selten ist; das sehr weit beliebte Speculum Exemplorum
entnimmt Dist. 9, cap. 80 dem Liber de ortu Carthusiensium die Vi-
sion eines Eremiten, der darüber erzählt: ductus ad infernum vidi
incidere animas sicut nives densissimas, aérem obnubilantes; ad pur-
gatorium vero sicut nivem rarissimam; sed ad paradisum tantum tres
introire vidt animas, illius scilicet episcopi, et illius prioris Carthu-
siensis, ac tllius vidue Romane, singulas nominans personas. — Im
zweiten Abschnitt legt Singer Proben vor aus Collectaneen von einem
schier uniibersehbaren Umfang. Sie beziehen sich auf verschiedene
bei Wolfram begegnende religiöse Vorstellungen, hauptsächlich über
Schöpfung und Sündenfall und schließen sich zumeist an biblische
Namen an. Es ist mir nicht ganz klar geworden, welchen Zweck Singer
mit dieser mühsamen Stellenlese zu erreichen beabsichtigt. Paralle-
len oder Belege zu Anschauungen bestimmten Inhaltes, die ein dich-
terisches Werk enthält, kann man sammeln erstens, um in ihnen
die Quelle für diese ausfindig zu machen oder wenigstens ihr erstes
Vorkommen festzulegen; so habe ich es bei meinen »Otfridstudien<
gehalten und den Kreis der Vergleichung mit voller Absicht weiter
gezogen, als es der unmittelbare Bezug zwischen Otfrid und seinen
Quellen erforderte (das übrigens auch ausdrücklich gesagt). Z wei-
tens kann man solche Stellen aus der Zeit des Dichters selbst bei-
484 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
bringen, um zu zeigen, in welchem Grade er an den Vorstellungen
seiner Zeitgenossen beteiligt ist. Drittens endlich mag man auf
diese Weise die Nachwirkung eines Dichters aufzeigen. Keine von
diesen Arten des Sammelns kann für Singer in Betracht kommen,
denn die große Mehrheit der Vorstellungen, um die es sich in sei-
nem zweiten Abschnitt handelt, sind Gemeinplätze der biblischen
Ueberlieferung, und auf die Erörterung von Wolframs theologischen
Kenntnissen wird Verzicht geleistet. Und nicht einmal Wolframs
Religion überhaupt vermögen diese Stellen zu illustrieren, denn Sin-
ger behandelt davon nur einen ganz kleinen Ausschnitt. Ich kann
mir höchstens denken, daß Singer bei dieser Gelegenheit Proben aus
umfassenden Sammlungen über «die Behandlung biblischer Stoffe in
der altdeutschen Litteratur überhaupt (Predigten mit eingeschlossen)
geben wollte, und insofern diesen Proben eine Geschichte der Ent-
wicklung dieser Stoffe innerhalb der Litteratur des deutschen Mittel-
alters folgen sollte, müssen sie mit aufrichtigem Danke begrüßt wer-
den. Der gebührt auch dem dritten Abschnitt, in welchem Singer
eine Reihe von Parzivalstellen bespricht, interessante Vergleichungen
anbringt und geistreiche Einfälle gelegentlich zu Excursen aus-
weitet. Möchte es dem gelehrten und feinsinnigen Verfasser ge-
fallen, der Fachwelt einmal statt der zierlichen Pröbchen und Kunst-
stücke eine derbe, große Hauptarbeit vorzulegen! —
Bis hierher habe ich mir die Besprechung der Studie von
C. Kraus: »Das sogenannte II. Büchlein und Hartmanns Werke«,
S. 111—172 gespart, weil diese Arbeit mit dem letzten Stücke der
Festschrift, der Abhandlung von K. Zwierzina: »Beobachtungen
zum Reimgebrauch Hartmanns und Wolframs«, S. 437—511 zusam-
men gehört. Es geschieht Niemandem Unrecht, wenn ich diese bei-
den Nummern als die bedeutendsten des schönen Sammelbandes be-
zeichne: sie greifen alte Probleme mit neuen Mitteln an, stellen
neue Probleme auf und bringen mit zielbewußter Energie eine neue
Methode auf die Bahn deutscher Philologie, von der wichtige Er-
gebnisse zu erwarten sind und mit der man unter allen Umständen
in Zukunft wird rechnen müssen.
Daß diese Forschungen auf Lachmann zurückgreifen, scheint mir
sowol glückverheißend für sie als ein gutes Zeichen für den Stand
der heutigen deutschen Philologie überhaupt. Der Kampf wider die
Lachmannsche Schule ist zu Ende, sie selbst hat schon lang als ge-
schlossener Kreis zu bestehen aufgehört, und der Eifer, der, bis
zum Fanatismus gesteigert, sich gegen Lachmann kehrte, häufig
mehr gegen eine selbstgemachte Scheibenfratze als gegen die große
und reine Persönlichkeit, dieser Eifer hat sich bis auf vereinzelte
- Abhandlungen zur germanischen Philologie. 435
Spuren allgemach abgekühlt. Es ist die Zeit für eine objektive Wür-
digung der Verdienste Lachmanns nunmehr gekommen, und ich
glaube, es wird unter den lebenden Germanisten wenige geben, die
heute geneigt wären, ihm den Kranz zu versagen, der dem größten
Philologen des 19. Jahrhunderts bedingungslos zukommt. Seine
Lehren sind uns keine Dogmen mehr, weder im guten noch im bö-
sen Sinne, wir halten von seinen Anschauungen aufrecht, was uns
zutreffend scheint, und lehnen ab, was uns als überwunden gilt;
lernen können wir von ihm allzeit und mit Staunen die Schärfe und
Energie des Geistes bewundern, die aus dürftigstem Material, aus
Texten, die zum guten Teil nur in Abschriften und schlechten
Drucken bestanden, die Reihe von Ausgaben altdeutscher Klassiker
geschaffen hat, deren wir uns jetzt als eines Grundstocks unserer
Wissenschaft noch immer bedienen. Und gerade ein Hauptergebnis
von Lachmanns Forscherarbeit kommt in der Gegenwart wieder zu
Ehren: der vielumstrittene Begriff der mhd. Schriftsprache, den
Lachmann aus den Reimen der Dichtungen klassischer Zeit geschöpft
hatte, steht heute fester denn je und gehört zu den wenigen großen
Thatsachen, welche die Geschichte der altdeutschen Litteratur in das
neue Jahrhundert hinübernimmt. Lachmann legte seinen Beobach-
tungen ein umfassendes Reimwörterbuch zu grunde, dessen Vorteile
schon Jakob Grimm vom zweiten Bande der Grammatik ab dankbar
und neidlos rühmte. Die Observationen verdichteten sich dann zu
Regeln, die Lachmann in Anmerkungen zusammenfaßte, deren knappe
Form viel Anstoß erregte und die man, häufig weil man sie nicht
verstand, auch dem Inhalte nach für falsch hielt. Der Erste nun,
der Lachmanns Forschungsweise wieder aufnahm, war Steinmeyer, der
frühzeitig ausgebreitete Beobachtungen über die mhd. Dichtersprache
anstellte, ferner umfassende Reimwörterbücher hauptsächlich zu litte-
rarhistorischen Zwecken anlegte und Proben davon in Recensionen
sowie in seiner Erlanger Rectoratsrede veröffentlichte, die es auf das
lebhafteste bedauern lassen, daß er mit diesem Zweige seiner Stu-
dien sich seit längerer Zeit nicht mehr befaßt. Zwierzina hat dann,
als er von seinem eindringlichen Studium der Ueberlieferung des
Gregorius aus sich mit Hartmanns Werken beschäftigte, nicht nur den
bleibenden Wert von Lachmanns Darstellung des Sprachgebrauches
kennen, sondern auch das Verfahren Lachmanns schätzen gelernt.
Seine Recension von Henricis Iwein, Anz. f. d. Altert. 22, 180—196
(1896) und sein Aufsatz »Allerlei Iweinkritik<, Zeitschr. f. d. Altert.
40, 225— 242, stützen sich bereits auf ein vollständiges Reimworter-
buch über Hartmann von Aue. In einem wichtigen Punkte gieng er
jedoch über sein Vorbild Lachmann hinaus. Dessen Lexikon war,
486 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 6,
so weit wir wissen, nur aus den Reimworten selbst zusammengestellt.
Zwierzina aber hatte sich überzeugt, daß nicht bloß die Beurteilung
der Formen an sich es erforderte, die Stellung des Reimwortes zu
seinem Verse genauer zu betrachten, sondern daß auch alles Studium
der Reimtechnik des Dichters und ihrer Entwicklung, z.B. die Er-
örterung der Frage, ob ein Wort gemieden oder bevorzugt wurde,
nur von der Berücksichtigung des vollständigen Verses, ja des gan-
zen Reimpaares, ausgehen könne. Darum legte er von jetzt ab
seine Reimwörterbücher dergestalt an, das er sie aus Zetteln zusam-
mensetzte, deren jeder den Wortlaut eines Reimpaares enthielt, d.h.
das Gedicht wurde eigentlich ganz abgeschrieben und sein Inhalt
nach den Reimworten aufgeteilt und geordnet. Mit solchen Hilfs-
mitteln war die Rolle des Reimes in der poetischen Technik erst wirklich
abzuschätzen. Zwierzina versuchte sich zunächst an dem Problem,
das in dem Verhältnisse der Sprache Veldekes zur mhd. Reimkunst
gegeben war, und hat darüber seine Habilitationsvorlesung an der
Universität Graz gehalten. Im Herbst 1897 trug er dann seine
Theorie der Reimwörterbücher auf der Philologenversammlung in
Dresden vor und beleuchtete sie durch einige Beispiele, vornehmlich
aus der Praxis Hartmanns. Inzwischen war aber auch Kraus in
Wien auf ähnlichem Wege zu ähnlichen Ergebnissen gelangt und
hatte auf derselben Philologenversammlung über Veldekes Sprache
gehandelt, seine Untersuchungen sind bekanntlich 1899 als selbst-
ständiges Buch erschienen.
Die Abhandlungen der Festschrift für Heinzel gewähren uns das
erste mal genaueren Einblick in das Verfahren, durch welches die
beiden Gelehrten dem Reimvorrate mhd. Dichter neue Ergebnisse
abzuzwingen gedenken. Der Anlage und dem Aufbau nach sind
beide Arbeiten ziemlich verschieden, schon das Problem hat jeder
Autor auf seine Weise gestellt. Kraus erörtert die Frage, ob das
von Haupt aus der einzigen Ambraser Handschrift herausgegebene
namenlose Gedicht, das er »zweites Büchlein« nannte und Hartmann
von Aue zuwies, wirklich auch von diesem verfaßt sei. Das Problem
hatte, da es den Besitz eines mhd. Klassikers betraf, schon eine an-
sehnliche Litteratur hervorgerufen und war von Zeit zu Zeit immer
wieder mit neuen Mitteln angegriffen worden. Eine besondere
Schwierigkeit lag darin, daß es an äußern Zeugnissen gänzlich ge-
bricht und daß die volle Last des Beweises denen zufällt, die das
Gedicht für Hartmanns Eigentum erklären. Zuletzt hatte ich in
meinem Buche über Hartmann von Aue S. 343—373 ausführlich
darüber gehandelt und mich für die »Echtheit« entschieden. Kraus
verneint sie. Wenn ich nun im Folgenden auf seine Gründe eingehe
Abhandlungen zur germanischen Philologie. 487
und seine Beweisführung bespreche, so ist es wol nicht nötig, daß
ich mich gegen den möglichen Einwurf besonders verwahre, ich sei
gegen die neue Methode voreingenommen, weil ihr Ergebnis dem
meinen widerspricht. Ob das zweite Büchlein Hartmann gehöre oder
nicht, darüber habe ich lange geschwankt — wäre das erforderlich,
so könnte mein Freund und Amtsgenosse Seuffert es mir bezeugen —
und mich zuletzt durch den vorteilhaften Gesammteindruck des Ge-
dichtes sowie durch seinen Bezug auf Hartmanns Lyrik bestimmen
lassen, denn ich bin verwegen genug, es auch heute noch für ein gutes
Gedicht zu halten. Gelingt es jetzt, zu erweisen, das zweite Büch-
lein sei Hartmann abzusprechen, nun, dann habe ich eben geirrt und
bin sehr froh darüber, daß die Wahrheit zum Vorschein gekommen
ist. Ich mache meine Arbeiten so gut ich kann, und stelle keine
Ansicht leichtsinnig auf, um sie alsbald wieder leichtsinnig bei seite
zu schieben; so weit habe ich mich aber doch zur Freiheit wissen-
schaftlichen Denkens durchgerungen, daß ich auf keine Meinung
schwöre und mein Herz weder an ein Problem hänge noch an dessen
bestimmte Lösung. Von nichts bin ich mehr überzeugt als von dem
Wandel der Dinge in der Wissenschaft und davon, daß wir unseren
Nachfahren Resultate überliefern, damit ein großer Theil von neuen
Gesichtspunkten aus, durch erweiterte Kenntnis wiederum aufgenom-
men, abgeändert und die Aufgaben selbst in andere Bahnen gewiesen
werden. Bleibt von den Ergebnissen meiner Studien etwas übrig
und wird von dem nachwachsenden Geschlecht deutscher Philologen
als Werkstück für den stolzen Bau unserer Disciplin brauchbar ge-
funden, so ist mir der Gedanke sehr erfreulich; wenn nicht, dann
habe ich eben ehrlich gewollt, aber meine Kräfte haben nicht aus-
gereicht, und ich meine selbst in solchem Fall nicht ganz vergebens
gearbeitet zn haben. Darum mag für die nunmehr darzulegende
Discussion die Frage nach der »Echtheit< des zweiten Biichleins als
abgetan gelten, ich gebe die Autorschaft Hartmanns preis, mich
interessiert hier nur der Weg, auf welchem Kraus zu seinem Resul-
tat gelangt ist.
Dieses stelle ich mit den eigenen Worten des Verfassers S. 171 f.
voran: »Die vorstehende Untersuchung hat in ihrem ersten Theil
eine Reihe von Erscheinungen ergeben, die sich in Hartmanns Wer-
ken nicht finden, oder gegen den Sprachgebrauch des Dichters un-
mittelbar verstoßen (die Conjunctivform zerunne, die unflectierte jo-
Form here, ferner daz ein für daz eine, der Reimtypus ze klagenne :
ge sagenne, swern und doln in übertragener Bedeutung, sneller list).
Der zweite Theil bringt den Nachweis, daß Erscheinungen, die bei
Hartmann nur in genau bestimmten Perioden seiner dichterischen
438 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Entwicklung auftreten, im zweiten Büchlein ganz einträchtig neben
einander stehen. Wer das Werk für Hartmanns Eigentum hält,
müßte es wegen der Parallelstellen und wegen der Form miige neben
mege unmittelbar vor oder nach dem Iwein entstanden sein lassen,
wegen ich entstän und dd von neben dd vone vor dem Iwein, wegen der
Adverbialendung -liche vor dem armen Heinrich, wegen vervät und
wegen des adjectivischen gar vor dem Gregorius, und wegen fruot
vor dem Erec«. Wer die Arbeiten von Kraus kennt, dem braucht
nicht gesagt zu werden, daß auch diese vortreflich disponiert ist,
mit Schärfe ihr Ziel ins Auge faßt, mit Strenge darauf losgeht und
mit vollem Recht auf kein Mittel verzichtet, das überzeugend wirken
kann, auch wenn es den Leser von außen packt, wie die Reihen von
Versziffern statt zusammenfassender Zahlen und die erschöpfende
Vorführung von Belegen.
Im zweiten Büchlein reimt v. 17 der Conj. prät. zerunne : sunne.
Kraus meint, dieser Reim sei »ganz gegen die Sprache Hartmanns,
der ausschließlich die umgelautete Form zerünne kannte«. Damit ist
aber dem Ergebnis der folgenden Untersuchung eine größere Trag-
weite verliehen, als ihm zukommt, denn tatsächlich begegnet, so viel
ich weiß, ein Conj. prät. von zerinnen und ebenso von rinnen und
seinen andern Compositis überhaupt weder in noch außer dem Reime
bei Hartmann. Es ist also nur möglich, die von dem Dichter ge-
brauchte Form durch Analogie aus den Reimbindungen solcher Con).
prät. zu erschließen, die wu oder ö vor doppeltem » haben können.
Kraus stellt S. 115f. diese Fälle zusammen; es zeigt sich, daß in
Hartmanns sämmtlichen mehr als 25000 Versen drei Fälle begeg-
nen, in denen zweifellose Formen des Conj. prät. auf ö vor n+n
gereimt sind. Vor 2+9g reimen 6 Conj. prät. mit u, vor n+d
nahezu 50 (die neutralen Fälle ausgeschlossen) ohne Umlaut, vor g
steht im Conj. prät. in zwei sicheren Fällen &, darnach in vier neu-
tralen. Darf man bei solcher Sachlage den Abstand zwischen den
verschiedenen Verbindungen von Consonanten so hoch anschlagen,
daß ein zerunne gegen Hartmann beweist? Dazu kommt, daß auch
die S. 116f. verzeichneten Fälle von « und & vor verschiedenen
Consonantengruppen keine volle Sicherheit gewähren, (die Thätigkeit
der Schreiber außer Betracht gelassen), ja es ist, genau genommen,
dort wo nur neutrale Fälle begegnen, gar nicht einmal sicher, ob
Hartmann nicht Schwanken zuläßt. Und, abgesehen von einer höchst
wahrscheinlichen Interpolation im Gregor, gibt es noch eine Stelle in
einem Liede unter Hartmanns Namen (MSF. 212, 37 f.), wo der Con).
prät. fünde auf künde und tinde reimt; gerade dieses Lied stimmt
mit dem Inhalt des 2. Büchleius überein, es steht mit diesem in
Abhandlungen zur germanischen Philologie. 439
enger Verbindung und ich habe es sogar (vgl. mein Buch über
H. v. A. S. 359. 369f.) als Veranlassung des 2. Büchleins aufge-
faßt. Kraus erklärt nun dieses Reimes halber auch das Lied für
unecht und stützt sich darauf, daß aus andern Gründen schon ver-
schiedene Kritiker Hartmann dieses Lied abgesprochen hätten. Wie
viele Lieder Hartmanns — mit Ausnahme eines, wo sich der Dichter
nennt — sind denn überhaupt nicht schon von einem Kritiker als
unecht bezeichnet worden? Und daß Kraus des unerfreulichen fünde
halber das Lied Hartmann abspricht, das ähnelt doch fast dem kri-
tischen Betriebe der klassischen Philologie vor einem Menschenalter
und darf als ein starkes Stück gelten.
Es muß hier bei dem einen Beispiel sein Bewenden haben. Im
Ganzen scheint es mir mit allen übrigen von Kraus vorgebrachten
Fällen abnormer, von Hartmanns Weise abweichender Reime im 2.
Büchlein sich nicht anders zu verhalten. v. 822 steht die jo-Form
here im Reim, die sich bei Hartmann nicht findet; aber es findet
sich auch einsilbiges héy im Reim bei Hartmann nicht und flectierte
Formen auch nicht (S. 132), und somit läuft die Sache darauf hin-
aus, ob man in einem Gedicht von 800 Versen ein &xag Asydusvov
annehmen dürfe oder nicht. — V. 409 des 2. Büchleins steht zu le-
sen: ichn mtieze mir nemen dag ein under übelen dingen ewein und
Kraus weist darauf hin, daß Iw. 4881 das eine geschrieben wird
(der eine Er. 5446. 5506 ist damit nicht zu vergleichen); es steht
also einmal ein gegen einmal eine, wo bleibt da das Urteil? Denn
daß es viele Reime gibt, in denen daz ein hätte stehen können, so-
fern Hartmann gewollt hätte, das hilft uns um gar nichts weiter:
Hartmann hat ja auch daz eine nur einmal gesetzt, obschon es da-
für genug Möglichkeiten im Reim gegeben hätte. Im 2. Büchlein
hat das ein der Stelle entschieden formelhaften Charakter. — Am
schlimmsten steht es mit dem Reimpaar 519f. des 2. Büchleins, wo
Kraus, um eine Parallele aus Gregor 865 f. wegzuschaffen, dort liest:
an der richeit und an der tugent, an der schoene und an der jugent, ein
Verspaar, das in dieser seiner hölzernen Beschaffenheit auf jeden
Fall bei Hartmann eine Ausnahme bildet. — Die Fälle von swérn,
doln und {ist kann ich an sich nicht gelten lassen, denn wir müßten
zuerst genau wissen, wie es mit dem Uebergange von sinnlicher zu
abstracter Bedeutung überhaupt bei Hartmann sich verhält; erst
dann wäre zu ermessen, ob diesen Beispielen Gewicht zukommt oder
nicht.
Nur die letzterwähnten Punkte gehören zum »Sprachgebrauch«,
alle vorangehenden zum »Formengebrauch im Reim<, und das ist doch
etwas wesentlich anderes und engeres. Die Anwendung des Reimes
440 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
ist für den höfischen Dichter ein Zwang; seine poetische Sprache,
die sonst sich aus dem zusammensetzt, was der Stoff fordert, und
dem notwendigen Ausdruck seiner Persönlichkeit und seines Kön-
nens, hat noch einen dritten Anspruch zu befriedigen, den des Rei-
mes. Und das war kein geringer, denn das Reimen ist den mhd.
Dichtern gar nicht leicht gefallen. Man kann dies aus der Rasch-
heit erschließen, mit der bestimmte Reimbänder in die Mode kom-
men, aus der Durchsichtigkeit des Materiales, das (allerdings bei
relativ geringem Umfang der in Betracht gelangenden Werke) die Reim-
vorbilder bald erkennen läßt. Der Reimzwang wirkt also haupt-
sächlich dahin, daß der Dichter an verschiedenen Stellen Reime ge-
braucht, welche ihın von der vorhandenen Ueberlieferung und der
angestrebten Schriftsprache nahe gelegt werden, die er aber nicht
verwendet hätte, wofern er vollkommen frei und im Stande gewesen
wäre, den Stoff nach seinem Belieben und Gutdünken zu gestalten.
Es verhält sich ganz in derselben Weise bei der Allitteration, wo
die formelhaften Bindungen auch dann ruhig fortgebraucht werden,
wenn sie ihres ursprünglichen Inhaltes schon völlig entleert sind:
die Entwicklung vollzieht sich bei der altenglischen und altnordischen
Poesie in zwei ganz getrennten Richtungen. Der Reim ist also die-
jenige Stelle des mhd. Verses, wo der persönliche Charakter der
Sprache des Dichters am wenigsten zum Vorschein kommt, zumal nur
in den allerseltensten Fällen altdeutsche Poeten den Reim mit Frei-
heit als künstlerischen Schmuck verwerten; zumeist gilt er ihnen als
Schwierigkeit, die überwunden werden muß. Wollen wir den »Sprach-
gebrauch« eines mhd. Dichters als Ausdruck seiner Individualität
fassen und die gewonnenen Sonderzüge zu litterarhistorischen Folge-
rungen ausnutzen, dann dürfen wir gewiß an dem Reim nicht vorbei-
gehen, ebenso gewiß aber auch nicht den Wortgebrauch im Reim
ausschließlich oder auch nur ganz vorzugsweise zu Grunde legen.
Ich bin somit der Ansicht, daß die von Kraus vorgetragenen
Beobachtungen, so interessant sie sein mögen, gemäß der Beschaffen-
heit des Materials, an dem sie angestellt sind, nicht zu Schlüssen
von so zwingender Gewalt berechtigen, als die Abhandlung annimmt.
Observationen über den »Sprachgebrauch« im weiteren Sinne möchte
ich eine solche Beweiskraft zutrauen. Sie grenzen dann freilich
schon sehr nahe an die Analyse des Stiles und der poetischen Tech-
nik, vielleicht werden sie überhaupt grundsätzlich von diesen nicht
getrennt werden dürfen. Ich fürchte, Kraus wird nicht geneigt sein,
sie für exact fixierbar zu halten, denn er sagt S. 172: »Auch Unter-
schiede in der Begabung, im Temperament, in den Darstellungs-
mitteln und in der Metrik sind vorhanden: aber sie fühlen sich
Abhandlungen zur germanischen Philologie. 441
leichter, als sie sich mit entscheidenden Griinden dartun lassen<. Diese
Besorgnis geht zu weit. Es wire nicht schwierig, Kraus contra Kraus
ins Feld zu führen, immerhin hat man, von Lachmann, Uhland, Haupt
u. A. abgesehen, auch in neuester Zeit Stilbeobachtungen von einer
Feinheit und Bestimmtheit angestellt, die litterarhistorische Schliisse
ermöglichen ; ich denke dabei nicht bloß an Scherer, sondern zunächst
an Wilmanns’ Formelsammlungen in seinem Leben Walthers von der
Vogelweide, an Burdachs Reinmar und Walther, an Roethes vorzügliche
Untersuchung über das Mädchen von Oberkirch, an Albert Köster u.a.m.
Man braucht es überdies nicht zu verschmähen, ausgezeichnete Stilbe-
schreibungen aus anderen philologischen Gebieten nutzbringend heran-
zuziehen, z.B. Kaibels Analyse der ’A9nvarov moAırsie. In dieser
Richtung muß unser Studium der mhd. Poesie Fortschritte machen; die
Reime allein zu beobachten, ist für litterarhistorische Zwecke wertvoll
und förderlich, wird aber, sofern wir die einzelnen Gruppen und
Fälle scharf genug ins Auge fassen und ihre besondere Bedingtheit
würdigen, ohne Hilfe äußerer Zeugnisse oder anderer Umstände nur
selten Autorschafts- und Chronologiefragen zu entscheiden vermögen.
Es kommt noch Eines in Betracht. Bei der Beurteilung der
vorgelegten Fälle des Reimwörterbuches wirkt in der Arbeit von
Kraus schon in Bezug auf die Formen allein die Vorstellung mit,
jeder Dichter habe nur ein genus dicendi. Ich weiß sehr wol, daß
dieser alte Satz heute noch sehr mächtig ist, stützt doch auf ihn
Sievers (Forschungen zur deutschen Philologie, Festgabe für Rudolf
Hildebrand, S. 17) in seiner vortrefllichen Abhandlung »Zu Wernhers
Marienliedern< die weitergehende Annahme, jeder Dichter verfüge
auch nur über ein genus metri. Dieser vermag ich vorläufig noch
nicht zuzustimmen, so bestechend auch die in ihrer Weise einzige
Vortragskunst von Sievers die von ihm angeführten Fälle erscheinen
läßt. Aber auch das eine genus dicendi kann man doch nur in sehr
weitem Sinne gelten lassen, und ob es auf Sprachformen anwendbar
sei, halte ich noch nicht für erwiesen. Wie weit erstreckt sich z.B.
der Begriff der zulässigen »Doppelformen<, über die Zwierzina jetzt
so lehrreich gehandelt hat? Sie bilden Bestandteile der normalen
Paradigmen der mhd. Grammatik (vgl. Kraus S. 150 ff. Zwierzina
S. 441. 486 ff. 490 Anm. 3), wo ist ihre Grenze? Stellt man sich
auf den Standpunkt, sie als durchaus möglich und zulässig zu er-
achten, dann werden alle zweifelhaften und neutralen Fälle anders
gedeutet und liefern demnach auch andere Resultate, als wenn man
allenthalben eine einzige Form des Wortes als das Wahrscheinliche
und Natürliche ansieht. Endgiltiges läßt sich meinem Ermessen nach
darüber erst dann ermitteln, wenn der ganze Vorrat mhd. Poesie
Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 30
442 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 6.
registriert und durchgearbeitet worden, auch die schwierige Frage
über das Verhältnis der im Reim gebrauchten zu den im Versinnern
verwendeten Formen erschöpfend behandelt ist.
Die zweite Gruppe von Argumenten, die Kraus seinen Reim-
sammlungen entnimmt, und deren Ergebnis ich schon oben S. 438
im Wortlaut anführte, bezieht sich darauf, das zweite Büchlein müsse
nach den Eigenheiten seiner Formen, sowie auch gemäß dem Ge-
brauch einzelner Worte bald an dieser, bald an jener Stelle in die
chronologische Reihe von Hartmanns Werken eingestellt werden, die
Beobachtungen stimmten weder unter einander noch überhaupt zu
Hartmanns Verfasserschaft. Ich lasse einstweilen die theoretischen
Voraussetzungen für diese Schlüsse auf sich beruhen, und hebe nur
hervor, daß die Chronologie von Hartmanns Werken heute überhaupt
noch nicht sicher gestellt ist. Nicht einmal über die Hauptfrage,
die Stellung von Erec und Iwein, herrscht volle Einheit, wie soll
man in diesem Fluß der Dinge für das zweite Büchlein einen festen
Punkt finden? Wiederum erscheint mir das Verfahren von Kraus
vielfach bestreitbar. Er führt z.B. S. 167f. alle Reime Hartmanns
auf -wot und seine Endungen vor und schließt daraus, daß in dieser
Zahl das Wort fruot nicht vorkommt, Hartmann habe dieses Wort
(als obsolet?) gemieden. Freilich im Anfang seines Schaffens nicht,
denn 3mal steht es im 1. Büchlein, auch die andern von Kraus
untersuchten Dichter gebrauchten es hie und da. Es war wol an
sich um die Zeit ein seltenes Wort und hatte einen besonderen
Sinn oder Beigeschmack, war nicht schlechtweg gleichwertig mit wis,
und so muß ich mich doch verwundern, daß Kraus nicht einmal die
Frage aufwirft, ob denn der Dichter für seine Darstellung dieses
Wort überhaupt häufig brauchen konnte? Es scheint mir eine sehr
einseitige Betrachtungsweise, wenn die Verwendung von Worten im
Reime nur nach der Masse vorhandener mechanischer Möglichkeiten
bemessen wird. Kraus hat offenbar von den mhd. Dichtern, die
Zwierzina S. 450 >zu den größten Formtalenten aller Zeiten< rech-
net, eine viel niedrigere Vorstellung als ich, der ich doch die Schwie-
rigkeiten der Reimtechnik für das höfische Epos gebührend zu ver-
anschlagen glaube.
Diesem Standpunkte gemäß stellt Kraus S. 172 folgende Forde-
rung auf: »Wer jedoch an der Autorschaft dieses Dichters (für das
2. Büchlein) nach wie vor festhält, dem liegt die Pflicht ob, in 800
zusammenhängenden Versen Hartmannscher Poesie die gleiche An-
zahl von prinzipiell bedeutsamen Erscheinungen nachzuweisen, denen
sonst bei Hartmann nichts gleiches zur Seite steht, die dem ander-
weitigen Gebrauch des Dichters direkt widersprechen —«. Oh nein,
Abhandlungen zur germanischen Philologie. . 448
das heißt den Bogen bei weitem überspannen. Dies Begehren ist un-
erfüllbar, weil es sachwidrig ist. Unter Hartmanns sämmtlichen Wer-
ken kommt für einen Nachweis, wie Kraus ihn hier beansprucht,
höchstens das 1. Büchlein in Betracht, seine vier erziihlenden Dich-
tungen überhaupt gar nicht, weil für den gänzlich verschiedenen In-
halt an Sachen zwischen Epos und lyrischer Didaktik ein ganz ver-
schiedener Wortschatz nötig ist und also auch im Reim heraustreten
muß. Zwierzina hat S. 502-Anm. 1 richtig gesehen, das 1. Büch-
lein könne nicht in Rechnung gezogen werden, wenn man das Vor-
kommen von kam beurteilen wolle, »weil dem Iyrisch-didaktischen
Gedicht natürlich die Beispiele für 3. Pers. Sing. Prat. fehlen< ; das
ist ein guter (aber seltener!) Fingerzeig, welche Wichtigkeit der Stoff
eines Dichtwerkes für seine formale Gestaltung besitzt. Welche
Unterschiede zwischen dem Thema des 1. Büchleins (von dem Reim-
spiel müßte man ganz absehen) und der leidenschaftlichen Casuistik
des zweiten obwalten, steht hier nicht zu untersuchen. Genug, so-
bald es deutlich wird, daß Kraus schwerlich im Recht ist, wenn er
den für einen mhd. Dichter verfügbaren Schatz an Reimworten wie
einen Setzkasten ansieht, aus dem die Buchstaben = Reime entnom-
men werden, gleichgiltig, ob es sich um Goethes Prolog im Himmel
oder um einen Börsenbericht handelt.
Aber Kraus hat S. 143—150 noch einen anderen Beweis zu lie-
fern versucht, den er selbst nicht ganz so hoch anzuschlagen scheint
(er nennt ihn aber auch S. 172) als die aus dem Reimgebrauch ge-
schöpften Argumente, der mich jedoch der wichtigste dünkt. Er
stellt dort 160 Verse des 2. Büchleins zusammen, die in anderen
Werken Hartmanns ganz oder teilweise oder modificiert sich vor-
finden. Er schließt daraus zu meinem Erstaunen eigentlich nur, daß
diese Uebereinstimmungen es unmöglich machen, dem zweiten Büch-
lein einen sicheren Platz in der Chronologie von Hartmanns Dich-
tungen anzuweisen, weil sie eben auf Stellen aus sämmtlichen Hart-
mannschen Werken sich beziehen. Darum hält er sie sofort S. 144
für ein Zeichen, wie sehr »der Dichter sich in Hartmanns Wort-
stellung, Reimgebrauch u. dgl. eingelebt«e habe — das ist aber in
diesem Zusammenhange eine vorgefaßte Meinung. Unter diesen 160
Versen gibt es nun, was auch Kraus nicht entgangen ist, eine Menge
Uebereinstimmungen, die gar nichts beweisen können, weil sie sich
auf allergewöhnlichste Redensarten und Wortfügungen beziehen, die
bei jeder Art Darstellung vorkommen müssen. Ein Rest erübrigt
aber, der jedesfalls dartut, daß der Verfasser des 2. Büchleins mit
Hartmanns Diction sehr vertraut war. Wie ist nun diese Vertraut-
heit auszulegen? Darf man mit Kraus annehmen, der Dichter des
30*
444 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
2. Büchleins müsse hinter Hartmann von Aue gestanden haben, weil
die Uebereinstimmungen auch dessen letzte Werke betreffen, die dann
Vorbild gewesen wären? Oder ist es erlaubt, diese ähnlichen Verse
und Versteile zu beurteilen wie die überaus zahlreichen Reminis-
cenzlesarten in Hartmanns Werken selbst, deren Entstehen übrigens
auch nicht völlig aufgeklärt ist? Die Entscheidung hängt davon ab,
daß man sehr sorgsam von Fall zu Fall untersucht, welcher Vers
sich an seinem Platze als ursprünglicher geltend mache und fester
im Zusammenhang der Gedanken stehe. Bis das geschehen ist, wird
man ein abschließendes Urteil selbst über diese sehr wesentlichen
Parallelen aussetzen müssen. —
Ich bin am Ende meiner Auseinandersetzung mit Kraus. Daher
wiederhole ich, daß ich das Problem der Autorschaft des zweiten
Büchleins hier gar nicht als ein praktisch zu lösendes betrachtete,
sondern die Beweismittel der Kraus’schen Argumentation, vom Stoff
losgelöst, theoretisch prüfen wollte. Wer Hartmann für den Autor
dieser Dichtung hält, der muß, und das ist das Schlimmste für ihn,
es beweisen, und dies ist durchschlagend noch Niemandem gelungen
(das Schwergewicht wird immer darauf fallen, wie man die Bezüge
des 2. Büchleins zu Hartmanns Lyrik versteht, das hat auch Saran,
Beitr. 24, 1ff. richtig gesehen). Es ist nicht entfernt meine Ab-
sicht, die Beweismethode von Kraus zu discreditieren, im Gegen-
teil, ich begrüße sie freudig und hoffe von ihr schöne Erfolge. Nur
darauf kam es mir an, zu zeigen, was aus der Observation der For-
men im Reimgebrauch gefolgert werden darf und was nicht, und da
bin ich allerdings der Ansicht, daß nur mit der größten Vorsicht und
mit steter Rücksicht auf den Stil der Dichter überhaupt litterar-
historische Schlüsse aus den Reimprämissen sich ziehen lassen. —
Wesentlich anders geartet ist die Abhandlung von Zwierzina.
Sie ist nicht glücklich disponiert, man könnte im Ganzen besehen
die Anlage vielleicht etwas undurchsichtig nennen, obgleich die Er-
örterungen im einzelnen sehr wohl zusammenhängen, die Darstellung
schweift aus, kehrt zurück, wiederholt. Es kommt dazu, daß es an-
scheinend an einem festen Mittelpunkt, an einer hauptsächlichen
Aufgabe fehlt, die Beobachtungsgruppen haben etwas Zufälliges, und
keinesfalls wird ein bestimmtes Ziel sicher und energisch auf kürzestem
Wege angestrebt. Diese Mängel der Composition sind mit unläug-
baren Vorzügen verknüpft. Zwierzina läßt sich auf theoretische Aus-
einandersetzungen ein, er beobachtet nicht bloß und gruppiert das
Beobachtete, er fragt auch darnach, ob man so beobachten dürfe
und nicht anders beobachten müsse, mit einem Worte: er gebraucht
seine Methode nicht als ein fertiges Werkzeug, über dessen Verwendung
Abhandlungen zur germanischen Philologie. 446
gar nicht zu sprechen ist, er sieht die Schwierigkeiten, welche sich
entgegenstellen, und bemüht sich, sie fort zu räumen. Daher be-
handelt er auch die observierten Fälle und die Gruppen genauer mit
Rücksicht auf ihre Bedingungen, er individualisiert sie häufig. Freilich
zerfällt ihm dabei das Material mehrfach unter den Händen und er
ist selten imstande, feste Schlüsse herauszupressen, der Charakter
des reinlich Fertigen haftet seiner Abhandlung in geringem Maße an,
dafür ist sie historischer gehalten als die Studie von Kraus. Auch
sie sucht aus der Beobachtung des Reimgebrauches, zunächst für
Hartmann und Wolfram, litterargeschichtliche Resultate zu gewinnen.
Natürlich sind es die wahrnehmbaren Veränderungen im Reimgebrauch,
welche Zwierzina zu seinen Zwecken verwertet. Und wiederum
hauptsächlich wird das Verhältnis der beiden Epiker zu dem Ideal
der mhd. Schriftsprache, vielleicht besser »Dichtersprache<, zu be-
stimmen unternommen, also im Grunde dasselbe Problem, das Kraus
in seinem Buche über Heinrich von Veldeke (1899, vgl. GGA. 1900)
bearbeitet hat. Das Verfahren, das beide Forscher dabei einschlagen,
beruht auch wesentlich auf denselben Grundsätzen, wenngleich die
Ausführung, gemäß der Verschiedenheit der Aufgaben, nicht dieselbe
bleibt. Kraus hatte seinen Veldeker an zwei Maßen zu messen: an
dem niederländischen Heimatsdialekt des Poeten, dann an der ober-
deutschen Dichtersprache, welcher er zustrebt. Nach den Darlegungen
von Franck (Anz. f. d. Altert. 26, 104—117) ist die Lösung des
ersten Problems Kraus nicht völlig gelungen, aber nicht deshalb,
weil seine Arbeitsmethode unrichtig gewesen wäre, sondern weil er
in Bezug auf die niederländische Poesie gegen das Princip seines
Verfahrens gehandelt hat, das unbedingte Vollständigkeit des Reim-
materials verlangt. Zwierzina bespricht in seinem Aufsatz sehr ver-
schiedene Reimworte, meistens in derselben Weise: er zählt die vor-
kommenden Fälle in den Abschnitten (wirklichen oder künstlichen
z. B. von 1000 zu 1000 Versen) des Werkes; vermindern sich die
Zahlen, so schließt er daraus, der Dichter habe das Wort im Reime
meiden wollen. Er sucht dann für diese Abneigung einen Grund und
findet ihn gewöhnlich darin, daß dieses Wort irgendwie zu dem Ideal
einer mhd. Dichtersprache nicht paßt: entweder ist es zu mundartlich
oder es ist obsolet und unhöfisch oder es ist eine von zwei möglichen
Formen, deren Schwanken gemieden werden soll. So stellt er gleich
eingangs fest, wiesich im Parzival von Buch zu Buch zunehmend seltener
die san im Reime finden, weil Wolfram sie als dialektisch empfand.
Stört irgend etwas den ruhigen Ablauf des Verringerns im Reim-
gebrauch, kommen also ruckweise die verpönten Worte in Gruppen
wieder zum Vorschein, dann erklärt Zwierzina das sehr ingeniös aus
446 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
» Arbeitspausen<: dort wo das zu meidende Wort doch neuerdings eintritt,
dort ist ein Einschnitt in der Abfassung des Werkes anzunehmen,
der Dichter hat mit der Continuität seine Praxis verloren, und als
er dann abermals beginnt, steht er dem schlimmen Wort etwa wie
am Anfang seines Werkes gegenüber und lebt sich erst allmählig
wieder in seine Abneigung ein, allerdings gewöhnlich rascher denn
vorher. Nicht alles versucht Zwierzina auf diese Weise sich ver-
ständlich zu machen, aber doch das meiste; so unterläßt er, darauf
hinzuweisen, daß im 3. Buch des Parzival ein sän auf 88 Verse trifft,
im 1. nur auf 129, im 2. auf 207, so daß also schon das 3. Buch
einen Rückfall darstellt, überhaupt das Buch ist, wo relativ die mei-
sten sän vorkommen und das daher das erste von Wolfram gedichtete
Buch sein müßte. S. 440 erklärt er sän für ein Form-, nicht ein
Flickwort, beschreibt aber S. 439 die Funktion von sän dergestalt,
wie sie besonders einem Flickwort zukommt.
Andere Gründe für das Vermeiden eines Reimwortes als die aus
dem Streben nach der mhd. Dichtersprache genommenen, das die
Hindernisse für die Verbreitung des vorzutragenden Werkes hinweg-
räumen soll, erkennt Zwierzina in der Regel ebensowenig an wie
Kraus. Er ist zwar etwas empfindlicher für die Beschaffenheit des
Stoffes und ihr Verhältnis zur dichterischen Arbeit als sein Grenosse,
jedoch nicht sehr. Daß der Dichter z. B. ein bestimmtes Reimwort
ungern verwendet, weil es durch die litterarische Uebung abgebraucht
und vernutzt ist (was bei der Geschichte der Iyrischen Reime eine
große Rolle spielt), weil es ihm als »ordinär<« gilt, das wird nirgends
in Betracht gezogen. Vermutlich, weil das ästhetische Rücksichten
wären, >Imponderabilien<, mit denen die exakte Forschung nicht
rechnet. Wie Zwierzina über ästhetische Urteile, die ja doch nicht
aus der Luft gegriffen werden, denkt, das läßt sich recht deutlich
aus S. 500 Anm. 1 entnehmen, wo er auf etliche Reimworte hin,
die der arme Heinrich häufiger bringt als der Iwein, jenen vor
diesem ansetzt und fortfährt: ‘Die, die den a. Heinr. aus irgend
welchen ästhetischen Gründen (er mag ihnen immerhin besser gefallen!)
für jünger halten als den Iwein, müßten sich noch mit vielen
anderen ähnlichen Erscheinungen, als diesen, abfinden’. In diesen
Worten spüre ich den Hohn, mit welchem der Forscher, der seine
Ergebnisse mit den greifbaren Zahlen der greifbaren Reimworte be-
gründet, auf die windigen Gesellen herabblickt, die da meinen, bei
der Gestaltung von Iwein und Parzival hätten noch Gesetze und
Kräfte des dichterischen Schaffens überhaupt mitgewirkt, sei die Be-
sonderheit des Genius noch in der Eigenheit der Aufgabe und des
Stoffes ins Erscheinen getreten.
Abhandlungen zur germanischen Philologie. 447
Nun meint es ja Zwierzina gewiß nicht so arg, er isoliert das
Reimwort durchaus nicht völlig und bringt es S. 461 ff. sehr hübsch
in Zusammenhang mit der Bildung des Verses, und zwar nicht bloß
wegen der richtigen Interpretation der Form, an verschiedenen Stellen
legt er Beobachtungen vor, die nicht anders denn auf den Stil be-
zogen werden können, ja Inhalt und Vortragsweise eines Werkes
stellt er (z. B. S. 509) in Bezug zu den Reimen; im Ganzen und
Großen gilt aber auch ihm die Uebersicht des Reimvorrats eines
Dichters als eine Art Statistik der Verbrauchsartikel, aus denen das
poetische Budget mit Hilfe von Variation und Permutation durch
eine gewisse Wahrscheinlichkeitsrechnung ermittelt werden kann.
Was soll denn überhaupt der Reim? Er gilt als ein Schmuck, der
Gleichklang der Worte schmeichelt dem Ohr und die Erwartung des
Gleichklangs spornt die Aufmerksamkeit des Hörers. Es verhält
sich mit ihm ganz so wie bei der Allitteration: er zeichnet Begriffe
aus, die wegen ihrer Wichtigkeit im Satzgebilde hervorgehoben
werden sollen. Nicht jedem Reimwort wohnt solches Gewicht inne,
wie denn auch bei der normalen Allitteration 2 + 1 der erste
Halbvers mit zwei allitterierenden Worten ungemein häufig nur die
schon in der zweiten Hälfte des vorhergehenden Verses gebrachte
Vorstellung variiert, indeß erst der Hauptstab im zweiten Halbvers
- die Darstellung durch ein stark accentuiertes, aber vermöge des
Gleichklangs mitgebundenes Wort vorwärts schreiten macht; in
dieser Kreuzung liegt eben ein Reiz mehr. Ist das so, dann ist die
engste Relation zwischen Stoff, persönlicher Darstellung und Reim-
gebrauch unbedingt anzunehmen, und das Vorkommen eines Reim-
wortes kann nicht als bloßes Produkt der statistischen Notwendigkeit
(oder des statistischen Zufalls!) angesehen werden. Freilich ist der
Wortschatz des Dichters keineswegs unbegrenzt und die gewöhnliche
Redeweise sowol als die litterarische Ueberlieferung legen ihm den
Zwang der Auswahl auf. Sind aber die Schranken wirklich so eng,
wie Zwierzina sie bemißt, dann sind die Klassiker des höfischen Epos
unter dem Druck einer Knappheit der technischen Mittel gestanden,
der diese »größten Formkünstler aller Zeiten< nicht als freigebietende
Herren sondern als Knechte ihrer Kunst erscheinen läßt.
Klar und exakt sind diese Beobachtungen, mit ziffernmäßiger
Bestimmtheit treten uns ihre Resultate vor Augen und überzeugen
uns schlagend durch die satte Wolgerundetheit ihrer Umrisse. Und
doch entraten auch sie durchaus nicht sehr verwegener Voraus-
setzungen. Zwierzina und Kraus nehmen beide an, bevor sie noch
beobachten und das Beobachtete beurteilen, es gebe nur eine Art
der Entwicklung für alle Dichter, nämlich einen stets gleichmäßigen
448 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Fortschritt in einer bestimmten, einmal begonnenen Richtung. Diese
Vorstellung beherrscht ihre Forschung, sie gilt ihnen als Axiom, das
nicht bewiesen zu werden braucht. Aber das ist gar kein Axiom,
das ist nur ein unbewiesener Hilfssatz, eine Hilfslinie wie die beim
geometrischen Unterricht, nur daß sie nicht wie diese nach ge-
schehenem Beweis als gleichgiltig weggelöscht werden darf, sondern
zu den Schlußfolgerungen durchaus mit gehört, die mit ihr stehen
und fallen. An sich hat diese theoretische Voraussetzung keine
Wahrscheinlichkeit für sich, das Gegenteil davon kann dasselbe Recht
für sich beanspruchen, und die Geschichte der modernen Poesie, wo
allein durch die genaueren Daten über das Leben des Dichters und
das Entstehen seiner Werke die Forschung festen Boden unter den
Füßen hat, lehrt das Eine wie das Andere, ja sie liefert die wunder-
barsten Beispiele für das Zickzack der Entwicklung des Genius, für
seine Umwege, Irrwege, für die Kreuzung zwischen dem Steigen und
Fallen seiner Leistungen. Selbst das gewöhnlichste Leben des Tages
zeigt uns einen stetigen Fortschritt auf einmal gebahntem Pfade nur
in sehr beschränktem Maße bei der Ausbildung körperlicher und
geistiger Fähigkeiten, eigentlich nur bei solchen, wo die Uebung
Alles gewährt. Sogar in der organischen Natur glaubt man heute
nicht mehr an ein Vorwärts Schritt um Schritt, sondern man ver-
zeichnet staunenswerte Sprünge, und die Einbrüche, welche die -
teleologische Erklärung neuestens in den Darwinismus vollbringt,
stützen sich auf solche Wahrnehmungen. Zur relativen Sicherheit
auf dem Gebiete der Technik altdeutscher Poesie wird man erst ge-
langen können, sobald wenigstens alle vorhandenen Möglichkeiten
erschöpft, d.h. die Reimbestände sämmtlicher überlieferter Dichtungen
verzeichnet, geordnet, und verglichen sind. Bedürfen ja noch in
manch anderem Betrachte die Observationen von Kraus und Zwier-
zina durchaus der Erweiterung und Ergänzung: so haben wir über-
haupt bisher vereinzelte Proben gesehen, z.B. bloß die Abnahme
von Worten im Reimgebrauche, der doch notwendigerweise (soweit
der Stoff das gestattet) eine Zunahme anderer Reimworte correspon-
dieren muß, die uns nur gelegentlich vorgeführt wurde; die stärkere
Gewähr, deren die Ergebnisse nicht entbehren können, muß durch
eine erschöpfende geordnete Reimstatistik dargeboten werden. —
Daß aber jene Hilfsconstruction, der Satz vom steten Fortschritt, für
das Erklären der beobachteten Erscheinungen außerordentlich wichtig
ist, braucht gar nicht im einzelnen gezeigt zu werden. Darauf be-
ruht die Vorstellung von den >Riickfillen<, mit der Zwierzina so
gern und häufig operiert, darauf der Begriff der »Arbeitspause<, die
freilich beide nicht einwandfrei sind: wenn der Dichter (vgl. Zwier-
Abhandlungen zur germanischen Philologie. 449
zina S. 455) am Ende eines Abschnittes angelangt war und nach
einer Pause fortfuhr, mußte er da immer von der Vollkommenheit
der bereits erreichten Technik anfangs einbüßen, konnte er nicht, wo-
fern die Reimwahl aus bewußter Ueberlegung hervorgieng, am Be-
ginn des nächsten Abschnittes diese erbärmlichen sam mit derselben
Ueberzeugung meiden wie vorher? Und wenn das zwischen den Ab-
schnitten desselben Werkes angenommen werden darf, weshalb nicht
zwischen zwei auf einander folgenden Werken? War der Dichter
unter der emsig geübten Controlle seines Kunstverstandes beim Ab-
schluß des einen Epos zur Sicherung seines poetischen Sprachge-
brauchs gekommen, mußte er sich nicht gerade dann mit vollem Be-
wußtsein des Erfolges freuen und am schärfsten darauf achtend mit
dem neuen Gedichte anheben? Bekam er jedoch allemale wieder
Rückfälle, was hindert uns dann anzunehmen, er habe gearbeitet wie
der Musiker Czerny, von dem man sagt, es hätten acht Pulte in sei-
nem Arbeitszimmer gestanden, jedes mit aufgelegten Notenbogen,
und er habe beim Componieren den einen vollgeschrieben und darauf
der Ordnung nach sich zu dem nächsten gewandt, um dort weiter-
zuschreiben, indeß die früheren trockneten. Viel künstlicher wäre
diese Hypothese schwerlich als Zwierzinas »Arbeitspausen«e und
»Riickfalle<. Ist Zwierzina der Ansicht, daß ohne seine Hilfsconstruc-
tion vom gleichmäßigen Fortschritt nicht gearbeitet werden könne,
dann scheinen mir der Auswertung seiner Reimobservationen für
litterarhistorische Zwecke noch die erheblichsten Hindernisse ent-
gegenzustehen.
Dagegen habe ich die große Freude, rückhaltlos anerkennen zu
dürfen, mit welch namhaftem Gewinn Zwierzina in seinen »Mittel-
hochdeutschen Studien<, von denen mir bis jetzt aus den Bänden der
Zeitschr. f. d. Altert. 43—45 (den noch unveröffentlichten vierten Teil
hat mir seine Güte in Bürstenabzügen übermittelt) ungefähr 20
Druckbogen zugänglich waren, den Reimgebrauch mhd. Dichter zur
Feststellung von Lauten und Formen altdeutscher Mundarten sowol
als der Schriftsprache ausgewertet hat. Nützliche Beiträge liefert
S. Singer in den Anmerkungen seines Vortrages »Die mhd. Schrift-
sprache<, Zürich 1900. Schon die beiden Abhandlungen der Fest-
schrift von Zw. und Kraus mußten durch Paul in der 5. Auflage
der Mhd. Grammatik, durch Michels bei seinem Mhd. Elementarbuch
ausgiebig benutzt werden. Zwierzinas »Mhd. Studien< nötigen dazu,
die mhd. Laut- und Formenlehre in wichtigen Punkten ganz umzu-
arbeiten. Die alten Reimsammlungen, die in Weinholds Grammatiken
vorliegen und die Jahrzehnte hindurch als wichtigste Stütze für Ort-
und Zeitbestimmungen undatierter mhd. Denkmäler dienten und
450 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
allerseits dankbarst citiert wurden, die auch Paul und Michels in |
den Hauptsachen und vielen Einzelnheiten noch zu grunde legten,
sie müssen jetzt durch andere und erschöpfende abgelöst werden.
Wenn die mhd. Grammatik in wesentlichen Zügen künftighin ein
anderes Antlitz tragen wird, so ist das ein bleibendes Verdienst von
Zwierzina, dessen einschlägige Arbeiten jetzt das Beste ausmachen,
das uns auf diesem Gebiete zur Verfügung steht. Es versteht sich
von selbst, daß durch seine Ergebnisse auch der Litterarhistorie
die wertvollsten Bestimmungen zugeführt werden: brauchbare Schlüsse
auf Heimat und Zeit der Entstehung eines Dichtwerkes gehören ja
zu den Grundpunkten, mit denen die litterarhistorische Forschung
einsetzen kann.
Vielleicht ist es geraten, hier noch auf eine dritte Möglichkeit
hinzuweisen, der gemäß Beobachtungen des Reimgebrauches nutzbar
gemacht werden könnten, und zwar gerade in der Richtung auf die
Litterarhistorie hin. Als ich vor einigen Jahren am Biterolf ar-
beitete und mir die Geschichte dieses Werkes auch aus der Unter-
suchung seines Reimvorrates aufzuhellen suchte, wünschte ich die
Voraussetzungen der poetischen Technik für dieses in manchem Be-
trachte noch rätselhafte Gedicht kennen zu lernen. Deshalb hob
ich aus den großen epischen Dichtungen des 12. bis 13. Jahrhun-
derts, also von der Kaiserchronik bis Hartmann, Wolfram und Gott-
fried einschließlich, erzählende Partieen von je 3000 Versen aus und
ordnete die Reime nach den darin vertretenen Wortklassen. Diese
Zusammenstellung lieferte die überraschendsten Ergebnisse: es zeigte
sich, daß von der alten Erzählungstechnik der Geistlichen und Spiel-
leute, die auf volksmäßigem Untergrunde ruht, bis zum höfischen
Roman hin die wesentlichsten Verschiebungen beim Gebrauche der
einzelnen Wortklassen im Reime stattgefunden haben. Dadurch wird
nun auch bezeugt, wie enge die Reimtechnik mit der historischen
Entwicklung des gesammten Horizontes der Poeten, mit den Stoffen
und ihrer Auffassung, zusammenhängt, und daß die notwendig heran-
zuziehenden Momente der Erklärung für den persönlichen Reimvor-
rat eines Dichters bei der Mundart und dem Verhältnis zur Schrift-
sprache nicht stehen bleiben dürfen. Zwierzina sind diese Dinge
nicht entgangen und er widmet ihnen S. 446 einige beachtenswerte
Sätze, unter denen ich freilich dem einen, jene Spielleute und Geist-
lichen hätten eine nirgends gesprochene, nur in der Litteratur lebende
Sprache gelesen oder geschrieben, mit aller Bestimmtheit wider-
sprechen muß. Aber er scheint das ganze Problem nicht für sehr
wichtig zu halten, vielleicht weil es ein überwiegend historisches ist,
während ich darin eine Aufgabe ersten Ranges erblicke. Wenn ich
Abhandlungen zur germanischen Philologie. 451
jene Zusammenstellungen bis heute nicht veröffentlicht habe und
auch nicht veröffentlichen werde, so liegt es daran, daß ich in der
Zwischenzeit mich überzeugt habe, auch hier sei mit Stichproben
nichts Ernstes getan und geholfen, auch hier könnten einigermaßen
sichere Schlüsse nur aus der Verwertung des gesammten Materiales
geschöpft werden; dieser Forderung in dem bezüglichen Falle nach-
zukommen, ist mir unmöglich.
Daß ich aber die Forderung an meine Reimsammlungen erhob,
das danke ich der Beschäftigung mit den Arbeiten von Zwierzina
und Kraus. Und das bringt mich zu einem ferneren Punkte, der
dem Erwägen der Fachgenossen unterbreitet werden soll. Die Auf-
nahme des Reimgebrauches mhd. Dichter, wie die beiden Forscher
sie betrieben haben, setzt einen sehr ansehnlichen Aufwand mecha-
nischer Arbeit voraus, die doch von steter und scharfer Aufmerksam-
keit begleitet sein muß. Sie kann auf verschiedene Art bewerk-
stelligt werden: der Eine schreibt jedes Reimpaar für sich auf einen
Zettel und ordnet diese dann; der Andere zerschneidet zwei Exem-
plare des Textes nach den Verspaaren und klebt jedes für sich auf
einen Zettel. Die Sammlungen, welche Zwierzina und Kraus auf
diese Art zu wege gebracht haben, sind bereits sehr umfangreich, es
leidet aber keinen Zweifel, daß sie auf die ganze Ueberlieferung
mhd. Poesie, alle publicierten Reste und Bruchstücke, sowie das leider
noch sehr bedeutende ungedruckte Material werden ausgedehnt wer-
den müssen. Es kann aber schwerlich von jedem einzelnen Forscher
verlangt werden, daß er Zeit, Kraft und Kosten für sich auf solche
Sammlungen wende, um sie dann zur Grundlage seiner weiteren
Studien zu machen. Sammelt er aber die Reime nicht, dann ist er
heutzutage von der Behandlung der hier discutierten Aufgaben so
gut wie ausgeschlossen. Man wird darauf bedacht sein müssen, die-
sem Uebelstande abzuhelfen. Vollständige Reimwörterbücher zu
Hartmann und Gottfried, wie Vos sie plant, sind schon etwas, aber
bei weitem zu wenig. Steinmeyer hat brieflich an mich die Meinung
geäußert, eine vollständige Aufnahme des altdeutschen Reimbestandes
möge durch gemeinsame Arbeit veranstaltet, die zusammengebrachte
und geordnete Zettelmasse an einer Centralstelle niedergelegt und
dem Gebrauch der wissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht
werden. Ueberlegt man sich die Bedingungen näher, unter denen
ein solcher altdeutscher Reimschatz, der ja an dem Zetteldepöt des
lateinischen Thesaurus ein nachstrebenswertes Vorbild besäße, ver-
wirklicht werden könnte, so stellen sich der Sache bedeutende Schwie-
rigkeiten entgegen. Es bleibt zu bedenken, ob man sich dem er-
wünschten Ziele nicht auf kürzerem Wege nähern könnte. Ich
452 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
glaube, daß eine Sammlung des geordneten altdeutschen Reimbe-
standes durch ein paar jüngere Leute unter der Führung eines in
solcher Arbeit erfahrenen Forschers während höchstens drei Jahren
hergestellt und in zwei Quartanten mit dreispaltigem Druck veröffent-
licht werden könnte. Die Mittel dafür könnten vielleicht schon durch
Subscription innerhalb der Fachgenossen aufgebracht werden. Nun
wären da freilich nur die Reimworte verzeichnet, nicht die ganzen
Verse selbst, deren Benutzung jetzt das Eigentümliche der neuen
Forschungsweise ausmacht. Allein für sehr viele Arbeiten möchte
das doch ausreichen, zumal wenn die Reimworte durch praktische,
sparsam eingeschaltete Abkürzungen ihrer Form nach charakterisiert
wären. Unbedingt notwendig ist es dann, daß die noch in Hand-
schriften allein bewahrten Stücke altdeutscher Dichtung insgesammt
veröffentlicht würden. Das muß aber ohnedies jetzt geschehen, wann,
darf nur eine Frage der Zeit sein. —
Wie dem aber auch sei, der Bericht, den ich hier erstattet
habe und der insbesondere mit den Studien von Kraus und Zwier-
zina sich befaßt, soll nicht den Resultaten dieser Arbeiten entgegen-
treten, er soll nur zu Ueberlegung und Vorsicht mahnen, ehe die
ganze Natur des Problems und die Möglichkeiten seiner Lösung hin-
reichend erwogen sind. Jedesfalls soll die Bemühung dieser Männer
aufs dankbarste gewürdigt, es soll ihren Arbeiten der schönste und
fruchtbarste Fortgang gewünscht, und es sollen auch für den histo-
rischen Zweig der deutschen Philologie, oder vielmehr für jene
deutsche Philologie, die sich als geschichtliche Wissenschaft versteht,
aus dem neuerlich erschlossenen Kreise von Beobachtungen die reich-
sten Resultate gehofft werden.
Darum wollen wir auch schließlich des Dankes an Richard Hein-
zel nicht vergessen, aus dessen Schülerkreise das ganze vortreflliche
Werk und besonders die zuletzt besprochenen fördernden Abhand-
lungen hervorgegangen sind.
Graz. | Anton E. Schönbach.
Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 453
Müllenhoff, K., Deutsche Altertumskunde, 4. BJ. Berlin, Weidmannsche
Buchhandlung, 1900. XXIV u. 751 S. 8°.
Mit dem vorliegenden 4. Bd. von Miillenhoffs Deutscher Alter-
tumskunde ist der Schlußstein zu diesem bedeutenden Werke gelegt.
Freilich ist damit nur ein Notbau zum Abschluß gebracht, und man-
ches wäre gewiß anders ausgeführt worden, wenn es dem Meister
selbst beschieden gewesen wäre, den Bau zu vollenden. Aber sein
Eindruck im Großen und Ganzen hat dadurch nicht gelitten. Zeigen
doch bereits die Teile des Werkes, die bei Lebzeiten des Verfassers
erschienen sind, daß es sich ihm nicht um eine den Titel »Deutsche
Altertumskunde< rechtfertigende, gleichmäßige und erschöpfende Be-
arbeitung des Stoffes handelte, sondern um weit ausgreifende Einzel-
untersuchungen innerhalb dieses Wissenschaftsgebietes.
Damit soll deren Wert nicht herabgesetzt werden. Und auch
das Letzte, was uns jetzt aus seinem Nachlasse geboten wird, gibt
Zeugnis von einer staunenswerten Gelehrsamkeit und trägt den
Stempel einer eigenartigen Persönlichkeit. Es ist darum geradezu
ein Verdienst um die Wissenschaft, das sich alle jene erworben ha-
ben, durch die das Erscheinen dieses Bandes in irgend einer Weise
gefördert wurde, und vor Allem sein Herausgeber Max Roediger hat
sich dabei unseren wärmsten Dank verdient. Lag doch die Sache
nicht so einfach, besonders was die Textherstellung des Germania-
kollegs anbelangt, das den Hauptinhalt unseres Bandes bildet.
Angesichts der redlichen und anspruchslosen Gelehrtenarbeit, die
hiebei geleistet worden ist, wird man das eine oder andere Versehen
nicht allzu schwer anrechnen. So wenn S. 294 dieselbe Oertlichkeit
Taschberg heißt, die auf der nächsten Seite ohne weitere Aufklä-
rung Thorsbjerg genannt wird, oder die urgerm. Form desselben
Götternamens einmal (S. 380) als Tiwae angesetzt wird, sonst als
Tiu und Tius. In dem Satz S. 35: »nachdem er (Caesar) die Ger-
manen und Gallier zurückgedrängt« ist das Wort Gallier durch
Helvetier zu ersetzen. Und von den Sveben berichtet Caesar
nicht, wie es S. 160 heißt, Vieh hätten sie nicht erlaubt einzu-
führen, sondern Wein. S. 152 wäre kanab (nicht kanap) der rich-
tige Ansatz. Teutoburgensis saltus statt Teutoburgiensis (S. 148) ist
wohl nur ein unberichtigter Druckfehler ebenso wie erédava statt
Deridava (S. 53) oder got vasjan statt varjan (S. 424) oder — in
den Anhängen (S. 643 ***) — Danmarks volkesagn statt fol-
kesagn. Wenn es (S. 149) im Anschluß an die allerdings auch
unrichtige Vermutung, daß das Renntier und der Höhlenbär in hi-
454 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
storischer Zeit in Deutschland noch nicht lange verschwunden waren,
heißt: »elen- oder elchtiere, auer- und wisentochsen findet man Jetzt
noch in Littauen und Wolhynien, wenn auch äußerst sparlich<, so
kann ja M. das einmal unachtsamerweise gesagt oder niedergeschrie-
ben haben. Gewiß aber wußte er, daß der Auerochs ausgestorben
ist; und so wenig er selbst bei der Leberprüfung eines Manuscripts
gelegentlich seiner Drucklegung eine gegenteilige Behauptung stehen
lassen konnte, so wenig durften seine Herausgeber einen offenbaren
Lapsus dieser Art passieren lassen.
Sichtlich war ja M.s Germaniaheft auch in seiner jüngsten Ge-
stalt aus Stücken des verschiedensten Alters zusammengesetzt und
nicht Alles so sorgfältig und der Höhe seiner letzten Reifestufe ent-
sprechend überarbeitet, als es der Fall wäre, wenn sein Verf. es
druckfertig gemacht hatte. Nur so können sich Aeußerungen er-
klären wie die auf S. 102 über die Pannonier: »ob sie jedoch unbe-
dingt zu ihm« (nämlich zum illyrischen Stamm) »zu rechnen sind,
ist mir zweifelbaft, denn die uns überlieferten namen tragen z. t.
slawisches gepräge. Die am adriatischen busen wohnenden Veneter
gehörten zu ihnen<. Denn hier klafft ein Widerspruch gegenüber
DA. 2, 378 f., wo die Annahme slavischer Urbewohner in Pannonien
gewiß mit Recht nachdrücklichst zurückgewiesen wird. Ist hier nicht,
wenn man sich schon nicht entschließen konnte, die Anstoß erregen-
den Sätze zu streichen, ein aufklärender Hinweis auf M.s späteres
Urteil notwendig?
Ein ähnlicher Fall liegt auf S. 106 vor. Hier wird das Ver-
haltnis von lat. Rhönus zu ahd. Rin entschieden falsch beurteilt,
wenn es mit dem von dtsch. spisa zu rom. spesa, ahd. fira zu fertiae,
krida zu crela u.s.w. in Parallele gestellt wird. Denn dies sind
verhältnismäßig junge Lehnworte, denen eine ältere Schicht mit
germ. 2&, ahd. ia, aus lat. e (ae) vorausliegt. Vgl. biessa aus beta und
Riez aus Raelia neben krida aus creta, ziagal aus tegula, ziahha aus
theca und phiesal aus pensile neben pina aus poena. Rin kann aber
doch nicht für ein junges und überhaupt nicht für ein Lehnwort aus
dem Lateinischen gelten, und DA. 2,219 ist auch tatsächlich das
Richtige getroffen, indem Uebernahme eines dem gallischen Renos
notwendig vorausliegenden *Reinos ins Urgermanische angenommen
wird, das daraus *Rinaz entwickeln mußte. Anders läßt sich das
Verhältnis des deutschen zum keltischen Namen nicht auffassen, denn
aus dem jüngeren keltischen Rénos wäre wohl germ. Renae, ahd.
Rian geworden; dürfte doch kelt. e, das später auch im Irischen zu
ta wird, in seiner Qualität von germ. @s nicht sehr verschieden ge-
wesen und bei Entlehnung eher durch dieses als durch & oder er-
Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 455
setzt worden sein. Daß der Name Rhein beweist, daß die Germanen
nicht von jeher an dem Flusse gewohnt haben, wird übrigens von
M. auf S. 106 nicht mit Recht angenommen; denn lautliche Kriterien
dafür, daß eine Entlehnung erfolgt ist, und nach welcher Richtung
dies geschehen, liegen nicht vor, und es sind wesentlich außerhalb
des Wortes liegende Gründe, die uns veranlassen, an seinen kelti-
schen Ursprung zu glauben.
Eine andere Frage ist es, wie in solchen Fällen zu verfahren
war, in denen nicht gerade ein eigenes gereifteres Urteil M.s ein äl-
teres berichtigt, in denen aber doch seine spätestens 1882 nieder-
geschriebenen Ansichten seither von der fortschreitenden Wissenschaft
überholt sind, und zwar durch so einleuchtende und allgemein aner-
kannte Ergebnisse, daß auch er selbst sie sicherlich angenommen
hätte. So würde er heute so wenig wie ein anderer noch den Na-
men der Burgunden aus burg ableiten (S. 491) oder dem _ aisl.
elgr germ. e zusprechen (S. 488) oder unser Göte mit got. gudja
gleichstellen oder ags. cyne — das übrigens nur in Zusammen-
setzungen vorkommt und dem aisl. Simplex konr entspricht — als
ja- statt als «-Stamm ansehen (S. 189) oder Brünne und slav. branits
xoAsuelv zusammenbringen (S. 169) oder gar Leos — durch seinen
Namen hinlänglich gekennzeichneter — Erklärung unseres Graf aus
dem Keltischen das Wort reden (S. 191). Dasselbe gilt von Zu-
sammenstellungen wie ahd. biund und griech. gvrail« (S. 377), got.
magus und magan (S. 318), aisl. teningr und got. fauratani (S. 352)
u. a. mM.
Solche kleine Rückständigkeiten würden ja vielleicht bedeutungs-
los sein bei einem Buche, das nur für die Hände geschulter Germa-
nisten bestimmt ist. Das vorliegende aber wird ebensosehr oder
mehr noch seitens der klassischen Philologen zu Rate gezogen und
von den meisten von diesen, was Germanistisches anbelangt, als ein
Evangelium betrachtet werden. Ich glaube deshalb, daß es am
Platze gewesen wäre, dem M.s letzte Ansichten in möglichster Treue
wiedergebenden Text ergänzende, dem gegenwärtigen Stand der
Wissenschaft Rechnung tragende Anmerkungen beizufügen in der
Art etwa, wie es durch O. Schrader und A. Engler in der 6. Auf-
lage von V. Hehns Kulturpflanzen und Haustiere ge-
schehen ist. Damit wäre die Brauchbarkeit des Buches bedeutend
erhöht worden, und es würde sich mit der Pietät gegen einen großen
Gelehrten gewiß sogar vertragen haben, wenn auch auf solche be-
achtenswerte Meinungen neuerer Forscher mit aller Zurückhaltung
hingewiesen worden wäre, denen er sich vielleicht nicht angeschlossen
hätte.
456 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Es ist natürlich nicht möglich, hier etwa diese wünschenswerten
Ergänzungen oder selbst nur einen ansehnlichen Teil davon zu geben,
und ich mußes mir im besonderen auch versagen, auf alle die Punkte
einzugehen, an denen den Annahmen M.s diejenigen gegenüberstehen,
die ich selbst an dem einen oder anderen Orte zu begründen ver-
sucht habe und noch festhalte. Erwähnt sei dagegen, daß M. den
Namen der Sveben ganz ähnlich wie ich ZfdA. 32, 407 ff. verstanden
und wie ich Beitr. 17, 48 zu dem der Vandilii in Gegensatz gestellt
hat, eine Auffassung, der gegenüber mir aber jetzt seine schon durch
J. Grimm angebahnte Deutung als »Freiec den Vorzug zu verdienen
scheint. Im Uebrigen knüpfen sich meine folgenden Bemerkungen
an Ansichten des Verf.s, zu denen mir bisher noch nicht Gelegenheit
geboten war Stellung zu nehmen.
So befremdet mich auf S. 47 der Satz: »die Germanen werden
am Steinhuder meer aufs haupt geschlagen«. Handelt es sich dabei
doch im Gegenteil um einen Kampf, der nach der vorhergehenden
Niederlage der Cherusken an der Weser die ungebrochene Kraft die-
ses Stammes zeigte. Selbst der Bericht der Römer über ihn weiß
nur, daß letztere im Vorteil waren und an Boden gewannen, und dab
bis Abends gekämpft wurde, aber nichts von einer Flucht, und die
Mitteilung, der Kampf der Reiterei sei unentschieden geblieben, zeigt,
daß es auch im Falle einer solchen den Römern einfach an dem Mit-
tel gefehlt hätte, einen entscheidenden Sieg zu erringen. Ein Jahr,
nachdem sie angeblich aufs Haupt geschlagen wurden, stehen die
Cherusken und ihre Verbündeten dem Maroboduus gegenüber und
erweisen sich als die stärkeren! —
Im 3. Cap. der Germania berichtet Tacitus bekanntlich auch,
daß Ulixes nach Germanien gekommen sei und Asciburgium gegrün-
det und benannt habe: Asciburgiumque ab allo constitutum nomina-
tumque ACKIIITPTION. Die Vergleichung der Handschriften läßt es,
wie M. selbst zeigt, als nicht zweifelhaft erscheinen, daß dieser grie-
chisch geschriebene Name in a®, dem Exemplar Enochs gestanden
habe, und somit scheint auch ihm seine Ueberlieferung hoch hinauf-
zureichen, ja aus dem Altertum zu stammen. >»Allein«, bemerkt er
S. 139, »weder Tacitus kann ein griechisches wort und griechische
buchstaben in seinem text zugelassen haben (vgl. Wölfllin Philolog.
26, 160), noch auch können die gelehrten römischen antiquare ge-
glaubt haben, dadurch daß sie den barbarischen namen in griechi-
schen buchstaben schrieben und ihm eine halbwegs griechische ge-
stalt gaben, einen genügenden beweis für die behauptung zu liefern,
daß der ort von Odysseus gegründet und benannt sei. er muß vor
der verpflanzung der Sugambern in dies ehemals menapische gebiet
Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 457
schon einen gallischen namen gehabt haben, der an Ulixes erinnerte,
und wenn nicht mehr, so muß dieser ausgefallen sein, so daß Haupt
und schon vor ihm Hess und Passow mit recht nach nominutumque
eine lücke bezeichneten«. Die Lücke habe dann jemand, der sich
der Kenntnis des Griechischen erfreute, mit den griechischen Buch-
staben ausgefüllt. Dabei ist aber eine ganze Reihe von im einzel-
nen unerweislichen und nicht einmal wahrscheinlichen Voraussetzungen
nötig, und schließlich wird demjenigen, der die griechische Namens-
forın in den Text setzte, die Bekanntschaft mit der Tatsache zuge-
traut, daß lateinisch -burgium dem griechischen -xvgyov entspricht.
Wirklich ist, so wie lat. burgus aus griech. xveyog entstanden ist,
auch -burgium als zweites. Kompositionsglied von Ortsnamen auf
griech. -xvgyvoy zurückzuführen und das rheinische Quadriburgium
z. B. lat. Nachbildung von griech. Terganvpyıov »Kastell mit 4 Tür-
men«, wie ich schon ZfdA. 41, 114 gezeigt habe. Was das Laut-
verhältnis anbelangt, erinnere ich außer wie dort an Burrus, buxus,
buxis, baxea gegenüber griech. IIvggds, vos, xvéug, wd& noch an
mittellat. bufina aus griech. zvrivn. Die Herkunft von Burrus aus
IIvegos ist sogar durch Cicero, Or. 48, 160 bezeugt; ebenso mußte
römischen Gelehrten der Ursprung von lat. burgus und -burgium be-
kannt sein; aber man sieht schon, daß nur im Altertum selbst die
Uebertragung von Asciburgium in ’daxınvgyıov möglich gewesen
wäre. Zugleich aber ist es klar, daß damals alle Antiquare, es sei
denn, daß sie selbst etwas vom Germanischen verstanden hätten, das
-burgium in Namen germanischer Herkunft nicht von dem aus xvg-
yıov latinisierten -burgium in Quadriburgium z.B. unterscheiden konn-
ten, und für sie nichts näher lag, als einen Namen Asciburgium für
einen von Haus aus griechischen zu halten. Darauf, daß auch des-
sen Bestimmungswort Anknüpfung an ein griechisches wie doxds ge-
stattete, kam es dabei gar nicht an. War aber einmal die Vorstel-
lung von einer griechisch benannten und daher natürlich von Griechen
gegründeten Stadt aın Niederrhein gegeben, so mußte man die Grün-
dung doch wohl dem Odysseus zuschreiben, der allein in jene Gegen-
den gekommen sein konnte und nach einer bereits gangbaren An-
sicht tatsächlich in den nördlichen Ozean gekommen war. Der Zu-
sammenhang zwischen dem Namen Asciburgium und der Sage von
dessen Gründung durch Odysseus ist also so einleuchtend, daß man
ihn einer grauen Theorie zuliebe, daß in einer Schrift — notabene
einer wissenschaftlichen — des Tacitus zwar da und dort ein ger-
manisches, aber kein griechisches Wort und griechische Buchstaben
vorkommen dürfen, nicht zerreißen wird. Uebrigens wäre alles klar,
auch wenn man ’4oxımöpyıov aus dem Text streicht.
Gott, gel. Anz. 1901. Nr. 6. 31
468 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Vielleicht ist hier auch ein Wort über das Verhältnis von Asci-
burgium zu dem heute geltenden Namen des Ortes, Asberg, am
Platze. Auch Asciburgium ist wahrscheinlich als »Eschenberg«, nicht
»Eschenburg< zu verstehen — vgl. ZfdA. 41,140 —, und die Neben-
form mit -berg daher eine gleichbedeutende und wohl sehr alte. Im
Uebrigen fügt sich Asberg gegenüber Asciburgium zu dem schon bei
Braune, Ahd. Gr. $ 146 Anm. 5 verzeichneten Vorkommen von Aus-
fall des & in der Gruppe sk + Konsonant, das dann von E. Schröder
im AfdA. 24, 21 durch weitere interessante Beispiele aus verschiede-
nen Teilen des deutschen Sprachgebietes belegt worden ist. Die Er-
scheinung greift sogar über das Deutsche räumlich und zeitlich hin-
aus. Schon der Gepide ”4oß«ados bei Prokopios 3, 38. 4, 32, von des-
sen Hand Totila fiel, ist ja wohl ein gotischer *Ask(i)badws »Speer-
kämpfere. Auch unter langobardischen Namen wie Aspert, Aspran-
dus, Asfredus mögen einige mindestens aus Zusammensetzungen mit
Ask- entsprungen sein. Vor allem aber gehört hieher der Name
Assi, den einer der wandalischen duces in der Or. G. Lgbd. führt.
Bereits Koegel hat ihn in seiner Gesch. d. dtsch. Lit. I 1, 107 für
Asci genommen unter Voraussetzung einer Verderbnis. Auf die Zu-
flucht zu einer solchen sind wir aber gar nicht angewiesen. Ass-
mann, das E. Schröder a.a. O. neben Asche als gebräuchliche Kurz-
form zu Ascwin anführt, kann allerdings unmittelbar aus Ask-mann
entstanden sein, ohne ein vermittelndes Asso vorauszusetzen. Es ist
aber klar, daß aus allen Vollnamen, in denen Ask- durch Ekthlipse
zu As- geworden war, auch Kurzformen ohne das fk entspringen
konnten. Das Doppel-s in Assi erklärt sich dabei eher aus hypoko-
ristischer Gemination als durch Wirkung der ja-Ableitung. Weniger
wahrscheinlich ist hier auch hypokoristische Assimilation, deren Rich-
tung derjenigen in Otto, Anno, Woffo, Eppho aus Orto, Arno, Wolfo,
Erpho entgegengesetzt wire ‘).
1) Wenn Assi an die Stelle von Asci getreten ist, so fällt jetzt schon die
Aehnlichkeit des Namenpaares Asst und Ambri der wandalischen duces mit denen
der ersten Menschen nach der Voluspp, Askr und Embla, auf. Noch deutlicher
wird sie, wenn wir in Betracht ziehen, aus welchen Grundformen Embla ent-
springen kano. E ist hier notwendigerweise Umlaut-e, geht also auf a@ zurück,
und die Ursache des Umlautes werden wir, wo die Voraussetzung einer Ableitung
auf -tlön- so nahe liegt, nicht wohl in einem -jön-Suffix suchen. Dann aber geht
es nicht mehr an, das b als eine jüngere Entwicklung zwischen m und 7 aufzu-
fassen, da eine Grundform Amilo nur Am(b)la ergeben konnte. Der Umlaut
spricht also hier für ursprüngliche Länge der Stammsilbe. Die Grundform könnte
also Ambilö gewesen sein. Doch läßt sich im Germanischen ein amb nirgends in
Namen oder sonst nachweisen, denn Ambioric, Name eines Eburonen-Fürsten bei
Caesar, ist gallisch und muß fern gehalten werden. Vgl. auderseits neben jenem
Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 459
Nicht ganz verständlich ist mir die Bemerkung zu dem säpo
des Plinius S. 336: »Besser würde zu den deutschen wörtern (Seife
und seiner Sippe) lat. sedum ‚talg‘‘ stimmen und es ist auch zu be-
achten, daß Plinius das fabrikat ausdrücklich eine erfindung der
Gallier nennt und daß man aus seinen worten eher auf eine pomade
als auf eine seife schließen muß«. Wie weit Behandlung mit Seife
auf die Farbe der Haare von Einfluß sein kann, überlasse ich ande-
ren zur Entscheidung; aber daß es sich um etwas wie unsere Seife
handelt, beweist die Zubereitung ez sebo et cinere (Plinius 28 § 191).
Daß auch die Germanen den sapo verwenden, bezeugt Plinius a.a.O.,
und wenn er ihn für eine Erfindung der Gallier ausgiebt, so hat ihn
dazu kaum etwas anderes veranlaßt, als der Umstand, daß die Römer
die Sache bei den Galliern zuerst sahen. Wenn aber diese dafür
ein fremdes, germanisches Wort gebrauchten, wird man weit eher
den Germanen die Erfindung zuschreiben dürfen. Zwar beweisen ja
Lehnworte anerkanntermaßen nicht immer etwas für die Entlehnung
der durch sie bezeichneten Dinge. Besonders in Zeiten starken kul-
turellen Uebergewichtes eines Volkes über ein anderes (sei es auch
nur auf einem bestimmtem Gebiete) gibt es diesem neben Ausdrücken
für neue Begriffe auch solche für längst Bekanntes ab. In unserem
Fall erfolgte aber die Entlehnung gegen die Richtung der Kultur-
strömung, und ich möchte darum hier schon auch an die gleich-
zeitige Vermittlung der Sache selbst denken und ebenso bei braca
»Hose«, das jetzt durch einen schönen etymologischen Fund O. Schra-
ders (ZfdWortforsch. 1, 239) mit Bestimmtheit als ursprünglich ger-
manisch erwiesen ist. Wer dabei an der lautlichen Differenz zwi-
schen säpo und germ. *saipd oder *satpid Anstoß nimmt, für den
kann doch auch lat. scbum mit seinem é keine bessere Anknüpfung
bieten. Denn soll dieses verwandt sein, so muß es entweder eine
variierte Wurzel oder den Rest eines Langdiphthongs enthalten, ein
Ausweg, der aber im schlimmsten Falle auch für sapo offen bliebe,
so daß man nicht sagen kann, daß Serfe zu sebum besser stimme.
Man ist auch wirklich versucht, sdpo nicht unmittelbar zu Setfe zu
Ambri noch Ambremar und Ambrihho (Emerca, Amerigo, Emmerich) und den
Volksuamen der Ambrones, ablautend Ymbre, "OuBewves. Eine Grundform Am-
brilé würde deshalb viel annehmbarer sein als Ambilé; es wäre eine ganz ähn-
liche Bildung wie der Mannesname Ambrthho, nur mit dem }- statt dem k-Suffix.
Und auch aus Ambrilö mußte ganz wie aus Ambilo im Aisl. Eimbla werden; ein
Embrla, das sich zunächst hätte ergeben sollen, wurde sofort in Embdla gekürzt.
Vgl. fedgar aus *fedrgar, aschw. run. fadrkar u.a.m. bei Noreen, Aisl. Gr. § 245.
Es stehen sich also Asst (= Asci) + Ambri und Askr + Embla (aus *Ambrilö)
gegenüber.
31 *
460 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
stellen, sondern auf ein mit sebum ablautendes idg. *sobön- zurück-
zuführen. Das ä statt ö könnte auf Rechnung des Gallischen ge-
setzt werden; es ist übrigens gar nicht unwahrscheinlich, daß auch
im Germanischen idg. 6 zunächst zu @ oder d geworden und mit
altem a zusammengefallen ist, um später erst zugleich mit diesem
wieder zu ö zu werden. Aber für die Wiedergabe von fremdem ai
durch ä, die ja für die spätere Behandlung germanischer Lehnworte
im Romanischen die Regel ist, bietet sich uns in crdpula aus griech.
xocırcain, worauf mich Meyer-Lübke aufmerksam macht, ein sehr al-
tes Beispiel, neben dem niemand mehr ein sdpo aus saipö bean-
standen wird. Das Wort ist, nebenbei bemerkt, ein Beleg für den
Ausgang -o des Nom. Sing. der schwachen Feminina auch im West-
germanischen neben Aliso, ’EAıawv, Arbalo (?), Idistaviso, Strubi-
loscalleo. |
Unzutreffend ist auch die Bemerkung : »Ein anderes wort« (für
Seife) >ist nur aus dem ags. und altn. belegt: leapor laudr ... .«
Denn ein läda „Seifenwasser‘“, das buchstäblich damit übereinstimmt,
ist aus Castelli, Wbch. 186 bei Schmeller-Frommann I 1437 gebucht.
Es ist ein in Wien sehr gebräuchliches Wort. Vgl. auch griech.
Aovrodv, kelt. *lovatro-, *loutro- „Bad“.
S. 398 sind die Bataven als die Vorfahren der salischen Fran-
ken und S. 399 die Niederländer als Nachkommen der Bataven aus-
gegeben, was aufs selbe hinausläuft. Doch deckt sich das Saalland,
das wir als älteste Sitze der salischen Franken betrachten müssen,
nicht mit der Insula Batavorum, und auf diese haben die Franken
nachweislich von außen her zuerst vorübergehend, dann dauernd über-
gegriffen. Dem Schluß auf S. 399, mit dem der Bericht des Tacitus
über die chattische Abstammung der Bataven widerlegt werden soll,
(»auch können die Niederländer, die die nachkommen der Bataven
sind, nicht von den Hessen abstammen, ohne daß sämmtliche übrigen
fränkischen stämme rheinaufwärts desselben ursprunges sind. Das
aber ist unmöglich, da die Chatten Sueben d.h. Irminonen, jene da-
gegen istvaeonisch sind<) ist also schon durch die Unrichtigkeit
eines Vordersatzes die Berechtigung entzogen. Dazu kommt aller-
dings noch, daß die Chatten tatsächlich — wie heute wohl allgemein
zugegeben wird — keine Sveben sind. Ferner haben sich ja gerade
auch die Hessen dem Frankenbunde angeschlossen, und ebenso könn-
ten Stämme hessischen Ursprunges in diesem aufgegangen sein und
umso vollständiger, je früher ihr Anschluß erfolgte; dies alles sogar
wenn M.s Ansichten über die Herkunft des Frankenbundes und des
Fränkischen und über das Alter seiner Grundlagen zu Recht be-
stehen. Mindestens ebenso gut könnten doch Bataven in fränkischer
Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 461
Umgebung zu Franken geworden sein, als etwa Barden oder Nord-
schwaben — in weit kürzerer Zeit — in den Sachsen aufgegangen
sind. Was von Bataven im 4. Jahrh. noch übrig war, müssen wir
uns übrigens schon ganz oder nahezu ganz romanisiert vorstellen.
S. 210 heißt es: »Veleda muß nach allen analogien got Vilifa
entsprechen, wie Venedae got. Vinihös (DA. 2, 34)<. Germanisch 2
wird aber von den Römern immer durch ¢h oder ¢, nie durch d
wiedergegeben, und wenn auch ein got. Winifdéds gewiß bestanden
hat, was schon aus dem Namen des Gotenkönigs Winitharius her-
vorgeht, und wenn auch das ahd. Winida germ. 5 voraussetzt, so
ist doch eine dazu im Verhältnis grammatischen Wechsels stehende
Form schon in ags. Winedas und Weonodland bezeugt, und zu die-
ser gehört unmittelbar das röm. germ. Venedi, Venadi, dem got. nur
Winidös, Winadös entsprechen könnte. Ebenso wäre Veleda got.
Wilida. Aber auch die Deutung von Veleda a.a.QO. ist kaum zu-
treffend. Der Name ist wohl nur ein Beiname, der nichts anderes
als »die Seherin< ausdrückt. Er ist germ. Entsprechung — nicht
etwa Entlehnung, mindestens nicht junge, — zu kelt. *velet »Seher«
und als solche von Bezzenberger bei Fick, Vgl. Wb.‘ 2,277 und,
wenn ich nicht irre, früher schon von Windisch erkannt. Dieselbe
Stufe des Dentals, die sich aus der Wirkung des Vernerschen Ge-
setzes erklärt, zeigt auch as. mimid, das man gleichwie ais]. /undr
S. 221 unter den germ. Bezeichnungen für die Weihtümer vermißt.
Für die Sitte, jedem Einzelnen beim Gastmahl einen Tisch vor-
zusetzen, die M. S. 337 auch als homerisch-griechisch und keltisch
belegt, bringt ein auf die Thraker bezügliches Zeugnis W. Toma-
schek, Die alten Thraker I 123 (WSB. 128), so daß wir sie wohl
als eine ureuropäische ansprechen dürfen. Daß aber got. biups
eigentlich das sei, womit man darreicht, darbietet, also gewisser-
maßen ein Präsentierteller, scheint mir fraglich, obwohl dies die
gangbare, auch von Uhlenbeck, Et. Wb. d. got. Spr. vertretene Er-
klärung des Wortes ist. Geradezu ausgeschlossen ist es gewiß nicht,
daß sich aus dieser Grundbedeutung die bei Grimm, DWb. II 3 und
Schmeller-Frommann I 306 für bie? belegte von > Weinkelter« (eigent-
lich »Preßtisch«) entwickeln konnte und auch noch die von ober-
rhein. bieten »Vorderdeck« — vgl. übrigens auch hinter biet »puppis«
bei Grimm, DWb. II 4 —, das Kluge, EWb.* 44 mit Recht zu biups
stellen möchte. Wenn sich uns aber auch ein ags. bydne »Schiffs-
boden« darbietet, und bei ahd. podam, mhd. bodem, ndl. bodem, eng).
bottom selbst ebenfalls eine Bedeutungsentwicklung in der Richtung
von >Schiffsboden, Schiff« bemerkbar ist, wird man zunächst bieten
und dann auch biufs als Formen mit der Ablautstufe eu in die
462 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Sippe von Boden einreihen. Eine Form ohne das determinierende
m oder », wie sie got. biups darstellt, liegt auch dem angeblich l-
gurischen Namen des Po Bodincus, Bodsyxo; zu Grunde, der von
Plinius gewiß nicht ganz korrekt als »fundo carens< glossiert wird,
aber doch wohl von einem idg. Wort für Boden abgeleitet sein wird
oder an ein solches so sehr anklang, daG ihn die Volksetymologie
damit in Verbindung bringen konnte.
Ueber Speer, ahd. sper. aisl. spior (Plur.) zu sagen: »Das wort
ist wohl entlehnt< (S. 166) halte ich nicht für gerechtfertigt. Es
folgt allerdings eine Begründung: »wenigstens erscheint lat. sparus
bei Gellius 10, 25,2, Nonius, Sallust, Virg. Aen. 11,682 und wenn
auch das lautliche verhältnis nicht ganz stimmt, so muß doch wohl
identität der worte angenommen werden<. Aber kann man über das
Nichtstimmen des lautlichen Verhältnisses so leicht hinwegkommen?
Ergäbe nicht sparus, von den Germanen aufgenommen, notwendig
ahd. spar statt sper’ Vielleicht ist sparus keltisch; daß es als
Bauernwaffe bezeugt wird, widerspricht dem nicht. Dann könnte
hier das a aus e entstanden sein, wie es gerade vor r in keltischen
Worten öftere der Fall ist: vgl. Garmani, Varagri neben Germani,
Veragri, Carvetii und cymr. carw gegenüber lat. cerrus, auch noch
cymr. sarph aus lat. serpens u.dgl.m. Unser Speer könnte dann mit
dem kelt. Worte urverwandt sein oder müßte, wenn es entlehnt ist,
an eine ältere Lautform anknüpfen.
Für Oxionas (Germ. c. 46) wird auch jetzt (S. 517) wie DA.
2, 354 und schon bei Haupt 10, 565 Etionas gelesen, da in der alten
t Etionas
Dittographie Orionas, die nach B he in den beiden Familien BCE
vorkam, die obere Lesart als Korrektur zu betrachten sei. Sie biete
die allein richtige Form des Namens. Aber ist das mehr als eine
Behauptung ? Die Ueberlieferung Orionas ¢ Etionas allein gibt der
zweiten Form noch kein Uebergewicht über die erste, und wir müs-
sen zunächst fragen, wie sich die eine aus der anderen entwickelt
haben kann. Es geht et voraus und somit ist et Etionas für et
Oxionas aus dem Eindringen einer Doppelschreibung für ef zu ver-
stehen. Was aber gibt es für eine Erklärung für ein Ozionas aus
Etionas? Eine einleuchtende Etymologie könnte noch zu Gunsten
von Etionas entscheiden. M. denkt an got. *é/ja in afétja »Fresser«
und vergleicht ipfunn, eoton, etan »Riese«, eigentlich »Essere. Aber
der Begriff »Riese< haftet doch im Germanischen nicht an dem von
»Fresser«, sondern bereits an einer bestimmten Wortform, die aller-
dings ursprünglich »Fresser« bedeutet. Auch Ilellusii deutet M.,
DA. 2, 354 f. als »Riesen«, indem er es zur idg. Wurzel kel »hoch,
Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde, 4. Bd. 468
erheben< stellt, obwohl Tacitus sonst nirgends germ. A durch etwas
anderes als ch wiedergibt — außer wohl in Hari: — und obgleich
gerade dem e — ich erinnere an Helvu, Helvetii, Helvecones, Her-
cuniates, Herminones, Hermunduri, Heruli — die Römer ein h vor-
zusetzen liebten. Wäre hier sicher von Riesen die Rede, so müßte
es schon auffallen, nicht ein bekanntes germ. Wort für sie und statt
dessen zwei sonst unbekannte zu erfahren. Hier aber handelt es
sich um halb menschliche, halb tiergestaltige Wesen, was doch die
Riesen nur ganz gelegentlich waren, und auf das müssen notwendig
auch die Namen hinweisen, geradeso wie bei den Pferdefüßlern,
Eieressern und Ganzohren, deren merkwürdige Eigenschaften schon
der Naıne hervorhebt; und wir müßten das voraussetzen, auch wenn
uns ihre Etymologie dunkel bliebe. Doch ist dies nicht der Fall,
denn bei den Oriones ist ja offenbar von »Ochsen- oder Stierartigen«
die Rede. In Hellusiz scheint mir der Ableitung ein ella- zu Grunde
zu liegen, das selbst (wie griech. &AAdg »Hirschkalb«) aus elnö- ent-
standen ist und in asl. jeleni, lit. elnis, arm. eAn, cymr. elawn, griech.
Zlagos (aus *eln-bhos) nächste Verwandte besitzt. Das s- oder z-
Suffix, das um eine — vermutlich adjektivische — ja-Ableitung ver-
mehrt erscheint, ist bekanntlich in Tiernamen sehr produktiv, und
zwar mit verschiedenem Mittelvokal; mit « z.B. auch in ahd. nihhus,
ags. nicor. Wie hier neben *ellu- »Hirsch« eine solche Weiterbil-
dung mit s vorausgesetzt wird, steht auch neben elch ags. eolx (s.
Grienberger, Arkiv 15, 12ff.) und gall. elkeso- im Namen Elkeso-
-viz. Die Hellusiw sind also die »Hirschartigen<. Es verdient auch
Beachtung, daß ihr Name mit dem der Oziones allitteriert.
Diese Deutung hat freilich zur Voraussetzung, daß die Namen
aus griech. Quelle fließen. Denn die Römer hätten germ. Uhsjonez
durch Uxiones wiedergegeben, während die Griechen es durch ’O&io-
veg oder ’T&lovsg ausdrücken konnten: vgl. Aoyiwvss, "Oßıoı, *E(@)-
udvdogot, "Oußewves, Odgıyyoı mit o für germ. u. Welche griech.
Quelle hier vorlag, ist allerdings fraglich. Außer Tacitus wissen
Caesar, Mela und Plinius, ebenfalls griechischen Gewährsmännern fol-
gend, von Fabelvölkern am nördlichen Ozean zu berichten, und nach
M., DA. 1,492 gehen diese Erzählungen bis auf Pytheas zurück,
dem Strabo vorwarf, daß er über die skythische xagwxeavirig Lügen-
geschichten vorgetragen habe. Unmdglich ist es deshalb nicht, daß
auch die Oriones und Hellusii bis auf Pytheas zurückreichen. Jeden-
falls aber gehören die Namen zu den ältesten uns überlieferten ger-
manischen Sprachresten. —
Wenn wir von Einzelheiten absehen, werden wir Müllenhoffs
Erläuterung der Germania allerdings als das weitaus Umfassendste
464 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
und Beste anerkennen müssen, was über diesen Stoff je geboten wor-
den ist; und merkbar weiter in ihrem Verständnis es zu bringen,
dürfen wir gar nicht hoffen. Aber selbst eine Entscheidung in sol-
chen Fragen der Texterklärung, die noch Zweifel übrig lassen, wird
unserem Wissen von den Sachen selbst nicht viel Bereicherung brin-
gen und jedenfalls nicht den hundertsten Teil von derjenigen, die
wir uns vom Spaten des Archäologen noch erhoffen dürfen. Auch
heute schon sind die Ergebnisse der prähistorischen Archäologie für
die germanische Altertumskunde sehr ansehnliche, zumal in Folge
der Fortschritte, die in der Feststellung der absoluten und relativen
Chronologie der Funde gerade in der jüngsten Zeit gemacht wor-
den sind.
Diese Fortschritte hätten allerdings nur zum geringeren Teile
bereits M. zu gute kommen können, aber auch aus dem zu seiner Zeit
schon Erreichten hätte sich viel mehr für seinen Zweck verwerten
lassen, als tatsächlich geschehen ist, — ohne daß etwa philologische
Einseitigkeit einen Zug im wissenschaftlichen Charakter M.s bildete.
Wo schon prähistorisch-archäologische Dinge berührt werden,
sind M.s Bemerkungen nicht immer glücklich. So ist die Vermutung
(S. 163), daß die Gallier noch zur Zeit des zweiten punischen Krie-
ges kupferne Waffen benutzten, ganz unhaltbar, und die Berufung
auf Polybios 2, 33 nicht am Platze, denn dieser erzählt, daß die
Gallier ihre Schwerter, die sich nach dem ersten Hieb schon ver-
bogen, immer wieder gerade treten mußten. Sie taten dabei nichts
anderes als was jeder, der sich auf einem Fechtboden bewegt hat,
schon hundertmal getan hat. Und um eiserne oder schlecht gestählte
Waffen handelt es sich dabei. Kupferne Schwerter gab es übrigens
bei uns überhaupt nie, auch in jener — über ein Jahrtausend vor
dem zweiten punischen Krieg zurückliegenden — Zeit 'nicht, in der
man Kupfer unlegiert zu Waffen und Werkzeugen verarbeitete. Auch
die Folgerung, daß, als die Römer mit den Germanen zusammen-
trafen, die Eisenwaffen noch nicht lange in Gebrauch gewesen sein
können, ist unrichtig, ebenso wie die Behauptung (S. 164), daß die
aufkommende Eisentechnik unter dem Einfluß der römischen stand,
die mehrere Jahrhunderte dauernde La-téne-Zeit übersieht. Nicht
minder unzutreffend ist der Satz: »Das eisen wird nicht wie das
kupfer gediegen gefunden und ist daher schwer zu gewinnen<. Denn
das in Europa verwendete Kupfer war nicht aus gediegen lagerndem,
sondern aus Erzen gewonnen. Bei gebührender Rücksichtnahme auf
die Funde hätte M. auch nie wie auf S. 390 behaupten können:
»das südliche Deutschland ist ebenso wie Ungarn lange hin eine
Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 465
herrenlose wüste und einöde gewesen, in die erst in historischer zeit
von westen und von südosten her eine bevölkerung eindrang«.
Eine in diesem Bande zuerst abgedruckte Abhandlung »Zeit-
und Himmelseinteilung der Germanen« ist leider ein Bruchstück.
Den breitesten Raum in dem, was ausgearbeitet ist, nimmt eine
Untersuchung über die Namen der Himmelsgegenden in Anspruch,
die mit einer Zusammenstellung von mit diesen zusammengesetzten
Personennamen abschließt. Unter diesen sind übrigens manche nicht
eindeutig. Warum könnte in Östurberht z.B. östar nicht aus idg.
*qusro- »licht, glänzend« entstanden sein? Dann würde sich aber der
Name nicht zu ahd. as. östar »nach Osten< und aisl. austr »Osten<
stellen, sondern zu Ostern, der ags. Göttin Eosfrae und lit. auseräd.
Sundar gehört in einigen und vielleicht sogar den meisten Fällen zu
sonder-, ahd. suntar »ausgezeichnet, vorzüglich«; Sundarberht, Sun-
darmar , Sundarhart z.B. wird genau so gebildet sein wie ags. sun-
dorwis; Sundarmuot wie ags. sundorereft, mhd. sunderkraft, sunder-
list; Sundarolt wie ahd. sunderfursto; Sundarrät wie mhd. sunderrat
u. s.w. Westar deckt sich formell mit mhd. wester »Taufkleid«,
einem Worte, das natürlich älter ist als die christliche Färbung sei-
ner Bedeutung. Es liegt offenbar vor in dem ahd. Namen Westar-
foldan bei Graff I 1086, den ich als >der mit weitem Kleide< oder
noch lieber als »der mit breiter Taille« verstehen möchte unter
Voraussetzung eines Bedeutungswandels jenes westur, der dem in
engl. waist parallel läuft und dem in Mieder, Leibchen, Aermel,
Bruch, culotte entgegengesetzt ist; foldan ist dann gleich idg. *plta-
nos und entspricht genau gall. -ditanos, air. lethan, acymr. litan, neymr.
Ilydan, bret. lcdan »breit< in Namen wie Koyxo-Adravog, Smertu-
litanus, Ailt-lethan.
Von einer Etymologie wie der Herleitung von ags. tima, aisl.
fimi aus einer Wurzel dik (S. 646) gilt das eingangs Bemerkte.
Verfehlt ist auch die Deutung von Nord, die S. 659 ff. gegeben
ist. M. knüpft an slav. Worte wie nor@ und nora »Loch, specus,
latibulum« und eine dazugehörige Verbalwurzel, die »tauchen« be-
deutet, an und erklärt daraus unbedenklich nord »gegen den Ab-
grund, nach der Unterwelt hin<, deren Eingang man in den Norden
verlegt habe, wie in den Nordwesten den ungeheuren Schlund, der
das Meer täglich zweimal einschlürft und ausspeit. Norgver, dessen
erstes Kompositionsglied ihm wie das von Visi-gothi noch keine Den-
talableitung aufzuweisen scheint, wäre darnach, wie er meint, ein
Synonym zu helvegr. Aber könnte man ein Land überhaupt den
»Weg in die Unterwelt« nennen, was ja Ähelvegr ohne Zweifel be-
deutet? Auch hält M. selbst S. 651 den alten Landschaftsnamen für
466 Gott. gel. Anz, 1901. Nr. 6.
im wesentlichen gleichbedeutend mit dem Appellativum nordr-vegr, in
dem aber vegr grade wie in austr-, vestr-, sudr-vegr die Bedeutung
»Gegend« hat. Gegen den Ansatz des ersten Kompositionsgliedes
von Nor(v)egr als nor- spricht auch schon die Tatsache, daß die äl-
teste und bei weitem gewöhnlichste Form des Namens Nor(v)egr mit
ö ist, und es kommt dabei gar nicht darauf an, ob diese Länge, wie
Noreen, Svenska Etymologier 22 glaubt, schon dem Simplex zukam,
und wie dieses dann zu deuten ist, oder ob ein Fall von Ersatz-
dehnung vorliegt, also doch von einer Grundform Nordr-vegr auszu-
gehen ist. Für M.s Erklärung von Nord selbst ist das nebensäch-
lich. Aber diese schwebt schon darum in der Luft, weil das voraus-
gesetzte germ. Wort für »orcus« nicht nur nicht belegt, sondern
auch nicht mit einiger Wahrscheinlichkeit erschließbar ist. Außer-
dem war die Vorstellung von der nördlichen Lage des Seelenheims
nie so allgemein und so lebendig, daß ein Ausdruck mit der Wort-
bedeutung »unterweltwärts< im Sinne von >nordwarts< gemeinver-
ständlich gewesen wäre. Die richtige Erklärung von Nord ist offen-
bar die von Bugge, Bez. Beitr. 3, 105 gegebene, der an griech. vég-
tégog »unten, weiter unten befindlich« und umbr. nertru »links< an-
knüpft und nur nicht klar erkennen läßt, ob er den Norden als »die
linke« oder »die untere Gegend« verstanden wissen will. Noch we-
niger klärt Kluge im Et. Wb. über die hier vorliegende Begriffs-
entwicklung auf, und seine Bemerkung, daß Zusammenhang mit
griech. végregog »voraussetzen würde, daß die Schöpfung des Wortes
in eine Zeit fällt, wo die Germanen den Nordabhang eines Gebirges
herunterstiegen«, führt meines Erachtens ganz ab. Auch die Deu-
tung bei Noreen, Abr. 209 „nordr »nordwärts«, eig. »nach der Erde
hin< (vgl. sudr »südwärts« aus *sun-pbr- zu got. sun-nö »Sonne« u.a,,
also »nach der Sonne hin«)“ befriedigt nicht vom Standpunkte des
selbst auf der Erde Befindlichen aus, der auf allen Seiten von ihr
umgeben ist. Jedenfalls liegt dem Begriff »nördlich« zunächst der
Begriff >links< voraus, ein Bedeutungsübergang, den wir in verschie-
denen orientalischen und idg. Sprachen beobachten können, und der
mit Recht aus der Stellung des mit dem Angesicht gegen Osten zu
Betenden erklärt wird. Hieher gehört u.a. aind. daksina und ir. dess
»rechts« und »siidlich«, ir. Zuath »links« und »nördlich«. Innerhalb
des Germanischen hat hieran anknüpfend Kern, Rev. Celt. 2, 173 den
Namen der Insel Texel und der Landschaft Testarbant als die »siid-
liche« und den »Südgau« gedeutet. Ein Wald Suwiftarbant an der
Ijssel, den JGrimm, GDS. 412 nach Lacomblet anführt, enthält dann
offenbar ein sonst verlorenes germ. Wort für »links<« und >»nördlich«,
das zu cymr. chwith »links« aus *sviptos gehört, und die Nachbar-
Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde. 4. Bd. 467
gaue Testarbant und Swiftarbant verhalten sich gradeso zu einander
wie die Gaue Ostrobant und Westrobant an der Schelde, die Grimm
2.8.0. beizieht. Da umbr. nertru als >links< bezeugt ist, wird man
nach den eben erwähnten Seitenstücken auch im Germanischen ein
*yurbra- *nurpera- »links<, später »nördlich« vorauszusetzen haben.
Zum umbr. Worte steht das germ. in Ablautverhältnis; vgl. übrigens
den Völkerschaftsnamen der Negregsavoi bei Ptolemaios, der mir aus
*Nerteränei verderbt zu sein und zu nordröni norrann zu gehören
scheint. Daß aber die Bedeutung »links< von nertru wieder gegen-
über der von griech. végregog die jüngere ist, geht, wie schon bei
Aufrecht und Kirchhoff, Umbr. Denkm. II 219 erkannt ist, daraus
hervor, daß den Umbrern auch sonst die linke Seite als unten, die
rechte als oben galt. Dasselbe müssen wir nun auch für die Ger-
manen voraussetzen.
Bedeutete *nurpra- einmal »links<, so könnte man sogar ver-
muten, daß *sunbra- ursprünglich soviel wie »rechts< ausdrückte und
zu swinds in Ablautverhältnis, zu unserm (ge)sund in dem gram.
Wechsels steht; vgl. ags. swfdra »dexter<. Anderseits liegt aber
die Bezeichnung der südlichen Himmelsgegend nach der Sonne wirk-
lich nahe. Die nördliche Seite hätte man im Gegensatz dazu pas-
send als die der Nacht und des Schattens bezeichnen können, wie
denn in bair. Mundart, der die alten Worte für Nord und Süd ab-
handen gekommen sind, dem Sunnberg, der Sunnleiten, der Sunnseiten
immer der Schattbery, die Schatileiten, die Schattseiten gegenüber-
steht und auch schatthalb für nördlich vorkommt. Vielleicht gab es
sogar im Germanischen schon ein mit skadus und griech. ex6rog
verwandtes Wort für »Nord« ; vgl. *Scadanau , quod tnterpretatur in
partibus aquilonis in der Or. g. Lgbd. Ob übrigens jene Dialekt-
worte eine ältere Geschichte haben oder nicht, so wäre es doch
jedenfalls von Interesse zu untersuchen, wie die oberdeutschen Mund-
arten für die verlorenen alten Bezeichnungen der Himmelsgegenden
Ersatz finden, besonders in den Windnamen. Aus dem Salzkammergut
kenne ich noch ein Sunnwind (d.i. Sundwind) neben einem rätselhaften
Rosnwind »Ostwind« ; aus Niederösterreich und zwar der Gegend von
Scheibbs ein Wälwind »Südwind«, d.i. »wälscher Wind<; vgl. Wal-
nuß. —
In weit höheren Maße noch der Nachprüfung und Berichtigung
bedürftig als das, was der vorliegende Band an Neuveröffentlichtem
enthält, sind natürlich die hier wiederum abgedruckten Abhandlungen
aus Schmidts Zschr. f. Gesch. und aus der Zschr. und dem Anz. f.
dtsch. Altertum. Der Grund hiefür liegt in dem Alter dieser Auf-
sätze. Wenngleich auch bei diesen uns Anmerkungen erwünscht
468 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6,
wären, müssen wir doch auch in der Gestalt, in der er uns geboten
wird, für den Neudruck dankbar sein. Handelt es sich doch der
Mehrzahl nach um Untersuchungen, an die jeder immer noch an-
knüpfen muß, der auf diesem Gebiete arbeitet. Daß nicht alles
darin stichhaltig ist, und manches heute veraltet erscheint, ist sogut
wie selbstverständlich und begründet keinen Tadel angesichts der
Fülle des dauernd Wertvollen, das sie enthalten.
Uebrigens ist M.s wissenschaftliche Bedeutung nicht nach dem
Mehr oder Weniger an gesicherten Ergebnissen seiner Forschungen
abzuschätzen, vielmehr beruht sie darauf, daß eine Persönlichkeit,
wie er es war, gleich Jak. Grimm »von den Wörtern zu den Sachen«
gelangen wollte und diesen Drang Jüngeren eingepflanzt und ver-
mittelt hat im Sinne des Ausbaues einer » Wissenschaft vom deut-
schen Volke«.
Wien im Herbst 1900. Rudolf Much.
Oelzelt-Newin, A., Kosmodicec. Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1897.
VIII u. 420 8.
— — Nachtrag: Ueber Willensfreiheit. (Ebenda 1900, VIII u.558. —
Auch in Sonderausgabe unter dem Titel: »Warum das Problem der Willens-
freiheit nicht zu lösen iste.)
»Am Ende eines Jahrhunderts, das die Welt mit seinen Thaten
blendete, wie selten eines vor ihm, wird allen, die in letzter Stunde
noch eine Rückschau halten wollen, die alte Frage wieder brennend
vor die Sinne treten: Ist die Menschheit nun glücklicher geworden?
Diese Frage zittert auf den Lippen, je mehr die Menschen es
als ihre höchste Pflicht erkennen, einander auf Erden zu beglücken,
je zweifelhafter vielen, in je weniger anschaulichen Bildern allen ein
Jenseits erscheint. ... Sie wollen auch wissen, wie weit diese Welt
eine gerechte ist, ob das Uebel, ob das Edle in ihr siegen wird«.
In diesen Anfangsworten der Vorrede ist der Titel des Buches
erläutert — nämlich durch den Gegensatz zu jeder »Theodicee«
im Leibnitzschen Sinn. Für das hiemit aufgestellte weltumfassende
Problem ist »Kosmodicee< gewiß eine ebenso geistreiche als
treffende Bezeichnung ').. Dennoch will es mir scheinen, als sei aus
1) Dem Verfasser hat sich — wie ich auf directe Anfrage erfahre — dieser
Titel ergeben unabhängig von einer Stelle in Nietzsche, Unzeitgemäße Be-
trachtungen I. »David Strauss«e (1. Aufl. 1873, S. 48): »Er bedarf einer voll-
ständigen Kosmodicee und steht jetzt im Nachtheil gegen den, dem es nur um
eine Theodicee zu thun ist ...« — Auch eine juristische Zeitschrift nenut sich
»Kosmodike«, hier in dem dem obigen ganz heterogenen Siune einer inter-
nationalen Rechtslehre.
Öelzelt-Newin, Kosmodicee. 469
jenem Titel der beabsichtigte Gegensatz zu »Theodicee« vom Lese-
publikum nicht allgemein errathen worden; wenigstens ist die An-
zahl der litterarischen Berichterstattungen bisher eine viel kleinere
gewesen, als es der überaus reiche und sorgfältige Inhalt des Buches
verdient hätte. Es ist mir daher das Erscheinen des »Nachtrages«
über Causalität und Willensfreiheit, mit welchem mich kritisch aus-
einanderzusetzen ich den in ihm behandelten besonderen Problemen
sozusagen persönlich schuldig bin, ein willkommener Anlaß, auch noch
auf die viel umfassendere ältere Publikation zurückzukommen. —
Zunächst das Inhaltsverzeichnis dieser in gekürzter Form:
Die Glücksfrage im kosmischen Sinn und die Glücks-
vergleiche.
Das Glück des einzelnen. — Die höheren Freuden. Wer-
den wir glücklicher durch moralische —, durch intellektuelle, durch
ästhetische Bildung —, durch Reichtum? Die Entwicklung der ein-
zelnen Faktoren.
Die moralische Entwicklung. Der Beweis aus der Rechts-
geschichte, — der Kunstgeschichte, aus den Institutionen, der Stati-
stik, der Entwicklungslehre. Einige allgemeine Argumente.
Die intellectuelle Entwicklung. Der Beweis aus der
Rechtsgeschichte, aus der Geschichte der Wissenschaft, den Institu-
tionen, der Statistik, der Entwicklungslehre.
Die ästhetische Entwicklung. Die Architektur, die Mu-
sik, die Sculptur,.die Malerei, die Dichtkunst.
Die ökonomische Entwicklung. Der Beweis aus der
Statistik, aus der Geschichte.
Das Problem einer sittlichen Weltordnung. Die
Gemiithsbediirfnisse und der Weltschmerz. Wie weit Moral einer
religiösen Sanktion bedarf. Warum eine sittliche Weltordnung aus
der Erfahrung nicht nachweisbar ist. Die metaphysischen Voraus-
setzungen einer sittlichen Weltordnung. Die Unsterblichkeitsfrage.
Die Gottesfrage.
Das Buch gliedert sich somit in drei Theile wesentlich verschie-
denen Charakters, von denen wir, um herkömmliche Namen anzu-
wenden, sagen können: Die beiden ersten, der »Glücksfrage« gewid-
meten Abschnitte behandeln die unter den Schlagworten des Opti-
mismus und Pessimismus »fast alle jetzt Lebenden< beschäftigenden
»Glückvergleiche< nach allgemein psychologischer Methode.
Die nächsten vier Abschnitte stellen ein außerordentlich umfassendes
culturgeschichtliches Thatsachenmaterial in den Dienst der
Hauptfrage des Buches: »Sind wir glücklicher geworden ?< und der
von ihrer Bejahung abhängigen: »Werden wir glücklicher werden ?«
470 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Den dritten Theil bildet eine Art Metaphysik. der dann auch
der Nachtrag über Willensfreiheit angehört.
Nach der Eigenart der in diesen drei Theilen behandelten Pro-
bleme kann die Berichterstattung kurz sein nur über den ersten
Theil: der Verf. zeigt dort, daß nicht absolut von einem Gut- oder
Schlechtsein, geschweige von einem Best- oder Schlechtestsein, son-
dern nur von einem Besser- oder Schlechterwerden der Welt ge-
sprochen werden kann. Eine Lust-Bilanz, ob im Ganzen Lust oder
Unlust überwiege, wird an einem genau durchgeführten Beispiel
(S. 11) eines Durchschnittstages aus dem Leben eines Einzelnen als
ganz unmöglich erwiesen, umsomehr also für die Lust der Mensch-
heit, der Welt. Gerade die exakteste Psychologie kann hier, wie in
zehn Einzel-Argumenten (S. 14—24) gezeigt wird, am allerwenigsten
entscheiden.
Diesem ganz negativen Ergebnis für Gut oder Schlecht steht
gleichwohl ein entschiedenes Ja auf die Frage nach dem Besser ent-
gegen. Und so werden dann auch sämmtliche auf die »höheren
Freuden« gehenden Einzelfragen des zweiten Abschnittes » Werden
wir glücklicher durch moralische, durch intellektuelle Bildung« u.s.f.
der Reihe nach bejaht, u. zw. bis S. 98 durch allgemeinere Erwägungen,
von hier an dann durch jene spezielleren culturhistorischen Daten
und Kritiken, über welche es nöthig ist, nun etwas eingehender zu
berichten, um von der Methode des Verf. einigermaßen ein Bild zu
geben.
Die moralische Ertwicklung. Auf Grund einer kurzen
Voruntersuchung (die kurz sein durfte, weil der Verf. alles Ein-
schlägige ausführlich in seiner Monographie » Ueber sittliche Disposi-
tionen«, 1894, 120 S., festgelegt hatte) wird »Mitleid der wichtigste
Faktor der Morale genannt (S. 102). Es folgen dann nach ihrer
Dignität geordnet folgende fünf Reihen von Argumenten:
1. »Der unzweifelhafteste Beweis für das moralische Besser-
werden der Menschheit« .. ist gegeben... in der Rechtgeschichte,
nämlich >in der Geschichte des Beweisverfahrens, des Strafvollzuges
und des Strafrechtes, diesem am allgemeinsten sanctionierten öffent-
lichen Gefühlsausdruck« (S. 104). Freilich pflegt gegen die Beweis-
kraft des Abkommens von Ordalien und Folter, greulicher Hinrich-
tungsarten (für die Beispiele noch aus der Zeit Shakespeares an-
geführt werden), gesetzlichem Kindesmord, Sklaventödtung u.s. f. auf
unsere »minder starken Nerven<, auf die Erkenntnis der Irrthums-
quellen und somit Zwecklosigkeit der Folter u.s.f. hingewiesen zu
werden. Oe. entgegnet aber, daß erstens »jetzt Richter durch keinerlei
Gesetze mehr allgemein zur Folteranwendung zu bringen wärene;
Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 471
zweitens daß gerade die Langsamkeit des Wandels dem Gefühls-,
nicht dem rascheren Intellektswandel parallel gehe; drittens daß
z.B. Kettenstrafen doch nicht blos deshalb abgeschafft wurden, weil
es jetzt besser verschließbare Kerker gibt u.ä. Alles in Allem hält
der Frage gegenüber, wer hierin die Menschen besser kennt (der
bessere Psycholog ist), der Verf. an dem Bekenntnis fest: »Ich aber
glaube, daß jene sie besser kennen, denen Mitleid der Hauptgrund
ist, warum sich die Strafen gemildert haben«.
2. »Auch die Kunst spiegelt treu die moralische Entwicklung,
den Fortschritt moralischer Anschauungen in der Auffassung der
Ehe, der Pflichten gegen den Staat, der Handlungen des Zartge-
fühles, der Etiquette: in allen Sitten und Gebräuchen mit ihrem
mehr oder weniger wertvollen Inhalt< (S. 113). Belege: aus den
Grausamkeiten der Homerischen Epen, aus dem auch in der Sopho-
kleischen Kunst noch sehr mäßigen Fortschritt der Moral [wobei sich
aber zeigen läßt und mehrmals gezeigt worden ist, vgl. meine Psy-
chologie S. 472, daß schon im Oedipus nicht mehr, wie auch wieder
Oe. meint: »Irrthum und Schuld noch eins sind<]; daß (nach Gustav
Freytag) die griechische Bühne unsre Liebesscenen nicht kennt; daß,
trotz der Ueberlegenheit des Germanischen in diesem Punkte [die
also Oe. hier ausnahmsweise anerkennt] doch die Liebesprüfungen
der Minnesänger abgehackte Finger forderten u.s.f. Wie groß da-
gegen, was Weimar für das Menschenideal geschaffen! Und doch
seien auch wir schon wieder über »das Entsetzen [?], das die Liebe
Tassos zur Prinzessin hervorruft<, mit unserer ganz anderen »Ethik
der Adelsprobleme< hinausgewachsen. — Werden übrigens wohl alle
Leser Oe.s ethische Bewerthung theilen, wenn er »das Untergraben
der äußern Existenzbedingungen durch eine moderne Krimhilde<
moralisch über die gerade Rache der mittelalterlichen Krimhilde
stellt? Desgleichen der Satz: »Wie immer häßlich die Probleme
gegenwärtiger Dichtungen, Börsenspiel und Ehebruch, seien, es ist
jedenfalls eine weit weniger gefährliche Unmoral als die von Gift
und Dolch und ihrer Massenmorde, die noch auf der Shakespeare-
schen Bühne zum Ausdruck kommt«.
3. Von »Institutionen«, aus deren Entwicklung ein posi-
tiver Schluß auf die Entwicklung der Moral erlaubt sei, werden
zwei bespruchen: die Abnahme der Armuth (es gab im Alterthum
keine staatlichen Armen-, Kranken-, Versorgungshäuser; dagegen
wachsen z.B. in Frankreich die Societes de secours mutuels, private
und öffentliche, in den Jahren 1853—77 von 2555 mit 318.256 Mit-
gliedern auf 5078 mit 945.649 Mitgliedern) und des Militarismus.
Daß gerade dieser seit der Zeit der Aegypter in stärkster Abnahme
472 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
(123) sei, steht dem Verf. fest, wenn auch ganz Europa jetzt selbst
im Frieden größere Heere hält, als einst in der Zeit des Krieges.
Denn auf den »Geist des Militarismuse kommt es an, und diesen
haben »alle bürgerlichen Institutionen, besonders das Volksheerwesen,
und überhaupt die steigende Macht der mittleren und unteren Stände,
an der Wurzel getroffen«. Freilich wird Oe. hier einmal Pessimist,
wenn er jenen mit Tolstoi') in den schlimmsten Zügen geschilderten
Geist des Soldaten >immer mehr verdrängt und in Zukunft ersetzt«
werden läßt durch den »Beamtengeist«, der »feiner, aber lügenhafter«
als jener sei. »Gerade und offen sein, das Herz auf den Lippen zu
tragen, wäre wohl die schlechteste Eigenschaft für einen Beamten,
der stets mit Amtsgeheimnissen belastet ist und stets fürchten muß,
»>höhererseits<« seine Gesinnungen zu verrathen. Er lispelt auch
größtentheils nur<. (Es ist wie ein guter Witz, daß sich diese ganze
köstliche Schilderung in der heimlichen Ecke der Anmerkungen
S. 397--398 findet. Hier auch die gebührende Ausnahme: »Daß
Grillparzer selbst Beamter war und zwar in den traurigsten Zeiten
seines Vaterlandes und seiner noch immer alle Besseren verbitternden
Vaterstadt, könnte allein zeigen, was zu sagen unnöthig scheint, daß
nicht jeder Beamte vom Geiste des Beamten beherrscht sein muß«.)
Im Gegensatze zu den bisherigen Beweisen für moralischen
Fortschritt ermangeln die »Beweise aus der Statistik« der ihnen
häufig für die Moralfrage zugeschriebenen Beweiskraft. Namentlich
wird die Vielseitigkeit der Argumente, durch die die landläufigen
Schlüsse aus der Criminalstatistik, sowohl auf ein Besser- wie auf
ein Schlechterwerden der eigentlichen Motive, entkräftet werden
(126—139), selbst den Fachmann im engsten Sinn warnen und belehren.
Fast ebenso negativ fallt das Gesammtergebnis der Schlüsse aus
der Entwickelungslehre aus. So hoch diese Lehre der Verf.
wie jeder Denkende hält, begnügt er sich doch nicht mit Dogmen
und logischen Zirkeln, wie denen, »daG ein Affenmensch höher steht
als ein Menschenaffe«, oder daß die Entwicklung des Menschen
aus niedern Formen auch schon Vervollkommnung, zumal mo-
ralische , bedeute. Als Zeugen gegen diese Deutung des (als selbst
wieder mehrdeutig erwiesenen) Satzes »Das stärkere Thier muß im
Kampf ums Dasein überleben«, läßt der Verf. Darwin selbst in meb-
reren beherzigenswerten Aeußerungen sprechen (S. 146).
Schließlich bemüht sich der Verf., »Einige allgemeine Ar-
gumentec< zu entkräften, welche »leider entscheiden über die Welt-
1) Nach »Anna Kareninac. — Ob Tolstoi in der sonderbaren Doppel-
geschichte »Zwei Husaren« nicht selbst eine Art Milderung oder Abstumpfung
des soldatischen Wesens hat schildern wollen?
Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 473
anschauung von Hunderttausendene.. So wird der Skepsis, daß wir
jetzt nur heimlicher, aber nicht weniger sündigen als die Alten, als
Trost entgegenhalten, daß zum mindesten auch schon vermehrtes
Schamgefühl ein Fortschritt sei. Der Verf., dem, wie wir sahen,
Moral nahezu gleichbedeutend ist mit Altruismus, hält in der Er-
ziehung der Menschheit zum Altruismus den Egoismus für ein zwar
wichtiges Erziehungsmittel, aber für ein im Ganzes nicht höheres, als
es die Ruthe für das Kind ist. — Ich habe mich längst öffentlich
zur gleichen Moral bekannt und muß das hier in Erinnerung bringen,
damit, was ich nun als starke Differenz geltend zu machen habe,
nicht als Heterogeneität der Prinzipien mißverstanden werde. — Ich
greife das eine Kraftwort heraus von den >barbarischen, besonders
die Gegenwart völlig verthierenden Interessen der Nationalitäten«
(S. 156). Sie werden in Parallele gestellt mit der angeblichen That-
sache, »Jede Handlung für die Gemeinde gilt ja dem Bauern als
Vernachlässigung der Familie<. Durch diese Parallele soll bewiesen
werden, ähnlich sei das Nationalitätsgefühl »eine nur unentwickelten
Völkern wichtige Liebe«, welche sie >hindert, die einfachsten Inter-
essen der Gemeinschaft zu wahren«e. — Wird sich aber durch solche
arge Beschuldigungen das Problem des Nationalismus und Kosmo-
politismus lösen lassen? Weiß sich jeder, der etwa in seinen jungen
Jahren Kosmopolit gewesen und erst später mit seiner Nation fühlen
gelernt hat, hiemit schon einer Untreue gegen jene allgemeinere
Liebe schuldig? Sollte nicht vielmehr das Verhältnis recht wohl das
sein können, daß der Kosmopolitismus die beschränktere, nämlich
auf Allgemeinheiten beschränkte Auffassungs- und Verhaltungsweise
darstellt, neben und innerhalb welcher es dem reichentwickelten Ge-
müth Bedürfnis sein kann, im Besonderen, Einzelnen zu schauen und
zu lieben — im Einzelnen, Individualisierten, wie es eben nur im
einzelnen Volk realisiert ist, dessen zartester Charakter sich mir nur
dann voll und rein erschließt, wenn er mein eigener ist, wenn er der
meines Volkes ist? — Der Kosmopolitismus scheint mir eines von
den leider vielen Exempeln mißverständlicher Abstraktion — wieso,
versuche ich hier nur durch ein Gleichnis in aller Kürze anzudeuten.
Mir gefällt eine blaue Blume — ein Anderer weist mir eine rothe,
eine gelbe, eine weiße, eine bunte mit der vorwurfsvollen Frage vor:
Warum sollen nur die blauen Blumen schön sein? Ich erwidere, daß
ich ja das gar nicht behauptet habe; und er schließt nun: Wirklich
schön sind also nur die farblosen Blumen. — Nur schade, daß es
solche eben nicht giebt — so wenig wie Pferde, die nicht Schimmel
oder Schecken, Dreiecke, die nicht gleichseitig oder gleichschenklig
u.s. w., Menschen, die nicht Deutsche oder Griechen u. s.w. sind;
Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 32
474 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
wobei natürlich auch Chamberlains mißfarbig bunter Aomo syriacus
eine Species mit nur zu vielen Unterarten und Individuen ist. — Ich
erwarte freilich nicht, durch eine solche allgemein logische Erwägung,
durch die der Nominalismus (an den auch Oe. nicht entfernt glaubt)
in die nächste Verwandtschaft zum Kosmopolitismus rückt, diesen in
den Augen Oe.s merklich zu entwerthen; denn nicht auf den Kopf,
sondern auf das Herz kommt es hier letztlich an. Ich darf ihn nur
fragen, ob ihm, was er (S. 115) in dem Citat aus Gustav Freytag
als »Gegensatz der Deutschen zu den Völkern des Alterthums«, als
»Stellung des germanischen Helden zum Schicksal< anführte, im
Grunde ethische Null- oder Unterwerthe deshalb sind, weil sie ein
differenzierendes Element des Germanen darstellen ? Oder ob er aus
dem concret-nationalen Stidtebild, dem »lieben Niirenberg< der
»Meistersinger«, ob er sich aus dem »Ehrt Eure deutschen Meister:
(— ich führe gerade dieses Beispiel an, weil es einstens mich in
übermächtiger Wirkung vom Kosmopolitismus bekehrt hat —), ob er,
der Deutsche, sich daraus alles Deutsche wegabstrahieren und doch
das Kunstwerk unbeschädigten Lebens zurückbehalten zu können
glaubt? — Sollte es nicht vielmehr so zugehen: Erst die vollerfaß-
ten Concretheiten einer, meiner Volksseele lassen mich überhaupt
unverkümmert auch in anderen Seelen leben und lesen. Was wir
alle, diese nun einmal differenzierten Völkerindividuen, mit einander
wirklich gemeinsam haben, das wollen wir freilich vor allem fest-
halten — schon weil wir es müssen, da ja, wieder primitiv logisch
gesprochen, der Species meiner differenzierenden Liebe das grund-
legende Genus nicht fehlen darf. Oder lieber statt logisch sogleich
wieder psychologisch und ethisch: Ich habe in meiner Psychologie
(S. 494) hingewiesen auf den großen Unterschied, ja Gegensatz zwi-
schen einer angeblichen Entwicklung >»vom Egoismus zum Al-
truismus« und dagegen einer wirklichen »Entwicklung .. von
dem auf Einzelne oder auf allerengste Kreise beschränkten
Altruismus zu sich erweiterndem Altruismus, sowohl im
Leben des Einzelnen wie der Menschheit<. Ich mußte aber auch
hinweisen auf die bisher thatsächlich und wohl für immer einzig
natürliche sociologische Gliederung (etwa zu vergleichen der Structur
jedes Organismus, dem nun einmal die Zelle zu Grunde liegt und
nicht eine beliebig zu vergrößernde amorphe Stoffanhäufung), derzu-
folge Oe.s »Bauer« ganz im Rechte ist, wenn er in Conflictsfällen der
auf seine concentrierteste Obsorge angewiesenen Familie das Inter-
esse an der Gemeinde zu opfern bereit wäre. — Ich weiß sehr wohl,
daß alle diese Argumente noch nicht das vielfache Sieb der Oelzelt-
schen Methode passiert haben, um als endgiltige Gründe für den
Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 475
Nationalismus gegen den Kosmopolitismus gelten zu können. Bliebe
doch erst noch festzustellen, ob es sich wirklich um die Nation und
nicht vielmehr um Stammesgemeinschaft (die Rasse, ja was auch nur
diese überhaupt sei), handle. Alle diese Schwierigkeiten heben aber
meine damalige Problemstellung (Psychologie, S. 495) nicht auf: »Es
bedürfte eines ebenso feinen als tiefen psychologischen Blickes, um
in engeren und weiteren Mein-Beziehungen (Familie, Nation ...)
festzustellen, wie gerade ihr natürliches Gegebensein eine Art er-
zieherischen Mittels darstellt, den Einzelnen, die Gesellschaft, die
Menschheit für das Weiter- und zugleich Innigerwerden des Altruis-
mus zu schulen<. — Ein zuerst enger Altruismus ist eben schon
nicht mehr Egoismus. Eine Entwicklung zu einem wie immer
weiten Altruismus ist aber doch natürlicher von einem engen Altruis-
mus, als von einem eigentlichen Egoismus aus (trotz Spencer) zu
erhoffen.
Die intellektuelle Entwicklung. — Sie hat unzweifel-
haft stattgefunden in den intellektuellen Leistungen (der Ein-
wurf, daß wir nur >»besser zu buchstabieren oder schneller zu reisen
gelernt haben«, wird zurückgewiesen: Wir müssen z.B. ein Volk,
das Laboratorien und Observatorien hat, gebildeter nennen als ein
anderes). Das Problem spitzt sich vielmehr zu auf die Disposi-
tionen (kurz: nicht ob wissender, sondern ob gescheidter); und
hier ist es dann wieder »eine ganz andere Frage, ob wir gebildeter
im Sinne eines Sokrates geworden sind« (also nicht gescheidter, son-
dern weiser). Es folgen wieder die Einzelerwägungen, wobei noch-
mals die Rechtsgeschichte für ein Ja spricht (schon dem von Oe.
festgehaltenen Ineinandergreifen moralischer und intellektueller Bil-
dung zufolge, aber auch aus speciellen Gründen); desgleichen die
Geschichte der Wissenschaft auf Grund einer in acht Punkte sich
gliedernden Analyse (z. B. Nr. 7: die Wissenschaften als Ganzes
sind differenzierter — »wir schreiben nicht mehr wie die Griechen
immer zegı mvoews und wie Aristoteles und Plinius über alles<;
immerhin stehen dieser Bemerkung Oe.s gegenüber Vereinheitlichun-
gen wie »Biologie«, »Sociologie<). Mit Uebergehung der weiteren
Einzelbegründung das Ergebnis: »daß, da aus der bisherigen intel-
lektuellen Entwicklung keinerlei Verschlimmerung ersichtlich ist,
dem Pessimismus jeder Halt für Voraussichten genommen ist< (S. 179)
— daß es vielmehr »nichts Unerhörtes wäre, einen intellektuellen
Zustand anzubahnen, in dem es nicht nur mehr Geister gibt gleich
dem Newtons, sondern auch einige mehr gleich dem des Sokrates<
(S. 185). |
32 *
476 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Es folgt der umfangreichste Abschnitt des ganzen Buches, der
über die ästhetische Entwicklung (S. 186—271). Es wer-
den die Einzelnkünste in der Reihenfolge : Architektur, Musik, Skulp-
tur, Malerei, Dichtkunst behandelt. Der Gedanke eines Gesammt-
kunstwerkes, ja in gewissem Sinne, wie sich sofort zeigen wird, auch
der einer eigentlich gegenseitigen Förderung einander so nahe
stehender Künste, wie Musik und Dichtkunst, wird abgewiesen. Es
wird unter diesen Umständen genügen, die Methode des Verf.s an
je einer bildenden und einer redenden Kunst zu erläutern; wir wäh-
len hiezu die beiden von ihm zuerst behandelten Künste:
Die Architektur. Auch sie hat »Inhalt«<, sogar in mehrer-
lei Sinn. Nicht nur »das Bedürfnis, das einen Tempel, ein Grab-
mal, ein Kaufhaus will, bedingen einen Inhalt, auch nicht blos Ge-
fühle der Unendlichkeit, wie sie eine Kuppel ausdrückt: Inhalt ist
in jedem Ornament durch die Associationen an Schwere gegeben«.
Es ist eine solche gleichmäßige Rücksicht auf Inhalt und Form we-
sentlich für die Frage, z.B. »wie weit für ein großes Krankenhaus
mit allen Anforderungen der modernen Hygiene die Formen gefunden
sind, oder wie weit diese Aufgabe jetzt schwieriger ist als bei den
Anforderungen, die noch im 15. Jahrhundert gestellt wurden«.
»Alle diese Mißverhältnisse von Inhalt und Form waren von der
griechischen Architektur in Harmonie gelöst« ; aber: »die Aufgaben
der Griechen waren klein. Z.B. Stockwerke kannte die Säulenbau-
kunst so gut wie nicht. Andere als Tempel-Architektur liegt so gut
wie keine vor. — Da den Römern fast alle jene weit schwierige-
ren Probleme zur Lösung vererbt wurden, so ist auch nicht ohne
weiteres, wie gewöhnlich geschieht, ihr architektonischer Geschmack
zurückzusetzen ..c. »Schwieriger ist die Frage des Fortschrittes für
den gothischen Stil zu beantworten ..«. »Bis zu Palladios Tode um
1600 ist gewiß von einem allgemeinen Verfall der Architektur gegen-
über den Griechen nicht zu sprechen<. — Für die drei Jahrhunderte
seither ist freilich Verfall einzuräumen; aber wesentlich, weil die
Kunst den ihr durch die technischen und socialen Umgestaltungen
vorgezeichneten Aufgaben nicht so rasch zu folgen vermocht hat.
Eben deshalb ist aber »höchstens in Frage zu lassen, ob der Ge-
schmack sich nach der bisherigen Entwicklung weiter bilden oder
stehen bleiben werde< (S. 197). Immerhin aber >ist eine exten-
sive günstigere Entwicklung der Architektur .. selbst bis in die
neueste Zeit nicht zu leugnen. .. Eine einzige italienische Stadt
zeigt so viele architektonische Denkmäler als das gesammte Griechen-
land. .. Auch jetzt sind anmuthige Privatbauten .. in Zunahme«
.. »Höhere Bedürfnisse [waren und] werden immer so selten sein,
Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 477
wie die Kunst, sie zu befriedigen, und eine große Kunst braucht
hohe Bedürfnisse. Sie setzt noch weniger reiche als große Menschen
voraus, die einen hohen schönen Raum suchen, der sie zur Andacht
stimmt und zu einem würdigen Leben<. .. — Also die schließliche
Antwort auf die Frage nach der Entwicklung: »Wie immer Archi-
tektur mit ihren reinen Formen den Menschen stets die schwierigste
Kunst bleiben wird, sie wird sich so schnell entwickeln, als der
Geist unter ihnen; durch ihn allein ist ihre wahre Größe bedingt«.
Die Musik. Von den Griechen zu Beethoven ist der Fort-
schritt ein fragloser und unermeßlicher ; groß genug selbst noch
von Bach zu Beethoven; beides in eingehenden Argumenten, unter
diesen in den Anmerkungen auch nach schönen brieflichen Darlegun-
gen eines Musikers von Fach, Guido Peters (S. 404—406). — Aber
seit Beethoven? »Schubert .. hat ihn im Liede weit übertroffen;
Schumann hat neue Probleme in diese Kunst einbezogen, auch Brahms
große neue Inhalte geschaffen. Endlich haben Weber und Wagner die
dramatische Musik sowohl wie ihre Stoffe, und die Instrumentation
weit über Mozart hinausgeschoben«. — Aber — die »Beantwortung der
allgemeinen Frage, ob die vereinigte Vocal- und Instrumentalmusik
überhaupt eine sehr hohe Kunstform bilden kann< (S. 212) fällt
wesentlich verneinend aus. Man muß wohl nicht erst Wagnerianer
sein, um die Beweisführung hier bedenklich zu finden. Jene Ver-
einigung >als höchste Form zu erhalten .. sollten die höheren In-
halte die Geschmacksdefecte retten, das Kunststück, mittelst einer Art
ästhetischer Chemie für das Gemisch oft leerer Worte und unange-
nehmer Geräusche doch die Möglichkeit eines neuen Plus von Schön-
heit zu behaupten« (S. 216). Klingt nicht das schon etwas animos?
Doch nur aus positiven, nicht aus negativen Gefühlen (»leere Worte«,
»unangenehme Geräusche«) denken sich ja die Bejaher jener Frage
die hoch gesteigerte Schönheit des Zusammenwirkens von Wort und
Ton hervorgehend. Kaum minder bedenklich aber ist die Methode
der Autoritäten, deren sich der Verf. hier bedient. »Autoritäten,
die das dichterische Genie Goethes und das musikalische Beethovens
in sich vereinigen, werden (?) gegen diese Chemie entscheiden«.
»Werden?« — das müßten wir eben einstweilen nur glauben. Aber:
»Grillparzer z. B. that es und Brahms thut es auch« (nämlich: »gegen
diese Chemie entscheiden«e — historisch und psychologisch richtiger
hieße es: Brahms und Grillparzer fanden weder an Wagners Texten
noch an seiner Musik Gefallen). Hierauf würde der Wagnerianer ant-
worten, daß Grillparzer und Brahms auch zu Einem Menschen ver-
einigt eben noch keinen Wagner gäben. Während aber diese Art
der Argumentation die Debatte nur erhitzen könnte, darf heute wohl
478 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
gesagt werden, daß Grillparzer in Sachen der Beurtheilung drama-
tischer Musik eben nicht glücklich gewesen ist. Wer theilt wohl
noch seine trockene Verurtheilung von Webers »Freischütz« ? (Oe.
selber nicht; s. u.). Ja bei aller Sympathie, die uns Grillparzers
warme Empfänglichkeit für einen Theil der großen Musik (z.B.
bei weitem nicht aller Beethovenschen) erweckt, müssen wir andrerseits
zugestehen, daß er die Weite seiner Empfänglichkeit geradezu com-
promittiert hat z.B. durch seine völlig verkehrte Beurtheilung der
»Euryanthe< , sogar die bezaubernde Ouverture zu diesem (drama-
tisch leider todtgeborenen) Werke nicht ausnehmend. Man lese nur
[Grillparzer, Sämmtl. W., ed. Sauer, Bd. XV, S. 131]: »Gestern
wieder in der Euryanthe gewesen. Diese Musik ist scheußlich
. ist polizeiwidrig, sie würde Unmenschen bilden ....« —
‚Weber ist allerdings ein poetischer Kopf, aber kein Musiker.
Keine Spur von Melodie ....c Gründlicher konnte sich ein wie im-
mer verdienstvoller Dichter mit dem allgemeinen musikalischen Gefühl
und Urtheil des folgenden Jahrhunderts nicht in Widerspruch setzen.
— Kann also höchstens die eine Partei im Streite um die drama-
tische Musik von der Stellungnahme Oe.s befriedigt sein, so versagt
er der anderen Partei die kleine Freude nicht, daß er sich über
Wagners Schaffen nicht völlig orientiert zeigt. »Webers Freischütz,
Wagners Lohengrin und Meistersinger zeigen eine Höhe des Ge-
haltes, dessen Steigerung die Oper nicht vertragen wird, wie..
Wagners letzte Werke .. dargethan<. Aber den »Meistersingern«
sind vorausgegangen Rheingold, Walküre, Siegfried (I. u. II. Act)
und Tristan — und es folgen ihnen nur noch Götterdämmerung und
Parsifal. Da nun die »Meistersinger< trotz der in ihnen wohl kunst-
reichsten Durchdringung von Musik und Rede dem Verf. selbst lieb
und werth sind, so kann auch für Oe. der Werdegang Wagners nicht
als warnendes Beispiel festgehalten werden. — Und so ließe sich
noch manches an der Parteistellung Oe.s in jener Streitfrage durch
ihn selbst widerlegen: »Fast so untrennbar sind Schuberts Lieder
von Erinnerungen an junges Glück und Liebe, wie Frühling und Mond-
schein. Sie sind ihnen der Ausdruck für ihre unsagbaren höchsten
Erlebnisse« (S. 221). Wären sie das auch als »Lieder ohne Worte«?
— Halten wir uns also nur an das Einigende, nicht an das Tren-
nende: nicht minder innig als der Verf. begrüßt Ref. in der bis-
herigen erstaunlich weiten und schnellen Entwicklung der Musik
eine der bestbegründeten Hoffnungen auf eine schöne Zukunft.
In dem letzten Abschnitt des empirisch, nämlich culturgeschicht-
lich begründenden Theiles der Kosmodicee wird für die ökono-
Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 479
mische Entwicklung trotz der kurzen Zeitspanne halbwegs
brauchbarer Statistiken, ferner aus den »ganz anders überzeugenden
Daten der Geschichte«, aus physiologischen Erfahrungen (z.B. über
geringere Nachkommenzahl bei steigender intellektueller, sogar öko-
nomischer Entwicklung), Zurückgehen des crassen Luxus u.s.f. nicht
nur ein überwiegend günstiges Ergebnis der bisherigen Entwicklung
erschlossen, sondern sogar gehofft: »keinerlei Träume eines utopischen
Zustandes sind für die Zukunft abzuweisen ..<, selbst nicht der,
daß >... das Minimum der etwas menschenwürdigeren Lebensweise eines
höheren Beamten unserer Zeit entspräche ..« (S. 310).
Wir stehen vor dem dritten, wie eingangs gesagt, wesentlich
metaphysischen Haupttheil des Buches, der insbesondere >die
Unsterblichkeitsfrage« und »>die Gottesfrage« behandelt
und dem sich auch der »Nachtrag«e über »Willensfreiheit«
schon insofern anschließt, als hiemit die alte Trias, welche selbst
noch Kant als selbstverständlichen Inhalt der »Metaphysik< über-
nommen hatte, voll wird. Doch nicht etwa einer solchen äußerlichen
Tradition zu Liebe, sondern ganz im speciellen Dienste des Wun-
sches, für die Besten der Jetztlebenden alle Glücksbedingungen zu
überblicken, wendet der Verf. den Blick von der bisherigen Empirie
aufwärts auf »das Problem einer sittlichen Weltord-
nung<«. Wenn nämlich auch dem theoretisch argumentierenden
Pessimismus durch die bisherigen empirischen Gründe beizukommen
war, so doch nicht der >anspruchslosen Wahrhaftigkeit des im Ge-
müthe der breitesten Schichten der Menschheit wurzelnden Welt-
schmerzes.« ».. Wenigstens die Möglichkeit für einen Glauben an
einen Ausgleich in einer übersinnlichen Existenz« muß hier offen ge-
halten werden. »Wenn nicht Unwissenheit, so ist es Bedürfnislosig-
keit und eine Rohheit des Gefühles« , die es »ohne Aussicht auf ein
Jenseits auch schön genug« findet. Indem nun der Verf. noch aus
Erfahrungsgründen dargethan hat, »Warum eine sittliche Weltord-
nung aus der Erfahrung nicht nachweisbar ist< (S. 325—332),
sieht er sich eben hiemit an »die metaphysischen Voraussetzungen
einer sittlichen Weltordnung« gewiesen.
Den beiden praktischen Hauptproblemen, Unsterblichkeit und
Gott, schickt aber der Verf. auch noch nichts Geringeres als eine
ganze Erkenntnistheorie (S. 337—361) voraus, welche ihrer-
seits noch eine Ergänzung und mehrfache Zuschärfung im »Nach-
trag« erhält, indem hier wieder dem praktischen Problem der Wil-
lensfreiheit das theoretische der Causalität vorangestellt wird.
480 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
So wird es begreiflich, daß Gegenstand, Methode und Darstellungsform
dieses ganzen dritten Theiles sich von dem zweiten Haupttheil stark
unterscheiden. Hatte hier der Verf. seinem Leser ein ihm wahr-
scheinlich vielfach neues Thatsachenmaterial zwar auch schon in
möglichst knapper Form vorgeführt, aber doch noch verhältnis-
mäßig ausführlich die Ansatzpunkte zur eigenen Beurtheilung dieses
Materiales seitens des Lesers aufgezeigt, so schreitet die Darstellung
der Erkenntnistheorie und Metaphysik des Verf. fast nur mehr in
Andeutungen fort. Oc. setzt als seinen Leser hier gleichsam einen
Mitunterredner voraus, der gleich ihm des endlosen Geredes über
die letzten Fragen seiner Wissenschaft müde ist’ und nur mehr für
die allerletzten Zuspitzungen der Probleme Interesse hat. Ein Ein-
zelbericht ist unter solchen Umständen fast unmöglich”); da aber
1) Zum Belege, daß sich trotz des verrufenen Titels »Metaphysik« der In-
halt auch dieses Theiles von Oe.s Untersuchung völlig den actuellsten Bedürf-
nissen unserer Tage anpaßt, hier nur ein paar Vergleichungen mit einem der
jüngsten Bücher aus dem »antimetaphysischen«e Lager: Petzolds »>Ein führung
in die Philosophie der reinen Erfahrunge« 1900. — Wie in diesem
Buche der ganze erste Abschnitt (welcher dem eigentlichen Commentar zu Ave-
narius’ Hauptwerk vorausgeschickt ist) dem psychophysischen Paralle
lismus gewidmet ist, so nimmt die Kritik dieses modernsten aller philosophi-
schen Probleme auch bei Oe. den breitesten Raum ein. Freilich läßt sich P. auf
eine Widerlegung der von Oe. und Anderen gegen das Parallelismusdogma er-
hobenen wohlgegliederten Einzelargumente ebensowenig ein, wie so viele Andere,
deren Herz nun einmal an jenem Dogma hängt. — Ebenso scheinen Oe. und P.
von gleichem Interesse in ihren Angriffen auf die Causalität beseelt. Näber
besehen aber schrumpft der Gegensatz, den P. zwischen der von ihm zum so und
so vielten Mal todtgesagten Causalität und dem an die Stelle des Causalgesetzes
eingeführten »>Gesetz der Eindeutigkeit« findet, auf ein Nichts, einen
Wechsel des Wortes zusammen im Vergleiche zur Wucht der Oe.schen Angriffe
gegen die logische Dignität des Causalgesetzes, die, wenn sie dieses wirklich
träfen, ohne weiters auch das Eindeutigkeitsgesetz treffen müßten. Denn P. ist
von seinem Gesetz überzeugt, wie es nur je ein Metaphysiker von der ontologi-
schen Verbindlichkeit des »Satzes vom zureichenden Grund« gewesen war. P.
findet es »sunerträglich, daß sich der Körper bei denselben Anstößen das
eine Mal anders als das andre Mal bewegen solle« (S. 35); »wir können der Na-
tur solche Unbestimmtheit nicht zugeben, wir müssen von ihr Bestimmtheit,
Gesetzmäßigkeit fordern« (ib.), sie ist genöthigt (S. 36), sie muß (S. 37),
sie darf nicht (S. 41), sie hat kein Recht (S. 39) auf eine andere, als
die jeweilig wirkliche Bewegung der gestoßenen Kugel, des gebrochenen Licht-
strahls (— nebenbei bemerkt: P. meint sogar, daß »für die Lichtbewegung das
wichtigste Bestimmungsmittel die Zeit« sei (S. 38). All das versichert uns der
Verf., weil »nur das Bestimmte begriffen werden kann« (S. 41). Den allgemein-
sten Beweis für das Gesetz bilden »einfach die Thatsachen des Bestandes unser
selbst und der Welt; die Thatsachen, daß ein Kosmos besteht und nicht das
Chaos; daß wir denkende und handelnde Wesen sind; daß es Entwicklung gibt.
Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 481
der Leser dieser Anzeige wenigstens Proben der Methode ver-
langen darf, so beschränke ich mich auf solche aus dem Nachtrage
über Willensfreiheit.
Nichts von alledem wäre möglich ohne die vollkommene Bestimmtheit des Natur-
geschehens, sie ist die allgemeinste nothwendige [!] Bedingung dafür«.
Wie man sieht, der alte Kant — »nur mit ein bischen anderen Worten«;
»Postulate«e (S. 40) — man könnte es auch Drohungen nennen; aber sie thun
ihren Dienst, sie lassen P. die Eindeutigkeit sogar »einsehen«. »... Die Frage:
Warum wählt die Natur keine der unendlich vielen anderen Richtungen ? ist
keine unlogische ..« (S. 37). — Keine einzige dieser Beschwörungsformeln, die
durch Oe.s Gründe gegen die logische Dignität unseres Wissens um Causalität
nicht mitgetroffen wäre.
Endlich auch noch zur allgemeinsten Stellungnahme beider Bücher zu den
»Welträthseln«. Verzeihe mir’s P., daß mich sein Kraftwort S. 8 »Es giebt
kein Welträthsel mehr, sobald wir es nicht mehr wollen« an den Baccalaureus
in Faust II erinnert hat: »Wenn ich nicht will, so darf kein Teufel sein«. So-
gar Mephistos unhöfliches »Dir stellt der Teufel nächstens doch ein Bein« scheint
aber sogleich in Erfüllung gegangen, wenn P. auf S. 7 in der herkömmlichen Weise
gegen das »Eirklären« donnert und S. 8 durchaus ein »Verstehen« ein »Begreifen«
des geistigen Geschehens fordert. Hie »Erklärene — da »Begreifen, Verstehen«
— — »wie fass’ ich da den Unterschied?« — Und weil P. nun schon einmal die
Abschaffung der »Welträthsele an Faust I. erläutert, z. B. findet, »daß das
Nicht-wissen-können dem Menschen keineswegs »»das Herz verbrennen«« würde«
(S. 3), so sei solch jugendfroh starken Hoffnungen mit Vergnügen zugestanden,
daß in der Schülerscene des Faust II der neueste Phänomenalismus »Die Welt,
sie war nicht, eh’ ich sie erschuf ..« längst seine poetische Fixierung und Ver-
klärung gefunden hat. Auch alles dort Folgende paßt so gut, daß man es uns
wohl verzeihen wird, wenn schließlich »dem jüngeren Parterre, das nicht applau-
dierte auch wir gemüthlich zurufen: »Bedenkt, der Teufel, der ist alt; so wer-
det alt, ihn zu verstehn!«e — Ganz im Ernste aber: Wirklich ist der Kampf,
der sich augenblicklich zwischen der jüngsten Philosophie der »reinen Erfabrunge
(Avenarius, Mach, Cornelius u. A.) und einer etwas älteren abspielt (wir brau-
chen darum nicht gleich bis auf Sokrates zurückzugehen), kein geringerer, als der
um das Recht auf das Nichtwissen. Eine Philosophie, die die »Welt« auf-
gehen läßt in dem, was sonst die Philosophie Empfindungsinhalte, »meine« Em-
pfindungsinhalte, genannt hatte und die gerade nur deshalb den Gedanken eines
»Dinges an sich« für »ungeheuerlich« erklärt — für die es nichts giebt und ge-
ben darf, als was »ich« als Empfindung habe oder gehabt habe: eine solche
Philosophie kann, ohne inconsequeut zu werden, nicht einmal die Möglichkeit
»neuer [d.h. eben: von „mir“ nicht erfahrener und erfahrbarer] Sinnesmodalitäten«
bei anderen Menschen und Thieren zugestehen, wie sie z.B. Cornelius (Psychol.
S. 126) dennoch zugesteht. Es wäre lelırreich, ihn hierüber sich mit Mach aus-
einandersetzen zu hören. — Es ist betrübend, daß diese neueste Philosophie die
historische Continuität zu allen früheren Problemstellungen grundsätzlich abge-
brochen hat oder haben will und sich hiemit auch der Verpflichtung überhoben
wähnt, mit den gegenwärtigen Bearbeitungen dieser Probleme sich auseinan-
derzusetzen, nicht nur z.B. »gegen eine veraltete, von Hume ganz abgethane
482 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Dieser »Nachtrag« gliedert sich in drei Abschnitte, betitelt:
‚Das Causalgesetz (S. 1—23), die innere Erfahrung
(nämlich, ob etwa diese für die Wahrnehmbarkeit einer psychischen
Causation spreche, dann aber auch, ob nach ihrem Zeugnis die Be-
schreibungen getreu seien, die der Determinismus von Wollen, Wahl,
Sollen, Reue, Sittlichkeit, Zurechnung, Strafe gibt, S. 24—44) und
endlich die praktischen Consequenzen (S. 44—52).
Die These des Verf. in Sachen des Causalgesetzes lautet
dahin, daß alle bisherigen Versuche, seine logische Dignität zu be-
weisen oder sonst wie aufzuzeigen, fehlgeschlagen und daß wahr-
scheinlich auch alle sonst etwa künftig auszudenkenden Wege hiezu
aussichtslos seien. Scheinbar also Wasser auf die Mühle des Posi-
tivismus. Aber nur, wo dieser sehr oberflächlich und selbstgenügsam
‘ vorgeht, könnte er sich der Bundesgenossenschaft Oe.s freuen. Ich
knüpfe, da ich nicht Unparteilichkeit heucheln darf, wo ich erst
kürzlich!) gegen einige landläufige Causalfeindlichkeiten Partei zu
nehmen hatte, den Bericht über diesen Theil der Oelzeltschen Ar-
beit an meine dortige?) Auseinandersetzung in Sachen der Causali-
tät an. — Vor Allem also noch einmal, daß Oe. die Ansicht Kirch-
hoffs von einer »Unklarheit, von der der Begriff der Ursache sich
nicht befreien lasse<, keineswegs theilt. Alle »Unklarheiten in der
Bestimmung des Begriffes der Ursache« sind auch nach Oe. behoben,
wenn man unter ihr »nothwendiges Antecedens verstehen will< ; aus-
führlicher: »Ursache ist ein Complex von Thatsachen, der keinen
Augenblick bestehen kann, ohne daß die Wirkung erfolge« (Nachtrag
S. 2). Also genau derselbe Causalbegriff, den ich in meiner Lo-
gik*) zu Grunde gelegt habe. Aber auch in der Formulierung des
Causalgesetzes sind Oe. und ich noch völlig einig: »Jedes An-
fangen, physisches wie psychisches, hat eine Ursache, d.h. ein noth-
wendiges Antecedens« (S. 4). — Der Streit setzt ein mit der Frage
nicht um den Sinn, sondern um die Wahrheit des so formulier-
ten Gesetzes; er spitzt sich zu auf die Evidenz für das >» Jedes«.
Auffassung der Causalität, die wohl kaum jemand heutzutage vertheidigen würde«
[wie es Mach soeben wieder mit nur zu viel Recht von Joseph W. A. Hickson,
Vierteljahrschr. f. wiss. Philos. XXIV, 1900, Nov., S. 477 vorgeworfen wird]
sich zu richten. —
Doch — vielleicht gelingt es diesem Fehdehandschuh, die »reine Erfahrung«
zu reizen, daß sie ihn ebenso ritterlich aufnimmt, als er ehrlich geboten wird.
1) In meinen »Studien zur gevenwirtigen Philosophie der Mechanik. Als
Nachwort zu Kants Metaphysischen Anfangsgriinden der Naturwissenschaft«.
(Leipzig, Pfeffer 1900. 168 S.). 2) 2.2.0. S. 50 ff.
3) Logik. Unter Mitwirkung von A. Meinong verfaßt von A. Hofler 1890.
Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 483
Diese Prüfung nun vollzieht Oe. an dem Maßstab der vier Evi-
denzklassen, welche ich in meiner Logik so gegliedert habe:
I. Unmittelbar gewisse, III. Unmittelbar wahrscheinliche,
II. Mittelbar gewisse, IV. Mittelbar wahrscheinliche
evidente Urtheile — neben denen es eine Ueberzahl evidenzloser gibt.
Unter dem Titel »Die Gewißheit des Causalgesetzes«
wird zuerst seine unmittelbare (eines Beweises weder fähige
noch bedürftige) Gewißheit abgelehnt, ebenso aber auch die Be-
weise aus der »Undenkbarkeit« (genauer Unverträglichkeit) des
Gegentheils, speziell auch die Einfügung unter den Satz des Wider-
spruchs; aus dem Angeborensein (ein solches meint Oe. vorwiegend
unter »Aprioric) — denn zugegeben selbst, unsere Causalüberzeugung
wäre (z.B. nach Schopenhauer) angeboren, oder sonstwie (z.B.
nach Kant) a priori, so ist ja auch nur allzuviel Falsches »ange-
boren« oder wird als Vorurtheil mitgeschleppt. Ebensowenig geht
es mit der Identifizierung von Ursache und Grund oder der Zurück-
führung auf Identität. — Hier dürfte Oc. in allem wesentlichen Recht
haben.
Unter dem Titel »Die Wahrscheinlichkeit des Causal-
gesetzes« wird zuerst davor gewarnt, für unmittelbare Evi-
denz der Wahrscheinlichkeit (die auch Oe. mit Meinong z.B. einem
Theile der Gedächtnisurtheile zugesteht, also wieder keineswegs etwa
die ganze Evidenzclasse III leugnen will) die bloße »Gewöhnung«
oder den »angebornen blinden Glaubensdrang< und einige andere
solche psychologische Einrichtungen (S. 14) gelten zu lassen. —
Aber auch mittelbare Evidenz sei nicht zu erbringen, weder
I. mittelst Induction, noch II. auf Grund der Parallelismushypothese,
noch III. mittelst Statistik (von der Art der Queteletschen). Dabei
wird unter I. sowohl geleugnet, daß speciell durch Induction
1. für Regelmäßigkeit, 2. für Nothwendigkeit »logische
Dignität« zu erlangen sei. — Mit Uebergehung aller übrigen Einzel-
argumente beschränke ich Berichterstattung und Einsprache auf fol-
gende Punkte:
Zu 1: Oe. leugnet, daß auch nur die Erfahrung über fallende
Steine ein Beispiel von solcher »Regelmäßigkeit« erbringe, wie sie
erforderlich wäre, um Regelmafigkeiten als eine Regel »sine instan-
tia contrariac im Naturablauf behaupten zu dürfen. »Der Grund,
warum wir immer nur von diesen Fällen sprechen [den »günstigen«
bei irgend welchen gleichartigen Erfahrungen, mit denen sich das
gewöhnliche Leben und auch die Wissenschaft begnügt] und nicht
von Gegeninstanzen [auch den eventuell gar nicht beobachteten], ist
einzig das Interesse, das der menschliche Geist seiner Orientierung
484 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
halber an der Ordnung hat ..<. Es läge sehr nahe, dem Verf. hier
vorzuhalten, daß er zu viel bewiesen habe, nämlich, daß auch wenn
ich aus einer Urne mit Kugeln von vorgängig unbekannter Farbe
100 mal, 1000 mal eine schwarze und nie eine andere Kugel gezogen
habe, sogar dieses »Bisher immer schwarz< trotz des »immer« noch
keine »Regelmäßigkeit« wäre. Oc. würde antworten: Freilich nicht,
denn das »Bisher«< besagt ja schon die mögliche Einschränkung
gegenüber der noch unbekannten Zukunft. Man sieht aber, wie
das bloßer Wortstreit wäre. Wenn also der Verf. fragt, »ob
das regelmäßige Fälle sind, oder eventuell unendlich viele Aus-
nahmen unendlich vieler Fälle«, so antworten wir: Ohneweiteres
‚regelmäßige« nach dem bisherigen ungekünstelten Sinne des Wor-
tes. Im Wesen der >unvollstiindigen Induktion« (der gegenüber die
vollständige an Bedeutung durchaus zurücktritt, vgl. meine Logik,
§ 73 und § 74), liegt es ja, die Möglichkeit gegentheiliger Fälle
mit vollem Bewußtsein offen zu lassen und doch mit gutem logi-
schem Gewissen zu unterscheiden zwischen Regeln mit beobachteten
Ausnahmen und Regeln ohne beobachtete Ausnahme. — Die nament-
lich hier (S. 16) allzu knappe Darstellung läßt mich einigermaßen
ungewiß, ob der Verf. all’ dies nicht ohnedieß zugesteht. — Dagegen
gestehe jedenfalls ich ihm gerne zu, daß auch dem ganzen reichen
Besitz an solchen ausnahmslosen Regelmäßigkeiten, welche den That-
sachenbestand der bisher gelungenen Induktionen in Sachen der
physischen und psychischen Natur ausmachen, soviel Gegenbeispiele
von bisher nicht gelungenen Induktionen gegenüberstehen, daß man
nicht verlangen kann, es müßten gerade die gelungenen Inductionen,
die als bisher ausnahmslos befundenen Regelmäßigkeiten, auch nur
als eine halbwegs überzeugende inductio per enumerationem simplicem
sine instantia contraria für das allgemeine Causalgesetz — oder
vorläufig: für ein allgemeines Regelmäßigkeitsgesetz — angesprochen
werden.
Zu 2: Der Kernpunkt des Streites liegt in Oe.s Angriff auf die
Berechtigung des Schlusses von der (nunmehr als zuge-
standen angenommen) Regelmäßigkeit auf die Nothwendig-
keit. — Ich muß mich hier Oe. gegenüber schuldig bekennen, mich
in meiner Logik (§ 76) mit folgendem Schlusse begnügt zu haben:
»Mit welchem logischen Rechte greifen wir über den Inhalt der
Beobachtung, daß eine Thatsache W bisher eine andere U zum
regelmäßigen Antecedens gehabt habe, hinaus zu dem Glau-
ben, daß U das nothwendige Antecedens von W sei? —
Dieses Recht nun erhellt aus der Vergleichung folgender zwei
Hypothesen:
Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 485
1. U sei das nothwendige Antecedens von W; dann mußte
gemäß dem Begriffe der Nothwendigkeit, so oft U existierte,
auch W existieren.
2. U sei nicht das nothwendige Antecedens von W; dann
ist aus keinerlei Realgrund erkennbar, warum, so oft U exi-
stierte, auch W existierte.
Da also die Hypothese 1. des vermutheten Bestehens der
Nothwendigkeit das thatsächliche Bestehen von Regelmäfßigkeit
zu erklären vermag, die gegentheilige Hypothese 2. letztere
Ursache aber unerklärt läßt, so hat 1. größere Wahrschein-
lichkeit als 2.«.
Allen solchen Schlüssen nun — die keineswegs schon das allge-
meine Causalgesetz zu beweisen unternehmen, sondern nur die >zu-
fälligen« Regelmäßigkeiten gegen die einen Schluß auf die Zukunft
gestattenden, weil causierten, speziellen Regelmäßigkeiten ab-
grenzen helfen — hält Oe. entgegen, daß, wer einer constatierten
Regelmäßigkeit gegenüber etwas wie ein »Erklärungs«<-Bedürfnis
zeigt, hiemit nur verräth, daß er schon vor dem Beweis, es gebe
überhaupt etwas wie Erklärungen, also Nothwendigkeiten, gleichwohl
von dem Bestehen solcher Nothwendigkeiten überzeugt sei. Und so
setze auch speziell jeder Beweis für je eine spezielle Causalbeziehung,
und ebenso wieder der Beweis für das Bestehen des allgemeinen
Causalgesetzes, den Glauben an das Causalgesetz fertig voraus. Da-
her habe weder dieser Beweis noch jener Glaube logische Dignität.
Ich habe seit dem gleichzeitigen Erscheinen von Oe.s »Nachtrag<
und meinen »Studien zur gegenwärtigen Philosophie der Mechanik«
mich nochmals geprüft, ob diese feinst zugeschärfte Spitze gegen
unseren Causal- und allgemeiner: Nothwendigkeitsglauben diesen
wirklich trifft. Hier beschränke ich mich darauf, mitzutheilen, daß
ich mein logisches Gewissen wenigstens in Sachen jener Nothwendig-
keit zwischen Zahlen, die ich in den »Studien< (S. 53-56) aus-
führlich begründet habe (und gegen die Oe. in der knappen, nach-
träglichen Anm. 15 dieselben Vorwürfe wie gegen das Causalgesetz
erhebt), durchaus rein finde. Wenn etwa der Schulknabe die Ent-
deckung gemacht hat, dß 143 = 4 4+5=9 9+7 = 16,
16+9 = 25, 253 +11 = 36, 36+13 = 49... und er »verwun-
dert« sich über diese Regelmäßigkeit, daß jede Quadratzahl mit der
nächsten ungeraden Zahl wieder die nächste Quadratzahl gibt, so
dürfte es schon für dieses Verhalten des Knaben schwerlich die zu-
treflende psychologische Beschreibung sein, daß er »hinter jeder
Regelmäßigkeit Nothwendigkeit erwartet< und hiebei einem »blinden
Glaubensdrang< folgt. Wie aber, wenn dann gar der »erfahrene«
486 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Zahlentheoretiker (wofür ich a.a.O. mehrere Beispiele gegeben
habe), der den Unterschied zwischen bloß geahnten und wirklich be-
wiesenen Gesetzen nur zu gut kennt, hinter einer vorläufig nur
inducierten Regel eine beweisbare Entdeckung wittert? Oe. muß
dieses Vermuthen der Beweisbarkeit, d.i. des Bestehens einer Noth-
wendigkeitsrelation, als ein bis zum letzten Augenblick vor dem Ge-
lingen des Beweises (also auch noch während des Suchens nach
dem Beweis) logisch unberechtigtes Vermuthen hinstellen. Hierin
wird und darf ihn natürlich der Einwand nicht irre machen, daß,
sobald der Beweis für das Bestehen dieser zahlentheoretischen Noth-
wendigkeit dann doch gelungen ist, jene Vermuthung plötzlich als
eine dennoch berechtigt gewesene erwiesen sei. Denn nicht das In-
Erfüllung-gehen macht das Kriterium dafür aus, ob eine Vermuthung
als solche berechtigt war (Beispiel: auch eine dumme Wetterprognose
kann sich erfüllen, eine sorgfältigst abgegebene kann unerfüllt blei-
ben — vgl. meine Logik, $ 53). Nicht gerecht aber ist Oe. dem-
jenigen feinen logischen Momente geworden, welches wir bei dem
Nothwendigkeiten vermuthenden Arithmetiker, wie bei dem das mor-
gige Wetter vermuthenden Meteorologen als das gute logische Ge-
wissen beim Sich-Einlassen auf solche Vermuthungen festzuhalten
haben. Was Oe. im Grunde angreift, ist doch wieder die ganze
Classe der Wahrscheinlichkeitsevidenzen (die obigen
Classen III und IV.) — ein Gegenstand, auf welchen noch heute
nur allzusehr Oe.s versöhnliches Wort (S. 14) Anwendung findet:
»Wäre aber in dieser Weise Uebereinstimmung in der Wissenschaft
nicht zu erzielen, dann müßte die Entscheidung, wenn überhaupt
erreichbar, dem langsamen Gange späterer Gedankenentwicklung
überlassen werden. Vielleicht daß dann eine geübtere psychologische
Analyse, frei von Voreingenommenheit sie herbeiführen wird<. —
Ist es paradox, wenn ich Oe., dessen Polemik dazu drängt, die
Problemstellungen zu solcher Feinheit zuzuspitzen, in unserem gegen-
wärtigen Kampf um die Nothwendigkeit als Bundesgenossen be-
grüße, nicht als den schlimmen Feind fürchte, als den er sich gibt?
— Aber auch wer nicht auf diese Zuspitzungen einzugehen geneigt
ist, sieht ja sofort, daß Oe. nichts ferner liegt, als etwa Causationen
überhaupt und als solche zu leugnen: stellt er doch allenthalben
dem »Monismus« sowie dem »Parallelisnus<e (der in unglaublicher
Laxheit meistens ebenfalls unter das Schlagwort »Monismus< ge-
zwängt wird -— als ob »Eines« je »parallel« sein könnte!) die Ueber-
zeugung von dem Causiertsein des Physischen durch das Psychische
und umgekehrt (ebenfalls lax fast immer als »Wechselwirkung< be-
zeichnet) entgegen. Also spezielle Causationen leugnet Oe.
Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 487
sogar in diesem meist bekämpften besonderen Falle nicht; ebenso-
wenig in dem vielleicht noch heikleren eines Causiertseins unserer
Empfindungen durch »Dinge an sich« (und dieser unter einander). —
Nur das »allgemeine Causalgesetz«< läßt Oe. nicht als bewiesen
gelten — »obwohl natürlich das Gesetz auch bestehen könnte, ohne
erwiesen oder erweisbar zu sein« (S. 4). — Ich fürchte, Oe. hat
hier mit Beidem Recht: dem »bestehen können« und dem »nicht er-
wiesen<. Auf das »erweisbar« dagegen wage ich immer noch zu
hoffen — Oe. wird natürlich sagen : ohne alle logische Dignität. Ich
füge hinzu: bisher. —
Während also Oe. trotz allem selber durchaus an das Verur-
sachtsein des freien Falles und aller — oder nur vieler? — übrigen
physischen, auch psychischer, Vorgänge glaubt, so ist ihm, was für
diese recht ist, für das Wollen nicht billig. Doch will er keines-
wegs den Determinismus widerlegt, den Indeterminismus bewiesen
haben, sondern es soll >die Behauptung, daß das Freiheitsproblem
wahrscheinlich unlösbar ist, daß Determinismus wie Indeterminismus
gleich unbewiesene Theorien repräsentieren, begründet und es sollen
die Consequenzen beider Lehren für unser praktisches Verhalten ge-
zogen werden< (S. 1). Aber — der Verf. macht nirgends ein Hehl
daraus: sein Herz hängt am Indeterminismus; und nicht nur sein
Herz, vielmehr nach seiner der Wortzahl nach knapp, der Zahl
der Gesichtspunkte nach ausführlichst begründeten Ueberzeugung
auch alles Heil der Menschheit. — Es ist unmöglich , hier auch nur
andeutend zu prüfen, ob den Verf. die Hoffnung auf die bloße Mög-
lichkeit der indeterministischen Deutung von Reue, Strafe u.s. f.
nicht gegen die deterministische ungerecht gemacht hat. Es muß
vielmehr genügen, wenn der auswählende Bericht über den »Nach-
trag< seine innere Zusammengehorigkeit mit der »Kosmodicee< hat
erkennen lassen, und wir haben uns schließlich zu fragen:
Kann eine solche Sumine von durchaus negativen Ergebnissen
noch ein positives Ergebnis heißen ? Wie kann der Verf. von seiner
Agnostik positive Dienste für seine Bejahung der Glücksfrage hoffen ?
Wesentlich dürfte folgendes Bekenntnis sein: »... Die eigene Er-
fahrung zeigte mir eine große Veränderung, als ich nur Zweifel
zu hegen begann an meiner früheren materialistischen Weltanschau-
ung, und zwar wirkliche sittliche Besserung«. Da nun, was der Verf.
»materialistisch« nennt, ein rein Negatives ist, so muß freilich schon
seine bloße Widerlegung allerdings der erste Schritt zum Positiven
sein. In der That ist es auch die Widerlegung der Beweise
gegen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, zum mindesten das Erregen
yon Zweifeln gegen diese Beweise, was dem Verf. ganz eigentlich
488 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
als Ziel vor Augen steht. Das eigenartige seines Vorgehens liegt
aber darin, daß er die »Moglichkeit des Glaubens« nicht voll eröffnet
zu haben überzeugt ist, wenn nicht auch den Beweisen für das zu
Glaubende mit ebenso unerbittlicher theoretischer Schärfe an wo-
möglich sämmtlichen Punkten entgegengetreten wird, an denen sich
auch nur die leiseste Schwäche zeigt. »Besonders wichtig ist uns ..,
daß auch die Beweise für die Unbeweisbarkeit ebenso hoffnungslos<
sind, »als die Gottes-, Unsterblichkeits- [und Freiheits-]Beweise
selbst ..<. (S. 333). >Es fehlte nur noch an Beweisen für die Un-
beweisbarkeit der Unbeweisbarkeit dieser Probleme und des Be-
weisens würde kein Ende .. Ich kann mich hiegegen nur durch den
Glauben retten, daß alle diese Beweise Für oder Gegen .. für alle
Zeiten höchst unwahrscheinlich sind, und diese Erkenntnis hat mir
den gleichen Werth wie die meisten Wahrscheinlichkeitsbeweise der
Naturwissenschaft« (S. 334).
Dieses heiße Bemühn Oe.s, durch eine (wie das Beispiel der
Nothwendigkeits- Erwartungen gezeigt hat, manchmal wohl über-
strenge) Kritik des theoretischen Wissens und evidenten Vermuthens
dem »Glauben< die Bahn zu öffnen, erinnert an Kants Verhältnis
zwischen Theoretischem und Praktischem. Einer der Unterschiede
aber liegt in der von Kants transscendentaler Dialektik gänzlich ver-
schiedenen Art der »Beweise gegen die Beweise<; Oe. sagt von sei-
nem »Versuch .. diese Fragen zu lösene: »Diesmal soll es nüchtern
geschehen, wie es das Jahrhundert lehrte, nüchterner vielleicht, als
es bisher geschah<. Und ein anderer Unterschied ist der, daß, was
Oe. durch seine Agnostik dem Glauben erkämpft haben will, nicht
wie bei Kant doch wieder eine Art »Wissen« aus »praktischer Ver-
nunft<, sondern bescheiden nur »das Recht zu traumen< sei. Darin,
daß Oe. als »Wahrheit< nur gelten läßt, was vor den strengsten
rein theoretischen Ansprüchen stand hält, liegt der hohe wissenschaft-
liche Ernst und Werth des Buches — der mindestens ebenso hohe
rein menschliche, der Gesinnungswerth aber darin, daß mit reiner
Wissenschaft dem Verf. die Welt bei weitem nicht erschöpfbar ist.
Es könnte dem letzten Zweck dieser Anzeige, ihre Leser be-
kannt zu machen mit dem durchaus eigenartigen Gesinnungsleben,
aus welchem unser bisher viel zu wenig gelesenes Buch hervor-
gegangen ist, durch kein näher liegendes Mittel entsprochen werden,
als durch einen vergleichenden Blick auf ein anderes Gesinnungs-
buch, das zwei Jahre jünger ist als jenes und das heute schon Alle
gelesen haben: Chamberlains »Grundlagen des XIX. Jahrhunderts«.
Nur mit Rücksicht auf den Raum versage ich mir die Parallele:
genug, daß alle Größe und Schärfe der Gegensätze — so in der
Oelzelt-Newin, Kosmodicee. 489
entgegengesetzten Werthung des Kosmopolitismus — noch weit auf-
gewogen wird durch die Aehnlichkeit der Methoden: reichste Kultur-
geschichte in den Dienst des Glaubens an höchste Kulturziele zu
stellen; und — unbeschadet der nicht selten scheinbar entgegenge-
setzten Haltung speciell zu den Problemen des Pessimismus und des
Fortschrittes — durch die Aehnlichkeit, fast Gleichheit der Welt-
anschauungen: das Wort hier nicht in willkürlicher Identificierung
mit >Philosophie« , sondern in seinem dem Schauen des Künstlers
wesensgleichen Sinne genommen. Welches Heim Oelzelt der Kunst
an den Grenzen seiner Philosophie einräumt, sagt uns am schönsten
der Schluß des Vorwortes zur Kosmodicee:
>Und um dieses Recht zu träumen, zu hoffen und sich zu freuen,
soll hier gestritten werden; ohne das ist das Leben nicht lebens-
werth und malt sich selbst in falschen Bildern, sich und den Tod.
Die wahren Bilder stören den Träumer nicht, und kein menschliches
Wissen kann sich unterfangen, ihn zu wecken. Die Wahrheit läßt
den Edlen träumen, daß auf Erden einst sein Ruf nach Gerechtig-
keit erhört werden wird; den Armen, daß einst die Erben seines
Elendes in Ueberflu8 leben werden; den Dichter, daß er einst auf
einer schöneren Erde mit edlen Frauen wandeln wird, deren Tage-
werk es ist, ihn zu führen und Lorbeer zu schlingen um die Her-
men seiner Ahnen; die Wahrheit läßt sie alle hoffen, daß einst
anderswo vollkommen werde, was auf unserer Welt nie vollkommen
sein kannc«.
Wien, Weihnachten 1900. Alois Höfler.
Nassau-Oranische Correspondenzen. Herausgegeben von der Historischen Com-
mission für Nassau. Erster Band. = Der Katzenelnbogische Erb-
folgestreit. Erster Band. — Erste Abteilung. Geschichtliche Darstellung
bis zum Tode des Grafen Heinrich von Nassau (1538). Von Otto Meinar-
dus. [1 Bl. u. 176 S]. Mit dem Lichtdruck-Porträt des Grafen Heinrich
von Nassau. — Zweite Abteilung. Briefe und Urkunden 1518—1538. Heraus-
gegeben von Otto Meinardus. [XI u. 431 8]. Mit dem Lichtdruck-
Porträt des Grafen Wilhelm von Nassau. — Wiesbaden, Verlag von J. F. Berg-
mann, 1899.
Die Entstehungsgeschichte dieses Werkes wird im Vorwort an-
gedeutet. »Zuerst bestand die Absicht, nur den Briefwechsel der
Grafen Heinrich und Wilhelm von Nassau herauszugeben<. Infolge
der Beobachtung jedoch, daß dieser Briefwechsel hauptsächlich aus-
Géts. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 33
490 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
gefüllt sei durch die »hessisch-nassauische Streitfrage um die Erbfolge
in der Grafschaft Katzenelnbogen<, wurde der Bearbeiter dahin ge-
führt, jener Streitfrage auch über den Briefwechsel der nassauischen
Brüder hinaus in seiner Quellenforschung nachzugehen. Da nun
aber unsere »Streitfrage« eine wesentlich politische Angelegenheit
gewesen ist und deshalb im Lauf der Zeit in die mannigfaltigsten
politischen Combinationen irgendwie mit hineingespielt hat, so reizte
es den Bearbeiter weiter, in seiner Quellensammlung »möglichst viele
dieser Verbindungsfäden aufzukniipfen<, für möglichst viele von ihnen
‚eine Auswahl von Briefen und Urkunden teils in wörtlicher Wieder-
gabe, teils im Auszuge abzudrucken<. Doch wurde auch die ur-
sprüngliche Absicht keineswegs aufgegeben; für den Briefwechsel
der Brüder untereinander scheint Vollständigkeit erstrebt zu
sein; aus ihrer sonstigen Correspondenz (nebst verwandten Akten-
stücken) ist eine Auswahl getroffen worden. Der Bearbeiter hat
dann geglaubt, das Ganze mit der Flagge des »Katzenelnbogischen
Erbfolgestreites< decken zu können, aber thatsächlich bildet der
Erbestreit mit Hessen in den uns gebotenen Correspondenzen der
nassauischen Brüder nicht durchweg den Schwerpunkt. In vielen
Stücken kommt er gar nicht vor, und wo er vorkommt, werden oft
gerade die Stellen, die nicht von ihm handeln, in Wiedergabe des
Wortlauts bevorzugt; vgl. z.B. Nr. 4 Beschaffung von Reliquien,
Nr. 5 Sendung eines stählernen Bogens, Nr. 8 Empfang von Ge-
mälden u.s.w. Die schon in Arnoldis Denkwürdigkeiten veröffent-
lichten Stücke des Briefwechsels werden nicht vorwiegend nach der
Seite des Erbestreites hin ergänzt '). Wir haben es, dem Doppel-
titel des Werks entsprechend, mit einer Doppelschicht von Quellen-
auszügen zu thun. Doch kommen in der reichen Sammlung auch
Stücke vor, die meiner Ansicht nach weder zum Ober-, noch zum
Untertitel passen. Daß sie alle, »selbst diejenigen, von denen man
es auf den ersten Blick nicht annehmen sollte<, mit der hessisch-
nassauischen Streitsache >in irgend einer Berührung« stehen,
verdanken sie wohl hauptsächlich ihrer Entstehungszeit. Aber inter-
essant sind sie fast alle. Für viele von ihnen sind wir dem Heraus-
geber aufrichtigen Dank schuldig.
Der Wortlaut der Aktenstücke gibt nur selten zu Bedenken
1) Nachzutragen ist, daß auch Nr. 116 (unvollst. Regest) z.T. gedruckt ist
in den Denkwürdigkeiten S. 203 (vgl. Ranke, Deutsche Gesch. II® S. 245 Anm. 1),
und daß ebenso Nr. 314 gedruckt (und besser erläutert) ist in den Denkw.
S. 220. — Nr. 112 Anfang in den Denkw. S. 202 viel besser. In yy. 131 ver-
dirbt der Absatz den Text (»dan« = außer daß).
Nassau - Oranische Correspondenzen. I. 491
Anlaß’). Weniger gut steht es um die Erläuterung der Akten-
stiicke. Die in den Texten vorkommenden Daten werden sehr
häufig nicht aufgelöst. Umgekehrt entbehren die Stücke als Ganzes
oft des Originaldatums. Wo aber eine Kontrolle möglich ist, da
fehlt es nicht ganz an falschen Auflösungen?). Vor allem aber: die
Bestimmung der vorkommenden Orte und Personen zeigt große
Lücken und Irrtümer; das gilt sowohl für die Anmerkungen, wie für
das Register’). Ueber dieses (auf den Aktenband beschränkte) Re-
gister ließe sich mancherlei sagen, z.B. daß es die Kunst versteht,
aus zwei Personen eine und aus einer zwei zu machen.
1) Ein paar Conjecturen möchte ich mir alsbald erlauben. Nr. 22.4 v.u.
om antworte = »zur antworte? S. 152 Z. 12 »meinerliche = »meineclich« ?
Nr. 146 Z. 6 in »interesse wurdt deductrt< ein »nit« einfügen? S. 256 2. 6 v.u.
»mit<e = »nit<? Das gäbe den beiden Stellen wohl besseren Sinn. S. 284 Z. 2v.u.
»forcht u. schreiben«e = »forcht u. schrecken«? S. 354 Z. 15 v.u. »>um gl. oder
100000« = »ein gl. oder 100000<? — S. 223f. »ich wolt gern bei etlichen fur-
sten, so im pund seind, gewest seine gibt zum Streichen des »sein« [I] keinen
Anlaß; S. 855 Z. 9 v.u. muß die Klammer stehen bleiben, wo sie stand: »wollen
hulf (..... ) thun«.
2) So muß es heißen für Nr. 71 Mai 12 statt 10, in Nr. 76 März 9 statt 8
(und Mai 12 statt 10), in Nr. 88 Nov. 5 statt 3, für Nr. 87 praes. [wem?] Juli
24 statt 27, für Nr. 93 Aug. 18 statt 25 (vgl. unten), für Nr. 114 Dec. 19 statt
17, in Nr. 145 Anm. Febr. 1 statt 29 (vgl. unten), für die »Ordenung« in Nr.
233 Mai 3 statt 4, für Nr. 294 Aug. 21 statt 23. Gut gemeint, aber unrichtig
ist es, wenn die Textstellen sam abent des 25. dis monats januarii< in Nr. 118
und »am abent des 10. tags mau«< in Nr. 126 aufgefaßt werden als Daten »Jan.
24< und »Mai 9«. — Nr. 148 ist nicht »vordatiert« (I 1 S. 120), sondern zurück-
datiert, ebenso wie Nr. 14.
8) Einzelnes werden wir unten zu berichtigen haben; ein paar Bemerkungen
seien gleich hier vorausgeschickt. Daß Graf Wilhelm mit dem Rath Flach »su
Teutsch« geredet hat (I2 S.42 Z. 15 v. u.) bezieht M. auf die »Deutsche Sprache,
Rede«; es dürfte sich aber wohl um Deutz handeln, vgl. S. 43 Z. 2 »gein Col-
len<. Der Niclas v. »Heynsize S. 99 dürfte wohl ein Schleinitz sein. Kaiser
Karls Schwester Eleonore (8. 120) ist nicht mit Johann III., sondern mit Ema-
nuel I. von Portugal vermählt gewesen; sie war im J. 1524 Wittwe, das erklärt
ihre damalige Stellung am k. Hofe. »Leyßnegk«, für dessen Reformationsge-
schichte sich M. interessiert (S. 191), ist wohl nicht ein »Flecken Loessneck«,
sondern die Stadt Leisnig. Der »Gewaltigee am k. Hofe, mit dem Graf Wilhelm
1528 »muntlich«e zu verkehren Aussicht hatte (S. 220, S. 222), ist sicher kein
anderer, als der Propst von Waldkirch. »Montzon<, wo die Nr. 156 geschrieben
ist, ist die Stadt Monzon o. n. 6. von Zaragoza; »Hüllkrade«, wo die Nr. 320
geschrieben ist, ist der Flecken Hülchrath, Kreis Grevenbroich; die Nr. 164
(»Ohne Orte) ist in Dillenburg geschrieben, s. S. 244. Daß Landgraf Philipp
1534 die Seinen »zu zeiten abscheits uf dem spis vertrost haben sol« (S. 332 Z. 6),
geht auf einen hessischen Landtag am Spieß bei Kappel. Die » Wienerische Hand-
Jung« S. 356 und öfter ist der Vertrag König Ferdinands mit Kursachsen von
1535 Nov. 22, gedruckt Polit. Corresp. d. St. Straßburg Il S. 320.
33*
492 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Dem Aktenband geht als sehr wesentliche Ergänzung die »ge-
schichtliche Darstellung« voraus. Es galt, wie uns das Vorwort
weiter berichtet, >zugleich das reichliche, von allen Seiten zuströ-
mende Quellenmaterial zu einer Darstellung zu verarbeiten<. So
entstand die »erste Abteilung< unseres Werkes. Deren erstes Ka-
pitel behandelt »die Rechtsfrage und die Parteien bis zum Tode
Graf Johanns V. von Nassau-Dillenburg< im J. 1516, das zweite er-
zählt »das Emporkommen der Grafen Heinrich und Wilhelm von
Nassau<, im dritten mit dem Titel »Züge und Gegenziige< wird dann
der Anschluß an die Quellensammlung erreicht. Das sei hier ein
für allemal gesagt: die ganze Darstellung hat Schwung und Ge-
schick ; sie liest sich vortrefflich, wenn man sie nur genießen, nicht
nachpriifen will. Den »wissenschaftlichen Benutzer< muß es freilich
von vorn herein verdrießen, daß die Anmerkungen vom Text ge-
trennt sind, und daß man nach dem Aufsuchen der betreffenden
Nummer in vielen Fällen weiter nichts erhält, als eine neue Num-
mer (z.B. Anm. 447 = Nr. 309); erst diese zweite Nummer weist
dann in den Quellenband. Dazu tritt — und dies gilt von beiden
Abteilungen des Werkes — der Uebelstand, daß die Anmerkungs-
Verweise im Text vielfach bei eigentümlich gewählten Stichworten
stehen. Doch das ist äußerlich. Schwerer wiegen die sachlichen Be-
denken, die sich gegen die Darstellung gar bald erheben.
Für die wichtigen ersten Jahrzehnte der hessisch-nassauischen
Erbstreitigkeiten, deren Anfänge noch im 15. Jahrhundert liegen,
war eine Stoffsammlung in größerem Umfang und damit ein tieferes
Eindringen ausgeschlossen durch die Doppelnatur des Werkes. Aber
auch allgemein bekannte Thatsachen sind im ersten Kapitel der
Darstellung übersehen worden, wie die Gesamtbelehnung der Land-
grafen Wilhelm I. von Niederhessen und Wilhelm III. von Ober-
hessen mit dem ganzen hessischen Besitz einschließlich Katzeneln-
bogen u.s. w. durch den römischen König Maximilian I. auf dem be-
rühmten Reichstag zu Worms im J. 1495. So treten wir unge-
nügend gerüstet an die Forderungen der Grafen Heinrich und Wil-
helm heran. Die »Rechtsfrage« bleibt dunkel. — Doch was war
nun der Inhalt der nassauischen Forderung ? Betraf sie nur die
Erbfolge in der Grafschaft Katzenelnbogen«, wovon das Vorwort
allein spricht? Weit gefehlt! Die Dillenburger erhoben Erbansprüche
an die ganze Hinterlassenschaft des kinderlosen Landgrafen Wil-
helm III. von Oberhessen (7 1500), sodaß Landgraf Philipp sehr
Recht hatte, zu betonen, die nassauische Forderung betreffe »fast
den merer und besten teil seiner ererbten furstenthumb, lande und
leutec (Nr. 272). Aktenmäßig spezifiziert liegt die Forderung der
Nassau-Oranische Correspondenzen. TI. 493.
beiden Brüder vor bei Arnoldi, Nassau-Oranische Gesch. III 1 S. 84f.
Dem Verf. unseres Werkes ist das bekannt; er weiß sehr wohl, daß
man nicht nur Katzenelnbogen und Zubehör begehrt hat, sondern
auch »andere grafeschaften, herschaften, landschaften, hab und guter,
sovil und was gedachter landgrave Wilhelm der junger besessen«
(I 1 S. 85). Trotzdem begnügt sich M. meistens ganz offiziell mit
dem pars pro toto »Katzenelnbogischer Erbfolgestreit<. Eine klare
Darstellung des Rechtsstreites wird man danach bei ihm nicht suchen
dürfen. M. kennt sich zudem in dem thatsächlichen Besitz der
Dillenburger nicht recht aus, wie er denn z. B. meint, Graf Wilhelm
habe, und zwar als hessisches Lehen, Driedorf besessen (I 1 S. 166
Anm. 88) '). Ä
Vom dritten Kapitel der Darstellung an machen wir nun weiter
die Beobachtung, daß der enge Zusammenhang des nassauischen
Handels mit Fragen der hohen Politik das Interesse des Bearbeiters
immer mehr von der Untersuchung des Rechtsstreites ab und zur
Darstellung der allgemeinen politischen Entwicklung hinüber gelenkt
hat. Wir erleben eine förmliche Absage an die »Correspondenzen
und Akten über diesen Prozef<, die »zu Marburg und Wiesbaden in
großem Umfang vorhanden< sind, und die der Bearbeiter nicht aus-
schöpfen will”). Immer energischer wirft dieser sich, zur »klaren
Durchführung dieser ohnehin so verwickelten Erbfolgefrage<, auf
das politische Gebiet (I 1 S. 77). Dabei ist er, wohl durch den
Gang seiner Studien verführt, in einen nahe liegenden, aber schwe-
ren Irrtum geraten. Er sah, wie der nassauische Handel auf Schritt
und Tritt mit großen Zeitereignissen sich berührte; das brachte M.
zu bedenklichen Verwechslungen von Ursache und Wirkung; in
Fällen, wo die politische Gesamtlage entscheidend eingewirkt hat auf
den Fortgang des nassauischen Handels, glaubte M., umgekehrt die-
sem Handel einen bestimmenden Einfluß auf die hohe Politik zu-
schreiben zu müssen. Er überschätzt die Machtstellung der beiden
Dillenburger, besonders die des Grafen Heinrich. Er nimmt infolge
dessen ihre überspannten Ansprüche allzu ernst, glaubt den Land-
grafen wirklich dauernd der Gefahr ausgesetzt, seiner ganzen Macht-
1) Vgl. Arnoldi, Gesch. III 1 S. 85, II 2 S. 255. — Nach Arnoldi III 1
S. 155 Anm. wurde Graf Wilhelm am 21. Aug. 1517 von Hessen mit Herborn
und Wallenfels belehnt; nach Meinardus I 1 S. 41 war er Mitte Aug. 1518 zur
Lehnsempfängnis in Marburg. Ist das beides richtig?
2) Ganz unberücksichtigt bleibt die juristische Litteratur. Vgl. z.B. Re-
sponsa a diversis conscripta Bd. III, Frankfurt 1589, S. 223 ff. (mit Aktenstücken) ;
Lauze, Leben Philippi Magnanimi Bd. I S. 425 (über gedruckte Consilia); Wenck,
Hess. Landesgesch. Bd. I S. 637 Anm.
494 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
stellung durch die Nassauer beraubt zu werden, und läßt ihn des-
halb in seiner gesamten, so unendlich vielseitigen, weitspannenden
Politik fortwährend abhängig sein in erster Linie von jener nassaui-
schen Gefahr. M. läßt den Landgrafen deshalb auch die von ihm
beherrschten oder beeinflußten politischen Kreise mit hineinziehen in
immer stärkere Abhängigkeit vom nassauischen Handel. So gewinnt
M. aus seinem Katzenelnbogener Gesichtswinkel vielfach ganz neue
Anschauungen von Personen und Ereignissen der allgemeinen Ge-
schichte. — Es würde zu umständlich und zu verdrießlich sein, allen
Irrgängen einer so wunderlichen Construction im einzelnen nachzu-
spüren. Nur an einigen besonders charakteristischen Punkten soll
im Folgenden mit über die Gedanken referiert werden, die M. sich
vom inneren Zusammenhang der Zeitereignisse gemacht hat.
Indem M. diese Gedanken vorträgt, folgt er nun doch in seinem
darstellenden Teile zugleich der weiteren Entwicklung des hessisch-
nassauischen Rechtsstreits, und zwar mit einem Quellenstoff, der
über den Aktenband nicht nur in der Heranziehung gedruckten
Materials hinausgreift, sondern auch in Verwertung ungedruck-
ter Quellen, die ihm leider erst nach dem vorzeitigen Abschluß des
Aktenbandes zugeströmt sind. Auch in diesen Partieen hat also die
»Darstellung< unseres Werkes höheren Rang, als jene »noch sehr
beliebten Einleitungen, welche den Inhalt des hinterher mitgeteilten
Quellenstoffes mehr oder weniger unvollständig umschreiben, allen-
falls noch in Einzelheiten Selbständiges bieten< (G. v. Below in der
Westdtsch. Zeitschr. 19 S.69). Bei M. liegt die Sache manchmal so,
daß er die Quellen nicht benutzt, die er bringt, und die nicht bringt,
die er benutzt. Unter diesen Umständen muß ich mich an beide
Teile des Werks zugleich halten, wenn ich es unternehme, die von
M. angestellten Forschungen mit einigen Einzelbemerkungen zu be-
gleiten.
1. Im Frühjahr 1519 vermutete Landgraf Philipp zum ersten
male feindlichen Ueberfall durch Graf Heinrich von Nassau. Er be-
riet sich mit den erbverbriiderten Wettinern. Davon berichtet im
Aktenbande außer der Nr. 3 (in deren Eingang wohl >» Wir haben«
zu ergänzen ist) die Anmerkung I 2S. 3f. Leider aber unver-
ständlich, denn man kann nicht am 21. Mai eine Verabredung auf
den 7. Mai getroffen haben u.s.w. Doch vermag ich die Confusion
nicht zu heilen.
2. Zum folgenden Jahre 1520 überrascht uns M. in der Dar-
stellung (I 1 S. 54) durch den Gedanken, ob es nicht den Ernesti-
nern habe zweckmäßig scheinen können, ihre Erbverbrüderung mit
Hessen damals nicht zu erneuern, — mit Rücksicht auf »den Stand
Nassau - Oranische Correspondenzen. I. 495
der Katzenelnbogischen Streitfrage<. Hier kündet sich zuerst die
oben besprochene Verirrung deutlich an.
3. In diesem Jahre 1520 kam der nassauische Handel vom
Kammergericht, wo er seit 1508 gehangen hatte, an den Kaiser;
Karl verhörte die Parteien 1521 auf dem Reichstag zu Worms.
Davon handeln die Akten Nr. 24 ff. Aber der jugendliche Landgraf
von Hessen stritt in Worms nicht nur mit Nassau, sondern auch mit
Pfalz, mit Mainz, mit Fulda, mit Baden, mit Hanau, mit Sickingen,
mit Cronberg und mit vielen anderen, nicht zum wenigsten mit sei-
ner schamlosen Mutter Anna von Mecklenburg, die den 16jahrigen
Sohn unter Nichtachtung seiner landesherrlichen Stellung in diesem
kritischen Augenblick mit einem zweifelhaften Privatanspruch vor
den Kaiser gezogen hatte. Auf Anna beziehen sich in unseren Ak-
ten Nr. 24 ff. folgende Stellen: S. 22 Z. 12—6 v. u., S. 25 Z. 8—25,
S. 26 Z. 5—7, Z. 18—19, S. 27 Z. 1—2, Z. 6—7, Z. 27—28, Anm.
Z. 3,8. 28 Z. 1v.u.D). M. hat diese Stellen rätselhafter Weise
auf den nassauischen Handel bezogen. Von einer dieser Stellen
(S. 25) meint er dann nachträglich (I 1 S. 169 Anm. 160), sie be-
treffe »die Klage der Gräfin Elisabeth wegen einer vorenthal-
tenen Erbrente aus dem Zoll zu Boppard<, worauf er ȟberhaupt
nicht eingegangen, um die Sachlage nicht zu sehr zu ver-
wickeln« *).
4. Der Advocat Dr. Henning, mit dessen kürzlich erfolgtem Ab-
leben sich Landgraf Philipp bei den Wormser Verhandlungen ent-
schuldigte (I 2 S. 24; vgl. I1 S. 63 >der Rat<!), war Henning
Gode, gestorben am 21. Jan. 1521 in Wittenberg, jureconsultorum
facile princeps, wie sein Grabdenkmal in Erfurt, das bekannte Werk
Peter Vischers, besagt. — Der Kanzler S. 28ff. ist Johann Feige,
der Hauptmann S. 30 (Z. 3) ist Ritter Friedrich v. Thun, sächsischer
Bevolimachtigter, nicht auch brandenburgischer, wie das Regest S. 27
meint; s. S. 29 »bede, hern Fridrichen und N.«.
5. Nicht im Wortlaut mitgeteilt werden der wichtige nassauisch-
clevische Vertrag ven 1521 Aug. 21 (vgl. I 1 S. 67 mit Anm. 167;
Arnoldi, Gesch. III 1 S. 86) und der »simulierte Tausch< der nassau-
ischen Brüder von 1522 März 29 (vgl. I 1S. 68 mit Anm. 168;
1) Vgl. Deutsche Reichstagsakten j. R. II S. 811f. — Im nassauischen
Handel hat nach RTA. II S. 864 Philipp u.a. Febr. 22 u. 23 »Antwort und an-
dere Einbringung gethan«.
2) Auch in Nr. 2 hat M. die »gn. Frau v. Hessen«, in deren Gegenwart der
junge Pbilipp 1518 einen Abgesandten Graf Wilhelms von Nassau empfing, für
des Absenders Mutter Elisabeth gehalten. Vgl. dazu noch I 1 S. 46 über
Anna von Braunschweig, angebliche Regentin von Hessen!
496 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Arnoldi, Gesch. III 1 S. 87 mit Anm... Daß über den clevischen
Vertrag Landgraf Philipp am 17. Oct. 1521 beim Reichsregiment in
Nürnberg Beschwerde erhoben hat, erfahren wir jetzt aus der nach
unserem Werk erschienenen Publikation der Berichte des Hans
v. der Planitz, S. 12. Im übrigen ist zum J. 1522 zu bemerken,
daß M. aus einigen ihm bekannt gewordenen Briefen, die der junge
feurige Landgraf mit den schwerfälligen Ernestinern wechselte, den
kühnen Schluß zu ziehen scheint, diese hätten Philipp gegen Sickingen
im Stich lassen wollen mit Rücksicht auf Heinrich von
von Nassau (s. I 1 S. 73—76).
6. Ein Hauptereignis im Verlauf des Erbestreites war das Tü-
binger Urteil der k. Commissare vom 9. Mai 1523 (Nr. 70; übrigens
schon mehrfach gedruckt, z. B. bei Lünig, Reichsarchiv 22 S. 648). Es
scheidet in der Darstellung von M. zwei Kapitel: 4. »Vom Wormser
Compromiß bis zum Tübinger Urteil<; 5. »Bemühungen um die
Vollstreckung des Tübinger Urteils<. Diese Bemühungen begannen
mit brieflichen Verhandlungen zwischen Graf Wilhelm und Landgraf
Philipp. Nach Arnoldi, Gesch. HI 1 S. 92, soll damals Philipp
schriftlich erklärt haben, »er wolle es bei dem Urteil bewenden lassen
und demjenigen, so er von rechtswegen zu thun schuldig sei, nunmehr
geleben<«. Man möchte gern wissen, wie es sich mit dieser Aeuße-
rung verhält, doch erfährt man darüber bei M. leider nichts (s. I 2
S. 86 Anm. 1 u. I 2 S. 84, ohne Quellenangabe).
7. Aktenstücke von entscheidender Bedeutung waren dann wei-
ter der »Auftrag Karls an seine vorigen Commissarien zur Voll-
ziehung ihres [Tübinger] Urteils, mit einem gleichmäßigen an Fer-
dinand als Statthalter des Reichs< von 1523 Oct. 31 Pamplona, Ar-
noldi IH 1 S. 97. M. kennt nur die dem Landgrafen gleichzeitig
hiervon gemachte Mitteilung (I 2 S. 106 Anm., I 1 S.88). Dagegen
gibt er uns (in Nr. 80) ein gleichzeitiges Mandat anderen Inhalts an
den Landgrafen, das diesem aber gar nicht insinuiert worden zu
sein scheint.
8. Am 11. Aug. 1524 empfing der Landgraf ein neues k. Man-
dat vom 8. Apr. d. J. (Nr. 86), durch das ihm ein neuer Rechtstag
gesetzt ward (>»Reichstage I 1 S. 103 Z. 1 v.u. ist Druckfehler).
M. läßt nun im 6. Kapitel seiner Darstellung, betitelt »Ursachen der
hessisch-sächsischen Waffenerhebung<, den Landgrafen über die durch
jenes Mandat geschaffene Lage recht einseitig mit Herzog Georg
von Sachsen beraten, ohne zu merken, daß das Schreiben Phi-
lipps an Georg vom 18. Aug., das er I 1 S. 103 im Regest gibt,
wörtliche Uebereinstimmung zeigt mit der Nr. 93 seines Aktenbandes,
einem gleichzeitigen Schreiben Philipps an Kurfürst Richard
Nassau -Oranische Correspondenzen. L 497
von Trier (dessen Datum allerdings falsch aufgelöst ist Aug. 25).
Der Briefwechsel mit Herzog Georg gibt uns also nur einen Aus-
schnitt aus den Verhandlungen Philipps.
9. Das Ergebnis jener breit erzählten Verhandlungen mit Her-
zog Georg war dann nach M., daß Georg beim besten Willen seinem
Schwiegersohn nicht helfen konnte ; [denn ?] er war »anderer Ansicht
über die Gesetzmäßigkeit der neuen k. Commission« (S. 107 oben).
Dabei sei gleich erwähnt, daß M. eine spätere Aeußerung Georgs
ernst nimmt und gesperrt druckt: Philipp möge den Grafen von
Nassau geben, was ihnen vom Kaiser zugesprochen sei (S. 112). Aber
das war eine im Briefwechsel über die Religionsfrage (1525) in
gereizter Stimmung hingeworfene unsachliche Aeußerung. Vom
christlichen Gebot, dem Feinde innerlich zu vergeben, war damals
die Rede. Philipp blieb denn auch im Rahmen der von ihm (be-
züglich Georgs und Luthers) angeregten Discussion; er antwortete
nur, er bitte Gott alle Tage, daß ihm die Gnade werde, solche Ver-
gebung zu üben (Neues Arch. f. sächs. Gesch. VI S. 127 unten). —
Als man im J. 1538 den Landgrafen zum Tod des Grafen Heinrich
hat beglückwünschen wollen, hat er das abgelehnt: »sein todt erfreuet
uns nichts, dan er hat uns unsers wissens nie ubels oder boses gethan ;
... die sach, so er und wir mit einander zu thun gehabt, het wol
durch recht oder gute mugen ... vertragen werden« (Briefwechsel mit
Bucer IH S. 507). Aber daß Geben seliger sei als Nehmen, be-
rührte den Landgrafen nicht in seinen landesfürstlichen Pflichten; an
dieser Einsicht hat ihn auch Bucer nicht irre machen können (Da-
selbst II S. 172). Ä
10. Von Herzog Georg war also damals (um 1524) für Philipp
keine Hülfe im nassauischen Handel zu haben. Philipp, so ist der
weitere Gedankengang bei M., wußte sich zu helfen: er wandte sich
wieder den Ernestinern zu. Nun waren diese aber merkwürdige
Leute. Zwar »die Absicht, das nassauische Haus von ... Katzen-
elnbogen auszuschließen«, hatte schon im J. 1487 »den Anstoß zur
Erneuerung< der sächsisch-hessischen Erbverbrüderung gegeben; in
den Erbvertrag war schon damals »Katzenelnbogen ausdrücklich ein-
bezogen< worden (I 1 S. 17). Und Philipp, auf dessen 2 Augen das
Haus Hessen stand, war im J. 1524 ein zarter Jüngling; er blieb
bis 1527 kinderlos; der Erbfall konnte für Sachsen leicht eintreten.
»Ein Interesse jedoch an diesem Erbfolgestreit [mit Nassau] für sie
und das sächsische Haus woliten sie [die Ernestiner] durchaus nicht
zugeben. [Wie ist das möglich?]. So mußte der Landgraf denn
auf einem anderen Wege versuchen, ihnen näher zu kommen« (I 1
S. 107). Da traf es sich, daß eben damals, wie uns M. belehrt, viele
498 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
deutsche Fürsten, darunter Philipp von Hessen und die Ernestiner
mit Ausnahme Friedrichs des Weisen, »innerliche Beziehungen zur
evangelischen Lehre gewonnen« hatten. >Wir dürfen annehmen, daß
ein großer Teil von ihnen sich eine tiefe innere Ueberzeugung ge-
bildet hat. Mit Bestimmtheit wissen wir es zwar von keinem; denn
in die Herzen sieht nur Gott der Herre. Immerhin läßt »beispiels-
weise< Philipp »eine starke Ueberzeugung, allerdings auch Wand-
lungen erkennen<. »Man darf aber nie vergessen, daß Fürsten keine
Privatleute sind ; ihre Handlungen werden durch viele Momente be-
stimmt, welche sich aus ihrer Gesamtpolitik ergeben<. Philipp von
Hessen hat »die Volksgunst« erkannt, »welchen Trieben ... und
Bestimmungen sie folge, und danach hat er gehandelt<. Er ist (ich
kann M. nicht anders verstehen) .einer der Fürsten, die »die kirch-
liche, die religiöse Frage ihrer Politik dienstbar machten« (I 1
S. 109 f.)'). So gewann Philipp die Ernestiner für den nassauischen
Handel. — Arme deutsche Reformation !
11. Herzog Georg dagegen überwarf sich damals ernstlich mit
dem Landgrafen. »Man wird zugeben<, daß das »mit< auf die Ver-
größerung der religiösen Gegensätze »zurückzuführen sein Könnte«
(S. 111). Denn es ist »sgerade als wenn beide Fürsten das Be-
dürfnis fühlten, sich über die Glaubensfrage einander auszusprechen<
(S. 110). »Aber eine genügende Erklärung für das schroffe Beneh-
men des Herzogs, wo es sich in der Hauptsache nur um den Glau-
benswechsel handelt, ergibt sich daraus nicht<. Die Sache liegt tie-
fer. Herzog Georg »durchschaute offenbar sehr bald die Ziele und
Zwecke seines Schwiegersohnes. Weil dieser in seiner Katzen-
elnbogischen Angelegenheit mehr Förderung von einem An-
schluß an die Ernestiner erwartete, deshalb wandte er sich von ihm
ab« (S. 111). Damit wird die deutsche Reformationsgeschichte auf
eine neue Grundlage gestellt.
12. Es kam zum Gotha-Torgauer Bund. Der nassauische Han-
del erhielt ein anderes Aussehen. Erzherzog Ferdinand soll
folgenden »Gedankengang< gehabt haben: »wenn der ... Bund auch
nur zur Verteidigung ... des Glaubens errichtet ist, so wird es ...
einem Politiker, wie der Landgraf es ist, nicht schwer werden, für
einen gewaltsamen Ueberzug seines Landes wegen Katzeneln-
bogen eine Erklärung auf religidsem Gebiet zu suchen<. Die
Dillenburger aber hofften auf den Kaiser. »So drängten sie zu dem
1) Später geschah es, daß »selbste die Wetterauer Grafen, mit ihnen Wil-
helm von Nassau, »sich veranlaßt sahen, für das Luthertum ... Partei zu er-
greifen. Was sie dazu nötigte, war ein sehr reales Moment: ihre üble Lage,
der Geldmangel« (I 1 S. 157).
Nassau-Oranische Correspondenzen. I. 499
Conflikt hin, den Philipp von Hessen herbeizuführen wußte« (I 1
S. 115£.). Graf Wilhelm setzte dem Landgrafen im Aug. 1526 auf
dem Reichstag zu Speyer hart zu'); er suchte den sächsischen Für-
sten Philipps Gesinnungen zu verdächtigen. Um sich etwaigem »Zu-
reden des Kurfürsten von Sachsen zur Einigung mit Nassau«<
zu entziehen, ritt Philipp in der Nacht hinweg (S. 116f.). >»Hier-
durch wird die bisher unerklärt gebliebene plötzliche Ab-
reise Philipps verständlich. Vgl. Friedensburg, Speier S. 460«
(S. 172 Anm. 305). Als wirklich etwas Positives? Antwort: gerade
Friedensburg ist es, der den Landgrafen aus Speyer fortgetrieben
werden läßt zwar nicht durch den nassauischen Handel allein‘, wohl
aber durch eine ganze Reihe von »Privatsachen, die sich von ver-
schiedenen Seiten an den jungen Fürsten hängten«, nämlich seine
Angelegenheiten 1) mit dem Schwäbischen Bund, 2) mit Nassau,
3) mit Sickingens Erben, 4) mit dem Coadjutor von Fulda. Das
Neue bei M. ist also nur die grandiose Einseitigkeit seiner
»Auffassung« (wie man eine derartige Willkürlichkeit ja wohl nennen
muß).
13. Der dunkelste Punkt des ganzen Werkes sind die Phanta-
sieen über »die bisher sogenannten Packschen Handel< (so S. 121
unten). Daß diese Händel durch die Person Packs mit dem hes-
sisch-nassauischen Rechtsstreit, mit dem eigentlichen Prozeß,
zusammenhängen, ist bekannt. Denn Pack war, wie andere Räte der
Wettiner, mit in diesem Rechtsstreit thatig. Ganz etwas anderes
aber, als dieser persönliche Zusammenhang, ist der sachliche
Zusammenhang der Packschen Händel mit der weltbewegenden
»Katzenelnbogischen Frage« ; ein Zusammenhang, den M. entdeckt
haben will, nachdem es ihm angeblich gelungen ist, jene Händel —
rendgiltig<, heißt es Litt. Centralbl. 1899 Sp. 815 und N. Arch. f. sachs.
Gesch. 21 S. 180 — als hessische Machenschaft zu enthüllen, d.h.
den Landgrafen Philipp nun doch wieder als Fälscher zu entlarven.
Zwei Sätze fassen das Gesamtergebnis von M. zusammen. »Ueber
allen Zweifel klar erwiesen wird ... die wahre Ursache der hessisch-
sächsischen Waffenerhebung; sie galt der Katzenelnbogi-
schen Frage« (S. 123). »In seiner großen Bedrängnis um das
Erbe seiner Väter und in Besorgnis vor unbestimmt drohenden Ge-
fahren ließ Philipp eine falsche Bündnisurkunde anfertigen, um .
1) Daß das Aktenstück, dessen Anzeige die Nr. 122 bildet, bei Rommel,
Urkb. zur Gesch. Philipps, gedruckt sei, ist irrig. Ergänzung der Nr. 122 bei
Friedensburg, Reichstag zu Speier S. 84 u. 89. — Aus Nürnberg schrieb man
am 6. Aug. 1526, Landgraf Philipp plane eine Sendung zu Graf Heinrich nach
Italien ; Friedensburg S. 460 Anm.
500 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
den k. Staatsmännern Verlegenheiten zu bereiten, infolge deren sie
gezwungen werden sollten, seine und seines Bundesgenossen Hülfe
zu erkaufen; der Kaufpreis war die Grafschaft Katzen-
elnbogen« (S. 127). — Von dem Beweis der Fälschung durch
Philipp wird alles andere abhängen; denn wenn er nicht gelingt,
wenn es dabei bleibt, daß Philipp nicht Betrüger, sondern Betroge-
ner war, so bleibt es auch bei den bisherigen »wahren Ursachen«
seiner Waffenerhebung. Jenen Beweis also gilt es zu prüfen.
»Nach dem bisher vorhandenen Quellenmaterial sprechen aller-
dings die meisten Gründe ... gegen die Schuld des Landgrafen«
(S. 124). Aber, so müssen wir die Beweisführung von M., schon
ehe sie beginnt, ergänzen, diese Gründe brauchen nicht alle wider-
legt zu werden, sondern nur einer von ihnen. Dieser eine, »der
Hauptgrund«, ist der, >daß in dieser Sache die ganze Initiative der
ersten Annäherung von Pack ausgegangen sei«. Dieser Grund »fällt
fort< (S. 126). Denn, das ist die großartige Erweiterung des bis-
herigen Quellenmaterials: im Briefwechsel Philipps mit den erbver-
brüderten Wettinern »bezüglich des Prozeßganges< findet sich ein
Schreiben vom 2. Febr. 1528, in welchem Philipp den Herzog Georg
unter anderem bittet: »e. 2. wolle uns derselbigen diner doctor Packen
uf allererst als muglich widerumb zuschicken, ... das er neben
unsern doctorn den handel helf fleissig beratschlagen, wie er dan zu
thun wol weiss<; »und das das uffs forderlichst gesche, wan es
kont mir gar balt ettwas drin vorsehen werden, das darnach mit grosser
erbeit nit erlangt kont werden« (Nr. 144). Diese Worte stürzen Phi-
lipp ins Verderben. Man könnte sie »höchstens so erklären, daß
der Landgraf vielleicht noch nicht wußte, daß der auf den
22. März angesetzte Rechtstag [zu Tübingen] bis zum Herbst ver-
schoben werden solle [!]; und daß dann allerdings, wenn schon im
März getagt wurde, eine schleunige Vorberatung der sächsischen
Räte nötig war, wenn sie noch bis zum 22. März in Tübingen an-
wesend sein sollten. [Und versäumen durfte man den Tag nicht,
denn die k. Commissarien wollten auf ihm ein »endgiltiges« Urteil
fällen, I 2 S. 207 Anmerkung.] Aber auch auf andere Weise läßt
sich diese Eile Philipps deuten; er mußte ... eine vollzogene That-
sache schaffen, die Waffenerhebung mußte bis zum Früh-
jahr perfect geworden sein«< (I 1 S. 125£.). Bildet man sich
nun ein, man habe gesagt, jene unheimlichen Worte »allererst< und
sforderlichst< ließen sich aus dem >Prozefgang< überhaupt nicht
erklären (oben hieß es »höchstens« u.s. w.), und bildet man sich
ferner ein, man habe nicht gesagt, »auch auf andere Weise<, son-
dern >nur auf andere Weise«, und zwar nur auf die eine bestimmte
Nassau -Oranische Correspondenzen. If. 501
andere Weise lasse sich die »Eile Philipps deuten<, so ist der Be-
weis wohl ziemlich fertig, >daß Landgraf Philipp, nicht Pack, der
Erfinder des Bündnisvertrages« gewesen ist (S. 126). — Nun ist aber
der Aufschub des Gerichts erst am 24. Januar von nassauischer
Seite brieflich erbeten und am 1. Februar durch den Bischof von
Augsburg bewilligt worden (I 2 S. 207 Anmerkung, wo irrtümlich
sogar >29. Februar< aufgelöst wird). Also konnte Philipp am
2. Februar von dem Aufschub nichts wissen. Damit fällt der ganze
ohnehin auf schwachen Füßen stehende Beweis zusammen.
Doch ist noch ein Zusatz zu erledigen (S. 126f.). M. macht
darauf aufmerksam, daß nachher im Fortgang des Prozesses der
Landgraf, als er Dez. 1531 Anlaß nahm, den bisherigen Verlauf der
ganzen Streitsache zu rekapitulieren, ausdrücklich gesagt habe, er
sei seinerzeit durch Zurückweisung seiner Appellationen gedrungen
worden, sich in Gegenwehr zu setzen. Aus diesem »Hinweis
auf die Jahre 1526 und 1527< folgt für M. der Satz: »wirklich hat
Philipp selbst später auf indirektem Wege seine Initiative zuge-
standen<. Gemeint scheint die >Initiative der ersten Annäherung«
an Pack in Sachen des Breslauer Bündnisses. Auf noch indirekterem
Wege käme man dann wohl wiederum zur Fälschung durch Philipp
im Jahre 1523? Wir brauchen uns nicht damit aufzuhalten, weitere
Folgerungen zu erraten; denn die »Gegenwebr< selbst war nicht,
wie M. zu meinen scheint, eine militärische, sondern eine pro-
zessuale. Philipp hat Ende 1531 mehrere Rekapitulationen des
Prozeßverlaufs gegeben; wir brauchen nur zwei Parallelstellen zu
vergleichen, so ergibt sich der Sinn der »Gegenwehr« mit Sicher-
heit. Dem Kaiser schrieb Philipp Dec. 7 (Nr. 206): alle Instanzen,
an die ich appellierte, hatten mir erklärt, »das inen die handt desfalls
verschlossen weren<; »solt ich nun nicht grosser beschwerung erwarten,
habich mussenfurfarn, doch mit protestacion, das ich solichs nicht
thu, die richter zu verwilligen« ; »ın solchem process abermals urteil
gefallen< u.s.w. (I 2 S. 289f.). Dem Herzog Georg aber schrieb
Philipp Dec. 10 (Nr. 207): wir haben überall vergeblich appelliert,
wie denn auch dem Kammergericht !) »die hand verschlossen gewesen« ;
»und [haben!] also gedrungen [kein Komma!] uns in jegenwehr,
y.. doch mit vorgeender protestacion, dadurch solichen gerichtsewang
nicht zu erstrecken, begeben<; »daruf dan die richter weiter fur-
gefaren, urtheil gesprochen« u.s.w. (I 2 S. 293)?). Also: da Philipps
1) Ueber die Appellation beim Kammergericht s. Lauze I S. 424.
2) Philipps gedruckte »Recusationschrifft« von 1531 Aug. 2. geht davon aus,
daß ihm »rechtmessige defension, schutzreden, ursachen, exception unnd gegen-
were« verworfen worden.
502 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Appellationen nicht angenommen wurden, blieb der Prozeß unge-
stört, und Philipp mußte, wenn er auch gegen die Richter prote-
stierte, doch des Gerichtes weiter warten (/urfarn, sich in jegenwehr
begeben). Grund: Verhütung eines Kontumazialverfahrens
(S. 293 »uf das in ungehorsam weiter beschwerlichs gegen uns
nicht gehandelt, als on zweifel vorhanden gewest<; S. 290 >»grossern
unrath und verlust meiner guter zu verhuten«).
Ich muß nach alle dem den Versuch, die früber von ultramon-
taner Seite gegen Philipp erhobene Anklage der Fälschung zu er-
neuen, als ein leichtfertiges Unternehmen bezeichnen. Der frühere
Ankläger, Stephan Ehses, hat im eigenen Lager Widerspruch ge-
funden und ist selbst zuletzt ganz kleinlaut geworden (vgl. Ehses,
Philipp und Pack S. VI u. 162, VIII unten u. 163). Diesem Sach-
verhalt entspricht es, daß jetzt im Histor. Jahrbuch 21 S. 152 über
das Buch von Meinardus nur vorsichtig gesagt wird, die »Streit-
frage« werde »wieder neu aufgerollt«, einen Beleg für seine Auf-
fassung >finde< der Verf. in Nr. 207 [jegenwehr!). — Es gibt
freilich auch andere Stimmen. In den Histor.-polit. Blättern 104
S. 189 liest man: »Was für ein Mensch war doch auch dieser Phi-
lipp! ... heimtiickisch und lügnerisch, treulos, ein Wollüstling und
ein höchst gewaltthätiger Fürst ... In wenig mehr als 3 Jahren
bekannte sich Philipp zu 3 verschiedenen Religionen. Eine »Auf-
fassung<, an der man wenigstens das rühmen muß, daß sie Hand
und Fuß hat. Dazu paßt dann auch die Fälschung und das schur-
kenhafte Benehmen Philipps gegen Pack, an das M. glaubt. Was
dagegen M. selbst an anderen Stellen seines Buches seinen Quel-
len, alten und neuen, über unseren Helden ehrlich nacherzählt, das
paßt zu solchen Schurkereien nicht. Und am wenigsten paßt
dazu der Hymnus auf Philipp, mit dem dann M. späterhin doch
wieder seine geistreichen Betrachtungen so harmlos schließt, als
habe er seine Entdeckungen über die wahren Ursachen der deut-
schen Reformation und die wahren Pläne und Ziele des hessischen
Landgrafen gar nicht gemacht: »größer noch als bisher erscheint
uns seine Gestalt unter den deutschen Fiirsten<; Philipp »ist und
bleibt der Retter des deutschen Protestantismus< (I 1 S. 161). Ich
glaube deshalb, M. damit entschuldigen zu dürfen, daß er sich der
Schwere seiner Anklagen gegen Philipp nicht bewußt gewesen ist.
14. Anfang Juni 1528 hat Philipp gegenüber dem k. Vice-
kanzler Balthasar Merklin, Propst von Waldkirch, sich bereit erklärt,
mit den Truppen, die er nun doch einmal auf den Beinen hatte,
eventuell auch dem Kaiser eine Hülfe zu leisten, und dabei hat er
den Vorschlag angedeutet, es durch solche künftige Unterstützung
Nassau -Oranische Correspondenzen. 1. | 508
des Kaisers zu »verdienen«, daß der Kaiser den Grafen von
Nassau für ihre Erbansprüche an Katzenelnbogen »etwas anderes
gebe« (I 2 S. 232, vgl. I1 S. 123 u. 132)'). Eine Ursache der
vorausgegangenen »hessisch-sachsischen Waffenerhebung< läßt sich
aus diesem Zukunftsplan nicht ableiten. Denn erhoben worden
waren die Waffen bekanntlich nicht für den Kaiser.
15. Inmitten der Erörterungen über die bisher sogenannten
Packschen Händel, und was damit zusammenhängt, gelangt die Dar-
stellung von M. zum 7. Kapitel, dem sich dann noch eine »Schluß-
betrachtung« anschließt. »Der Sieg des Landgrafen« ist fortan bis
zum Ende das Thema, für die politischen Ereignisse wie für den
Fortgang des Rechtsstreites. Die Auffassungen vom Zusammenhang
der Dinge, die M. hier weiterhin entwickelt, kann ich nun wohl auf
sich beruhen lassen. Aber zu den Thatsachen, die M. in Text und
Aktenstücken fortan berührt, möchte ich doch noch einige Berichti-
gungen und Ergänzungen hinzufügen. Das nächste, was mir auf-
fällt, ist, daß die Unterhandlungen der evangelischen Reichsstände
mit dem Kaiser, die im Herbst 1529 in Italien stattfanden, von M.
mit herbeigezogen werden, aber doch ohne genügende Kenntnis. Das
Empfehlungsschreiben, das die Stände ihren Abgesandten für Graf
Heinrich wie für andere k. Hofdiener mitgegeben hatten (Nr. 169),
wird hier nicht zum erstenmal gedruckt; es lag bereits vor bei Neu-
decker, Urkunden a. d. Reformationszeit S. 87, und zwar in einer
ganzen Reihe zusammengehöriger Stücke, deren Lektüre M. unter
anderem vor dem Irrtum bewahrt haben würde, als sei die Gesandt-
schaft erst im October am k. Hofe angelangt (I 1 S. 138). Sie
ist vielmehr am 7. September nach Piacenza gekommen und
hat am 12. Sept. Audienz gehabt (Neudecker S. 143). Graf Heinrich
und Alex. Schweis (den M. doch sonst so sehr auszeichnet, vgl. z.B.
Nr. 75, Nr. 129, Nr. 150) hatten diese Audienz vermittelt, >und
Heinrichs Vorsprache hatten es wohl die Gesandten zu verdanken,
daß sie Ende Oct. des Arrestes wieder entlassen wurden, den sie
sich durch Ueberreichung der Appellation gegen den letzten Speyerer
1) Der Bericht des Propstes an Graf Wilhelm, Nr. 157, gehört zu den wert-
vollsten Stücken der Sammlung. Der Propst traf den Landgrafen zu Schmal-
kalden (also Anfang Juni), in großer Kriegsrüstung mit trefflichem Geschütz,
»desgleichen ich fur einen fursten im reich nit gesehen«. Der Propst erzählt: als
ch mit harten Worten an ihn setzte, >hub er an mit geschickten worten und
sagt mir ein sermon, als ob er 50 jar alt were« [er stand im vierundzwanzig-
sten!]; er zeigte »bet 16 oder 20« eigenhändig aufgesetzte Artikel vor, warum er
das Kriegsvolk zusammengebracht; nur einer dieser 16 bis 20, freilich der
»principalste«, war das angebliche Breslauer Bündnis.
604 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Reichsabschied zugezogen hatten« (Arnoldi, Gesch. III 2 S. 268).
Erst wenn man das weiß, kann man Heinrichs Schreiben vom 30. Oct.
(Nr. 185) in seinem Hauptteil verstehen. Mit Michael von Kaden
dagegen, der auf dem Hinweg krank in Genua zurückgeblieben war,
hatte es seine besondere Bewandtnis. — Nr. 196 ist bereits gedruckt
Analecta Hassiaca XII S. 420.
16. Daß bei der Erörterung des Rechtsstreits auf dem Reichs-
tag zu Augsburg 1530 von »den beidene k. Commissaren die
Rede ist, »denen man Herzog Heinrich d. J. von Braunschweig zu-
gesellte< (I 1 S. 140, vgl. S. 144), erklärt sich wohl daraus, daß
Bischof Hugo von Konstanz, der 1522 an die Stelle des Bischofs
Georg von Bamberg gekommen war (s. I2S.73 Anmerkung),
1529 von seinem Bistum abtrat. Der wiederholte Wechsel der Com-
missare wird überhaupt bei M. wenig klar. — Mit keinem Wort er-
wähnt M. das in Augsburg 1530 erreichte Resultat der »Punkta-
tion< vom 13. Aug., worüber Arnoldi, Gesch. HI 1 S. 107 berichtet.
17. Beim Jahre 1531 interessiert sich M. für einen Auftrag,
den Kaiser Karl am 16. Juli den Grafen Wilhelm von Nassau und
Wilhelm von Neuenar erteilt hat; aber die Notiz darüber (Nr. 200)
ist recht unvollständig und ungenau. Die deutsche Ausfertigung der
Instruction, auf die M. aufmerksam macht, liegt längst gedruckt vor,
Allg. histor. Archiv, hg. v. Dippold u. Koethe (1. Bd., 1811) S. 296;
ebendaselbst S. 306 der Bericht der beiden Grafen vom 1. Sept.
Der Text der Instruction bei Lanz, Correspondenz Karls Bd. I S. 512,
ist nicht lateinisch, sondern französisch. Die Sendung der Grafen
erfolgte offiziell >»in Sachen des h. Glaubens und gemeinen Friedens«
(M. gibt gar keinen Zweck an), und sie ging nicht nur zu Kur-
sachsen, sondern auch zu »anderen«, besonders zu Kurpfalz. Vgl.
bei Lanz a.a.O. die zugehörigen Aktenstücke S. 510, 516, 518 und
518 (der Bericht vom 1. Sept. hier S. 523). Zum nassauischen Han-
del aber hätte M. diesmal in der That eine Brücke schlagen kön-
nen; man erfährt nämlich in der »Politischen Correspondenz der
Stadt Straßburg« II S. 55 ff, daß am 6. Aug. 1531 (als die beiden
Grafen in Heidelberg waren, Lanz S. 518) die Straßburger Dreizehn
ihrem hessischen Bundesgenossen »über Aufträge Nassaus an den
Kurfürsten von Sachsen< vertrauliche Mitteilung machten; wie dann
am 16. Aug. auch Capito gegenüber Zwingli Befürchtungen äußerte.
18. Etwas später entwickelte sich folgender Briefwechsel. Am
29. Oct. schrieb Philipp ähnlich wie an Herzog Georg (davon er-
fahren wir gelegentlich bei M., I 2 S. 291 Anmerkung) an Straß-
burg und an Zürich: er fürchte Ueberfall durch kaiserliche Truppen
unter Heinrich von Nassau, unter Vorwand seines Zwists mit die-
Nassau -Oranische Correspondenzen. I. 505
sem (Pol. Corr. v. Straßb. II S. 72). Straßburg antwortete am
11. Nov., >in der ganzen nassauischen Sache sei ja noch kein Urteil
oder Deklaration ergangen, womit Heinrich seinen Angriff recht-
fertigen kénnte<; die Stadt stehe aber, wenn es nötig werde, zu
Dienst (Daselbst S. 79). Damit kreuzte sich ein neuer Brief Philipps
an die Dreizehn vom 9. Nov. aus Sababurg: Philipp vernimmt, daß
die kaiserlichen Rüstungen aufhören und stellt deshalb auch die eige-
nen wieder ab (Daselbst S. 78). Am 26. Dec. 1531 hat Philipp
dann auch an Straßburg einen Bericht über den bisherigen Verlauf
des »Streits über die Erbschaft Landgraf Wilhelms IIl.< gesandt,
mit Protest gegen »>das unerhörte Vorgehen des Kaisers« und
Mitteilung von seiner Recusation der Richter’) (Daselbst II S. 181,
irrtümlich bei 1532).
19. Während die ‚Darstellung« unseres Buches jetzt allmählich
versiegt?), führen uns die Akten noch einige Jahre weiter. — Nr.
257 ff. handeln von einer neuen Sendung der Grafen Wilhelm von
Nassau und Wilhelm von Neuenar zu verschiedenen Reichsfürsten,
Anfang 1535. Aber diese Aktenstücke entbehren des Reizes der
Neuheit; Arnoldi hat sie in dem schon genannten Allg. hist. Archiv
von Dippold und Koethe in noch weiterem Umfang veröffentlicht, als
M. dies jetzt thut*). Das Creditiv von Jan. 4 (Nr. 257) erwähnt
Arnoldi S. 290 und nennt den Beglaubigten > Gottschalk Frick<, was
mir mehr einleuchtet, als das »Gotscalk Erick« bei M. Vollmacht
(nicht »Creditif<!) und Schadlosbrief der Königin Maria für die Gra-
fen von Jan. 28 (I 2 S. 335 Anm. 3) bringt Arnoldi S. 320 und
S. 321. Den Nrr. 258—260 (I 2 S. 335—343) entspricht bei Ar-
noldi a.a. 0. S. 322—338. |
20. Nr. 271ff. betreffen die Aufnahme Graf Wilhelms in den
Schmalkaldischen Bund. Was hier geboten wird, läßt sich mehrfach
ergänzen und berichtigen. Die Aufnahme-Urkunde von 1535 Dec. 24
1) Vgl. die oben besprochenen Nrr. 206 u. 207 in der Sammlung von M.;
Nr. 206 ist übrigens lateinisch auch bei Lanz, Correspondenz Karls Bd. I. 8. 624
gedruckt. Das gedruckte Recusationslibell (v. Dommer, Drucke aus Marburg
Nr. 40a) scheint M. überhaupt gar nicht zu kennen, s. I 2 8. 299 Anm. — In
der Pol. Corr. v. Straßb. vgl. weiterhin II S. 175 (Philipp an die Dreizehn über
Graf Heinrich und sein Kriegsvolk 1532 Nov. 7).
2) M. motiviert das I 1 S. 159 mit den nicht recht verständlichen Worten:
»Auf Einzelheiten hier einzugehen, würde mit unserer Aufgabe im Widerspruch
stehen«.
8) Auch Nr. 189 und Nr. 228 sind a.a.0. S. 291 und S. 815 schon vorweg-
genommen. Der ältere Abdruck ist meistens der vollständigere; so bricht z. B,
Nr. 228 mitten im Text der Vorlage ab, ohne daß das angedeutet wird.
Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6. 34
506 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
(Nr. 273 nach Abschr.) befindet sich im Straßb. Stadtarch. in Aus-
fertigung mit Siegeln von Sachsen, Braunschweig, Anhalt, Straßburg,
Ulm, Magdeburg und Bremen (Polit. Corresp. d. St. Straßb. II S. 358
Anm. 1). Der entsprechende Revers Graf Wilhelms (I 2 S. 386 Anm.,
I1 S.176 Anm. 440) ist bei Groen van Prinsterer, Archives de la maison
d’Orange, Suppl. S. 2* nach der Ausfertigung gedruckt mit dem Da-
tum 1536 Jan. 10. Der Protest, der auf dem damaligen Bundestag
zu Schmalkalden im Namen Landgraf Philipps eingelegt ward
(Nr. 271), wird von M. datiert »1535 Dec. 6<; aber der Protest
bezieht sich wiederholt ganz klar und deutlich auf den allgemeinen
Abschied des Tages, von 1535 Dec. 24 (gedr. Pol. Corr. v. Straßb.
II S. 321). Dagegen gehört Nr. 272 jedenfalls vor Dec. 6. — Zur
Weiterverhandlung der Angelegenheit in Frankfurt 1536 (Nr. 284)
ist zu vergleichen Pol. Corr. II S. 358 oben, 362 unten, 364 oben,
363, 363 f. Anm.
21. Graf Wilhelm setzte jetzt seine Hoffnungen hauptsächlich
auf den Kurfürsten von Sachsen. Da ist es nun ein Mißgeschick
für M., daß ihm der wichtige Brief entgangen ist, den der Graf dem
Kurfürsten am 30. Juni 1536 geschrieben hat, und der bei Groen
van Prinsterer, Suppl. S. 4* gedruckt steht. Der Kurfürst beant-
wortete diesen Brief und einen ergänzenden vom 3. Juli (Nr. 286)
zusammen am 16. Juli. Von dieser Antwort gibt M. wenigstens
einen Auszug (Nr. 288 nach »Abschr. des Concepts<), vollständig
gedruckt steht sie (sie ist sehr ausführlich) bei Groen a.a.O. S. 6*
—12* nach der Ausfertigung mit eigenhändigen Randbemerkungen
des Empfängers).
22. Der Landgraf hielt als klarer Kopf daran fest, mit dem
politischen Gegner, auch wenn er gleicher Confession war, nicht in
irgend welcher »Einung< sein zu können. Davon handelt I 2 S. 374
Anmerkung und zugehörig Nr. 287. Was es aber heißen soll, daß
Philipp einen Brief vom 7. Juli 1536 >»im Sinne des Kanzlers« be-
antwortet habe, »aber schon< am 14. Juli, ist mir dunkel geblieben.
Und wenn der hessische Kanzler am 14. Juli auf Friedewald war, war
er schwerlich am 15. in Battenberg. Dies Ortsdatum von Nr. 287 wird
»Rottenberg< zu lesen sein, und das bedeutet »doch wohl« auch
hier die gute Stadt Rotenburg a.d. Fulda (nicht etwa einen »Flecken
Rodenberg«, vgl. I 2 S. 427 und I 1 S. 171 Anm. 254).
23. Graf Heinrich hat im Jahre 1536 noch einmal den aben-
1) Man sieht hier u.a., daß bei M. I 2 S. 375 Z. 11 v.u. gelesen werden
muß: »so es bei uns gesucht und mit ichte [d.h. etwas] an [d. h. ohne] unsern
schaden hetie sein mugen«.
Nassau - Oranische Correspondenzen. I. 507
teuerlichen Plan gehegt, Gewalt gegen den Landgrafen zu versuchen
(I 1 S. 147 u. 161). Da ist es nicht ohne Interesse, zu sehen, daß
Philipp von der Gefahr unterrichtet war. Am 13. August schrieb er
den Straßburger Dreizehn: er werde gewarnt, daß Heinrich und
andere entschlossen seien, nach dem jetzigen kaiserlichen Zuge mit
Bewilligung des Kaisers ihn anzugreifen. Philipp bat des-
halb, die Straßburger möchten ihrerseits einen Kundschafter in Hein-
richs Lager schicken (Pol. Corr. v. Straßb. II S. 384).
24. Zwischen Graf Wilhelm und dem Landgrafen unterhandelte
inzwischen Graf Philipp von Solms; schon seit spätestens Juni 1536,
wie M. auch ohne direkte Kenntnis jenes Briefes von Juni 30 wohl
hätte merken können. Der erste Bescheid des Landgrafen, über den
Graf Wilhelm seinem Bruder am 17. Aug. Bericht erstattete (Nr. 293),
wird von M. mit Unrecht für den zweiten Bescheid gehalten, den der
Landgraf erst am 24. Aug. erteilt hat (Nr. 295). Der Fall aber,
»daß der Landgraf nicht mit Mannserben gesegnet würde« (Regest
I 2 S. 383), kann damals 1536 nicht mehr erwogen worden sein,
denn Landgraf Wilhelm IV. ist 1532 geboren. — Wie bruchstück-
haft übrigens unsere Kenntnis von den Verhandlungen dieser Jahre
bleibt, sieht man so recht in dem unverständlichen zweiten Absatz
von Nr. 300.
25. Die Handlung in der nassauischen Sache zu Schmalkalden
1537, von der in Nr. 308 die Rede ist, fand bei Gelegenheit des
neuen Schmalkaldischen Bundestages statt, siehe Pol. Corr. v. Straßb.
II S. 414 ff. (Ankunft des Landgrafen Febr. 8, S. 415; Besiegelung
des Abschieds März 6, S. 428; über Wilhelm von Nassau S. 422 un-
ten). Der dabei beteiligte »Ritter< ist nicht Malsburg, sondern
Sturm. — Von der in Nr. 309 erwähnten Handlung zu Wetzlar 1537
erfahren wir näheres bei Arnoldi, Gesch. III 1 S. 113£.
26. Graf Wilhelm war in diesen Jahren vor allem durch die
zunehmende Hartnäckigkeit seines vielfältig enttäuschten Bruders
gehemmt; sein Freund Wilhelm von Neuenar beklagte mit Recht
Graf Heinrichs >20 hart halten in dieser sachen« (Nr. 320). Nr. 311
freilich ist (was das Regest nicht erkennen läßt) nur ein ostensibeles
Schreiben, das ergibt sich aus der Nachschrift, zu deren Erläuterung
der Bericht des nassauischen Sekretärs Knüttel dient, der in Nr. 310 mit
untergesteckt ist; »Meister Wilhelm< S. 401f. und der »Diener Graf
Wilhelms« S. 403 sind natürlich mit »Wilhelm Kniittel< S. 398 ff.
identisch.” Auf die Bredaer Verhandlung 1537 Juli 30 ff. zwischen
Heinrich, Neuenar und den Sekretären Zimmermann und Knüttel be-
zieht sich auch Nr. 316, statt »[Anfang Febr. 1538]< zu datieren
»[Aug. 1537]«, vgl. S. 402 oben (Coburg).
508 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
— Im Sept. 1538 ist Graf Heinrich gestorben, ohne gegen Phi-
lipp irgend etwas erreicht zu haben. Damit schließt M. vorläufig
ab. — Die eine Thatsache hat M. klar erkannt (und das entschuldigt
vieles in seiner Sammlung wie in seiner Darstellung), daß der von
ihm erörterte Erbestreit ganz vorwiegend eine politische Angelegen-
heit gewesen ist. Man kann wohl sagen: juristisch betrachtet war
der langlebige, zwischen den verschiedensten Instanzen hin und her
gezerrte, bald hitzig, bald schläfrig, von vielfach wechselndem Inter-
essentenkreis betriebene, bald staatsrechtlich, bald privatrechtlich,
deutsch und römisch behandelte Streit einfach ein Monstrum. Graf
Wilhelm schrieb 1533, er habe mit den Doktoren geredet ; »die wickeln
die sach durcheinander nach irem stil so dunkel, das ich, was gewislich
zu thun sein wil, nit von inen abnemen mag« (Nr. 236), und Graf
Heinrich schrieb 1536, es sei zu vermuten, »wo wir uns nit selbst
bef furthelfen, als die advocaten itzo etliche und dreissig jar gethan
haben, daz nit vile aus unser sach erfolgen werde« (Nr. 297). Der
Prozeß ging eben »andere weg, die bei den gelerten nit zu finden«
(Nr. 234). Die Brüder von Nassau konnten sich darüber nicht be-
klagen ; sie waren es, die gerade diese anderen Wege mit vollem
Bewußtsein zuerst eingeschlagen hatten, wie M. sehr richtig betont
(I 18. 35). In der Blütezeit ihrer Hoffnungen (um 1520) bauten
die Brüder auf die Gunst des neuen Kaisers und die persönliche
Stellung Heinrichs an dessen Hofe, auf die Wirren im Hessenlande
und die schwierige Lage ihres jugendlichen fürstlichen Gegners.
Aber »Karl V. war niemals abhängig von seinen Ratgebern< (E. Bran-
denburg, Moritz von Sachsen I S. 96), und Landgraf Philipp saß
gar bald fest im Sattel und wurde ein Führer der deutschen Nation,
mit dem der kluge römische Kaiser politisch rechnen mußte, es
mochte ihm lieb oder leid sein. So zerrannen die Aussichten der
Nassauer in nichts. Schon im Januar 1530 gestand Graf Heinrich
seinem Bruder heimlich, der Kaiser stehe ihrer Sache kühl gegen-
über; Graf Wilhelm möge gütlichen Vergleich beim Landgrafen su-
chen, »eher das er und andere k. m. lernen kennen und selbst merken,
wie 1. m. gesint ist<« (Nr. 187). Eine Aeußerung, die sehr gut stimmt
zu dem, was wir über die Lage in Augsburg 1530 von Wigand
Lauze hören (Leben Philippi Bd. I S. 197, vgl. Ranke III® S. 193),
daß nämlich nach Ueberreichung der Augsburgischen Confession der
Landgraf »sobald auf den hohen berg gefuret |ist] und ime die guter
dieser welt gegeiget seind, ... dem keyser in dieser religionsuchen nicht
zu widerstreben, ... sollichs wurde ime ‘zu sonderlicher wolfart ge-
reichen, nenlich das erstlich die nassauische sache durch hilffe
Nassau - Oranische Correspondenzen. I. $09
des keysers ein yutes ende gewinnen, dornach herteog Ulrich
von Wirtemberg auch widerumb zu seinen landen ... gelossen werde.
Aber er hat .. . angebottener seitlicher und vergenglicher wolfart die
bestendige und ewige weit furgeseist«;, das Evangelium, nicht
Katzenelnbogen, war der Angelpunkt der Politik Philipps des Groß-
mütigen. So blieb der nassauische Handel in der Schwebe, und wie
er sich weiter entwickeln würde, das hing in erster Linie davon ab,
wie das Machtverhältnis zwischen Karl und Philipp sich weiter ge-
stalte. — Die letzten entscheidenden Wendungen im nassauischen
Handel sind herbeigeführt worden durch die Schlacht bei Mühlberg,
zu Gunsten von Nassau, und durch den Passauer Vertrag, endgültig
zu Gunsten von Hessen.
Marburg, October 1900. Hermann Diemar.
Der Diwan des ‘Umar Ibn Abi Rebfa nach den Handschriften zu Cairo und
Leiden mit einer Sammlung anderweit überlieferter Gedichte und Fragmente
herausgegeben von Paul Schwarz. Erste Hälfte Leipzig, Dieterich’sche
Verlagsbuchhandlung, Th. Weicher, 1901. VIII, 67, tr, S. 16 M.
“Omar ibn abi Rabi‘a blühte als Minnesänger unter den ersten
Omaijaden in Mekka. Diese Dichtungsart war damals im Higäz
heimisch, während in Syrien und im ‘Iräq Hof- und Parteidichter
die politische und satirische Poesie pflegten. ‘Omar stand mit seiner
Kunst keineswegs allein. Er war in Mekka von einer Anzahl gleich-
strebender Genossen und jüngerer Nachahmer umgeben, die gleich
ihm zumeist den ersten Familien der Stadt entstammten, auch in
al Medina fehlte es nicht an Dichtern der Liebe. Schon seinen
Zeitgenossen aber galt ‘Omar mit Recht als der bedeutendste unter
den Minnesängern. In der That war sein poetisches Talent sehr
kräftig, wenn auch nicht vielseitig. Alle seine Gedichte schildern
Situationen aus seinem eigenen Liebesleben, wie er die Geliebte
trotz aller Wachsamkeit der Hüter ihrer Ehre zu beschleichen weiß,
wie sie selbst ihm zur Hälfte des gefahrvollen Wegs entgegenkommt,
wie er die Schmollende mit Hilfe ihrer Duenna begütigt; nur selten
beklagt er verlorenes Glück. Die Liebe ist ihm eben wirklich die
510 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
Wurzel seiner Dichtung. Sie ist ihm daher stets lebendig und gegen-
wärtig, nicht retrospektiv wie den alten Qasidendichtern. Seine
Sprache ist leichtflüssig und ungesucht, ein wenig schon, wie Nöl-
deke hervorhebt, von der Umgangssprache gefärbt. Dem entspricht
auch sein poetischer Formenschatz; nur gelegentlich spielt er mit
einer schon von den Alten abgebrauchten Wendung, noch seltener
verfällt er auf ein bizarres Bild.
Seine Lieder sind uns in mehrfacher Hinsicht wichtig, als An-
fang einer neuen Richtung in der arabischen Poesie, als Sprach-
denkmäler und als Quelle für die Sittengeschichte seiner Zeit. Ob-
wohl uns sein Diwän schon seit mehreren Jahren in einem Kairiner
Druck (1311) zugänglich und zu einem beträchtlichen Teile schon
vorher aus dem Kitäb al Agäni bekannt war, verdient Schwarz doch
unseren Dank, daß er uns jetzt noch einen kritisch durchgearbeite-
ten Text vorlegt. Ihm standen für seine Ausgabe zwei Kairiner und
eine ganz moderne Leidener Hds. zu Gebote. Alle drei entspringen
einer gemeinsamen, nicht sehr weit zurückliegenden Quelle. Zahl-
reiche Reste andrer Recensionen hat Schwarz mit großem Fleiß aus
der philologischen und historischen Litteratur zusammengetragen.
Den Text hat er mit großer Sorgfalt und tüchtiger Sprachkenntnis
hergestellt. Der Charakter der Ueberlieferung bringt es mit sich,
daß er nicht selten auf Conjekturalkritik angewiesen war, und diese
handhabt er im allgemeinen mit sicherem Takt. Allzu bescheiden
bezeichnet er zuweilen absolut sichere und auf der Hand liegende
Interpretationen der Ueberlieferung als bloße Vermutungen (89ı1s,
9013 u.a.). Andrerseits hätte er manche Conjektur etwas näher
begründen sollen, da er eine Uebersetzung der Gedichte zu geben,
wie es scheint, nicht beabsichtigt.
Im einzelnen erlaube ich mir zur Herstellung des Textes noch
folgende Bemerkungen. 2s 1. (ws mit M. 49 Lue ist unmöglich,
lies Las. 8:1 Die Ueberlieferung ist trotz des Iqwä festzuhalten;
Schwarz’ Conjectur ergiebt ein schiefes Bild. 1010 Schwarz’ Ver-
mutung ist sehr bedenklich, abgesehen von dem lahmen Sinn, weil
— vu__ im zweiten Gliede des Basit fiir v_u-.. sehr selten ist. Es
wird ORTE zu lesen und nach Wright? II § 245b, Noldeke zur
Grammatik des cl. Ar. § 59 zu erklären sein: »wenn er uns nicht
Gedichte recitiert«. 1311 1. DIR 2323 Da das von Schwarz ver-
mutete „wo nicht belegt ist, zudem hinter 3y,x&“ und ‚Aa sehr
schwach wäre, möchte ich die Ueberlieferung beibehalten und als
Der Diwan des ‘Umar Ibn Rebi‘a hrsg. von P. Schwarz. I. 511
lo, eine allerdings gleichfalls nicht belegte Nebenform zu xslvo
interpretieren. 263 1. ACH 338 l. wus, 371 Die in den Anmer-
kungen richtig erläuterte Lesart der Handschriften hätte nicht durch
die Verwässerung aus den Amäli ersetzt werden sollen. 36s Schwarz’
Conjectur verlangt pr: statt des zweiten |,gü. Aber der Text ist
ganz in Ordnung; lies ae als Gegensatz zu xX« hs,, wie in v.r zu
lesen ist. 407 Ich würde mit CM Js, vorziehen. 42s 1. Sieh, 459
Schwarz’ Conjectur „» aad verstößt gegen die ausdrückliche Definition
von „sl bei den Lexicographen (8. ss: 394 cpr um). 4515
1. ar = y5¢4?. 543 Das bezeichnende oS der Ueberlieferung, von
der Erschiitterung durch den ersten Anblick ist dem farblosen . te
entschieden vorzuziehen. 565 |. pls; denn man sagt sa} sal
(Garir I 6418). 625 1. SS. 67s Nöldekes Lesung ges! dürfte sich
doch mehr empfehlen als das von Schwarz bevorzugte (set. Der
1. Stamm paßt bei weitem besser als der 8. Daß ‘Omar sich keines-
wegs scheute Hamza für Wasla zu setzen, zeigen außer der von
Nöldeke citierten Stelle noch 7320, 1453, 17417, 1763. 80.4 I. Lai 3;
beim Infinitiv müßte man im Parallelismus zu „o,i den durch das
Metrum ausgeschlossenen Artikel erwarten. 815 |. 2 oi. 839 1.
ye. 91i7 1. x39G. 925 Die Textlesart rko ist richtig, denn es
hängt noch von 3 ab. 931: Statt des unpoetischen Passivs würde
ich mit M gb vorziehen. 963 1. Spdualt, 1034 „X, wie Schwarz
mit Recht herstellt, verlangt doch ww; >was auch immer eintritt<
(535 oder ola). Eb.« Die Conjectur Val liegt von dem überlieferten
JL zu weit ab und ließe dessen Entstehung unerklärt; das ist zu
übersetzen: er ließ nichts übrig (ohne ihn ans Licht zu Zerren).
Eb. 10 Was soll ja sein? Das überlieferte Ei ist richtig, als Syno-
nym zu Js3, vgl. z.B. las. 1096 I. Ke > ‚unerreichbar« als Hal zu
J. 1lls« Die Ueberlieferung ist richtig, nur zu interpretieren:
aes px SW 6 a) Pr “t >daß heute, zur Zeit eurer Begegnung
ein einjähriges Warten (stattgefunden hat)<«. Ueber unvollständige
Sätze nach er vgl. diese Anzeigen 1899 p. 971; eine ähnliche Er-
512 Git. gel. Anz. 1901. Nr. 6.
scheinang im Syrischen bei Nöldeke Syr. Gr.? 237 2.4. 1151 1. 55.
1195 Das doppelte _s,5 wäre unerträglich schleppend. Ich vermute
sz) >meinst du’« in abgeschwächtem. halb interjektionellem Ge-
brauch, daher ohne Genuscongruenz als Vorläufer des vulgaren hal-
turd. 122» 38 ist richtig; der Sonnenaufgang steht hier wie so
oft als Zeichen zur Trennung der Liebenden. Das Reimwort yim?
12456 überlieferte s. 2.1 „ao wird doch richtig sein nach der Phrase,
yok! coho sılas Klare einer Sache wegnehmene. Daß das Wort-
spiel schon früh mißverstanden wurde, zeigen die Varianten in Ag.
und Hiz., die kaum aus dem ganz unzweideutigen „>, das Schwarz
vermutet, hätten entstehn können. 1346 >; ist zu matt. Man er-
wartet ein Verb zu „‚I;+ und das kann nur das überlieferte L>;
sein im Sinne von leicht zutheil werden«.
Die Trennung von Text und Apparat ist nicht sehr bequem;
beim Druck des Apparates hätte mit Rücksicht auf die Käufer der
Raum besser ausgenutzt werden sollen.
Breslau, 1. Mai 1901. C. Brockelmann.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen.
Juli 1901. Nr. 7.
Bietschel, G., Lehrbuch der Liturgik. 1. Band: Die Lehre vom Gemeinde-
gottesdienst. Berlin, Reuther und Reichard, 1900. XII u. 609 S,
Vorliegender Band bildet einen Teil der von D. Hering in Halle
herausgegebenen »Sammlung von Lehrbüchern der praktischen Theo-
logie in gedrängter Darstellunge. Unter den bisher erschienenen
Bänden dieser Gesamtdarstellung aller Zweige der praktischen Theo-
logie werden naturgemäß die einen einem stärker empfundenen Be-
dürfnis entgegenkommen als die andern und daher in höherem Maße
erwartungsvoll von den Fachgenossen begrüßt und gemustert werden.
Vielleicht treffe ich die Stimmung auch andrer Fachkollegen, wenn
ich aus dieser Sammlung neben der Arbeit von Dekan Wurster über
die Innere Mission die Bearbeitung der Liturgik in erster Linie als
das bezeichne, wonach unser Verlangen gerichtet war; hier muß uns
eine mit umfänglicher Beherrschung des Materials und gesund evan-
gelischen Prinzipien gearbeitete Darstellung besonders erfreulich
sein. Die geschichtliche Forschung hat in dieser Disciplin von Jahr-
zehnt zu Jahrzehnt in erfreulicher Weise zugenommen, so daß eine
übersichtliche Zusammenfassung uns dringend erwünscht ist, und
auch die praktische kirchliche Arbeit in der Herstellung neuer und Re-
vision alter Agenden, und im Zusammenhange damit die Diskussion
über viele Fragen der Liturgik ist eifrig im Gange, bedarf aber auch
dringend der Orientierung an klaren liturgischen Prinzipien und an
der Geschichte. Wenn Rietschel in geschichtlicher Beziehung nichts
anderes unternommen hätte, als daß er uns das von andern erworbene
Kapital von liturgischem Wissen möglichst vollständig und klar zu-
sammengestellt hätte, so wäre das schon eine höchst dankenswerte
Leistung. Aber er hat mehr gethan. Er gehört selber zu den auf
diesem Gebiete unermüdlich Mitarbeitenden und hat auch hier nicht
nur eigene ältere Forschungen verwertet, sondern an vielen Stellen
uns die Früchte neuer Studien mitgeteilt. Es sei in dieser Be-
ziehung nur hervorgehoben, daß er in einem Maße die in sämtlichen
evangelichen Kirchen Deutschlands z. Z. in Gebrauch befindlichen
Gott, gel. Anz. 1901. Nr. 7. 35
514 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
Agenden durchgearbeitet und verwertet hat wie wohl keiner seiner
Fachgenossen vor ihm. Man braucht ferner nur die Untersuchungen
ins Auge zu fassen, die er der Entwicklung der Idee des Kirchen-
jahrs während des Mittelalters gewidmet hat, um zu erkennen, daß
wir es hier mit erheblich mehr zu thun haben als nur mit einer ge-
wissenhaften Registrierung der Arbeiten andrer.
Den einleitenden Erörterungen über Begriff und Umfang der
Liturgik merkt man an, daß sich Rietschel der Aufgabe gegenüber,
die ihm gestellt war, eine Liturgik zu schreiben, in einer gewissen
Verlegenheit befand; denn er gehört zunächst in seiner Praxis als
Dozent zu denen, welche unter diesem Namen lediglich den christ-
lichen Kultus, d.h. den Gemeindegottesdienst behandeln, dagegen Taufe,
Trauung, Konfirmation, Begräbnis u. s. w. in ganz anderen Zusammen-
hängen der Gesamtdisciplin darstellen, sie also nicht in erster Linie
unter liturgische Gesichtspunkte stellen, vielmehr Taufe und Konfir-
mation im Zusammenhange der Lehre vom Katechumenat, andres im
Zusammenhange der durch bestimmte Lebenslagen veranlaßten seel-
sorgerlichen Thätigkeit des Geistlichen behandeln. Und was er als
Dozent unter Mitwirkung praktischer Gesichtspunkte in dieser Weise
verteilt hat, das erscheint ihm offenbar auch aus sachlichen Er-
wägungen als wohlbegriindet. Hier dagegen brachte es die Dis-
position des Heringschen Sammelwerkes mit sich, daß er sämtliche
in kultischen Formen verlaufende Handlungen des Geistlichen im
Lehrbuch der Liturgik zu vereinigen hatte. Er muß daher hier sich
dazu bequemen, sich jenem Sprachgebrauch anzuschließen, der unter
Liturgik die Wissenschaft von allen denjenigen Elementen des Kul-
tus versteht, welche durch die kultische Gemeinschaft und für die-
selbe fixiert sind. Ich bekenne, durchaus zu denen zu gehören, die
in der Praxis des akademischen Vortrages denselben Weg wie
Rietschel einschlagen ; ich kann aber auch die Bedenken nicht über-
winden, die der herkömmlichen Definition der Liturgik als der Lehre
von den fixierten Elementen des Kultus entgegenstehen. Nicht allein,
daß es mir ganz unmöglich scheint z.B. die Genesis unsrer Tauf-
liturgie loszulösen von der Geschichte des altkirchlichen Katechume-
nats, dieser aber doch nicht in eine Liturgik hineingehört, und daß
in ähnlicher Weise die Trauliturgie nur im Zusammenhange einer
Geschichte der kirchlichen Trauung verständlich gemacht werden kann,
die wiederum so tief in die Geschichte des Eheschließungsrechtes ver-
flochten ist, daß sie unmöglich in einer Liturgik abgehandelt werden
kann; sondern es sprechen bier auch prinzipielle Gründe mit. Der
Gemeindegottesdienst einschließlich der Abendmahlsfeier nimmt unter
den gottesdienstlichen Handlungen in der Gemeinde eine ganz andere
Rietschel, Lehrbuch der Liturgik. 1. Band. 515
Stellung ein als alle sogen. Kasualien; denn 1) er allein hat seiner
Idee nach als handelndes Subjekt die Gemeinde, jene andern
Handlungen dagegen sind ihrem Wesen nach immer nur Handlungen
von und an einzelnen Gemeindegliedern ; 2) nur der Gemeinde-
gottesdienst ist seinem Wesen nach Kultus und gar nichts
andres; alle jene andern Funktionen verlaufen zwar auch in gottes-
dienstlichen Formen, diese sind aber nur Begleiterscheinungen
an Handlungen eines andern konkreten Inhaltes. Daher findet sich
auch der Gemeindeteil, der bei letzteren gegenwärtig ist’, nicht ein,
um Gottesdienst zu halten, sondern um Teilnehmer oder Zeugen an
jener Handlung von nicht gottesdienstlichem Zwecke zu sein. Kein
Pathe kommt zu einer Taufe, weil er Gottesdienst halten will, son-
dern weil er an der Taufe des Kindes in bestimmter Weise beteiligt
ist. Eine Leichenbegleitung wird nicht durch das Bedürfnis nach
einem Gottesdienst ins Trauerhaus oder auf den Kirchhof geführt,
sondern weil sie einem Verstorbenen das Ehrengeleit zum Grabe ge-
ben will. Es ist, glaube ich, nicht zu bestreiten, daß bei allen Hand-
lungen dieser Kategorieen das Gottesdienstliche sekundärer Art
ist, nur die kirchlich würdige Form, die einer Handlung kirchen-
rechtlichen oder sozialen oder wie sonst zu bezeichnenden Inhaltes
gegeben wird. Darum kommen aber diese Handlungen auch nur
von dem Punkte aus angemessen zur Darstellung, der an ihnen das
Wesentlichste ist. Dazu wolle man bedenken, daf Liturgik als die
Lehre von der Agctoveyéa schon ihrer sprachlichen Herkunft nach
lediglich die Lehre vom Gemeindegottesdienst bezeichnete; erst in
übertragener Bedeutung und in weiterer Entwicklung des Ausdrucks
redet man von »Liturgien< und von »liturgischen« Elementen auch
bei solchen Handlungen, auf die der alte Begriff der Asıroveyix gar
nicht Anwendung findet. Ich muß aber noch mehr behaupten: bei
der herkömmlichen Fassung, bei der man unter Liturgik die Lehre
von den fixierten, agendarisch vorgeschriebenen Kultusbestandteilen
versteht, geschieht unserm evangelischen Gottesdienst ein schweres
Unrecht. Denn hiebei wird in den Vordergrund gestellt, was an
unserm Gottesdienste ererbte Form ist, was ihm aus seinem ge-
schichtlichen Zusammenhange mit den Traditionen des katholischen
Kultus erhalten geblieben ist. Unser Gottesdienst rückt unwillkürlich
in die Beleuchtung, als wenn er wesentlich eine abkürzende Modifi-
kation der katholischen Messe wäre. Grade das spezifisch Evange-
lische an ihm wird bei dieser Behandlung des Kultus beiseite ge-
schoben und an Spezialdisciplinen verwiesen. Bekommen wir doch
unter dem Zwange dieser Fassung des Begriffs Liturgik bei Rietschel
einen evangelischen Gottesdienst dargestellt, bei welchem sowohl
35 *
616 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
von der Predigt, wie vom Gemeindeliede völlig abstrahiert
werden muß, d.h. wir bekommen ein Kultusbild, das nur die Ele-
mente der Tradition aus dem katholischen Gottesdienst, natürlich
mit den entsprechenden Modifikationen, aufweist und die entscheiden-
den evangelischen Kultuselemente unsern Blicken verschwinden läßt.
Mag man aus praktischen Gründen alles Technische der Homiletik
zu einer Sonderdarstellung ausscheiden, so darf doch unmöglich eine
evangelische Kultuslehre auf das Prinzipielle der Homiletik verzich-
ten; denn nur vom Begriff des Kultus aus wird Wesen und Aufgabe
der Predigt recht zu bestimmen sein, und sie selbst ist beherrschen-
der Mittelpunkt jenes; und es ist wahrlich nicht gleichgültig, daß
wir dem Anfänger im Predigen mit aller Macht zum Bewußtsein
bringen, daß die Predigt im evangelischen Kultus der centrale Kul-
tusbestandteil ist. Nicht minder bedenklich scheint es mir, das
Kirchenlied, den Gemeindegesang aus der Kultuslehre auszuscheiden,
— der Chorgesang ist der Liturgik zugewiesen, das Gemeindelied
aber nicht! —; denn auch für diesen Bestandteil unsrer Gottes-
dienste bedarf es ja doch von Anfang bis zu Ende der Orientierung
am Kultusbegriffe und der Eingliederung in den Organismus des
Kultus. Es ist mir sehr lehrreich an Rietschels stoffreicher, die ver-
schiedenen Zeiten und die verschiedenen Kreise der Christenheit im
ganzen so gleichmäßig berücksichtigenden Behandlung der Kultus-
geschichte, daß er über das ganze große Gebiet des evangelischen
Kirchentums, welches mit der katholischen Kultustradition radikal
gebrochen hat und Gottesdienst ohne fixierte Kultuselemente hält
(Puritaner, Methodisten, Baptisten u. s. w.), mit völligem Stillschweigen
hinweggeht. Haben diese großen Gemeinschaften keinen Kultus,
weil sie nicht die traditionellen liturgischen Formen beibehalten ha-
ben? Ebenso vermisse ich die Berücksichtigung einer Gemeinschaft
wie die der Herrnhuter, die einen liturgisch reich ausgestatteten,
aber doch vom großen Strome der liturgischen Tradition losgelösten
Kultus haben. Ich möchte hier fragen, ob es nicht in einer evangeli-
schen Liturgik, die, wie auch bei Rietschel der Fall ist, entschieden
lutherisches Gepräge hat, es der prinzipiellen Auseinandersetzung
nicht nur mit der katholischen Liturgik, sondern ebenso sehr mit
der puritanischen Kultusauffassung bedarf; gilt es nicht das gute
Recht der Tradition auf dem Gebiete des Kultus, die Verträglichkeit
fester liturgischer Normen, besonders auch der formulierten Ge-
bete!) mit der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit ein-
1) Einige Bemerkungen in dieser Beziehung bietet Rietschel allerdings im
letzten Abschnitt, der die Gestaltung des christlichen (soll doch hier wohl heißen:
Rietschel, Lehrbuch der Liturgik. 1. Band. 517
gehend zu erweisen? Je mehr englisches Dissenterchristentum bei
uns gegenwärtig Propaganda macht, um so näher rückt auch unserm
Kultus diese Anschauung. Der Gegner, der von dieser Seite sich
wider unsre ganze lutherische Kultusauffassung erhebt, ist aber,
wenn ich recht sehe, einer prinzipiellen Auseinandersetzung nicht
gewürdigt worden. Ich bitte den Verfasser, nach dieser Richtung
bei einer recht bald zu erhoffenden neuen Auflage seine Liturgik zu
vervollständigen.
Mit der Aussprache meines Dissensus gegen die übliche Auf-
fassung der Liturgik und einiger Desiderien habe ich meine Be-
sprechung beginnen müssen. Um so mehr treibt es mich, meiner
Freude und meinem Danke für die prächtige Gabe, die uns hier ge-
boten ist, Ausdruck zu geben. Auch wer selber an der historischen
Seite unsrer Disciplin schon längst seine Freude hat und daher auf
diesem unendlich weiten Gebiete mit Lust und Liebe gesammelt und
mitgeforscht hat, wird der übersichtlichen und reichhaltigen Zusam-
menstellung des historischen Materials, wie sie hier vorliegt, mit der
Empfindung gegenüberstehen, auf Schritt und Tritt aus den reichen
Schatzkammern des Verfassers Belehrung empfangen zu haben. Ich
weiß mich nach der ganzen Art und Richtung meiner Studien mit
Rietschel so nahe verbunden, und es hat unter uns beiden seit Jah-
ren ein so lebhafter Austausch dessen, was ein jeder von uns ge-
funden und erarbeitet hatte, stattgefunden, daß ich seiner Arbeit mit
dem Gefühle gegenüberstehe, im Großen und Ganzen hier das wie-
derzufinden, was ich auch als meinen Studienertrag bezeichnen kann.
Und nicht minder weiß ich mich mit den Kultusprinzipien des Ver-
fassers in weitgehender Uebereinstimmung und freue mich daher,
hier einen Standpunkt durchgeführt zu sehen, der in seinen Grund-
sätzen volle evangelische Freiheit ohne alle katholisierenden Trü-
bungen oder antiquarischen Liebhabereien mit einem pietätvollen
Konservatismus verbindet. Rietschel gehört zu den Lutheranern, die,
weil sie Luther ernstlich studiert haben, durch ihn einen freien und
weiten Blick und eine klare Position in den religiösen Grundan-
schauungen gewonnen haben. Aber je mehr er selber in der reichen
Erfahrung kirchlicher Praxis zum Liturgiker vorgebildet worden ist,
umsomehr weiß er auch auf diesem Gebiete das Recht der Sitte und
des geschichtlich Gewordenen zu würdigen und steht mit Nüchtern-
heit jedem Radikalismus gegenüber, der im Namen evangelischer
evangelischen] Gottesdienstes für die Gegenwart behandelt, S. 489 f.: aber
gehört diese Principienfrage nicht schon in den 1., principiellen Theil? Und ist
der Kampf eines Robinson, Milton u. A. gegen den anglikanischen Gottesdienst
nicht von priocipieller Bedeutung ?
518 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
Prinzipien den Zusammenhang mit dem Gewordenen kühn abbrechen
möchte. Es zeigt sich das z.B. mit erfreulicher Bestimmtheit in
seiner Beurteilung der modernen Projekte, die uns endlich das rein
evangelische Kirchengebäude zu schaffen verheißen. Je mehr ich
mich im ganzen in Bezug auf den Stoff wie in Bezug auf die prin-
zipielle Beurteilung liturgischer Fragen mit dem Verfasser in Ueber-
einstimmung weiß, umsomehr fühle ich das Bedürfnis, durch eine
Reihe von Ergänzungen und Bemerkungen zu einzelnen Punkten aus
meiner Studienmappe kleine Beiträge zu dieser Liturgik beizusteuern
und so meinen Dank für vielfältige Belehrung abzustatten.
Wenn es S.47 als Gottschicks Verdienst gerühmt wird, in seiner
bekannten Schrift von 1887 Luthers Auffassung vom Gottesdienste
als Dank- und Lobopfer betont zu haben, so möchte ich daran er-
innern, daß schon der leider ungebührlich in Vergessenheit geratene
Heinrich Heppe 30 Jahre zuvor in seiner >Dogmatik des Deutschen
Protestantismus< III 399 ff. diese Gedanken Luthers nachdrücklich
zur Geltung gebracht hat. Auch für Melanchthon findet sich bei
Heppe wenige Seiten vorher ein schönes Material gesammelt. Ich
mache aber auch besonders auf die Ausführungen Melanchthons zu
Rom. 15 Corp. Ref. XV 790 aufmerksam, wo er das Wesen des
Gottesdienstes in dem Doppelsatze ausspricht: 1) cum docent evan-
gelium et praedicant misericordiam Dei.... vere sacrificant et offe-
runt Deo laudem und 2) cum docent, praeparant ettam alias hostias,
nämlich die Herzen der Zuhörer. — Zu den Kirchenväterstellen auf
S. 78 über die Ablehnung der Bezeichnung ¢emplum und den gegen-
sätzlichen Gebrauch des Wortes ecclesta verweise ich auch auf Maxi-
mus MSL 57,470f. mit seinem receptucula ecclesiae. — Auf S. 96 ist
doch wohl das Aufkommen der Glocken im Kirchengebrauche zu
spät angesetzt, wenn es erst vom 8. und 9. Jahrhundert an datiert
wird; vgl. Nie. Müllers Aufsatz über die Glocken in der 3. Auflage
der Realencyklopädie. — Zu den Aeußerungen Luthers über den
Kirchenbau auf S. 109 möchte ich auch auf seine Ausführungen in
Erl. Ausg. 7°, 222 ff. verweisen. — Für die Bedeutung, die Luther
dem Altar in der Kirche beilegt (S. 140) erinnere ich an die Be-
merkung, die er darüber in der Formula missae gemacht hat, Altar
und Chorraum seien zu dem Zwecke erfunden, ul communicaturi
seorsum uno loco et una turba constent; er führt weiter den Ge-
danken aus, vor Gott sei es zwar ganz gleichgültig, wo die Abend-
mahlsgäste stünden, aber es sei nötig eos palam vidert et nosci tam
ab tis qui communicant, quam iis qui non communicant. Auch füge
ich hinzu, daß die Confessio Württembergica ausdrücklich gegen den
Gebrauch von Lichtern, Kreuzen und Kirchenfahnen Einspruch er-
Rietschel, Lehrbuch der Liturgik. 1. Band. 519
hebt; s. das Citat bei Heppe a.a.O. III, 411. — Zum Abschnitte
von der Orgel S. 146 ff. sei darauf verwiesen, daß Luther, wo er
einmal ein recht großes Orgelwerk beschreiben will, von einer Orgel
von 14 Registern und 10 Fach (zehnfachem ?) Flötenwerk redet,
Erl. Ausg. 10°, 24. Ueber die Verbreitung der Orgel am Ende des
Mittelalters finden sich Nachweisungen für das Gebiet der Mark in
Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte
XII, 2. S. 78 ff. Ueber eine »Orgelpredigt« von 1628, in der sich
für die Geschichte des Orgelbaus werthvolle Mittheilungen finden,
ist in den Monatsblättern der Gesellsch. für Pommersche Geschichte
1896 S. 145 ff. berichtet. — Zu dem Abschnitt über die Stellung der
Reformatoren zum Gebrauch liturgischer Gewänder (S. 151) erinnere
ich an die Ausführungen von Joh. Brenz bei Pressel, Anecdota Bren-
tiana p. 162f. — Auch zu dem sehr reichhaltigen Abschnitt über
die Geschichte des Sonntags seien einige Bemerkungen hinzugefügt.
Daß schon im Mittelalter die Theorie von der Uebertragung des
Sabbaths auf den Sonntag weitere Verbreitung fand, zeigt z.B. der
Schwarzwälder Prediger bei Grieshaber, Deutsche Predigten I, S. 114
und besonders scharf Gerson, Opp. ed. du Pin I, 247: circa tertium
pracceptum est advertendum, quod in Dominica resurrechonis dominicae
ex statuto ecclesiae mutatum est sabbathum in Dominicam, ne vide-
remus wdaizare. An diesem christlichen Sabbath sei erlaubt das
opus charitatis und necessitatis, verboten dagegen das opus servile.
Ist es bei Gerson allgemein ein statutum ecclesiae, das den Sabbath
auf den Sonntag verlegt hat, so sind es bei Berthold von Chiemsee
direkt die Apostel, die »des Samstages und alten Gesetzes Feier ge-
legt haben auf Sonntag<. Teutsche Theologey (Neudruck München
1852) S. 362. Und selbst bei Luther findet sich wenigstens in den
Tischreden gelegentlich die Aeußerung : ego credo apostolos mutasse
subbathum, Bindseil, Colloquia 3, 22. Unter denjenigen, welche im
Lager Calvins für diese Anschauung wirksam Propaganda gemacht
haben, wäre neben denen, die auf S. 163 von Rietschel aufgeführt
werden, auch Hospinian mit seinem einflußreichen Werke: Festa
Christianorum. Tiguri 1593. Bl. 23 f. zu nennen. Den Uebergang in
eine neue Sabbathslehre beförderte in der lutherischen Kirche nicht
nur, wie S. 164 hervorgehoben wird, der Kampf der Pastoren gegen
die Sonntagshochzeiten und Schmausereien, sondern auch ihr Pro-
test gegen die Unsitte der »Junker und Amtspersonen<, grade an
den Sonntagen die Unterthanen mit Frondiensten zu beschweren;
das zeigt in lehrreicher Weise eine Predigt des Eislebener Mag.
Christoph. Ireneus über Martha und Maria, Eisleben 1564 Bl. D 3ff.
Welche Umwandlung in Bezug auf die Sonntagslehre auch im luthe-
520 Gött. gel. Auz. 1901. Nr. 7.
rischen Lager sich vollzog, das können die Sonntagslieder in lehr-
reicher Weise uns zeigen. In Selneckers Lied: »Heut ist des Herren
Ruhetag< finden wir noch ganz ungetrübt die altprotestantische Auf-
fassung, für deren weite Verbreitung, nebenbei bemerkt, die eben
erscheinende Cohrssche Sammlung der ältesten evangelischen Kate-
chismen zahlreiche Zeugnisse liefert. Eine ganz andre Sonntagsan-
schauung predigt dagegen das Lied Sigismunds von Birken (+ 1681):
>Auf, auf, mein Herz, und du mein ganzer Sinn<, wo der Gedanke
ausgeführt ist, Gott habe dem Menschen 6 Tage für seinen Leib ge-
geben, den siebenten aber für seine Seele bestimmt, Gott fordere
vom Menschen, daß er je einen von 7 Tagen ihm zu eigen gebe. —
Zu den Angaben über das Epiphanienfest S. 178 erinnere ich an
die merkwürdige Predigt des Maximus (?) in MSL 57, 545, in der es
noch heißt: sive hodie natus est Dominus Jesus, sive hodie bapttzatus
est: diversa quippe opinio fertur in mundo. — Zu der Angabe auf
S. 181 tiber die armenische Kirche und ihr Festhalten an der alten
Sitte, Geburt und Taufe Christi an dem gleichen Tage zu feiern,
sei auch an die Schilderung erinnert, die der mittelalterliche Orient-
reisende Schildberger in seinem Reisebuch, Stuttg. litterarischer Ver-
ein Bd. 172 S. 106 von dieser Sitte entworfen hat. — Fürs Johannis-
fest S. 184 ist als Zeuge auch Maximus anzuführen MSL 57, 383 ff.
653 und 662. — Zur Geschichte von Circumcisionis resp. Neujahrs-
fest S. 185, 208 und 586 hat inzwischen Kleinert willkommene Er-
gänzungen in dem schönen Aufsatz geliefert, mit dem er in der
Zeitschrift »Halte, was du hast« den 1. Januar 1900 einleitete.
Rietschel wie Kleinert haben mit Recht auf Luthers Zähigkeit hin-
gewiesen, mit der dieser dem 1. Januar die Bedeutung des Beschnei-
dungsfestes erhalten wissen wollte, und Kleinert hat mit Recht be-
tont, daß er sich damit einer Umwandlung des Tages zum Neujahrs-
fest entgegenstemmte, die uns bereits in den Predigten des 15. Jahr-
hunderts deutlich bezeugt wird. Beide haben aber übersehen, daß
Melanchthon es gewesen ist, der in seiner Postille Corp. Ref.
24, 202 ff. mit voller Entschiedenheit für die Behandlung des 1. Ja-
nuar als Neujahrstag eingetreten ist. Es läßt sich deutlich ver-
folgen, wie die Theologen aus Melanchthons Schule in ihren Predig-
ten hier in den Spuren ihres Lehrers einhergehen, während die
ältere Generation, z.B. Corvinus, der von Luther gegebenen Direk-
tive gefolgt ist (vgl. meinen Aufsatz in Deutsch. evangel. Blätter
1901 S. 11 ff.). — Auch zu dem schönen Paragraphen über die Ent-
stehung des Begriffes des Kirchenjahres einige Bemerkungen. Zu-
nächst sei darauf verwiesen, daß Joh. Brenz zwar noch 1529 eine
Uebersicht über das Kirchenjahr aufstellt, die von Septuagesimae
Rietschel, Lehrbuch der Liturgik. 1. Band. 591
anhebt (Pressel, Anecdota Brentiana p. 35), daß er dagegen 1535
(p. 164) eine »Ordnung der Zeiten und Feste des Jahrs« bietet, die
vom Advent ihren Anfang nimmt, sowie daß er die »von alten,
frommen Vitern< vorgenommene »Austheilung des Jahrs in mancherlei
Festen< unter dem Gesichtspunkt anerkennt und beibehalten wissen
will, »daß im ganzen Jahr zur unterschiedlichen Zeit die Artikel
unsers christlichen Glaubens ordentlich nach einander gelehrt und
erklärt werden< (p. 38). — Für den Gebrauch des Wortes »Kirchen-
jahr< und zwar in bestimmter Verbindung mit dem Anfangstermin
am 1. Advent führe ich ein Zeugnis aus dem Aufsatz von Ed. Jacobs
über die Wiederherstellung des evangelischen Kirchenwesens durch
Gustav Adolf im Hochstift Halberstadt (Zeitschr. des Harzvereins
XXX [1897] S. 298) an. Auf Befehl der kaiserlichen Commissare
hatte man in Halberstadt seit 1629 den katholischen, d. h. Gregoria-
nischen Kalender gebrauchen müssen, und sonach am 30. Nov. 1631
(neuen Stils = 20. Nov. alten Stils) den 1. Adventssonntag gehalten.
Da traf am 6. December (= 26. November) die Ordre des Königs
von Schweden ein, >den alten Kalender wieder zu gebrauchen und
damit das Neue Kirchenjahr wieder anzufangen«. So wurde
dort am 27. Nov. (= 7. Dec. n. St.) zum zweiten Male 1. Advent
gehalten. — Ferner möchte ich für Melanchthon auch noch auf die
Stelle aus der spätesten Recension seiner Loci Corp. Ref. 21, 1025
hinweisen, sodann aber darauf aufmerksam machen, wie schnell die
Anschauung Platz griff, in der kirchlichen Anordnung bestimmter
Festtage ein Gesetz zu erblicken, das mit dem Charakter der Not-
wendigkeit und Heiligkeit umkleidet ist. Wendet doch G. Major in
Pars I Homiliarum in Evangelia Witeb. 1567 Bl. 3? auf diese An-
ordnung folgendes Wort Augustins an: In his rebus, de quibus nihil
certi statuit divina Scriptura, mos populi Dei et instituta maiorum
pro lege tenenda sunt. Et sicut praevaricatores divinarum legum,
da contemptores ecclesiasticarum consueludinum coercendi sunt. Die
gleiche rasche Fortentwicklung zur Annahme geheiligter Traditionen
finden wir betrefis der Perikopen in der lutherischen Kirche schon
am Ende der Reformationszeit. Denn schon für Selnecker, Evange-
liorum et Epistolarum Harmoniae Pars prima, Francof. 1575 p. 33
geschieht die Verlesung und die Predigt über die Perikopen :nsti-
tutione et ordinatione veteri, authentica et approbata, necessa-
via et utzlt. Man beachte hier das bedeutsame authentica und ne-
cessaria! — Luthers Kritik der überlieferten Perikopen (S. 229)
wird in verschärfter Tonart von Martin Butzer in seinem Commentar
zu den synoptischen Evangelien 1527 aufgenommen; er treibt die
Kritik bis zum Protest gegen Perikopen überhaupt und geht somit
522 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
auch in diesem Punkte in Zwinglis Lager über: Equidem tam optarım
abolitum illum morem, excerpta duntaxat ista Christiano populo pro-
ponendi, et totas ordine Evangelistarum historias ei praedicari (bei
A.Lang, Der Evangelienkommentar M. Butzers. Leipzig 1900 S. 380).
— Meine besondere Freude möchte ich bezeugen über die Behand-
Jung, die der Gemeindegottesdienst der apostolischen und nach-
apostolischen Zeit bei Rietschel gefunden hat. Ich denke besonders
daran, daß er in 1. Cor. 11 das deinvov xvgıaxdv als Bezeichnung
der ganzen gemeinsamen Mahlzeit, nicht der besonderen Abendmahls-
feier, auffaßt; daß er die auch mir als durchaus wahrscheinlich gel-
tende Ansicht vertritt, daß bei diesem deinvov die Segnung von
Brot und Wein frühzeitig an die Spitze der ganzen Mahlzeit ge-
treten sein wird, daß dementsprechend in der Aıdayi das Gebet in
Kap. 9 die Eröffnung der Abendmahl-Agape bezeichnet, die Gebete
in Kap. 10 dagegen an den Schluß dieser Mahlzeit gehören. Die
Erkenntnis, daß es ursprünglich eine der heutigen Abendmahlsfeier
ähnliche, von der übrigen Mahlzeit völlig ausgesonderte Sakraments-
feier gar nicht gegeben hat, sondern daß die ganze Tischgemein-
schaft der Christen durch die Segnung von Brot und Wein zu einer
geistlichen Mahlzeit, einem Bundes- und Liebesmahle erhoben wurde,
und daß erst mit der Verpflanzung der Eucharistie in den Vormit-
tagsgottesdienst das Abendmahl zum Kultusmysterium geworden ist,
ist ja eine Erkenntnis von bedeutender Tragweite, und ich verstehe
daher den Widerspruch und das Widerstreben, das ihrer Anerkennung
begegnen muß. Aber nur auf diese Weise lassen sich meines Er-
achtens die ältesten Dokumente ausreichend erklären, und mit Recht
hat Rietschel die Analogieen geltend gemacht, die sich uns in der
Tischgemeinschaft des jüdischen Hauses, speziell in den Sabbath-
mahlzeiten darbieten, um die Entstehung und Fortentwicklung der
altchristlichen Eucharistie und Agape uns verständlich zu machen.
Auch die Gründe, die Rietschel für die Lösung der Eucharistie von
der Agape und die Aufnahme der ersteren in den Kultus S. 256 gel-
tend macht, sind einleuchtend. Ich freue mich, daß auch er ent-
schieden dafür eintritt S. 257, daß bei diesem Uebergange des
Abendmahls in den Vormittagsgottesdienst dessen homiletischer
Teil nach wie vor Katechumenen und Heiden zugänglich blieb. —
Ueber das Pfaffsche »Irenäus<-Fragment S. 265 ist uns inzwischen
von Harnack Gewißheit geschafft worden. — Aus den folgenden
Abschnitten hebe ich besonders die lehrreichen Erörterungen über
die Geschichte des Namens missa S. 347 ff. hervor und das Material,
das er S. 369 ff. über den Gebrauch der >offenen Schuld« im mittel-
alterlichen Gottesdienst zusammengetragen hat. Höchst instruktiv
Rietschel, Lehrbuch der Liturgik. 1. Band. 528
ist die Art, wie er den ganzen Verlauf der römischen Messe darzu-
stellen weiß, wobei der Aufbau des Ganzen, die Geschichte der ein-
zelnen Bestandteile und zugleich das in ihr für den evangelischen
Gottesdienst maßgebend gewordene gleichmäßig hervortreten. Zu
der nicht minder reichhaltigen und übersichtlichen Darstellung des
Hauptgottesdienstes in den evangelischen Kirchen des 16. Jahrhun-
derts einige Bemerkungen. Zunächst sei zur Litteratur auf S. 402
nachgetragen Günther in der Monatsschrift für Gottesdienst u. kirchl.
Kunst III (1898), 18ff. und Martens in Mittheilungen des Vereins
für Gesch. u. Altertumskunde von Erfurt XVIII, 91 ff. Zu den Stel-
len auf S. 434, in denen Luthers Konsekrationsbegriff behandelt
wird, sei aus Melanchthon Corp. Ref. XV, 1109 folgende Stelle nach-
getragen: Consecramus, 1. e. addimus sacra verba et gratiarum actio-
nem, ne sit usus profanus seu physicus, sed sit consolatio anunae.
Sed sacrificuli dicunt: consecramus i. e. facimus virtute verborum mu-
tationem substantiae. Adest autem Christus suo sacramento, non quia
sacerdos faciat thi mutationem, aut quia sit vis in verbis mu-
tans res, sed qua liberrime vult adesse ritui quem instituit , sicut
spiritus sanctus liberrime adest in baptisando. Wie katholisierend
allerdings trotz Melanchthons energischer Gegenwirkung bei einem
Teil der Lutheraner, nicht ohne Schuld Luthers, die Konsekrations-
vorstellungen blieben, das lehren in erschreckender Weise zwei
Schriften des Erfurter Gnesiolutheraners Hachenberg, über welche
ich an anderm Orte Mitteilungen zu machen gedenke. Nicht zu-
stimmen kann ich Rietschel, wenn er den Satz der Goslarer Kirchen-
ordnung von 1531: Es soll niemand ihm selber das Sakrament
reichen oder geben als ein Verbot des Selbstkommunizierens sei-
tens des Geistlichen auffaßt. Diese dem Wortlaute nach frei-
lich naheliegende Deutung ist meines Erachtens schon dadurch aus-
geschlossen, daß der deutsche Text der Confessio Augustana in Art. 24
die Communion als die Handlung beschreibt, in welcher der
Priester und andre das Sakrament empfahen für sich. Hier ist der
fungierende Geistliche offenbar als der bezeichnet, der erst sich
und dann den andern Communikanten das Abendmahl spendet. Es
wäre gegen alle Analogie, wenn wir gegenüber der Praxis der älte-
sten lutherischen Kirchen hier bereits ein Verbot dieser Mitcommu-
nion des Geistlichen finden sollten. Ich kann die Worte der Gos-
larer Ordnung nur als das Verbot auffassen, daß Gemeindeglieder
selber keine Winkelfeier des Abendmahls unternehmen sollten. Bei
der sonst so eingehenden Behandlung des Abendmahlsritus empfinde
ich es als eine Lücke, daß Rietschel der so lehrreichen Frage nach
der Häufigkeit des Communizierens in den einzelnen Zeiten der
524 Gott. gel, Ans. 1901, Nr. 7,
christlichen Kirche nicht näher nachgegangen ist. In der neuen
Auflage des katholischen Kirchenlexikons ist sehr wertvolles Material
zur Beantwortung dieser Frage beigebracht, das aber z.B. für die
Zeit der hussitischen Bewegungen noch mannigfach vermehrt werden
kann. Es läßt sich meines Erachtens nachweisen, daß die Refor-
mation trotz Beseitigung des Kirchengesetzes, das jährliche Com-
munion forderte, zunächst eine erhebliche Steigerung des Ver-
langens nach dem Abendmahl gebracht hat, der gegenüber dann erst
durch den Jesuitenorden auch für die katholischen Volkskreise eine
neue reichere Abendmahlssitte erfolgreich geschaffen worden ist. Ich
finde in dieser Beziehung bei Rietschel nur einige kurze Bemer-
kungen auf S. 302, denen aber die entsprechenden Nachweisungen
für andere Zeiten nicht nachfolgen. — Zu S. 481 führe ich an, daß
wir jetzt in den Mittheilungen der Gesellsch. f. deutsche Schulgesch.
X S. 8f. ein lehrreiches Zeugnis dafür bekommen haben, wie sehr
während des 18. Jahrh. die Orgel gegen ihre frühere Bestimmung
die Begleiterin und Stütze des Gemeindegesanges geworden war.
Da beantragt 1758 ein sächsischer Landpfarrer die Anschaffung einer
Orgel, da der Schullehrer nicht im Stande sei, die Lieder beim
Gottesdienst im rechten Ton anzufangen und die richtige Melodie
zu singen. — Zu den schönen Darlegungen über Luthers Auffassung
des Verhältnisses des Sakramentes zum Wort S. 498f. sei auch an
die bedeutsame Stelle Erl. Ausg. 47, 208 erinnert, wo Luther Augu-
stinus einen »neuen<, d.h. von der h. Schrift abgewichenen Theo-
logen nennt wegen seines Ausspruchs, daß’ der größere Sünde be-
gehe, der das Sakrament verunehre, als der, der das Wort verachte.
Leider muß man aber einräumen, daß die »unlutherische< Ansicht
vom Abendmahl als Nährmittel des Auferstehungsleibes gelegentlich
auch bei Luther selbst sich eindrängt (vgl. Möller-Kawerau, Kirchen-
gesch. III? S. 79), und wie frühe sie von lutherischen Dogmatikern
acceptiert worden ist, hat Rocholl, Gesch. d. evang. Kirche S. 154 ff.
gezeigt. — Was Rietschel S. 504 f. für die Anwesenheit auch der
nicht communicierenden Gemeindeglieder während der Abendmahls-
feier geltend macht, will mir nicht die dagegen sich aufdrängenden
Bedenken beseitigen. Die Geschichte des luther. Gottesdienstes
spricht, wie Rietschel selber anerkennen muß, dagegen, da sich that-
sächlich von Anfang an, schon unter Luthers Augen, das Gros der
Gemeinde dieser Sitte entzogen und den Gottesdienst bei Beginn der
Communion verlassen hat. Und sachlich spricht dagegen, daß das
Abendmahl schlechterdings nicht als Feier für ein Zuschauen in
frommer Betrachtung gestiftet ist, sondern von dem »Nehmet, esset«
beherrscht wird. Auf die Einladung »Kommt, denn es ist alles be-
Rietschel, Lehrbuch der Liturgik. 1. Band. 525
reit!« kann doch nicht ein Teil der Gemeinde nur Zuschauer bleiben
wollen. Man wird natürlich nicht verbieten wollen, wenn ein Ge-
meindeglied aus irgend welchem Grunde anwesend bleibt ohne zu
communicieren ; aber die Anstrengung, die mancher Geistliche darauf
verwendet hat, diese zuschauende Teilnahme der Gemeinde zur festen
Sitte zu erheben — ich selbst habe die ersten 5 Jahre meiner Amts-
führung mit höchstem Eifer darauf hingearbeitet —, halte ich doch
für einen Irrweg. Eben weil ich diesen Weg, den herkömmlichen
Anschluß des Abendmahls an den Predigtgottesdienst erträglich zu
machen und die Idee einer Steigerung des Gemeindegottesdienstes
von der Predigt zur Sakramentsfeier zu retten, für verfehlt halten
muß, hoffe auch ich auf die von Rietschel warm befürwortete Schei-
dung von Predigt- und Abendmahlsgottesdiensten. — Ich bin ganz
mit R. einverstanden, daß er S. 519 das >in seiner wahren Bedeu-
tung niemals zum Eigentum der Deutschen Volkssprache gewordene«
Kyrie eleison durch das deutsche »Herr, erbarme dich< in der Litur-
gie ersetzt wissen will. Aber ein Fehlschluß scheint es mir zu sein,
wenn er aus dem Kyrieleis der alten Kirchenlieder und aus den
mittelalterlichen Wortbildungen Kirleise und Leise, das Recht ab-
leitet, da wo man den griechischen Wortlaut beibehalten will, auch
heute Kyrie eleison zu singen. Denn wer Kyrie singt, hat eben
nicht »das Fremdwort sich mundgerecht gemacht« ; dann ist aber
auch nicht ersichtlich, warum man im zweiten Worte so verfahren
soll. — Gegen seinen Vorschlag S. 527, um das Credo im Gottes-
dienste als Gemeindeakt in gemeinschaftlichem Gesange zur Aus-
führung zu bringen, hier den Schlußvers von »Nun danket alle Gott«
zu verwenden, wäre zu erinnern, daß dieser Vers bereits seine Stel-
lung als feierlichster , lobpreisender Abschluß besonders festlicher
Akte erhalten hat, und es daher nicht geraten wäre, denselben
Vers daneben in sonntäglichen Gebrauch zu nehmen. Außerdem ist
einzuwenden, daß dieser Vers ja nur eine Versification des schon an
andrer Stelle im Gottesdienst verwendeten Gloria Patri ist, also doch
nicht füglich nun noch an Stelle des Credo zum zweiten Male ge-
sungen werden kann. Der Vers ist lediglich Doxologie, es fehlt ihm,
was dem Credo seinen Werth verleiht, das Bekenntnis zu den Wer-
ken, in und an denen Vater, Sohn und Geist offenbar und erkannt
werden. Es wäre ein entschiedener Rückschritt, wenn wir dem
Credo einen Ersatz gäben, der über diese Werke völlig schweigt.
Gegen das von R. daneben genannte gemeinsame Sprechen des
Symbolum wäre doch auch Erhebliches einzuwenden. Das Sprechen
im Chore gehört in die Schule und würde — ganz abgesehen von
der praktischen Schwierigkeit, in großer Versammlung es würdig
526 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
und ohne Störung auszuführen — zu dem gehobenen, feierlichen
Charakter des Gottesdienstes übel passen. Die gehobene Form gemein-
samer Rede ist eben der Gesang. — Zu S. 562 erinnere ich daran,
daß schon Erasmus in seiner Schrift de modo orandi die Weise der
alten Kirche, alle Gebete an den Vater zu richten, erkannt und rich-
tig zu erklären verstanden hat. — Das hohe Lob, das R. S. 469
der Fronleichnamssequenz Lauda Sion erteilt, ist für einen Theil
derselben völlig berechtigt, namentlich für Anfang und Schluß, aber
gilt es auch für die Strophe mit der gereimten Kirchenlehre Sub
diversis speciebus, signis tantum et non rebus etc. ?
Der Druck ist sehr korrekt; mir ist nur aufgefallen S. 202 Wei-
gand st. Wiegand; S. 265 sacra st. sacrae; S. 415 Hering st. Henry;
im Register eine Störung der alphabetischen Folge auf S. 590; eine
falsche Seitenzahl 443 st. 434 bei dem Stichwort Konsekration S. 591.
Im Register vermisse ich den Silvestertag (auch im Text des Buches
bemerke ich ihn nicht). Ein stilistisches Versehen s. S. 278 Z. 12.
Erwartungsvoll sehen wir dem Erscheinen des 2. Bandes und
damit der Vollendung des Werkes entgegen, das gerade durch das
Facit, das es über den heutigen Stand der liturgischen Wissenschaft
zieht, die Aussicht auf einen gedeihlichen Fortgang der liturgischen
Studien eröffnet und kräftigen Antrieb dazu selber in sich trägt.
Breslau. G. Kawerau.
Gauss, C. F., Werke. Achter Band. Herausgegeben von der Königlichen Ge-
sellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. In Commission bei B. G. Teubner
in Leipzig. 1900. Preis 24 M.
Nach längerer Unterbrechung hat die Kgl. Gesellschaft der Wis-
senschaften zu Göttingen die Herausgabe von Gauss’ Werken wieder
aufgenommen und es liegen nun in diesem achten Band eine große
Reihe von Notizen, Noten und Anzeigen oder Briefe vor, welche als
Ergänzungen zu den Bänden II bis IV ein Licht werfen auf viele
noch in der Schwebe gebliebenen Fragen aus Gauss’ productiver
Thätigkeit. Es war für die Herausgeber oft keine leichte Aufgabe
aus den vielen Concepten, zerstreuten Zetteln und Bemerkungen des
Gauss’schen Nachlasses das Richtige, und etwas Verständliches,
herauszulesen. Für den Leser ist durch die sachlichen und histori-
schen Anmerkungen der Herren Herausgeber das Verständnis des
Bandes sehr erleichtert. Die Resultate, welche uns Gauss auf weiten
Gebieten der Mathematik thätig zeigen, erfüllen uns stets neu wie
der mit Bewunderung und man staunt über die Besitztümer, welche
Gauss Werke. Achter Band. 527
der Verfasser vor seinen Zeitgenossen und wohl sogar vor späten
Nachfolgern sein eigen nennen konnte. Bei der Herausgabe ist von
der Redaction auf Verweise neuerer Arbeiten über einen von Gauss
behandelten Gegenstand, mit Recht, verzichtet werden. Sind die
Resultate heute nicht mehr neu, so interessieren doch eigenartige
Methoden, oder es bildet das Abgedruckte ein erwünschtes Document
der Gauss schen Thatigkeit. |
1. Der Inhalt des Bandes verteilt sich auf Arithmetik und
Algebra (p. 3—34), Analysis und Functionentheorie (p. 35—120), deren
Herausgabe von Herrn Fricke in Braunschweig besorgt ist; dann Nu-
merisches Rechnen (p. 121—132), Wahrscheinlichkeitsrechnung (p. 133
—158) von den Herren Börsch und Krüger in Potsdam herausgegeben
und verschiedene Gebiete der Geometrie, nämlich Grundlagen der Geo-
metrie (p. 159— 270), Geometria situs (p. 271—288), Aufgaben und
Lehrsätze der elementaren Geometrie (p. 289—302), Verwendung
complexer Größen für die Geometrie (p. 303—364), schließlich Theo-
rie der krummen Flächen (p. 365—450), deren Bearbeitung in den
Händen von Herrn Stäckel in Kiel lag, mit Ausnahme einer Notiz
über die Allgemeinste Auflösung des Problems der Abwicklung der
Flächen, welche Herr Weingarten in Charlottenburg durch eine An-
merkung erläutert hat. Die Generalredaction versah Herr Brendel
in Göttingen, dem damit die genaue Durchsicht des gesammten Nach-
lasses zur Aufgabe fiel.
2. Unter den Noten aus der Arithmetik interessieren vor allem
diejenigen über das cubische und biquadratische Reciprocitätsgesetz,
welche aus dem Jahr 1804 der Hauptsache nach, wie Herr Fricke
vermutet von 1809 stammen. Gauss stellt darin seine durch In-
duction gefundenen Resultate betr. die beiden Gesetze auf. Indem
er sich zuerst auf reelle Zahlen beschränkt, erhält er nur Teile des
Gesetzes, aber die auf allgemeinere, algebraische Zahlen ausgedehnte
Formulierung giebt das Gesetz fast in vollem Umfang, und zwar in
der Art, daß die Restcharaktere der in den Körpern k(V-3),
bez. k(Y—1) liegenden Factoren einer rationalen Primzahl der
Form p = 3n-+1 (resp. 4n+1) in Bezug auf eine Zahl g = 3n +1
(resp. 4" + 1) nach 3 (resp. 4) Fällen unterschieden werden. Von den
Beweisen des cubischen Reciprocitätsgesetzes schließt sich der eine
direct an, an den Beweis des quadratischen Reciprocitätsgesetzes aus
der Kreisteilung, der andere an den dritten Beweis des letzteren,
indem die Zahlen unterhalb einer gegebenen rationalen Primzahl
in 3 Classen eingeteilt werden nach bestimmten Congruenzeigen-
schaften. Eine Notiz, über die Bildung der Normen von Zahlen
des Körpers Y» veranlaGt zur Vermutung, daß Gauss schon
528 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
1808/9 die Untersuchung der algebraischen Zahlen in Angriff ge-
nommen hatte ').
Elegante Rechnungsmethoden zeigen die Lösung eines Systems
von linearen Gleichungen und der Beweis des Satzes, daß tg — für
rationale Werte von m und 7 nicht rational sein kann. Von
. m m
P= sin Pu und P, = cos er. ausgehend kann man eine unendliche
Reihe stets abnehmender Glieder P,P,P,P,... bilden, welche den
Gleichungen genügen:
P, = nP,—mP
P, = 3nP,—m’'P,
P, = 5nP,-m’P,
P,, P;,--- können also nicht ganzen Zahlen proportional sein, was
aber der Fall sein müßte, wenn P und P, in einem rationalen Ver-
hältnis stünden und m sowie » ganze Zahlen sind.
3. In den Abhandlungen aus Analysis und Functionentheorie ist
zunächst abgedruckt die in den Acten der Kgl. Gesellschaft der
Wissensch. zu Göttingen im Jahre 1893 gefundene und in deren Be-
richten bereits publicierte Note »De integratione formulae differentialis
(1|+ 2 cosq)"dp<, dann ein Satz von Euler über exacte Differentialaus-
drücke; vier Notizen über Inversion von Potenzreihen, bemerkens-
wert wegen der Eleganz der Formeln; zwei verschiedene , sehr ein-
fache und doch auf allgemeinen Voraussetzungen ruhende Beweise des
Lagrangischen Lehrsatzes von der Entwicklung einer Function g (x)
nach Potenzen von u, wenn x = t+uX ist, die Entwicklung von
1
(kh — cos 9)?
Notizen iiber die elliptischen Functionen.
Man kennt seit der Veröffentlichung von Gauss’ Briefwechsel
mit Bessel allgemein die Ideen des ersteren über die Definition der
Functionen complexer Variabeln a+:5b und die Integration in der
complexen Ebene. Man weiß aus diesem Briefe vom 18. Dec. 1811,
daß Gauss die wichtigsten Cauchyschen Sätze über die Integration
auf einem geschlossenen Wege anticipiert hatte. Zu diesen Ideen
bilden die aus den elliptischen Functionen vorliegenden Notizen die
Ausführung im concreten Fall, in der Erkenntnis ihrer weittragenden
Bedeutung.
Die »Untersuchungen über die transcendenten Functionen, die
in eine trigonometrische Reihe und höchst interessante
aus dem Integral { To ihren Ursprung haben<, sind nach einer
LI
1) Vgl. übrigens die Anm. auf Seite 629.
Gauss Werke. Achter Band. 529
Tagebuchnotiz schon vom 9. September 1796 und enthalten die Um-
kehrung des Integrals. Es ist gesetzt
= dx
= Ik = ——— und z= P ’
4 f V1+a y
dann ist eine Periode der Function z die Größe 6% = II(0), so
daß also Pp = P(p+6Xky) wird. Daran schließen sich das Additions-
theorem der Function P und Reihenentwicklungen für 7/(1 + 2).
Hat hier Gauss eine reelle Periode der elliptischen Functionen,
so zeigt eine zweite Notiz über die Umkehrung des elliptischen Inte-
grals erster Gattung zweifellos, daß Gauss die doppelte Periodicität der
elliptischen Functionen gekannt hat. Für
— / ae
’ V(1 — 2*) (1 — wor’)
wird die Umkehrung x = f(g) und log x = y gesetzt, und nun
y=v-w, woe” = Pg, e~ = 0p
abgeleitet, wo P und Q ganze transcendente Functionen des Argu-
ments @ sind, mit welcher Ableitung die imaginäre Periode ge-
geben ist.
Durch diese Publicationen sind die entsprechenden des III. Ban-
des der Werke in wichtigen Punkten ergänzt und Gauss’ Stellung
zu den Entdeckungen von Abel und Jacobi klarer gelegt. Aus den
Aufzeichnungen des Tagebuchs geht hervor, daß Gauss die Entwick-
lung der lemniscatischen Function, der Periode, und die Fünfteilung
der Lemniscate schon am 21. März 1797 besessen hat. Ferner er-
weisen Notizen des Tagebuchs aus den Jahren 1798 (Juli) und 1799
30. Mai, 14. Dezember) Gauss’ Entdeckung des Zusammenhangs des
arithmetisch-geometrischen Mittels mit den elliptischen Functionen.
Es ist nun doch zu hoffen, daß manche Fragen, welche P. Günther
in seiner Studie über die Untersuchungen von Gauss in den ellipti-
schen Functionen (Nachr. der K. Ges. der Wissensch. zu Gött. 1894)
unentschieden lassen mußte, sich aufklären, namentlich die Frage,
ob Gauss mit der Landenschen Transformation vertraut war, oder
durch seine eigenen Untersuchungen über das a.-g. Mittel dazu
kam‘). Gauss ist jedenfalls in einem Punkt sogar viel weiter ge-
kommen als die beiden genannten Mathematiker, indem er Betrach-
1) Für eine demnächst erscheinende Festschrift der kgl. Gesellsch. der Wis-
senschaften zu Göttingen bereitet Herr Klein eine Herausgabe des Gaussischen
Tagebuches vor, woriu er seine historischen Studien über die ellipt. Functionen
bei Gauss niederlegt. U. a. findet sich darin auch eine beachtenswerte Vermutung
über die Einführung der Zahlentheorie complexer Zahlen, die einen wesentlich
späteren Zeitpunkt annimmt als bisher geschehen ist.
Géts, gel. Ans. 1901. Nr. 7. 36
580 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 7.
tungen anstellte, welche sich mit den von Schwarz, Dedekind, Klein
u.a. untersuchten Modulfunctionen ') befassen.
Gauss bemerkt nämlich, daß man in der Formel:
n _ ull-de 4 26 A 9g OM Js
m (1426 4 64M 4 Me. 2
welche nichts anderes ist als der complementäre Modul k’, wenn
M = -* = ıo gesetzt wird, die Größe M durch u
ersetzen darf, wenn 9,9,r,s ganze, der Bedingung
pr+4qs = 1
genügende Zahlen sind. In einer späteren Note werden diese selben
Reihen, in neuen Bezeichnungen, untersucht:
pt = 142% 4 06 4
qg = 1—2¢ Tre #%_
rt = 264" 4 964 4 06 oe,
und gefragt nach den Werten von ¢, welche der Gleichung
U _
zT 4
genügen. Es wird dann ein Wert durch die Methode des arith-
metisch - geometrischen Mittels ermittelt, und ausgesprochen , daß
alle übrigen Werte in der Formel enthalten sind:
at — 2Br
d — 2yte
wo a, B,y,¢ wieder ganze Zahlen sind, mit der Bedingung:
ad —4By = 1.
Weiter wird dann noch aus A abgeleitet
— 4
pit
Mehrere Figuren, die sich im Nachlaß gefunden haben, lassen
es wahrscheinlich erscheinen, daß Gauss bei der Substitution von M
resp. ¢, die heute gebräuchliche geometrische Darstellung durch
Spiegelung auseinander hervorgehender Kreisbogendreiecke benutzt
hat, ja daß ihm der Begriff der natürlichen Grenze, wie er geo-
1) Man vergleiche das eingehende Werk: Klein F.-Fricke R. Vorlesungen
über die Theorie der elliptischen Modulfunctionen. 2 Bände. Leipzig. Eine
kurze nicht vollständige historische Darstellung enthält auch der Bericht über
die Entwickelung der algebraischen Functionen von Brill und Noether.
Gauss Werke. Achter Band. 531
metrisch als Grenze der Kreisbogendreiecke sich ergiebt, nahe
lag. Die letzte angeführte Note, welche ¢ als Function von A an-
sieht, zeigt deutlich, daß Gauss die Beziehung der A und ¢ als Ab-
bildungsaufgabe gefaßt hat.
Wegen der verschiedenen Aufsätze über das Pentagramma miri-
ficum verweisen wir auf die wertvollen Erläuterungen von Herrn
Fricke, durch welche die Notizen über denselben Gegenstand aus
dem Band III erst verständlich werden. Man hat es hier mit Unter-
suchungen zu thun, die schon von Neper begonnen worden sind.
Unter den Gegenständen aus der Analysis und Functionentheorie
findet sich auch ein schönes Theorem aus der Wahrscheinlichkeits-
rechnung, nämlich, wenn
f ep (dt = vu Vz
—co
gesetzt wird, so ist:
frewo(udu = plVir.
Im Uebrigen enthält der Band einige Beiträge zum numerischen
Rechnen, verschiedene von Gauss publicierte Besprechungen, Aufsuchung
des sin kleiner Bogen, Interpolation, Versicherungsrechnungen und hi-
storisches zur Theorie der kleinsten Quadrate, hauptsächlich Briefe, in
denen sich Gauss über die Begründung derselben, und die Zeit ihrer
Entdeckungen, wegen der Reclamationen von Legendre ausspricht.
Mit dem größten Interesse ist die Publication der Ansichten
Gauss’ über die Grundlagen der Geometrie erwartet worden und in
der That bieten die neuen Publicationen reichen Stoff, wenn man
auch dadurch nicht gerade einen völlig gesicherten Einblick in
die Entwicklung der Resultate erhält, da Gauss überhaupt erst
ziemlich spät angefangen hat Notizen zu machen, abgesehen von
einigen Anzeigen misglückter Versuche, welche nur die Analyse
der betreffenden Arbeiten enthalten und die Aufdeckung des Fehlers
bezwecken, mit einer bemerkenswerten Sicherheit, welche fast nur
bei Kenntnis des endgültigen Resultates möglich ist. Gegenüber den
Publicationen von Bd. IV und den von Engel und Stickel’) besorgten ent-
hält der 8. Band viel Neues. Das gesammte Material enthält Briefe,
an W. Bolyai, Gerling, Wachter, Olbers, Taurinus, Schumacher, fer-
ner einige Notizen über Parallelen, sphärische Geometrie, Astral-
geometrie und die früher edierten Anzeigen.
1) Gemeint ist: Engel Fr. u. Stäckel, Die Theorie der Parallellinien. Leipzig.
1895. Math. Ann. Bd. 49 und Briefwechsel von G. mit W. Bolyai, herausg. ven
Stäckel und Fr. Schmidt. Leipzig 1899.
36*
582 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
In der Gedächtnisschrift von Sartorius von Waltershausen lesen
wir, daß Gauss die Geometrie »als ein consequentes Gebäude, nach-
dem die Parallelentheorie an der Spitze zugegeben sei< betrachte,
und man möchte vermuten, daß hierin der Standpunkt ausgesprochen
sei, welcher heute die ganze Frage der Parallelentheorie als eine so
leichte erscheinen läßt, indem zwischen dem logischen Aufbau des
Systems auf Grund der Axiome und dem metaphysischen Problem,
ob der Euklidischen oder einer anderen Geometrie, eine Realität
außer unserem Denken zukomme, strenge geschieden wird. Doch
lassen die übrigen Zusammenstellungen des 8. Bandes keinen Zweifel,
daß für Gauss die Entscheidung über die 5te Forderung Euklids
(das sog. 11. Axiom) zusammenfiel mit der exacten Begründung der
Geometrie unseres Raumes. Für ihn sind die Axiome nicht
bloß Sätze, die allgemein einleuchtend und widerspruchsfrei sind, eine
ideelle Realität besitzen, sondern auch eine materielle. Aber Gauss
verlangt, daß alle Anschauungsinhalte auf klare Begriffe gebracht
werden, wie er das für den Begriff »zwischen< einmal besonders be-
tont (S. 222, Brief an W. Bolyai vom 6. März 1832). Die geodätischen
Messungen hatten für ihn neben ihren durchaus practischen Zwecken
auch eminente Wichtigkeit für diese tiefliegende theoretische Frage
und in dem eben citierten Brief über die Abhandlung Johann Bolyais
hebt Gauss gerade diese Schwierigkeit, zwischen den verschiedenen
Geometrien noch zu entscheiden, besonders hervor. Gegen Kant sieht
Gauss in dieser Schwierigkeit den klaren Gegenbeweis gegen die
Behauptung, daß der Raum nur Form der Anschauung sei; wie
Gauss in Zusammenhang hiermit wiederholt darauf aufmerksam
macht, daß die Unterscheidungen von Rechts und Links, von rechts-
drehender oder linksdrehender Schraubenwindung nur empirischer
Natur sind und überhaupt nur möglich sind »für Geister, denen die
materielle Welt apprehensibel ist, ... in dem Ein und dasselbe ma-
terielle individuelle Ding eine Brücke zwischen ihnen schlägt,< ....
Die früheste Aeußerung, welche, abgesehen von Tagebuchnotizen
vom 28. Juli 1797 und Sept. 1799, in ‘einem Brief an W. Bolyai
sich findet (dat. 16. Dec. 1799), enthält schon den Zweifel an dem
Satz, daß ein Dreieck mit unendlich großen Seiten auch unendlich
großen Inhalt hat, {.... »wenn man beweisen könnte, daß ein ge-
radliniges Dreieck möglich sei, dessen Inhalt größer wäre als eine
jede gegebene Fläche, so bin ich im Stande die ganze Geometrie
völlig strenge zu beweisen«}, und aus dem Tagebuch Schumachers
erfahren wir, daß »Gauss die Theorie der Parallelen darauf zurück-
gebracht, daß wenn die angenommene Theorie nicht wahr wäre, es
eine constante a priori der Länge nach gegebene Linie geben müßte,
Gauss Werke. Achter Band. 588
welches absurd ist. Doch hält er selbst diese Arbeit noch nicht für
hinreichende. Man möchte hieraus doch schließen, daß Gauss’ Ge-
danken die Richtung verfolgten, in welcher nach dem heutigen Stand
der Wissenschaft die Lösung des Problems lag. Verschiedenen seiner
Schüler hat auch Gauss ähnliche Ansichten mitgeteilt, wie u. a. der
Brief Wachters (vom 12. Dec. 1816) beweist. Als Schweikart durch
Vermittlung von Gerling (25. Jan. 1819) einen kurzen Auszug seiner
Astralgeometrie an Gauss geschickt hatte (Bemerkung über die
Summe der Winkel im Dreieck < 180°, Zusammenhang des Drei-
ecksinhalts mit dem Defect der Winkelsumme und obere Grenze der
Höhe eines gleichschenklig-rechtwinkligen Dreiecks) antwortet die-
ser sofort zustimmend, formuliert den Satz über den Dreiecksinhalt
genau und giebt auch die genaue Formel für die obere Grenze des
Flächeninhaltes eines Dreiecks. Es ist dies bemerkenswert, da zwi-
schen dem Brief von Gerling an Gauss und dessen Antwort nur
eine Zeit von 1!/s Monaten liegt. Jedenfalls stand für Gauss die
Möglichkeit einer Nichteuklidischen Geometrie fest und damit sowohl
die Unbeweisbarkeit des Parallelenaxioms, wie auch daß die Eukli-
dische Geometrie in sich consequent sei, wenn das Parallelenaxiom
beibehalten wird. Der Brief Gauss’ an Taurinus (1824) bestätigt
diese Ansicht, wir lesen dort, er habe »dieselbe ganz befriedigend aus-
gebildet, so daß« er »jede Aufgabe in derselben auflösen kann, mit
Ausnahme der Bestimmung einer Constanten, die sich a priori nicht
ausmitteln läßt« und er sieht klar ein, daß die Euklidische Geometrie
aus dieser Nichteuklidischen folgt, wenn jene Constante unendlich
groß wird.
Als daher Gauss im Februar 1832 die Entdeckung von Johann
Bolyai zu Gesicht bekommt, sind ihm wohl die Resultate nicht neu
gewesen, ebenso wenig wie später diejenigen Lobatschewskijs'), nur
seine Methoden seien andere, und es ist erfreulich zu lesen, mit
welcher Begeisterung und unbedingten Anerkennung Gauss die
Schriften seiner jugendlichen Concurrenten aufnimmt.
Verfolgen wir nun die einzelnen Notizen, Briefe und Anzeigen,
wie sie in historischer Folge zusammengestellt sind, so sieht man
daraus deutlich, wie der Gedanke einer Nichteuklidischen Geometrie
stets leitend war für Gauss, daß er aber in früheren Zeiten doch
immer wieder den Versuch zu einer direkten Begründung der Pa-
rallelentheorie unternommen hat, noch 25. Nov. 1804 schreibt’er an
1) Wenn Gauss (Brief an Schumacher 28. Nov. 1846) sich einmal ausdrickt,
er habe die Idee der Nicht-Euklidischen Geometrie, oder der Astralgeometrie
schon seit 54 Jahren, also seit 1792, so dürfte hier doch wohl ein leicht be-
greifliches Versehen vorliegen. G. war damals 15 Jahre alt.
584 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
Bolyai: »Ich habe zwar noch immer die Hoffnung, daß jene Klippen
einst, und noch vor meinem Ende, eine Durchfahrt erlauben werden«,
aber kein Fehler passiert die strenge Kritik, wie auch jener Brief
nur der Aufdeckung eines Fehlers gewidmet ist.
Zwei Notizen, die eine aus der frühesten Zeit der Beschäftigung
mit den Grundlagen, die andere muthmaßlich im Jahre 1831 nieder-
geschrieben, beschäftigen sich mit den Parallelen. In der ersten
Notiz wird als Parallellinie zu einer Geraden eine solche definiert,
von welcher die Senkrechten auf letztere überall von gleicher Größe
sind, dann schneidet eine Gerade unter gegebenem Winkel gegen
die Gerade stets die Parallele. In der zweiten Notiz definiert Gauss
folgendermaßen: »Wenn die Geraden AM ..., BN... einander
nicht schneiden, jede durch A zwischen AM ... und AB... ge
legte Gerade hingegen die BN ... schneidet: so heißt AM ... mit
BN ... parallele. Es wird dann bewiesen, daß die Parallelität von
der Annahme der Punkte A und B auf den beiden Geraden unab-
hängig ist und daß Reciprocität besteht, d.h. wenn AM || BN, so
ist auch BN || AM. Der Satz, daß eine beliebige Gerade Parallelen
unter gleichen Winkeln schneidet, ist nicht ausgeführt, dazu sind nur
vorläufige Notizen aufgezeichnet. Uebrigens hat Gauss einer dieser
zweiten Fassung ganz analoge des Parallelenaxioms, von Gerling
ihm Juli 1818 unterbreitet, zugestimmt.
Zwischen den verschiedenen Untersuchungen finden sich wieder
Sätze über die Winkelsumme des Dreiecks, der Beweis, daß diese
Summe nicht 180° übersteigen kann (wenn die Gerade unendliche
Ausdehnung besitzt) und Beziehungen der Außenwinkel zu den Drei-
eckswinkeln. Von der Zeit ab, da die Correspondenz mit Wolfg. Bolyai
über die Entdeckung seines Sohnes beginnt und Gauss die Werke
Lobatschewskijs zu Gesichte bekommt, finden sich Aufzeichnungen
über verschiedene Fragen der Nichteuklidischen Geometrie, ein goo-
metrischer Beweis des Satzes vom Dreiecksinhalt, Volumenbestimmung
des Tetraeders und die Formeln für die Seiten und Winkel eine
endlichen Dreiecks, wenn für ein unendlich kleines Dreieck die For-
meln der Euklidischen Geometrie angenommen werden dürfen. In
den ausführlichen Erläuterungen, welche Herr Stäckel diesen Auf
zeichnungen, die ohnedies sehr schwer verständlich wären, zuge
fügt hat, weist er mit Recht darauf hin, daß Gauss die Constante,
die bei der Integration der Differentialgleichungen auftritt, mit &
bezeichnet, einem sonst von Gauss für das Krümmungsmaß benutz-
ten Buchstaben und man mag hierin wohl eine Stütze sehen, für die
Ansicht, daß G. die Geometrie auf den Flächen in Beziehung gesetzt
hat zur Nichteuklidischen Geometrie, doch läßt sich aus den übriges
Schriften diese Annahme kaum genügend begründen.
Gauss Werke, Achter Band. 585
Kin Theorem aus der Sphärologie giebt den Inhalt eines sphä-
rischen Vierecks mit 3 rechten Winkeln, wenn eine Seite sehr
klein ist.
Aus den Anzeigen und Briefen, welche größtenteils sich auf die
Berichtigung von Fehlern und Aufdeckung unvermerkt benützter
Prämissen beziehen, heben wir noch besonders einen Brief an Ger-
ling (vom 11. April 1816) hervor, in welchem sich Gauss über die
Parallelentheorie von Legendre ausspricht und klar auseinandersetzt
was statt hätte, wenn die Euklidische Geometrie nicht richtig wäre.
Ebenso alt wie die Beschäftigung Gauss’ mit der Parallelen-
theorie sind seine Meditationen über die Definition der Ebene, er
findet, daß die Euklidische Annahme zu viel enthält, ein Theorem
involviert, das erst bewiesen werden muß (Brief an Bessel 27. Jan.
1829). So setzt er selbst an diese Stelle die »Begründung des Pla-
num: Ebene nennen wir die Fläche, in der jede durch einen ge-
gebenen Punkt A gehende Gerade AD liegt, die mit der gegebenen
Geraden AB einen rechten Winkel macht«. Dann muß aber erst
bewiesen werden, daß die Verbindungslinie irgend zweier Punkte
derselben ganz in derselben liegt. |
Sehr interessant ist auch der Briefwechsel zwischen Gauss und
Gerling über die Fragen der Congruenz und Symmetrie zu lesen,
wo u.a. G. auf die Bestimmung des Tetraederinhaltes ohne das
Exhaustionsprinzip wiederholt hinweist.
Fragt man nun nach der Stellung, welche Gauss in der Ent-
wicklung der Nichteuklidischen Geometrie wirklich einnimmt, so kann
man über deren Bedeutung, obwohl er nie etwas von seinen An-
sichten publiciert hat, nicht zweifeln. Es ist fast sicher, daß G. die
richtige Spur ein Jahrzehnt vor Schweikart Bolyai, Lobatschewskij ver-
folgte, unschätzbar ist sein Einfluß auf seine Zeitgenossen durch das
hohe Interesse, welches er der Frage bekanntermaßen entgegen-
brachte, und durch den Enthusiasmus, mit dem er die Lösung des
Knotens begrüßte, wenn auch nicht gesagt sein soll, daß Schweikart
Bolyai und Lobatschewskij von Gauss angeregt waren. Volle Aner-
kennung verdient die sachliche Kritik, die jeder neue Versuch einer
Parallelentheorie von ihm erfuhr und schließlich ist doch kaum ver-
kennbar, daß Gauss auf Riemann gewirkt hat, und daß der in den
sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts publicierte Briefwechsel zwi-
schen Gauss und Schumacher allerorten das Interesse für die Nicht-
euklidische Geometrie wieder geweckt hat.
Unter den übrigen Gebieten aus der Geometrie zeigen uns die
Fragmente aus der Analysis situs eine neue Seite von Gauss’ Thätig-
keit. Er beschäftigt sich darin mit der Minimalzahl n+ 1 von Knoten
536 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
einer ganz in sich zurücklaufenden Curve mit der Amplitudo + s . 360,
und stellt zu einem wohl empirisch gefundenen Resultat verschiedene
Methoden des Beweises auf. Im übrigen begnügen wir uns hier mit
einem Hinweis auf die Bemerkungen zur sphärischen Trigonometrie,
mit den Formeln von Delambre, Satz von Legendre etc., die brieflichen
Aeußerungen und Bruchstücke über den barycentrischen Calcul und die
weitläufigen Auseinandersetzungen der Lösung und Discussion der
Pothenotischen Aufgabe‘), um uns zu einer kurzen Analyse zweier
Gebiete zu wenden, die von breiterem Interesse sind. Das erste
betrifft einige Notizen zusammengestellt in der »Verwendung com-
plexer Größen für die Geometrie<, das zweite die »Theorie der
krummen Flächen«.
In dem Artikel »Geometrische Seite der ternären Formen«, der
aus dem 2. Band wieder abgedruckt ist, giebt Gauss die bekannte
für die Zahlengitter und deren Anwendungen z.B. auf Kristallo-
graphie so wichtige Deutung. Darnach stellen 3 Größen (2), (t’), (f)
drei Punkte P, P’ und P” dar, zu denen der Uebergang von einem
Nullpunkt (0) eben durch ¢, { und @ geschieht. Das Trinom
(t+xt +2’) stellt einen Punkt im Raum vor, und
Q = Ic+HN Ed +N A
eine Ebene, wenn 2,4, 2',4” bestimmte Zahlen bedeuten. Es folgt
die Bestimmung der Geraden, welche senkrecht gegen zwei Strahlen
durch den Punkt 0, oder gegen eine Ebene, ist und die Deutung der
Form durch den Inhalt eines von 3 Punkten nt, m't’, m"t" gebildeten
Dreiecks. Man erkennt leicht darin Ansätze, welche uns in der
Lehre von Größen mit mehreren Einheiten und der Vectorentheorie
entgegentreten.
In einem gewissen inneren Zusammenhang mit den von Grass-
mann und Hamilton entwickelten Theorieen stehen die »Mutationen
des Raumes<, womit gemeint ist eine Bewegung eines Raums in
einem andern mit einer gleichzeitigen Vergrößerung oder Verkleine-
rung, so daß eine Drehung um eine feste Axe, verbunden mit einer
Aehnlichkeitstransformation stattfindet. Diese Transformation drückt
Gauss durch einen Complex von 4 Größen a,b, c,d aus, durch welche
die neun Größen der Transformation der Raumcoordinaten sich dar-
stellen. Irgend zwei Mutationen lassen sich zu einem Produkt zu-
sammensetzen, indem aus den Scalen
a, b,c, d und a, B, y, 8
die neue Scale hervorgeht:
I) Vergl. hierüber die Anzeige von Gauss Werken durch Darboux in »Bulletia
des sciences math. 1901«.
Gauss Werke, Achter Band. 597
aw—bB—cy—dé, aB+ba—cd+dy, ay+bd+ca—dB, ad—by-+cß+-de,
und hiebei bemerkt Gauss, daß das commutative Gesetz der
Multiplication nicht gilt.
In einer späteren Notiz setzt Gauss
Vo+c+d = ¢
und bezeichnet mit
b ec hd
0 ee ee
die cos der Winkel einer festen Geraden OP mit drei senkrechten
Axen. Dann ist die lineare Vergrößerung gegeben durch
k — Va’ + o’
und der Winkel 26, um welchen der Raum gedreht wird, durch
a = kcos®, e = ksin®.
Wenn man auch nicht sagen kann, daß Gauss damit die Qua-
ternionentheorie anticipiert hat, da ja gerade die eigentliche Symbolik
bei ihm fehlt, so liegen doch in den verschiedenen Bruchstücken
Ideen vor, die die wichtigsten Eigenschaften der Quaternionen geben,
betr. die Multiplication der vierstufigen Größen mit 4 Einheiten, und
darum auch historisches Interesse wohl verdienen.
Die Abfassungszeit der hieher gehörigen Notizen ist muthmaß-
lich das Jahr 1819, resp. 1822, während eine spätere Zusammen-
fassung und geometrische Interpretation einer viel späteren Zeit an-
gehört.
Die Verwendung linearer Substitutionen für die Bewegung der
Kugel in sich ist durch Hermite bekanntlich zuerst durchgeführt
worden. Wir finden bei Gauss, unter den Notizen über die Kugel,
speziell in zwei Notizen, »Stereographische Projection der Kugel-
fliche< sowie »Drehung der Kugelfläche in sich selbst< dieselben
linearen Substitutionen
at —b _ At +b —
Bt+4’ om Bi +a’
(worin A, B die conjugiert complexen Größen zu a und b bedeuten)
zur Verwandlung zweier Punkte. Die zweite Notiz giebt den geo-
metrischen Satz für die Drehung.
Die verschiedenen Abhandlungen aus der Theorie der krummen
Flächen enthalten Vorarbeiten und ergänzende Studien zu den Unter-
suchungen über conforme Abbildung zweier Flächen auf einander
und die Resultate der Disquisitiones gen. circa superf. usw. Schon
{=
588 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
aus dem Jahre 1816, vermutlich, stammen einige Zeilen, über die
bekannte Gaussische Abbildung einer beliebigen Fläche auf eine
Kugel und eine, allerdings nicht hinreichende, Bedingung für die Ab-
wickelbarkeit zweier Flächen auf einander. Ferner finden sich in
einer 11 Seiten der vorliegenden Ausgabe umfassenden Zusammen-
stellung von Gauss, »Stand meiner Untersuchung über die Um-
formung der Flächen«, die Coordinaten der Fläche durch zwei Ver-
änderliche ¢,«, also Coordinaten auf der Fläche ausgedrückt, und
der Satz für die Erhaltung des Krümmungsmaßes, für einen einfachen
Fall des Linienelementes ds’ = m’(dé?+ du"), bewiesen, und zwar
nach einer ähnlichen Methode, wie sie später in den Disq. ent-
wickelt ist.
Als eine weitere Vorarbeit für die Disquis. ist eine Untersuchung
zu betrachten, in welcher die geodätische Krümmung, nach Gauss’
Seitenkrümmung, eingeführt wird und ihre Invarianz bei Flächenver-
biegung aufgestellt wird.
Den >Disquis.< selbst geht noch eine deutsche Ausarbeitung
(von 1825) desselben Gegenstandes voran, die unter dem Titel »Neue
allgemeine Untersuchungen über die krummen Flächen< in dem 8.
Bande abgedruckt ist. Sie unterscheidet sich, wenn auch nicht in
den Resultaten, so doch methodisch wesentlich von der späteren Be-
arbeitung, von 1827.
Es werden darin zunächst Zeichenregeln für die Inhalte und den
Verlauf ebener Curven gegeben und der Krümmungsradius für einen
Punkt durch Abbildung der Curve auf einen Kreis entwickelt. Für
die Untersuchung der Flächen wird die Flächengleichung in der
Form
f(z, y,2) = 0 oder = f(x,y)
zu Grunde gelegt und das Krümmungsmaß durch die Abbildung eines
Flächenstücks do auf der Fläche auf ein Stück dd auf der Kugel
definiert als Quotient = , und dessen Identität mit dem Ansdruck
1 .
SR nachgewiesen.
Der Satz von der Erhaltung des Krümmungsmaßes wird nun
ohne bedeutende Rechnungen so bewiesen, daß zuerst die Summe
der drei Winkel in einem von geodätischen Linien auf der Fläche
begrenzten Dreieck durch die Abbildung desselben auf die Kugel
bestimmt wird. Diese Winkelsumme ist gleich 180°, vermehrt um
den Inhalt des Dreiecks auf der Kugel, wo dieser Inhalt positiv oder
negativ zu nehmen ist, je nachdem die Dreiecke auf der Kugel und
Hiller von Gaetringen, Thera. Erster Band. 589
auf der Fläche im gleichen oder entgegengesetzten Sinn durchlaufen
werden. Da dann bei der Abwicklung geodätische Linien geodätisch
bleiben, die Winkel sich erhalten und die Flächeninhalte, so haben
ein Flächenstück und seine Abwicklung inhaltsgleiche sphärische Bil-
der und damit ist die Gleichheit des Krümmungsmaßes gegeben.
Es folgt dann noch der bekannte Orthogonalitätssatz und einige Be-
rechnungen unter Zugrundelegung eines Coordinatensystems aus den
geodätischen Linien aus einem Punkt und den Winkeln derselben
gegen eine feste geodätische Linie.
Immer zeigt sich in diesen Untersuchungen das Interesse von
Gauss für Fragen der Geodäsie, mit denen sie im Zusammenhang
verstanden sind.
Göttingen, Mai 1901. J. Sommer.
F. Frhr. Hiller von Gaertringen, Thera, Untersuchungen, Vermessungen und
Ausgrabungen in den Jahren 1895—1898. Erster Band: Die Insel Thera
in Altertum und Gegenwart mit Ausschluß der Nekropolen, unter Mit-
wirkung von W. Dörpfeld, D. Eginitis, Th. von Heldreich, E. Jacobs, A. Phi-
lippson, A. Schiff, H. A. Schmid, E. Vassiliu, W. Wilberg, P. Wilski, P. Wol-
ters herausgegeben von F.F.H.v.G. Mit 31 Heliogravüren, 240 Abbildungen
im Text und 12 Karten und Ansichten in Mappe. Berlin, Verlag von Georg
Reimer 1899. XV u. 404 8. 4°.
Derselbe: Inscriptiones Graecae insularum maris Aegei, consilio
et auctoritate Academiae litterarum regiae Borussicae editae, fasciculus tertius:
Inscriptiones Graecae insularum Symes Teutlussae Teli Ni-
syri Astypalaeae Anaphes Therae et Therasiae Pholegandri
Meli Cimoli edidit F.H. d.G. Accedunt tabulae geographicae duae. Bero-
lini apud Georgium Reimerum 1898. VIII u. 272 S. Fol.
In den beiden vorliegenden Werken hat Professor Freiherr Hiller
von Gaertringen den größern Teil der reichen Ernte seiner For-
schungen und Ausgrabungen auf Thera, über die bereits anläßlich
seines vor der Dresdner Philologenversammlung gehaltenen Vortrags
vom Unterzeichneten berichtet worden ist (D. L.-Z. 1898 S. 59 ff.)
seit geraumer Zeit ausführlich bekannt gemacht. Nur Dragendorffs
Band über die Grabfunde steht noch aus. Mit seltener Arbeitskraft
hat H. in kurzer Frist nicht bloß das große Stück eigener wissen-
schaftlicher, schriftstellerischer und redactioneller Arbeit bewältigt,
auch den ganzen Stab von Mitarbeitern zu rechtzeitigem Abschluß
ihrer Beiträge vermocht. Der Dank für so ungewöhnlich promptes
Erscheinen wird nicht beeinträchtigt werden von der Erwägung, ob
bei langsamerem Verfahren manches noch besser und gründlicher zu
leisten gewesen wäre. Bedauerlicher ist es, daß den beiden Bänden
500 Gott. gel. Ans. 1901. Ne. 7.
die Ergebnisse zweier weiterer Campagnen, im Sommer 1899 und
1900, nicht zu Gute kommen sollten (Arch. Anz. 1889 S. 181 ff,
Athen. Mitth. 1900 S. 461 ff., Hermes 1901 S. 113ff). Aber es
geschah H. selbst unerwartet, daß ihn weitere Reisen für das Insel-
corpus wieder nach Th. zurückführten. So haben wir ihm nur aufs
neue zu danken für die Vermehrung unseres Wissens, die er in
einem III. Bande »Thera« zusammenzufassen verheißt.
L
Der vorliegende I. Band tritt als eine Inselmonographie größten
Stils auf. Im I. Kap. (S. 1—35) erzählt H. lebhaft und anziehend,
mit liebenswürdiger Anspruchslosigkeit »die Geschichte der Er-
forschung von Thera« von Herodot bis auf sich selbst. Hübsche
Züge aus den eigenen Erfahrungen sind dazu nachgetragen in dem
neuen Vortrag H.s »Ausgrabungen in Griechenland< (Berlin, G. Rei-
mer 1901, S. 20ff.). Ueber die seltsamen chartographischen
Leistungen des Mittelalters und der Renaissance, die Blatt 10,
11 der Mappe und zahlreiche Textbilder wiedergeben, handeln auch
noch E. Jacobs und A. H. Schmid im 3. Anhang (S. 375—390). Im
II. Kap. (S. 36—82) »Die Inselgruppe von Thera, geolo-
gisch-geographische Skizze«, zeichnet an der Hand von
Karten und guten Lichtbildern, die wenigstens eine Ahnung von der
mannigfaltigen, zauberhaften Schönheit der Landschaft vermitteln,
A. Philippson ein ergreifendes Bild des gewaltigen, vulcanischen
Naturdramas, welches diesem Fleck Erde seine einzig dastehende
Gestalt verliehen hat, ohne freilich gerade den alten, von H. er-
forschten Stadtberg wesentlich zu berühren. Kürzer handelt er über
»Klima, Bodenbeschaffenheit, Anbau, Bevölkerung, Siedelung< bis auf
den heutigen Tag. Hier wäre vielleicht besser das VII. Kap. (S. 309
—350) »Topographische Aufnahmen« von P. Wilski anzu-
gliedern gewesen. Dieser treffliche, von H. für die Zwecke unserer
Wissenschaft gewonnene Landmesser legt ferner mit dem Hgb. ihre
genauen Beobachtungen über »das Wetter von Thera< dar
(II. Kap. S. 83—121). Gewiß, auch hier steht viel Interessantes,
wozu für Jeden, der das blaue Inselmeer befahren hat, z.B. die Bil-
der von Luftspiegelungen S. 91f. gehören. Im Ganzen aber wird,
dies räumt H. S. 107f. selbst ein, der Altertumsforscher mit dem
vielen >truckenen Detail<, bevor es der Meteorolog in großem Zu-
sammenhange durchgearbeitet hat, nicht gar viel anzufangen wissen.
Aehnliches dürfte von dem IV. Kap. (S. 122—140): »die Flora«,
aus der Feder des altbewährten Kenners der hellenischen Pflanzen-
welt, Th. von Heldreich, gelten. Nach dem Grundsatze der Voll-
ständigkeit müßte man auch einen Abschnitt über die Fauna er-
Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 541
warten! Wenn aber schon der rühmlich auf das Ganze gerichtete
Sinn unseres Inselforschers diese Seiten seines Gegenstandes nicht
außer Acht lassen wollte, dann wäre es im Interesse des Ebenmaßes
und der Verbreitung seines Werkes besser gewesen, die umfang-
reichen geographischen Teile als besondern Band herauszugeben.
Auch die zum Anhang 2 (S. 359—374) in Zinkdruck vereinigten,
meist wohlgelungenen Photographien nach Landschaften und Monu-
menten von den östlichen dorischen Sporaden wären brauch-
barer, namentlich für den Unterricht, wenn sie mit anderen ihres
gleichen als lose Blätter nach Art der Arndtschen »Einzelaufnahmen
antiker Sculptur< in den Handel kämen.
Il.
Im V. Kap. (S. 141—148) verarbeitet der Hgb. das ganze von
ihm vervielfachte Material zu einer »>Geschichte der Stadt
Ther ac im weitesten, vielleicht wieder etwas gar zu weiten, cultur-
historischen Rahmen. In seinen Aeußerungen über die älteste Zeit
war er öfter als Andere in der Lage, meiner vor Jahren mit keckem
Jugendmute versuchten Construction ausdrücklich beizupflichten.
Dennoch bleiben mir auch angesichts der ausführlichen Fassung die-
selben Bedenken, die gegen den ersten Entwurf vorgebracht worden
sind (D. L.-Z. 1898 S. 62), und andere kommen hinzu.
An die Spitze aller Erinnerung gehört doch wohl die in die
Gründungsgeschichte von Kyrene verwobene Sage, Thera sei aus
einer Erdscholle entstanden, die, ins Meer versenkt, wieder empor-
tauchte (Roscher, Lex. d. Myth. II S. 1743f.). Denn kann sie et-
was anderes sein, als ein Nachklang jener vulcanischen Katastrophe,
die bekanntlich erst diesseits der protomykenischen Besiedelung
fällt? Von den Phönikern Herodots — dies nochmals hervorzuheben
scheint gerade jetzt nicht überflüssig — wird auch das schärfste
Auge in der Stadt Thera, ihre noch unedierte Nekropolis mit ein-
gerechnet, keine Spur entdecken, eine schöne Bestätigung der An-
sicht, daß sie bloß auf irriger Ausdeutung der Kadmossage beruhen.
Daß die ersten griechischen Ansiedler keine Dorer waren glaubt auch
H. Ob dennoch die Sprache von den ältesten Inschriften an do-
risch, nicht vielmehr »achäisch« zu nennen ist, wird vielleicht nach
dem Versuche R. Meisters, den Begriff des dorischen Dialekts einzu-
schränken (Abh. d. sächs. Ges. 1901), ernstlich gefragt werden dür-
fen. Diese nichtdorischen Bewohner müssen allerdings frühzeitig,
in Folge dorischen Zuzugs, ihren Anschluß an das Dorertum voll-
zogen haben: schon ganz früh kommen die Personennamen Dorieus
und Dyman vor (Inscr. 548. 550). Den Ausgangspunkt dieser Dori-
sierung muß ich immer noch, im Anschluß an die herodotischen An-
542 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
gaben, in Sparta suchen. H.s Behauptung, daß spartanischer Ein-
fluG auf die Insel »erst von der zweiten Hälfte des sechsten Jahr-
hunderts wahrscheinlich ist« (S. 143), weil Sparta »erst spät seine
Blicke in die Ferne lenkte, als es begonnen hatte, sich für den
Lyderkönig Kroisos zu interessieren« (S. 148), scheint mir mit be-
kannten Tatsachen nicht vereinbar. Beziehungen Spartas zu Lydien
repräsentiert schon Alkman (s. jetzt Diels im Hermes 1896, S. 363).
Was aber hier mehr besagt: dürfen wir den kyrenäischen Aegiden
widersprechen, wenn sie ihren Karneioscult über Thera aus Sparta her-
leiten? Dies ist auf alle Fälle der Inhalt von Pindar, Pyth. 5, 68fl.
(Roscher, Lex. d. Myth. II, S. 1740 f.), einerlei wer dort redet.
Aber für den Dichter und seine Exegese ist es nicht einerlei.
Ich habe (Kyr. IV 5), z.T. nach dem Vorgang Anderer, nachzu-
weisen versucht, daß die in den Scholien vorherrschende Erklärung
gegen die herrschende moderne im Recht ist, wenn sie das Adlysldu
euol xatégeg nicht von Pindar, sondern von dem kyrenäischen Chor
gesprochen denkt. Dieser Versuch erfuhr wenig Zustimmung (z.B.
bei Maaß, in diesem Blatte 1890 S. 364), sehr viel Widerspruch,
unter Anderen von so bewährten Pindarkennern, wie O. Schroder
(Wochenschr. f. kl. Philol. 1893 S. 707 ff.). Auch von Wilamowitz
hat im Herakles I! 8. 72 das »Gesetz«, der lyrische Dichter rede
»immer durch den Chor in eigener Person« aufs Neue eingeschärft.
Aber die von Schröder beigebrachten Stellen erschüttern vielleicht
meine Voraussetzung, daß die erste Person consequent entweder nur
den Autor, oder nur den Chor bedeuten muß, nicht aber die Tat-
sachen, daß in Pyth. 8, selbst wenn an früheren Stellen dieses Lie-
des Pindar aus eigener Person sprechen sollte, die Anrufung am
Schluß, Alyıva pita wäreg (140) — nicht rydis, wie Pindar die Schwe-
ster Thebas nennen konnte (vgl. Rehm in Comm. philol. conventui
philol. obl. München 1891 S. 148) — und daß in Ol. 14 etyopar und
éwodoy, das heißt, alles in Betracht kommende, in den Mund des
Chores allein paßt. Ich kann also, beim besten Willen, von solchen
Autoritäten Belehrung anzunehmen, kein Hindernis sehen, die fünfte
Pythische, die sich, zum Unterschied von der vierten, der »Epistel«
Pindars an Arkesilas, gleich in der ersten Antistrophe als Chorgesang
kyrenäischer Männer einführt, ebenso aufzufassen, um dadurch der
Ungeheuerlichkeit zu entgehen, daß der thebanische Dichter die von
Sparta über Thera nach Kyrene gewanderten Aegiden als seine Vä-
ter bezeichnen soll. Denn nur so kann ich xatégeg verstehen, ob-
gleich jetzt Wilamowitz und mit ihm Hiller (S. 145 A. 15) dem
Dichter zutraut, er habe mit dem Worte, gegen seinen eigenen und
aller anderen Hellenen sonstigen Gebrauch, just an dieser fatalen
Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 548
Stelle blos die Angehörigen derselben z«rp« (wie godreges zu poed-
tga) gemeint, während doch das einzige einschlägige Zeugnis, das
ich zu finden vermag, des Stephanos von Byzanz Artikel z«ıoa, für
diesen Begriff vielmehr den zweckmäßig differenzierten Ausdruck
zareioı gibt. Sollte wirklich eine Interpretation, deren Verteidiger,
von G. Hermann bis auf Wilamowitz, immer wieder nach den ge-
wagtesten Mitteln greifen, zu Rechte bestehen ?
II.
H.s ausgeführtes Culturbild der alten Zeit bietet zugleich einen
zusammenhängenden Commentar zu den von ihm so unerwartet ver-
mehrten und berichtigten Inschriften. An der Spitze steht jene
merkwürdige Vereinigung von Götternamen (8. 149f.), welche in
den Felsen, besonders dicht gedrängt südlich des Karneiostempels, ein-
gegraben sind (Inscr. 350 ff.). Da lesen wir vier Mal Zeus (350 ff.)
und drei Mal Kures, (354 f. 371) den Singular zu den kretischen
Kureten, eine Zusammenstellung, die treffend mit dem Kabiren und
seinem Pais verglichen wird; vielleicht ist der »>Knabe<, in Anbe-
tracht theräischer Sitten (unten S. 545 f.), auch mit Ganymedes zu
vergleichen. Die mehrfache Wiederholung desselben Götternamens
erklären ähnliche Inschriften beim Gymnasion (Inscr. 399 ff.), wo
Zeus und andere Götter mit einem Menschennamen im Genetivus
possessivus verbunden sind: es waren, ursprünglich wenigstens, pri-
vate Cultplatze. An letzterem Orte (Nr. 402 ff.) heißt der Gott
dreimal schlechtweg Hikesios, beim Karneiostempel je ein Mal Po-
lieus (363) und Stoichaios (376), wie die Sikyonier den Zeus nann-
ten. Der Gedanke an selbständige Sondergötter wird dadurch etwas
zurückgedrängt, daß in anders gearteten alten Inschriften (Nr. 537 f.)
Apollon und Delphinios synonym gebraucht werden. Ein Rätsel ist
Deuteros (358). Von panhellenischen Göttern finden sich noch
Apollon (356), Hermes (370, Hermeias 368), die Dioskuren (359).
Lehrreiche Seltenheiten sind Boreaios (357) und besonders der nach
der thessalischen Urheimat der Theräer zurückweisende Chiron (360),
gemäß der Rolle, die er in der Kyrene-Ehoie gespielt hat. Gut mi-
nysch sind auch die erst neulich hinzugekommenen Chariten (Arch.
Anz. 1899 S. 182). Das epidaurisch-äginetische Paar von Geburts-
göttinnen kehrt in Nr. 361 wieder, nur daß die Genossin der Damia
hier nicht Auxesia, sondern Lochaia heißt. Nach Lakonien weist die
bisher nur vom Hyakinthosgrab her bekannte, in Th. der Athenaia
(364) benachbarte Biris (365), die doch wohl, ein verfrühtes Beispiel
der Verdichtung von f zu ß, niemand anderes als Iris sein wird.
Die Inschriften der Nymphen der dorischen Phylen, Dymanen und
Hylleer (377£.), sind nicht archaisch, ebenso wenig wie Apollon Ma-
544 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
leatas (372). Auch Artamis (373. 381) kommt erst spät vor. Um
so eher möchte ich, gemäß dem Kyr. S. 148 gesagten, einen nach
Thera besonders gut passenden Namen desselben Wesens in Thero (369)
erkennen. Die mit ihr unmittelbar verbundene Pheretima, nach der
sich eine Königin von Kyrene nannte (Herod. 4, 161), wie die Für-
sten ihres Hauses nach dem mutmaßlichen Hadesheros Arkesilas,
läßt sich als Synonym von Nike oder Nikephoros verstehen.
Auf die Frage nach dem Sinn der Felsbettungen, denen die
alten Götternamen beigeschrieben sind, ist auch jetzt (Th. S. 151) die
glaublichste Antwort noch nicht ausgesprochen. Zu Altären würde
der Genetiv gehören, der herrschende Nominativ erfordert ein Sym-
bol der göttlichen Gegenwart. Die aus den Bildern S. 374 und
Inscr. 250 ff. ersichtlichen, meist rechteckigen oder kreisrunden For-
men der Einarbeitungen, im Vereine mit ihren geringen, rund 1 Fuß
betragenden Maßen, schließt die Deutung auf Götterthrone, wie der
von Chalke (neu abgebildet Th. S. 372,36) entschieden aus; die
vage Aehnlichkeit einiger von ihnen mit Sitzen folgt notwendig aus
der abschüssigen Bodengestaltung (vgl. auch Th. S. 200). Vortrefflich
dagegen taugen sie insgesammt zur Aufstellung rechteckiger oder ge-
rundeter Steinfetische. Diese uralte Form des Cultmals hat sich
in Th. bis ins 3. Jahrh. v. Chr. erhalten. Nahe dem Hauptneste der
archaischen Götternamen ließ ein Dion die Artemis als Reliefsäule
am Felsen darstellen (S. 273, Inscr. 381), wie sie oder eine ver-
wandte Gottheit nach guter alter Vermutung zwischen den Löwen des
mykenischen Thores erscheint. Hier liegt allerdings die Holz-
säule zu Grunde, die am längsten üblich blieb im Dionysoscult, wohin
auch die von viersäuliger Capelle überdachte Säule des Oino-
maos (Paus. 5, 20,6), des mit Oineus wurzelgleichen, obgleich vom
Mythos ganz verdunkelten »Weinholds« (Roscher, Lex. HI S. 752.
772) gehören dürfte. Doch auch der alte Steinklotz ist zu Th.
noch ebenso spät nachweisbar; Artemidoros von Perge hat in seinem
altertümlichen Temenos an der Sellada (unten S. 547) neben anderen
altväterischen Cultzeichen auch einen weAav Aidov der Hekate, mit
als uvnudovvov Ongas xaddsws, aufgestellt (Inacr. 421b). Mit sol-
chen Steinen besetzt ergeben jene dicht gedrängten Leeren ein Bild,
wie es Pausanias auf dem ländlichen Marktplatz von Pharai sah
(7, 22, 4): 'Eoriixası 0& Eyyvrara tod d&ydAuatog (des Hermes) teted-
yovoı Aidoı tercéxovta pwddcota agidudy: tovrovs séBovery of Dagets
Exdoto BEod Tıvog Övoua émcdgyovreg , letzteres schwerlich ohne die
Hilfe von Beischriften. Aehnliche Versammlungen von Steinfetischen
gibt es noch heute bei den é@vn, z.B. in Indien (abg. bei Lubbock,
Entstehung der Civilisation S. 355). Zur Controlle dieser Auffassung
Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 545
der theräischen Felsbettungen wird nachzupriifen sein, ob sie neben
den Namen von Göttergruppen, wie den Chariten oder Lochaia und
Damia, in entsprechender Anzahl vorhanden waren.
Bewährt sich die Vermutung, dann wird dieser ehrwürdigen
Götterversammlung der Name @e@v dyopg« zu geben sein, auf den
mich C. Wachsmuth zuerst hinwies. Und er findet sich jetzt, so
scheint mir, ganz authentisch in den Iamben der neuen Felsinschrift,
die unserem Forscher das erste archaische Zeugnis, etwa vom Be-
ginn des 5. Jahrh., für die Karneen auf Thera nachgeliefert hat
(Hermes 1901 S. 134f.). Gegen den Herausgeber und seine ver-
ehrten Berater wird nämlich zu lesen sein
Aykoreins ngdroros &yogav Ixddı
Kolfolvnıa Peay (statt Bedv) deinvlıldev u. s. f.
und zu verstehen »>Agloteles hat als erster am Zwanzigsten die Ver-
sammlung der Götter bei den Karneen gespeist«. Ein Blick auf den
Sonderplan Blatt 5 (auch Inscr. Tf. 1) macht anschaulich, wie natür-
lich es war, diese vor der Thür des Apollontempels versammelten
Götter bei seinem Feste mit an die Tafel zu laden. Zwar scheint
Agloteles sein Göttermahl nicht in dem städtischen Heiligtum ge-
rüstet zu haben, denn die Felsinschrift ist fernab in der Nähe der
»Zoodochos Pege«, der einzigen ergiebigen Quelle der Insel (Th. S. 188),
am Nordabhang des Eliasberges eingehauen. Und im Anschluß an
Th. S.151 darf nicht übersehen werden, daß die ältesten Urkunden der
Stadt den Apollon wohl Delphinios (Inscr. 537) und indirect, in Personen-
namen (Inscr. 380, 551), Lykeios, nicht aber Karneios nennen. Aber
als der letztere Name von Sparta nachgewandert kam, schloß er sich
gewiß an den alten Apollontempel der Stadt an, dessen Nachbar-
schaft dann auch bei der theräischen Gestaltung der Karneenfeier
nicht unberücksichtigt geblieben sein kann, selbst wenn das Laub-
hütten- und Traubenfest nicht dort, sondern weit draußen bei der
Quelle begangen wurde.
Mit dem Apollontempel und -cultus standen auch die Turn-
spiele und Tänze in Verbindung, denen das alte, im Osten an-
schließende Gymnasion (unten S. 551) gewidmet war. Hier hat
Eumastas ein Klötzchen von der Erde gehoben, 31/4 Mal so groß als
der 150 kg schwere Wurfstein des Bybon in Olympia und, gleich die-
sem Athleten, seine Tat durch eine Inschrift auf dem Block selbst ver-
ewigt (Inscr. 449). Hier schäumte aber auch die derbe Kraft der
theräischen, wie die der sonstigen >dorischen<, Jugend über in einem
Betrieb der Knabenliebe, dessen fleißig in den Fels gehauene
Selbstzeugnisse, darunter die früher auf den Delphinritt Arions be-
zogenen Zeilen (Inscr. 537), durch so deutliche Vocabeln wie olpsıv
Gott. gel, Ans, 1901. Nr. 7. 37
546 Gött. gel. Auz. 1901. Nr. ?.
(536—539) und xovéadog (540) der Gefahr, daß auch diese Krankheit
des altgriechischen Geschlechtslebens wieder ein Mal »von einem
herrschenden Vorurteile befreit< werden möchte, gründlich vorbeugen.
Als Reizmittel dieser Liebe wird besonders das Geschick im Tanze,
gewiß in >Gymnopädien< (Th. S. 153) angeführt: dezetrac dyadüs
(543), &gıorog Öpynoras (540), wpyeiro ua toy ‘AnddAd@ (536). Statt
nach attischer, ästhetischer Empfindungsweise als xaAds oder aus-
führlicher: “Avtivjoog xaAös wiv ldeiv regavdg 0& npooeıneiv (Fels-
inschrift 'Eynu. @gy. 1899 S. 239), wird hier der Geliebte, auch dies
gut dorisch, als braver, ausgezeichneter, frischer Junge gerühmt:
a&yatds (350, 540, 544—546), meatıoros (540), in neuerdings gefun-
denen Aufzeichnungen ägıoros, rourds, YaAspdsg (Arch. Anz. 1890
S. 1821.). Vom geistigen Leben dieses Gymnasiums liefert nur ein
Stein mit Sprüchen der sieben Weisen, erst aus dem 4. Jahrh.
etwa, ein bescheidenes Zeugnis (Inscr. 1020).
Einem kurzen Ueberblick der alttheräischen Kunsttätigkeit läßt
der Verfasser S. 155f. die nach seinen Funden viel complicierter
als früher erscheinende Schriftgeschichte und zuletzt eine
dankenswerte Zusammenstellung der archaischen Personennamen
folgen. Mit ihr schließt dieser erste und wichtigste Teil der Stadt-
geschichte. Im zweiten, von den Perserkriegen bis auf Philometor
reichenden Abschnitt (S. 160—173) beansprucht das Hauptinteresse
Theras Verhältnis zur Ptolemäermacht, welche in weitausgreifen-
der, auch anderen Inseln zu Gute kommender Untersuchung be-
leuchtet wird. Im dritten (S. 174—184) wird die Römerzeit abge-
handelt bis hinab zu den Angelosinschriften (Inscr. 933 ff.), die
jetzt Achelis als Zeugnisse sehr alter Christengemeinden in Anspruch
nimmt (Zeitschr. f. neutestam. Wissensch. I 1900 S. 87 ff.), und zu
den Resten eines etwa diokletianischen Flurkatasters aus dem
Hafenorte Perissa (Inscr. 343 ff.). Die Fortdauer der Besiedelung
läßt sich nach den neuesten Funden bis ins 9. Jahrh. verfolgen
(Athen. Mitth. 1900 S. 463).
IV.
Den archäologischen Kern des Werkes enthält das VI. Kap.
(S. 185—308) »>Topographie des alten Thera«. Es ist über-
mäßig angeschwollen durch die Einschaltung aller von Dörpfeld und
Wolters abgefaßten Beschreibungen der Bauten und Bildwerke, welche
dadurch beengt werden, nur um ihrerseits wieder den Gang der
Periegese hemmend zu zerschneiden, gelegentlich auch ein wenig zu
verwirren. Ihm zu folgen erschwert auch die Beschaffenheit des
einzigen Stadtplans Bl. 3. Er gibt mit bloßen Höhencurven keine
Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 547
lebendige Anschauung von der schroffen Bodengestaltung und in sei-
nem einerseits überflüssig weit, nach Nordwest aber zu eng gegriffenen
Rahmen erscheinen die Ruinen zu klein, die Beischriften allzu spär-
lich. So ist schon die Auffindung der einzelnen Gebäude nicht immer
leicht. Ihre dem Text eingefügten Sonderaufnahmen, von W. Wil-
berg gezeichnet, versagen die Antwort auf manche berechtigte Frage.
Nicht selten vermißt man auch genaue Abbildungen der in Folge
gründlicher Zerstörung nicht eben zahlreich erhaltenen Profile. Sehr
anschaulich sind zumeist die vielen Lichtbilder.
Der kahle, teilweise von Bimssand bedeckte Stadtfels, das Mes-
savunö, erstreckt sich nach Südost gegen das Meer, inmitten zwi-
schen die beiden Fruchtebenen der Insel, die er beherrscht. An ihm
steigt in Terrassen und Treppenwegen die Stadtanlage auf und
nieder. Der auf dem Plane leider fehlende Hauptzugang ist im
Nordwesten, wo die Höhe von dem Massiv des wieder ein Mal nach
dem Propheten Elias benannten Hauptberges durch den Sattel, die
Sellada, abgetrennt wird. Nicht blos an dieser Stelle, sondern,
trotz der Schroffheit der meisten Abhänge ringsum, soll die Stadt
nach Dörpfeld ummauert gewesen sein (vgl. Ath. Mitth. 1900 S. 465).
Noch draußen, an der Sellada, lag jenes erst neulich in seiner gan-
zen, 21m betragenden Länge freigelegte Felstemenos des Arte-
midoros von Perge, eines Offiziers der ersten Ptolemäer (Arch. Anz.
1899 S. 190 f.). Gleich innerhalb gehörten der ptolemäischen
Besatzung die beiden stattlichen, vermutungsweise als Kaserne
oder Commandantur und — dies mit größerer Sicherheit (nach Inscr.
327, 460, 467) — als Gymnasion bezeichneten Hausanlagen, zweck-
entsprechend den höchsten Punkt des Stadtgebiets einnehmend, wie ja
auch in Kyrene die &xg« von den Aegypterkönigen besetzt gehalten
wurde (Diodor 19,79). Die Vermutung, der Hof der »Kaserne< sei
ein Atrium mit Impluvium gewesen (S. 215), setzt sich ohne Grund
in Widerspruch mit dem Satze Vitruvs (6, 10, 1): atrüs Graeci non
utuntur; auch dem Peristyl eines Privathauses werden dieselben Na-
men beigelegt (S. 252f.). Die zur Zeit der Publication noch unaus-
gegrabenen Teile der Oberstadt südlich von diesen Ptolemäerbauten
bis zum »Pythion« (s. unten S. 549) hat H. kürzlich aufgedeckt
und dabei ein weiteres ansehnliches Haus der hellenistischen Zeit,
einige Zimmer mit bemaltem Stuck verziert, vorgefunden (Ath. Mitth.
1900 S. 462).
Südöstlich unter der Kuppe, an der östlichen Abdachung des
Berges, liegt die Agora, ziemlich genau im Mittelpunkte der lang-
gestreckten Stadt (Arch. Anz. 1899 S. 183), nicht, wie früher ange-
nommen wurde, einheitlich, sondern durch Wege in drei Terrassen
37*
548 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
geschieden (Ath. Mitth. 1900 S. 464). An der Westseite des südlich-
sten Teils liegt die Basilike Stoa oder Stoa schlechtweg, welche
die Patrioten des 2. Jahrh. n. Chr. als Zoyoy &oyalov xal drangents
xal olov ov [x]AAo [x]o[o]xdo[un]ue Ev ti addce bezeichnen (Inser.
326,19). Der Hgb. halt auch neuerdings (Anz. 1899 S. 184) gegen
Dörpfeld, der sie nach den Ptolemäern benannt glaubt (S. 234), —
was Michaelis leider in Springers Handbuch d. Kunstgesch. I® S. 139
bereits als Tatsache aufgenommen hat — fest an der Meinung,
sie reiche vielmehr in die alte Zeit der theräischen Könige hinauf.
Mit gutem Rechte, dünkt mich. Die späten Einzelformen gehören,
darüber herrscht kein Streit, erst zu den wiederholten Umbauten,
um deren Feststellung sich, wie H. S. 186 erwähnt, besonders
Wolters und Koldewey verdient gemacht haben. Der Grundriß
aber dieser schmalen, rings von Mauern umschlossenen, nur innen
der Länge nach durch einfache Säulenstellung zweigeteilten Halle
(S. 218) findet seine Analogien in den archaischen Tempeln von
Pästum, Neandria, Thermos und, was hier noch mehr in Betracht
kommt, in den beiden Langhäusern des Buleuterioncomplexes zu
Olympia, ja bereits in dem »Megaron<« C des homerischen Ilion
(Dorpfeld, Troja 1893 S. 23). Dörpfelds athenische Königshalle
freilich sieht anders aus (Ath. Mitth. 1896 S. 108), ist aber auch
weit davon entfernt, sicher oder auch nur wahrscheinlich benannt
zu sein. Eine ptolemäische Basilica kennen wir allerdings auch
nicht; wohl aber sprechen triftige Gründe, besonders die Gestalt
des von Philadelphos erbauten Festzeltes, wie ich es bald zu
reconstruieren hoffe, für die Annahme, daß gerade dort, wie im
‚ägyptischene Oecus und der Privatbasilica (Vitruv 6, 5) das am
Nil uralte >basilikale< Schema des dreischifigen Raumes mit über-
höhtem Mittelschiffe, für die hellenistische Baukunst erobert worden
ist. Wenig ptolemäisch, wenn auch nicht unbedingt archaisch, mutet
es ferner an, wenn, nach H.s freundlicher Mitteilung, die unter der
Westmauer der Stoa gelegene Doppelcisterne mit dreieckigem »falschen
Gewölbe«, nicht wie das Rinnsal unter dem Ptolemaion zu Samothrake,
im Keilschnitt überbrückt ist. Leider fehlt diese jedenfalls wichtige
Anlage in Wilbergs Aufnahme und Dörpfelds Beschreibung gänzlich,
nur in Wilskis Stadtplan ist sie eingetragen. Weiter darf, im Hin-
blick auf das Prothyron der »Kaserne< (S. 213) wohl vorausgesetzt
werden, daß die prachtliebenden Herren von Alexandria selbst die-
sem weltfernen Felsennest eine etwas stattlichere Verkehrshalle ge-
baut hätten. Der Name wird nicht entscheiden können. Immerhin
sei bemerkt, daß der von Dörpfeld S. 234 angeführte Gebrauch des
Wortes BactAcxy Inschr. v. Pergamon II 642 (mit Nachtrag S. 511),
Hiller von Gaertringen, Théra. Erste? Band. 549
so gut wie der Name der athenischen Halle, auf einheimische Könige
zurückgeht; die Stiftung ägyptischer hätte der theräische Demos so
gut wie der athenische eher als ptolemäisch bezeichnet.
Nordwestlich grenzt an die Königshalle die schön gemauerte
Terrasse mit dem Dionysostempel, der anscheinend später
dem Kaisercultus eingeräumt wurde. Es ist eine einfache Cella
mit Pronaos, wie die Tempel desselben Gottes beim Theater in
Athen und auf dem Markt in Pergamon. Obgleich hier nach in-
schriftlichen Zeugnissen (Inscr. 468, 419, 329, 466) Dionysos und
mit ihm Ptolemäer verehrt worden sind, glaubt Dörpfeld, das
Heiligtum sei erst in der Kaiserzeit auf die ältere Terrasse ge-
setzt. Auch hiergegen erheben sich Bedenken. Wohl zeigt Inscr.
1032 (vgl. H. S. 243 Anm. 33), welche von der Freitreppe verdeckt
ist, daß diese so später Zeit entstammt. Aber sie steht ja gar nicht
im Verbande mit dem Tempel, über dessen Frontbreite sie unsym-
metrisch hinausragt (Grundriß S. 239), kann also sehr wohl die
spätere Umbildung eines ältern Aufgangs sein. Keinesfalls darf von
‚einem römischen Tempel mit hoher Freitreppe< (S. 242) gesprochen
werden, denn es fehlen alle specifischen Kennzeichen, welche römi-
sche von hellenistischen Bauten dieser Art, wie dem ionischen Tem-
pel auf der Theaterterrasse zu Pergamon, unterscheiden (Michaelis
in Rom. Mitth. 1899 S. 196 ff.). — Den Teil des Marktes vor dieser
Tempelterrasse nimmt II. durch scharfsinnige Combination inschriftli-
cher und litterarischer Zeugnisse als Makellos in Anspruch (S. 247).
Die Ostseite des Marktes wurde erst neuerlich ausgegraben.
Hier fand sich wieder ein großer Hausbau und mehrere Treppen-
straßen, dann weiter südlich das Theater (Arch. Anz. 1899 S. 185,
Ath. Mitth. 1899 S. 353 f.), in ein Reckteck eingeschlossen, mit drei
Thüren in der Bühnenwand, wie in Priene (Puchstein, Gr. Bühne
S. 50). Da dort Agrippina als BovAcd« verehrt wurde, scheint das
Theater auch als Rathaus gedient zu haben, was durch das theater-
förmige Buleuterion von Lusoi (Jahresh. d. österr. Inst. 1901 S. 22)
und das theaterähnliche Ekklesiasterion in Priene (Arch. Anz. 1897
S. 185) gut erläutert wird.
Längs den Westfronten dieser Baulichkeiten führt die von der
Südseite des Marktes ausgehende Hauptstraße nach dem südöstlichen
Stadtteile. Nahe dem Anfang liegt an ihrer Westseite ein schmaler
Bau mit offener langer Stoa, der plausibel als Kaufhalle bezeichnet
wird (S. 249 ff.). Er enthielt auch einen Öffentlichen Abtritt, eine
Einrichtung, von der inzwischen Thera noch mehr Beispiele geliefert
hat. Weiterhin liegen in der Hauptstraße einige charakteristisch
bescheidene Wohnhäuser nach Art der delischen, das eine mit klei-
550 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
nem Peristyl (S. 252f.), ein anderes mit großer überdeckter Cisterne
(S. 265). Seitengäßchen führen westwärts bergauf nach einer größern
byzantinischen Kirche, deren antike Grundlage fragweise (nach Inscr.
322) als Temenos des Apollon Pythios bezeichnet wird (S. 254 ff.).
Dahinter liegt, einige Meter bergab, das Heiligtum der ägypti-
schen Götter (S. 258 ff.), durch einen diesen geweihten Thesauros
beglaubigt (Inscr. 443), wie es scheint wiederum unter freiem Him-
‘mel und nur durch die landesübliche Felsbearbeitung ausgestaltet.
V.
Die Hauptstraße (S. 267 ff.) senkt sich weiterhin immer stär-
ker bis zu einem Gefälle von 30 Grad, das in größern Abständen Stufen
unterbrechen. Sie ist nicht mit Platten, sondern mit grobem Schotter,
oxöpov, gepflastert, also eine oxvgmra Ödds, wie sie nach Pindar
5,90 ff. auch in Kyrene nach dem draußen liegenden Tempel des
Apollon Karneios führte. Kurz bevor wir diesen erreichen, vielleicht
eben vor der Stadtmauer, begegnet uns, wie am andern Ende, eine
in den Fels gebettete Stiftung des Artemidoros, ein exedraartiges
Halbrund (S. 272), laut Inscr. 464 ein vads, Ptolemaios Il
und seinen beiden Vorfahren geweiht, mit dem Blick auf die süd-
östlich vorgeschobene, terrassierte Zunge des Felsrückens, wo sich
die Denkmäler des ältesten theräischen Cultus zusammendrängen
(Sonderplan Blatt 4, gute Ansicht Tf. 11).
Die frühesten sind gewiß jene massenhaften, meist nach Süden
gekehrten Felsbettungen mit Götternamen (oben S. 544 f.).
Viele von ihnen verschlang der »Polygonalbauc«< (S. 383 ff.). Zu
seinen Werkstücken zählt Inscr. 382, deren leider allzu verstümmelten
Text H. zweifelnd auf ein Heroon des Oikisten Theras bezieht. Weit
bedeutender und älter ist aber das an den Nordabhang gelehnte, z.T.
in den Fels eingearbeitete Bauwerk (S. 275 ff.): in der Mitte ein
quadratischer Hof mit Cisterne, zugänglich vom Süden her durch ein
unscheinbares, zweisäuliges Propylon; östlich ein schmales Häuschen
von zwei Kammern, westlich ein säulenloser Prodomos, der Vorraum
zugleich zu einer engen Terrasse oder Acvon im Norden und dem
7,30 m br. 12,15 lg. Megaron. Die Aehnlichkeit mit einem alten
Wohnhause vollenden die zwei durch Thüren in der Südwand des Haupt-
saales zugänglichen Felskammern. Die richtige Parallele dazu
findet der Hgb. (S. 281 A. 54), mit dem Referenten, in den Vorrats-
kammern, äövro:, der Maiagrotte Hymnos auf Hermes 247, wobei
nur unklar bleibt, wo in der Schilderung dieser Götterwohnung die
>unzweideutige< Beziehung auf Cultlocale stecken soll. Denn daß
aus einer Grotte mit einiger Nachhilfe sehr gut ein wéyag Öduos
fliller von Gaertringen, Thera. Erster Band. — 551
(V. 246) werden kann, lehrt z.B. etliche Seiten später (S. 291) die
Höhle des Gymnasions von Thera, und daß auch mythischen Götter-
sitzen das Beiwort fegd¢ so gut wie alle Schätze des Luxus zu-
kommen, zeigt die Odyssee (ersteres 10, 426, letzteres im Kalypso-
buch). Also ein richtiges altgriechisches, wie es scheint höchst
schmuckloses Gehöft, nur daß es keinem irdischen Anakten, sondern,
wenn nicht alles trügt, dem Apollon (Karneios) gehörte. Das
wichtigste an diesem Funde bleibt, daß er, in Uebereinstimmung mit
den Ansichten von Koldewey und Puchstein, »eine neue Warnung« dar-
stellt, >den ausgebildeten dorischen Tempelbau gar zu früher Zeit
zuzutrauen< (D. L.-Z. 1898 S. 61). Es wäre lehrreich gewesen, zu
hören, wie gerade Dörpfeld hierüber urteilt.
Längs der Südseite dieser ganzen Gruppe von Heiligtümern er-
streckt sich eine sonnige Terrasse, gewiß der Spielplatz zugleich der
Apollonfeste, soweit sie in der Stadt begangen wurden (oben S. 545),
und des östlich, als äußerstes Stadtende, sich anschließenden Epheben-
gymnasions. Den Kern dieser Anlage (S. 289 ff.) bildet die umfang-
reiche, zurecht gebaute Grotte, ursprünglich wohl das Heiligtum des
Ephebengottes, nach einer Vermutung des Hgb.s, die nicht in einer
Note versteckt sein sollte (S. 295 A. 62). Oestlich von ihr liegt ein
Hof mit daranstoßendem, nach Süden geöffnetem Saal. In seine
Nordwestecke ist ein Halbgewölbe eingebaut, nach außen mit sechs
hohen Stufen bekleidet (S. 293f.). Zum Emporsteigen können sie
nicht gedient haben, da die unterste 1m über dem Fußboden liegt
und der Stucküberzug gut erhalten ist. Aber auch als bloßer »obe-
rer Abschluß«, somit als zwecklose Belastung des nicht allzu starken
Gewölbes, wären sie kaum verständlich. Sollte dieser dem Reposi-
torium eines Gewächshauses gleichende Aufbau vielleicht das elaeo-
thesium der vitruvischen Palästra sein? (Vitr. 5, 11, 2).
Dieselbe Stelle gibt wohl auch die Erklärung für den ganz öst-
lich anschließenden Rundbau, der in anderen Gymnasien, z. B. dem
eretrischen, seines Gleichen hat (S. 294f.). Wer denkt hier nicht an
das Laconicum, welches die Palästra mit den Thermen gemein
hat? (Vitr. 5, 10, 4, vgl. Mau bei Pauly-Wissowa II S. 2745. 2757,
Theophr. Char. Lpz. 1897 S. 153). Von Eratosthenes (bei Athen.
11,501d) unter dem Namen @¢Aog als regelmäßiger Bestandteil des
griechischen Bades bezeugt, wird dieses dAsızrjgıov oder nvgLaorij-
gov schon von Herodot (4, 75) schlechtweg "EAAyvırn xvetn genannt,
womit wir der vermutlich noch archaischen Entstehungszeit des the-
räischen Rundbaus (Inscr. 389) nahe rücken. Sein Durchmesser be-
trägt gegen 6m, also rund ebensoviel, wie im Laconicum der Cen-
tralthermen von Pompeii, wenn man, wie billig, dessen scholae ab-
zieht (Mau, Pomp. S. 191). Die innen am Fuße der Umfassungs-
552 Gott. gel. Anz, 1901. Nr. 7.
mauer z. T. erhaltene »stufenförmige Erhöhung, vielleicht die Unterlage
für eine Bank«, würde auch gut passen. Und eine schmale, wieder
nur von Wilski (Bl. 4) verzeichnete Oeffnung käme als Wasserabfluß
in Betracht. Von einer Heizanlage verlautet freilich nichts, aber der
das Rund wenigstens auf einer Seite umfassende Aufbau ist, wie mir
H. mitteilt, von dem ihn füllenden Bauschutte noch nicht befreit, so
daß weitere Grabung das Fehlende ans Licht bringen kann, wenn es
erhalten ist. Als nachträgliche Bestätigung dieser Ansicht darf noch
der Plan der neben dem Stadion gelegenen Palästra zu Delphi an-
geführt werden, wo ein größerer Rundbau mit Abfluß ausdrücklich
als >Loutron< bezeichnet ist (Bull. de corr. hell. XXIII 1899 Tf. 13,
erst im Mai 1901 ausgegeben).
Der Stadtbeschreibung folgt noch ein Ueberblick der »ver-
streuten antiken Reste auf der Insel« (S. 299—308) mit
Ausnahme der Nekropolen. Dem Charakter des Buches hätte es
besser entsprochen, wenn da und dort auch von Anderen gegebenes
vollständig aufgenommen worden wäre. So muß man sich die An-
gaben über den als Nikolaoscapelle wohl erhaltenen Marmorbau der
Thea Basileia (S. 306 f.) aus Ross und Michaelis ergänzen, ohne
doch ein ganz vollständiges Bild dieses nicht unwichtigen Denkmals zu
gewinnen. Bestand sein Dach wirklich nur aus den einfachen wag-
rechten xaAvupara? Ist er, trotz seinen schlichten Formen, wie die
Hohlkehle, auf der die Deckbalken aufliegen, wirklich erst hellenistisch,
wie die säulengezierte Nische drinnen an der Nordwand mit ihrer
Weihinschrift (Inser. 416)? Diese Dedication an die genannte Göttin
auf den ganzen Bau zu beziehen und ihn deshalb als Tempel auf-
zufassen, wird kaum richtig sein. Die beträchtliche Vertiefung des
Fußbodens unter den Eingang paßt doch entschieden besser zu einem
Grab, worin auch ein Cultplätzchen für die Königin der Unterwelt
(Pauly-Wissowa UI S. 42. 44) an seinem Ort ist.
VI.
Unter den kleineren Funden tektonischer Art beanspruchen
das Hauptinteresse drei steinerne Thesauren (S. 260f.), die dem
Hgb. AnlaB geben, im Vereine mit Wolters die Einrichtung dieser
Opferstöcke aus anderen Denkmälern und Inschriften zu erläutern.
Am vollständigsten erhalten ist das inschriftlich beglaubigte Exemplar
im Heiligtum der ägyptischen Götter (Inscr. 443); von dem zweiten
fand sich an der Agora nur der untere Block; die ihm entsprechende
Felsbettung des dritten liegt in der Nähe des Apollontempels. An
diesen unteren Teilen ist in die wagrechte Oberfläche das Geld-
becken eingearbeitet. Auf drei Seiten wird es von einem rechteckigen
Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band, 588
Falz umgeben, in den der schwere Steindeckel mit entsprechender
Bearbeitung eingriff. Dieser Stein ist oberhalb des Geldbehälters
durchbohrt von einer doppeltrichterförmig, etwa wie das Glas einer
Sanduhr gestalteten Oeffnung, deren engste Stelle so schmal ist, daß
wohl Münzen, nicht aber Hände hindurch können. Dieser unum-
gänglichen Bedingung entspricht nicht die viel zu breite Höhlung
des S. 261 abgebildeten Steines von Melos mit Inscr. 1085; er ist
auch an seinen Profilen kenntlich als Statuenbasis, die zur Erleichte-
rung ihres Gewichtes ebenso ausgehöhlt war, wie z.B. die des
Lakedaimonierzeus Olympia II S. 147f., V Nr. 252. Um die Casse
zu Öffnen, wurde der Oberstein in seinem Falze wie eine Schieblade
vorgezogen. Das veranschaulichen die Abbildungen S. 260 sehr gut,
nur daß die Beischriften der zwei rechts unten angeordneten Risse
lauten müssen: »Oberteil von unten« (statt »von oben«) und »Ober-
teil< (statt »Unterteil<) »von oben«. Um den Unbefugten an diesem
Vorschieben des Deckblocks zu hindern, dienten an dem Thesauros
beim Karneiostempel, nach Ausweis der von Diels richtig erklärten
Löcher, zwei Paar Fallriegel. Für ihr Herausheben werden zwei
verschiedene Schlüssel notwendig gewesen sein, wie sie die S. 263
angeführle Stelle der Inschrift von Andania vorsieht. Der Unter-
block der Sarapiscasse scheint, nach der Abbildung S. 260 links oben,
an entsprechender Stelle wenigstens ein kleines Riegelloch zu haben,
über dessen zu erwartende Fortsetzung nach oben durch den Deckel
hindurch freilich nichts verlautet. Um das Emporheben des schwe-
ren Decksteins auch bei Anwendung beträchtlicher Gewalt zu ver-
hindern, ist an jener Felsbettung der Falz durch schrägen Schnitt
nach unten erbreitert. Bei der Zweckmäßigkeit dieser Einrichtung
wird man fragen dürfen, ob nicht die rechteckige Gestalt der Falze
in den Zeichnungen der beiden anderen Opferstöcke auf Versehen
beruht.
VII.
Die Ausbeute an Sculpturen ist nicht bedeutend, aber immer-
hin, dank dem frühen Aufhören der Besiedelung, größer, als nach
dem Erhaltungszustande der Bauwerke zu erwarten wäre. Aus der
alten Bliitezeit der Stadt brachte der I. Band nichts, erst die nach-
träglichen Grabungen förderten an der Agora einen Steinlöwen und
einen Frauenkopf etwa des gewöhnlichen Tantentypus zu Tage, von
denen das Berliner Museum Gipsformen besitzt (Arch. Anz. 1899
S. 183). Wie lange sich archaische Formenauffassung bei den the-
räischen Felssteinmetzen erhalten hat, wußten wir bereits aus dem
Schmuck, den der brave Archedamos, ungefähr zur Zeit des Phei-
dias, der Grotte von Vari am Hymettos angedeihen ließ (Th. S. 161).
554 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
Aber auch noch die Felssculpturen im Temenos des Arte midoros,
gleichfalls durch Gipsabgüsse zugänglich gemacht. zeigen das Nach-
leben archaischen Stiles, selbst an dem minzformigen Beliefbildnis
dieses ptolemäischen Würdenträgers, das trotz ausgesprochener Por-
trätäbnlichkeit doch in der Zeichnung, besonders des Auges und des
Haarschopfs, an Porossculpturen des 6. Jahrh. gemahnt (abg. Arch.
Anz. 1839 S. 191).
Nur durch fremden Einfluß wurde Thera von den Wandlungen
der Kunst berührt. Der gute, leider arg verscheuerte Marmorkopf
mit Diadem (Tf. 21 S. 245, gefunden im Bereiche der Dionysos-
terrasse), zeigt noch bestimmter, als eine gewisse Aehnlichkeit mit den
Bildnissen Ptolemaios I., den an Skopas anknüpfenden, nament-
lich durch einige Alexanderporträts (Schreiber in der Strena Helbig.
8.280) bekannten Stil der >alexandrinischen< Bildhauerei. In dieselbe
Richtung gehört wohl die hübsche sandalenlösende Aphrodite
(aus der »Kaufhalle< Tf.22 S. 251 f.); denn von den zahlreichen Wieder-
holungen ihres Typus scheint diesem Exemplar das in Kyrene ge-
fundene am nächsten zu stehen (Smith a. Porcher Tf. 71, Reinach,
Rep. IL 349,8). Hellenistisch ist auch noch die Frauenstatue mit
langfransigem Mantel aus dem Ptolemäergymnasium (Tf. 23
8.208 f.), zu der sich außer den pergamenischen Parallelen auch noch
ein Bruchstück von dem benachbarten Melos vergleichen läßt (Arndt
Amelung, Einzelaufn. Nr. 736, Reinach, Rep. H 680,6). Mit ihr
zusammen fand sich die S. 210 abgebildete Replik der großen Her-
culanenserin. Ferner, die Deutung des Fundorts als Gymnasion
bestätigend, drei Athletenköpfe, wohl sämtlich römischer Arbeit : ein
besonders jugendlicher (Tf. 24), dessen einst aufgesetzte Kopfbedeckung
am ehesten in Form der turbanartigen Mütze (N. Jahrb. f. d. kl. Alt.
IIl 1900 S. 167 A. 2) zu ergänzen sein wird, wie er denn auch in
Größe und Typus am ehesten den mit ihr bedeckten, tänientragenden
Knaben ähnelt (N. Jahrb. II 1899 S. 608); zweitens eine gut erhal-
tene, trotzdem S. 210 f. verkannte Replik des Doryphoros (Tf. 27),
der ja auch in Pompeii die Palästra geschmückt hat; endlich wieder
ein etwas späterer Typus (Tf. 26), welchen Kundigere vielleicht trotz
seiner flauen Arbeit noch bestimmt identificieren können.
Blos Römisches hat die Basilike Stoa geliefert (S. 223 ff.),
mit Ausnahme des faden Idealkopfes Tf. 16 durchaus Porträts. Die
schon von Fauvel entdeckte Ehrenstatue der Chairopoleia, Eigentum
des Louvre, wird hier zum ersten Male photographisch herausgegeben
(Tf. 15). Das beste Stück ist wohl die Büste eines unschönen, kränk-
lich und matt aussehenden jungen Mannes aus früher Kaiserzeit, in
ihrem decadenten Wosen etwa an den sog. Brutus (Agrippa Postu-
Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 555
mus?) und seines Gleichen erinnernd. Die von Statuen abgebrochenen
Köpfe Tf. 18—20 werden vermutungsweise der älteren Faustina,
M. Aurel und L. Verus zugeschrieben, unter denen FI. Kleitosthe-
nes die Stoa erneuerte (Inscr. 325), durchaus glaublich, scheint mir,
trotz der geringen Aehnlichkeit mit sicheren Bildnissen, die ja auch
sonst bei römischen Kaiserporträts griechischen Fundorts vorkommt.
vi.
Versuchen wir schließlich kurz zusammenzufassen, was der von
H. und seinen Genossen auf Thera vollbrachten Arbeit verdankt
wird. Es ist, dünkt mich, vor Allem das ungewöhnlich einheitliche,
durch Eingriffe späterer Zeiten kaum verwischte Bild einer Stadt
des hellenischen Mittelalters, um den treffenden Ausdruck
Eduard Meyers zu gebrauchen.
Die ältesten, doch wohl karischen Bewohner der Insel, deren
protomykenische Cultur längst aus den im Süden von Thera
und Therasia unter der Bimssteinschicht entdeckten, neuerdings (Ath.
Mitth. 1899 S. 355) von R. Zahn weiter ausgegrabenen Hausresten
bekannt ist, fühlten sich, gleich ihren Zeit- und Volksgenossen in
Tiryns, Melos und anderwärts, nahe dem Steilrande der Küste sicher
genug, um die Besetzung des schroffen, unwirtlichen Messavuno ver-
schmähen zu können. Sie gehörten eben zu den »Seevölkern«,
deren Schiffe, wie wir sie aus den ägyptischen Darstellungen kennen
(Erman, Aeg. S. 712), nur etwas genauer detailliert, jetzt auf den
naiven Marinebildern jener alten Inselkunst aufgetaucht sind (’Eynu.
éoz. 1899 S. 86ff.). Ihre Niederlassungen verschlang oder ver-
schüttete das furchtbare vulcanische Ereignis, welches den Kern der
Insel ins Meer versenkte und ihre Ränder zersprengte. Deshalb scheint
der gefährliche Boden von der Weiterentfaltung jener Cultur in der
eigentlichen mykenischen Blütezeit unberührt geblieben zu
sein. Diese herrliche Cultur der gewiß unsemitischen, höchst wahr-
scheinlich auch unhellenischen, vermutlich sogar nichtarischen Seevölker
— so beurteilt sie jetzt im Grund auch ein früherer Hauptvertreter
ihres reinen Achäertums (Furtwängler, Gemmen III S. 16) — hatte,
vom Reiche des Minos ausstrahlend, die Nachbarvölker im weiten Um-
kreis des Meeres, darunter besonders die empfänglichen Achäer von
Hellas, in ihren Bannkreis gezogen, wurde aber von dort durch die
nach den Dorern benannte Völkerwanderung, das Nachrücken bar-
barisch gebliebener Griechen vom Norden her, nach ihrer östlichen
Heimat zurückgedrängt, wobei sie den besten Teil ihrer helladischen
Anhänger, die Schöpfer des homerischen Epos, mit sich zog. Auf
dem von ihnen gewiesenen Wege folgten dann bald auch andere
566 Gott. gel. Ans. 1901. Mr. 7.
Hellenen. Seinen kunstgeschichtlichen Ausdruck findet dieser Rück-
schlag bekanntlich in dem Wiederhervortreten und Herrschendwerden
der alten geometrischen, unter mvkenischem Einfluß erstarkten
Decoration, die sich nun gerade so vom Mutterlande nach der Inselwelt
ausbreitet, wie vorher die mykenische in entgegengesetzter Richtung.
Dieser Vorgang muß, nach Ausweis der dem IL Bande vorbe-
haltenen Grabfunde (Arch. Anz. 1897 S. 78 ff.). bereits weit fortgeschritten
gewesen sein, als Griechen auf dem verlassenen Eiland, dessen vulca-
nische Vergangenheit nur noch in der Schiffersage von seinem
Emportauchen aus den Fluten nachtönte, dauernd Fuß zu fassen
wagten. Es waren zunächst Minyer und Kadmeer aus Nordhellas,
wohin jetzt am deutlichsten der Cultus des thessalischen Chiron
zurückweist. Später erst dürften die Peloponnesier nachgekommen
sein, zu denen die spartanischen Aegiden, Verehrer des Karneios.
gehörten. Durch solchen Zuzug vollzog sich, wohl erst unter dem
Einfluß der spartanischen Machtentfaltung, der Anschluß der Insel
an das Dorertum. Aus den Reibungen der verschiedenen Bevölke-
rungsteile untereinander gieng ihre Hauptthat, die Gründung von
Kyrene hervor. Die Berichte über dieses Ereignis zeigen noch klar,
wie wenig diese griechischen Theräer den Anspruch auf den Namen
eines Seevolks, der ihren prähistorischen Vorgängern gebührt, er-
heben konnten. Und dem entspricht vollkommen ihre Stadt. Vor
den Gefahren des jetzt von keinem Minos behüteten Meeres suchten
sie Zuflucht auf jener unzugänglichen Kalksteinkuppe, welche die
beiden Nahrung spendenden Ackerebenen beherrscht. Hier haben
sie sich im Schweiße des Angesichts ihr Felsennest zurechtgebaut
und -gehauen für immer. Ganz oben, wo später die Ptolemäer-
besatzung saß, wird das Königshaus des Grinnos gelegen haben.
Südöstlich darunter wurde der Marktplatz terrassiert. An ihm lag
von Alters her die Königshalle, keine offene Stoa, wie sie schon den
Hof des heroischen und homerischen Fürstenhauses umgaben, son-
dern ein gegen die sausenden Winde durch Mauern geschützter,
durch Cisternen mit Wasser versehener Verkehrssaal, homerisch etwa
als Lesche zu bezeichnen, in altertümlicher Grundrißbildung durch
eine Säulenstellung zweigeteilt. Von da aus führte die oxvemra 6605
abwärts nach dem geheiligten Festplatz auf der Südostzunge der
Stadthöhe. Hier errichteten die Einzelnen oder die Geschlechter
ihren heimischen Göttern dicht beisammen fetischartige Cultmahle,
wie sie auch weiterhin noch, bis ins dritte Jahrhundert, üblich blie-
ben. Daneben erhielt der Hauptgott Apollon seinen Tempel, aber
nur in Gestalt eines schlichten Menschengehöfts, keinen säulenreichen
Peripteros, wie er, etwa seit dem Ende des 7. Jahrh. im Peloponnes,
Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 657
bald auch bei den übrigen fortschreitenden Hellenen gebräuchlich
war. Solchen Luxus trieb diese dorische Stadt auch später nicht,
Dionysos mußte sich mit einfachem Antentempelchen, die Ptolemäer
mit offener Nische begnügen, ihre ägyptischen Götter und ihr Statt-
halter Artemidor mit seinem Pantheon erhielten gar nur offene re-
wévy vor geglätteten Felswänden, deren Bildschmuck in letzterem
Falle tief in archaische Tradition getaucht erscheint. Was aus die-
ser wie aus anderen Zeiten den Fortschritt der griechischen Kunst ver-
anschaulicht, wird auf irgend eine Weise aus culturkräftigeren Plätzen
eingeführt sein. Wie zurückgeblieben die Kunstansprüche der
Theräer auch noch in der Kaiserzeit waren, lehrt am besten die
Bewunderung, mit der sie von ihrer dürftigen alten Stoa sprechen,
während draußen in der Welt überall, auch in kleineren Städten,
prachtvolle Marmorsäulenhallen die Märkte umfaßten. Nur in einer
Kunst muß Thera zeitweilig Namhaftes geleistet haben, das ist die
Buntweberei (die Zeugnisse bei H. S. 154 A. 69); aber die Gewän-
der auf den Vasen des benachbarten Melos wie auf den attischen
vom Dipylonstil bis auf Klitias lehren, gleich orientalischen Teppi-
chen, wieviel auf diesem Gebiete mit den einfachen Formen der
»mittelalterlichen«, geometrischen Kunst zu leisten war.
In derselben Periode wurzelt die Lust an der Ausbildung der
Körperkraft, von der das offenbar sehr alte Gymnasion der Epheben
mit seiner Hermesgrotte, seinem lakonischen Schwitzbad — wenn
der Rundbau oben richtig gedeutet ist — und dem Stein des Euma-
stas Zeugnis ablegt; ebenda die Freude an dem draiarara xat-
&eıv der »Gymnopädien<e sammt ihren erotischen Begleiterschei-
nungen, von denen nirgends mit solch urwüchsiger Offenheit die Rede
ist, wie in den erst von H. gelesenen Inschriften aus der guten alten
Zeit Theras.
Dieses trotz, ja gerade in seiner Armut und Roheit geschicht-
lich höchst wertvolle Bild einer im hellenischen Mittelalter wurzeln-
den und über alle äußern Einflüsse hinweg ihr Lebtag darin stecken
gebliebenen, in diesem Sinn auch echt dorischen Stadt ist es, was
uns H. auf Thera errungen hat.
IX.
Dargestellt hat H. dieses Bild mit viel eigenem Wissen und
Können und dazu, was sich nicht von selbst versteht, mit der ge-
wissenhaften Bescheidenheit des echten Fachmanns, der überall, wo
er sich nicht ganz sicher fühlt, das Wort lieber Kundigeren über-
läßt; aber auch mit der ganzen Liebe des echten Dilettanten, das
heißt, wie so hübsch erklärt worden ist, eines Mannes, der Freude
558 Gött. gel. Anz. 1%1. Nr. 7.
hat an dem, was er tut. Diese Liebe hat ihn vielleicht da und dort
etwas zu weit geführt. Sie hat ihn in sein Buch Dinge aufnehmen
heißen, die, wie nun einmal diese schlechte Welt ist, das zunächst
in Betracht kommende Publicum nicht recht zu verwerten weiß und
deshalb nicht gerne — sit venia verbo — bezahlt. Daß auch sonst
noch manches an dem vom Hbg. und seinen trefllichen Mitarbeitern
geleisteten auszusetzen war, teilt es mit allem Menschenwerk. Am
bedauerlichsten scheinen uns die Mängel der architektonischen Auf-
nahmen, Beschreibungen, Erläuterungen. Aber das durch die nach-
träglichen Grabungen notwendig gewordene Ergänzungsheft wird ja
Gelegenheit geben, hierin wie überhaupt nachzubessern.
Auch in der Ausstattung des Werkes zeigt sich die ganze
Liebe des Verfassers zu seiner Insel. Schön sind Papier und Druck,
dieser freilich nicht durchaus auf der Höhe des Gottlob auch bei
uns wiedererwachten typographischen Geschmacks; man sehe nur
die Kapitelüberschriften oder gar die der Landkarten. Die Ab-
bildungen, Kupferlichtdrucktafeln und Textzinke, meist nach guten,
im Landschaftlichen oft glänzenden Photographien, um deren Auf-
nahme sich besonders A. Schiff verdient gemacht, hergestellt, sind
zum Teil vortrefflich , durchschnittlich wenigstens besser, als wir an
Berliner Publicationen gewöhnt sind. Nur die Sculpturentafeln leiden
meist unter der Unzulänglichkeit der Aufnahmen und dem Ungeschick
der Retouche. Auch hier geht übrigens der Luxus etwas zu weit;
wem werden z.B. die braven Kalojeri des Eliasklosters mitsammt
ihrem hochwürdigen Igumenos eine teure Heliogravure wert sein?
(Tf. 29). Um so dankbarer muß anerkannt werden, daß sich H.
nicht, wie eben erst Koldewey und Puchstein bei dem Text ihres
schönen Werkes, verleiten ließ, ein größeres Format zu wählen, als
ein handliches Quart, an dem selbst S. Reinach nichts auszu-
setzen haben dürfte.
In diesem Zusammenhange seien noch einige Worte dem In-
schriftbande gewidmet. Auf eine doch nicht wirklich sach-
kundige Uebersicht seines mannigfachen Inhalts wird der Leser bei
dem Umfang, den dieser Aufsatz bereits erhalten hat, gerne ver-
zichten. Auch sind das Wichtigste darin die von H. so sehr ver-
mehrten und berichtigten theräischen Texte, auf die oben Schritt
für Schritt zu verweisen war. Ihre Verarbeitung in dem später ab-
geschlossenen Werk über die Insel bot Gelegenheit zu Nachträgen
und Correcturen: Inscr. 327 z.B. ist auf Tf. 25 abgebildet, die Lesung
von 418 auf S. 200 berichtigt, neue Stücke S. 207 A. 18 und S. 306
gegeben u. a. m. Noch mehr neue Inschriften und Lesungen haben
die späteren Grabungen gebracht (z. B. oben $. 541. 545f.). Dank-
Hiller von Gaertringen, Thera. Erster Band. 559
bar ist die Freigebigkeit zu rühmen, mit der H. auch den Inschriften-
band, die anschauungsfremde Tradition des Corpus durchbrechend,
mit Abbildungen der Urkunden selbst und, wo es ihr Verständnis
fordert, ihrer Umgebung ausgestattet hat.
Angesichts eines solchen Versuches, die etwas verknöcherte Ge-
stalt der großen Inschriftensaminlung zu verjüngen, drängt sich der
Gedanke an die radicalen Reformvorschläge auf, welche kürz-
lich an dieser Stelle von Wilamowitz ausgesprochen hat, in seiner
Anzeige des ersten großen Beispiels der ihm richtig erscheinenden
Publicationsweise, der von O. Kern mit seiner Unterstützung heraus-
gegebenen Inschriften von Magnesia. Fortan soll nur das photo-
graphische Bild des Steines und, als Regel, der Minuskelabdruck gel-
ten. Niemand wird die Berechtigung dieser beiden Verfahren in Ab-
rede stellen. Aber müssen deshalb die anderen, bisher noch üblichen
Arten der Herausgabe zum alten Eisen wandern? Das gezeich-
nete Facsimile wird, obschon, wie jede Zeichnung, mit den Mängeln
subjectiver Reproduction behaftet, unentbehrlich bleiben, wo der
Schriftcharakter genau wiedergegeben werden soll, ohne daß eine zu-
reichende, d.h. auf diesem Gebiet: eine ganz ausgezeichnete, Photo-
graphie zu beschaffen ist, was gewiß sehr oft vorkommt und immer
vorkommen wird. Und das andere Verfahren, der Druck mit epi-
graphischen Typen, gibt, trotz seiner offenbaren Unzulänglichkeit,
dem Auge doch viel mehr, viel unmittelbareren Anhalt, sich den monu-
mentalen Tatbestand zu vergegenwärtigen, als die kleine Buchschrift,
zumal wenn, wie in den österreichischen Publicationen, eine reiche
Typenscala den mannigfachen Phasen der griechischen Schriftentwicke-
lung nachzukommen trachtet. An diesem Vorteil ändert es nichts,
wenn es da und dort Menschen gab und vielleicht noch gibt, un-
schuldig genug, um Typendruck und Facsimile zu verwechseln. Noch
einen andern, indirecten Vorzug des Majuskeldrucks wage ich her-
vorzuheben, auf die Gefahr hin, von Fachepigraphikern nach der
Schulbank zurückverwiesen zu werden: es fordert eine wirkliche
Transscription, das heißt die Uebertragung des Textes in die bei
uns übliche Schreibweise des Griechischen, und das ist überall dort,
wo die Schreibung der Steine von jener wesentlich abweicht, die un-
erläßliche Vorbedingung rascher Lesbarkeit. Für das bekämpfte
Herkommen ist eben auch ein so erfahrener und angesehener Epi-
graphiker wie Haussoullier eingetreten (Rev. crit. 1901 S. 205 f.) und
während der Correctur kann noch angemerkt werden, daß auch
unser Autor in trefflicher, ausführlicher Darlegung seine nicht min-
der gewichtige Stimme in demselben Sinn erhoben hat (Berl. phil.
Wochenschr. 1901 Nr. 26).
560 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
Ich kann die Feder nicht aus der Hand legen ohne nochmals,
gewiß im Namen Aller, die es angeht, Hiller von Gaertringen dank-
bare Bewunderung auszusprechen für die opferfrohe Hingabe, mit
der er, obgleich durch keine Pflicht gebunden, als echter Freiherr
die frische Kraft und Tüchtigkeit seiner Person mitsammt den er-
erbten Vorteilen seiner Stellung in den Dienst unserer schönen,
jugendlich vorwärtsstrebenden Wissenschaft stellt. Auf solchen Schü-
ler dürfen die verehrten Meister, denen sein »Thera« gewidmet ist,
Robert und von Wilamowitz, besonders stolz sein. Möge ihm nebst
dem Danke der Fachgenossen auch fortan das gute Finderglück loh-
nen, ob er nun den noch lange nicht erschöpften Boden von
Kalliste weiter bestellen, oder seinen Spaten anderswo einsetzen wird.
Ihn rosten lassen dürfte er schwerlich wollen. Wie herrlich wär es
dann, wenn er, den Spuren seines Ehrenmitbürgers Battos folgend
und gleich ihm von dem Raben Apollons oder noch besser von dem
stolzen Adler unserer Kriegsflagge sicher geleitet, das Schiff süd-
wärts lenken könnte nach der Syrte, um dort das theräische Dorn-
röschen, das uns nach Herbert Weld-Blundells echt britisch kühnem
Besuch (Annual of the br. school at Athens II S. 113 ff.) nur noch
begehrenswerther und nicht ganz unerreichbar erscheint, gründlich
zu erwecken: Kupdvas dyaxtıusvav addcy.
Leipzig. Franz Studniczka.
Liebenam, W., Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche.
Leipzig (Duncker u. Humblot). 1900. XVII. 577 S. 8° Preis 14 M.
Von meiner ursprünglichen Absicht, das umfangreiche Buch kurz
zu kritisieren, hat mich die Erwägung abgebracht, daß der Verfasser
Kürze für Oberflächlichkeit nehmen und eine ausführliche Begründung
des Gesammturteils fordern könnte. Freilich fürchte ich, daß man-
cher Leser des Buches meine Kritik zu ausführlich finden wird.
Immerhin will ich lieber diesen Vorwurf hinnehmen als dem Verfas-
ser Anlaß zu der Klage geben, ich habe die von ihm aufgewandte
Arbeit nicht gewürdigt. Und Arbeit hat die in dem Buch nieder-
gelegte Materialiensammlung — schon die Noten und Exkurse neh-
men weit mehr als die Hälfte des Ganzen ein — gekostet. Schade
um sie, denn in dem Kampf mit seinem Stoff hat der Verf. gänzlich
den Kürzeren gezogen.
Stimmungsvoll beginnt die Einleitung mit der laudatio, daß
jeder, dem nicht taciteische Anschauungen allein maßgebend seien,
Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 561
sein Augenmerk auf das Städtewesen als das Gegengewicht der Ka-
pitale und der Centralregierung richten und nach einer Geschichte
der Regierten verlangen müsse. In der That ist eine der dringend-
sten Aufgaben, die sich heute auf dem Gebiete der römischen Ge-
schichte darbieten, eine Geschichte des Städtewesens im römischen
Reich. Denn das ist dasjenige Thema, auf welches das nunmehr
fast vollendete Corpus der römischen Inschriften zunächst hinweist,
zugleich freilich in anbetracht der noch nicht so weit gediehenen
Sammlung der griechischen Steine eine Beschränkung auf die römi-
sche — übrigens ja auch von der östlichen durch die weite Kluft
einer selbständigen Entwicklung getrennte — Reichshälfte nahe
legend. |
Gewiß hat eine solche Trennung der beiden trotz ihrer histo-
rischen Divergenz doch schließlich zu einem Organismus gehörenden
Teile ihre Unzuträglichkeiten, denn auch im Osten ist romanisiert
worden und mindestens seit der diocletianisch-constantinischen Reor-
ganisation werden die (xegensätze zwischen Westen und Osten durch
das Eingreifen der Centralgewalt in die munizipale Entwicklung im-
mer mehr ausgeglichen. Und dennoch wird man und nicht allein
bis Diocletian, sondern auch weiterhin beide Sphären gesondert be-
handeln müssen, weil griechische Städte immer griechische Städte
geblieben sind. Die spätere Nivellierung der Gegensätze wird man
in einem besonderen — dritten — Teil darzustellen haben. Jeden-
falls aber ist eine gesonderte, der historischen Individualität der bei-
den Organismen gerecht werdende Behandlung trotz gelegentlich
nicht zu vermeidender Uebergriffe in das andere Gebiet — man
denke an ein Grenzland wie Thracien — historischer als eine plumpe
Verquickung des Ostens und Westens ohne Rücksicht auf ihre Ver-
schiedenheit, wie sie der Verf. geleistet hat.
Das vorliegende Buch giebt sich als ein Abschnitt aus einer
vom Verf. unternommenen Bearbeitung dieses großen und gewiß
nicht leicht zu bearbeitenden Gegenstandes. L. wollte zunächst be-
antworten, »in wie fern und ob der städtische Haus-
halt gegenüber den von Kommune und Staat ge-
stellten Anforderungen in Ordnung gehalten werden
konnte« (S. VII). Diesem Thema entspricht aber die Ausführung
nicht im geringsten, denn Verf. handelt von den Einnahmen und
Ausgaben der Städte, ohne auch nur den Versuch einer Abwägung
des Soll und Habens zu machen. Dann wird der Stoff begrenzt.
Seltsam ist, daß außer Rom noch Aegypten und die jüdischen Städte
ausgeschlossen sind: jenes, weil die Papyrusforschung noch zu sehr
im Flusse sei, diese, weil Schürer über sie bereits treffliche Nach-
Gott, gel, Ans, 1901. Nr. 7. 38
562 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
weise gegeben habe. Und doch gehörte Aegypten zur Darstellung,
da sie den Osten mit umfaßt, und die jüdischen Städte — die
übrigens niemand vermißt haben würde — hatten ebenfalls ein An-
recht auf Berücksichtigung, denn auch sie gehören zur hellenisti-
schen Welt, in der doch noch andere lokale Besonderheiten wie z.B.
die kappadokischen Priester- und die galatischen Gaustädte vom Ty-
pus der zdAıc abweichen, ohne daß der Verf. sie feierlichst ausge-
schlossen hatte. Die Begründung ist für die Arbeitsweise des Verf.
charakteristisch: da er statt einer Darstellung Materialien giebt,
gilt ihm eine Materie, für die er noch nicht alle Notizen beisammen
hat, als Tabu und diejenige, für die er auf eine fremde Darstellung
verweisen kann, als erledigt. Bis zu einem gewissen Punkte ist sich
übrigens Verf. dieser seiner Eigenart bewußt, denn er gesteht selbst
(S. IX): »Ohnehin hat häufig das Detail dieser Nachweise die Dar-
stellung überwuchert; der bei solchen Untersuchungen unvermeid-
lichen Notennot war eben auch hier nicht auszuweichen<. Ferner
S. X: »Das in der Einzelbetrachtung gewonnene Bild kann, wie die
Dinge nun einmal liegen, nur einer Mosaikarbeit gleichen. Die
Ueberlieferung läßt uns allzu oft im Stichec. Verf. hätte die Ueber-
lieferung aus dem Spiele lassen sollen. Man soll jeder Darstellung
anmerken, wo sie auf festem, wo auf unsicherem Boden beruht, aber
eine Mosaikarbeit, d.h. ein Aneinanderreihen einzelner Elemente —
aber zu einem Bilde: insofern paßt der Vergleich nicht auf die Ar-
beit des Verf. — soll sie nie werden, wird es aber auch bei der
besten Ueberlieferung, wenn der Autor außer stande ist sie zu
beherrschen. Sonderbar macht sich in der Einleitung zu einem
Buch über den Haushalt der römischen Städte die pathetische Be-
trachtung über die Städteruinen des Orients (S. VIII). Dergleichen
fällt doch formell wie sachlich völlig aus dem Rahmen des Themas,
besonders aber aus dem der Vorrede, heraus. Soviel zur Einleitung.
Die Darstellung zerfällt in drei Bücher; das erste behandelt
Einnahmen und Ausgaben, das zweite die Finanzverwaltung, das
dritte »Staat und Stadt« — ein Inhalt, zu dem der Titel: »Städte-
(besser: Stadt-)Verwaltung«, der mehr verheißt, nicht paßt, was ja
heute öfter vorkommt (Weber, Römische Agrargeschichte!). Zuerst
werden die Einnahmen, dann die Ausgaben behandelt — gewöhnlich
macht man es übrigens und mit gutem Rechte umgekehrt.
S. 1 führt uns sofort in medias res, aber nicht im horazi-
schen Sinne, denn wer hätte nicht zu allererst eine Geschichte
des städtischen Vermögens erwartet? Verf. beruhigt uns mit der
Versicherung (S. 2 Anm. 1): »Auf eine Erörterung der Fragen
nach den ersten Anfängen des städtischen Grundeigentums ist hier
Liebenam , Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 563
nicht einzugehen«. Diese Behauptung ließe man sich in einem juri-
stischen Compendium gefallen, in einer historischen Darstellung be-
fremdet sie. Nein, Verf. mute hier oder im dritten Teil kurz aber
bündig eine Geschichte der Gemeinde im römischen Staatswesen
und speziell der finanziellen Selbstverwaltung entwerfen, wie es
Mommsen im Staatsrecht IIL S. 773 f. (besonders 819 f.) gethan hat.
Ferner war, sei es bei jeder einzelnen Position des Gemeindehaus-
halts, sei es vorab im allgemeinen, auf das Vorbild oder die Analogie
des römischen Haushalts zu verweisen. Bei der Behandlung der
munizipalen Begriffe: territorium und pascua publica mußte z.B. das
Verhältnis des ager romanus zum ayer publicus und ager privatus
berührt werden. Aber nicht einmal über das munizipale Bodenrecht
herrscht Klarheit: unter »stadtischer Grundbesitz< (S. 2 f.) plaudert
Verf. in buntem Durcheinander bald vom ¢errttorium, bald vom Ge-
meindeland, als ob das dasselbe wäre. Hier mußte scharf der Be-
griff des territorium — der Gemeinde- und Privatland umfassenden
Stadtflur — und der seiner Bestandteile: des ager privatus der
Bürger, der pascua publica (Gemeindeland) und der compascua (im Ge-
meinbesitz mehrerer Hufner befindliches Weideland) definiert und ihr
Verhältnis zu einander und zum Staat bestimmt werden. Statt des-
sen bringt Verf. Notizen über den Umfang einiger Stadtgebiete und
eine lange Zusammenstellung von Zeugnissen für termini territoriales.
Vom Detail erwähne ich nur, daß Cäsar Gallien in 64 »Stadtbezirke«
geteilt haben, daß praedia »Unterkuuftstätten« bedeuten soll (S. 6),
daß sich, wo von den Territorien gehandelt wird, eine Notiz über den
Umfang einer Stadt, des römischen Köln, findet (S. 8). Unter 2. a.
(>Gemeindeweide<) werden die compascua — auf die sich die ange-
führte Hyginstelle bezieht — mit der Gemeindeweide identifiziert
' (S. 14; ebenso bei Marquardt, Staatsverwaltung II? S. 157 Anm. 5)
und deshalb behauptet, sie sei den Bürgern gegen eine Recognitions-
gebühr überlassen worden, wo doch ihre Verpachtung den
wichtigsten Posten des Budgets ausgemacht haben muß, da der
Grundbesitz der Gemeinden schlechthin pascua publica heißt, ganz
ebenso wie im römischen Haushalt pascua für ager publicus gesagt
wird: guia diu hoc solum vectigal fuerat (Plin. n. hk. 18 $ 11). Der
besonders in geschichtlicher Hinsicht so wichtige, aber auch in der
Zeit des ausgebildeten Städtewesens noch bedeutsame Begriff der
compascua (s. über sie Weber, Agrargeschichte S. 120) ist dem Verf.
dunkel geblieben; er fehlt denn auch im Index. Außerdem redet er
nur von Gemeindeweide, Wald, Salinen etc., ohne des Fundaments
der städtischen Finanzen : des ager vectigalis, von dessen Verwertung
S. 313 gehandelt und der vorher (S. 4) kurz erwähnt wird, zu ge-
38 *
564 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
denken. Schließlich bekommt er es fertig, die in der Sententia Miı-
nuciorum vom ager publicus zu leistenden Quoten von Wein und
Getreide als Entgelt für Benutzung der Viehweide aufzufassen
(S. 15)! Die Elemente des munizipalen Bodenrechts sind also dem
Verf. nicht geläufig: Territorium wird mit Gemeindeland, dieses mit
den compascua, die Weide mit dem Ackerland zusammengeworfen.
Während der städtische Grundbesitz auf 3!/s Seiten abgethan wird
— und doch war er in den Munizipien so gut das Fundament des
Stadthaushalts, wie in Athen’) und Rom —, füllt Verf. 11 Seiten
(43 f.) mit Belegen für Grabmulten, eine gewiß wenig bedeutende
Einnahmequelle, überdies ohne diese Materialfülle statistisch brauch-
bar zu gestalten (denn nur die lateinischen Belege sind vollständig
verzeichnet: s. S. 40) und (was für den lateinischen Westen ging) *)
zu verwerten. Ebensowenig geschieht das bei der S. 57—65 ge-
gebenen Zusammenstellung von summae honorariae, die übrigens
nicht einmal gehörig geordnet ist (besonders S. 63 stehen Belege
aus anderen Bänden des Corpus zwischen solchen aus CIL. VIII).
So war die Bedeutung der Aemtergelder für den Haushalt der afri-
kanischen Städte eingehender zu würdigen; ihre Häufigkeit und
Höhe — für den Decurionat werden in mehreren Städten 20000 Se-
sterzen gezahlt — ist für die dortige Plutokratie bezeichnend. Ein
sonderbarer Einnahmeposten findet sich unter 8. (S. 66): die Ge-
meindesklaven oder vielmehr (wie Verf. S. 1 sagt) der Gewinn aus
ihrer Arbeit®). Gewiß gehört der Sklavenbestand zum Gemeinde-
vermögen, aber darum ihre Arbeit noch nicht ins Budget, denn sie
läßt sich als solche nicht kapitalisieren. Mit demselben Rechte
könnte man sonst auch die Frohnden der Bürger aufführen, die doch
auch dem Haushalt der Stadt zugute kommen. Die Sklavenarbeit
hat höchstens einen indirekten Kapitalwert: sie kann in etwaigen
durch sie versehenen landwirtschaftlichen oder industriellen Be-
trieben der Stadt und ihr Kapitalwert in deren Erträgnissen stecken ;
im allgemeinen wird man aber, da die Städte nicht selbst wirt-
schaften, sondern verpachten, mit solchen Betrieben nicht zu rechnen
haben. Direkt am Einkommen beteiligt wären die Sklaven nur, wenn
man ihre Arbeit systematisch vermietet hätte, wovon keine Rede
1) s. Böckh, Staatshaushalt I? 408. Xenophon sagt (oecon. 13468): cavene
(des Stadthaushalts) d2 xgarlorn piv aedcodog 1 And Tür idlay dv cH zeoe
yıvouevov. Ebenso xdeor cap. 1.
2) Es scheint, daß in dieser Sphäre die Mult in der Regel dem Staate,
nicht der Gemeinde zugewiesen wurde.
8) Auch Humbert (Essai sur les finances I 409) nennt die Gemeindesklaven
als Einnahmequelle.
Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 665
sein kann. Die Sklavenarbeit gehört vielmehr in dieselbe Kategorie
wie die munera personarum der Bürger: beide ersparen der Stadt
Ausgaben, sind aber deshalb nicht Einnahmen, sondern nützliche Fak-
toren wie die öffentlichen Plätze, Gebäude, Mauern u. dgl., die der
Bürgerschaft zu nutze kommen ohne etwas einzubringen'). Dagegen
durfte die Sklavenschaft unter »Ausgaben« nicht fehlen, denn ihr
Unterhalt fiel der Gemeinde zur Last. Aber das ist nichts: was
soll man dazu sagen, daß Verf. die freiwilligen Geschenke nicht un-
ter den Einnahmen, sondern am Schluß der Ausgaben (S. 166) —
weil sie die Ausgaben vermindert hätten! — behandelt, sodaß der
in der Disposition (S. 1) vorgesehene 2. Hauptteil (außerordentliche
Einnahmen) in der Ausführung durch Abwesenheit glänzt. Ebenso
fehlt ein Kapitel über die Steuern. Gewiß ist diese Basis des mo-
dernen Gemeindehaushalts in dem der Antike wenig entwickelt, aber
das mußte gesagt und die vorkommenden Fälle (Kuhn, Stadt-Ver-
fassung I, 64) um so genauer behandelt werden. So aber hören wir
von den Steuern unter munera (S. 417f.). Die römischen Juristen
fassen freilich die Steuern und die Naturalleistungen unter dem Be-
griff der Leistung (munus) zusammen, aber wer den Einnahmeetat
feststellen will, muß bei ihm die Steuern aufführen und die Leistungen
für sich behandeln (wie Böckh die Leiturgien : Staatshaushalt I’, 593 f.).
Der 2. Teil — Ausgaben — beginnt mit den Aufwendungen
für den Kult. Der Inhalt des Kapitels ist, daß diese zumeist
aus dem Ertrag der Tempeln oder Collegien überwiesenen, aber
der Gemeinde gehörigen Liegenschaften bestritten worden seien.
Warum wird also dieser Kategorie nicht unter den Einnahmen ge-
dacht? Die loca sacra waren unter den Einkünften aus städtischen
Immobilien, das andere heilige Gut als ein dem Staate gehöriges,
wenn auch zumeist den Priestern zu sacralen Verwendungen über-
lassenes Vermögen unter den Einkünften aus Kapitalien zu behan-
deln. Ferner wird gar kein Unterschied zwischen römischen und
griechischen Verhältnissen gemacht, obwohl doch die griechischen
Tempel nicht wie die römischen Staatseigentum waren, sondern eine
autonome Verinögensverwaltung hatten, was Verf. selbst S. 346 be-
merkt. Hier sind die bösen Folgen des kritiklosen Vermengens der
Städtewelt des Ostens mit der des Westens besonders deutlich.
Die Ausführungen über das antike Unterrichtswesen S. 73—82
gehören nicht oder wenigstens nicht in dem Umfang zur Sache, da
dasselbe — wie Verf. wiederum selbst feststellt — im allgemeinen
keine städtische Angelegenheit war.
1) L. 6 D. 18,1 pr.: .. publica (loca) quae non in pecunia populi sed in
publico usu habentur ut est campus Martius.
566 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
Auch unter 3 (Gesandtschaftswesen) sind Nebensachen gehäuft,
während das Wichtige fehlt. Es mußten vor allem die drei Fälle
unterschieden werden, daß die Ausgaben dafür 1) der Gemeinde, 2)
Privaten (munus legationis), 3) beiden Teilen gemeinsam zur Last
fielen. An dieser Stelle waren Belege nur für 1 und 3 zu geben,
während 2 unter den munera zu behandeln war.
In Cap. 4 (Staatspost und Einquartierung) wird, ohne daß Verf.
es besonders hervorhebt, die wichtige Kategorie der Ausgaben für
staatliche Zwecke berührt. Es ist ein Dispositionsfehler, daß Verf.
diese und andere hierhergehörige Posten — Ausgaben für Aufnahme
des Census, für Erhebung der Staatssteuern, Verwaltung der Ali-
mentarstiftungen, Befestigungen (s. S. 143) etc. — nicht, wie es ihre
Wichtigkeit und prinzipielle Verschiedenheit von den communalen
Zwecken dienenden Ausgaben erheischte, in einem besonderen Ab-
schnitt zusammengestellt hat (wie es Kuhn mit besserer Einsicht
that: I, 49). Auch für das Finanzwesen der römischen Städte
empfiehlt sich eine verständige Systematisierung, und es liegt nahe
genug, etwa die Roschersche Einteilung ') in Ausgaben 1) für staat-
liche, 2) für obligatorisch-, 3) für fakultativ-communale Zwecke an-
zuwenden. Uebrigens hätten auch in der Ausführung viel mehr, als
geschehen ist, die modernen Verhältnisse im Auge behalten werden
müssen. Ein solcher Vergleich ist ebenso nützlich, als eine Ergän-
zung unserer Kenntnis antiker Dinge durch moderne Parallelen be-
denklich ist. Nur so wird die Verschiedenheit des römischen vom
modernen Gemeindewesen deutlich und der Darsteller gezwungen,
die Darstellung lebendig zu gestalten — eine Aufgabe, der freilich
die Art des Verf. wenig entspricht. Die Ausgaben für den Kaiser-
kult werden unter 9 (Ehrenerweisungen) statt unter den Ausgaben für
den Kultus (cap. 1) behandelt.
Besonders bei diesem Teil des Buches ist das Fehlen einer ge-
hörigen Systematisierung zu tadeln. Statt alle möglichen Beispiele
für die verschiedenen Objekte, für die Ausgaben gemacht werden
mußten, zu häufen, hätte Verf. bei jedem einzelnen Posten nur die
über die Deckung der betreffenden Ausgabe belehrenden Zeugnisse
behandeln und gruppieren sollen nach 1) Leistung der betreffenden
Ausgabe durch die Stadt, 2) durch munera, 3) durch Munifizenz.
Aus dem quantitativen Verhältnis der jeden dieser drei Modi be-
legenden Zeugnisse hätte sich auch ein Urteil über die Belastung
des städtischen Etats durch den betreffenden Posten gewinnen las-
sen. So aber ist nicht einmal durch verständige Gruppierung des
1) System der Finanzwissenschaft? S. 655.
Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche, 567
Materials der Versuch einer Statistik gemacht, und der gewissen-
hafte Leser dürfte nach der Lektüre der beiden Abschnitte: Ein-
nahmen und Ausgaben zu dem Geständnis kommen: »mir wird von
alle dem so dumm, als ging’ mir ein Mühlrad im Kopf herum«.
Nebenbei sei erwähnt, daß unter »Ausgaben< der Unterhalt der Ge-
meindesklaven und die Besoldung der Subalternbeamten (scribae,
viatores etc.: 8. lex Urson. cap. 62) anzuführen war.
Nach den Einnahmen und Ausgaben hätte auf Grund dieser
Statistik in einem 3. Abschnitt die Munifizenz, in einem 4. die
Liturgie der Bürger erörtert werden ınüssen, wie es wenigstens
mit den munera Roth in der alten aber wenigstens Liebenam gegen-
über noch nicht veralteten Schrift de re municipali gethan hat (p. 114 f.).
Beide sind eine Ergänzung des Gemeindehaushalts, und ohne ihre
systematische Würdigung wird das Fehlen wichtiger Posten des mo-
dernen Etats — wie der Steuern — nicht verständlich. Besonders die
munera sind recht eigentlich die Stütze des Gemeindehaushalts, der
späteren Zeit: deshalb werden sie in dem vom Munizipalwesen han-
delnden 50. Buch der Digesten zuerst (hinter den allgemeinen Din-
gen) und besonders ausführlich (tit. 4—7) behandelt. Auf die Be-
deutung der freiwilligen Zuwendungen weist. der Umfang des tit.
de pollicitationibus (50, 12) deutlich genug hin. Die Bedeutung die-
ser beiden Faktoren für Einnahme- und Ausgabeetat wird aber
nicht durch die Notizen, welche Verf. S. 166 f. über die Munifizenz
und S. 412f. »mit wenigen Worten< über die Munera giebt, und
erst recht nicht durch die vorher, unter einzelnen Ausgabeposten,
mitgeteilten zerstreuten Belege, sondern nur durch die oben bezeich-
nete statistische Behandlung der drei sich in die Ausgaben teilenden
Finanzkräfte deutlich. Auch würde sich auf diesem Wege manches
für die Individualität der einzelnen Gemeinden ergeben haben, in-
dem sich sicher gezeigt hätte, daß in der einen Stadt oder gar
Landschaft die Munifizenz sich besonders etwa auf Bauten, in der
anderen mehr auf Spiele etc. geworfen hat, hier gewisse Ausgaben
durch Liturgien, dort dieselben aus dem Gemeindesäckel gedeckt
wurden. Diese und andere weitere Gesichtspunkte liegen aber offen-
bar der Arbeitsweise des Verf. recht fern, und doch gewinnt durch
sie erst die rudis indigestaque moles des epigraphischen Materials
Leben. Schon deshalb verdiente die Munifizenz und das Liturgien-
wesen eine besondere Behandlung, weil sie kulturhistorisch höchst
merkwürdig sind. Die Freigebigkeit der reichen Bürger beweist —
auch wenn sie dabei zumteil ihre Rechnung fanden — eine Opfer-
willigkeit gegenüber dem Gemeinwesen, die zu der germanischen
Auffassung, nach der umgekehrt die Steuerfreiheit das Vorrecht der
568 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
Großen ist, in grellem Gegensatze steht. Das im entwickelten Städte-
wesen der Kaiserzeit mehr denn je ausgebildete Liturgienwesen ist
für die maßlosen Anforderungen, welche der antike Staat an seine
Bürger stellte, und ferner für den die späte Kaiserzeit bezeichnenden
Rückfall aus der Geld- in die Naturalwirtschaft charakteristisch.
Ganz verunglückt ist der Aufbau des zweiten Buches (Städti-
sche Vermögensverwaltung). Die das Städtewesen im allge-
meinen, nicht aber das Finanzwesen angehenden breiten Ausführungen
über Stadtrecht, Bürgerschaft, Rat, Beamte, welche nicht weniger als
90 Seiten füllen (206—296), sind zum größten Teil überflüssig, denn
uns interessieren ja nur die mit dem städtischen Haushalt beschäf-
tigten Personen. Das über die Erbfähigkeit der Städte Gesagte
(S. 174—205) gehörte entweder unter »Einnahmen< oder in einen
allgemeinen Teil, an den Anfang. Man würde sich vergeblich fragen,
warum Verf. hier eine Abhandlung über das Städtewesen im allge-
meinen eingelegt hat, wenn er uns nicht selbst in der Einleitung (be-
sonders S. X) aufklarte. Er hat gesammelt zu einem Werk über
das Städtewesen überhaupt (S. VID) und sich trotz der Beschränkung
des Themas auf den Gemeindehaushalt nicht versagen können, bald
hier bald da einen Teil seiner Notizen zu thesaurieren. Das ist vor
allem im zweiten Buch geschehen. Zum Glück hat der Verleger
diese Ueberfülle beschnitten (s. S. X), aber des Ueberflüssigen ist
noch genug geblieben. Besonders ärgerlich sind die vollkommen
entbehrlichen Citatenhaufen auf S. 218, wo statt eines Verweises auf
die von Kornemann und mir gegebene Darstellung der conventus
civ. romanorum eine ganze Seite mit den bei uns vorgefundenen Be-
legen gefüllt wird, und S. 220 f., wo vier Seiten Citate für griechische
Phylen stehen. Noch schlimmer ist, daß über all dem Ueberflüssigen
das Notwendige vernachlässigt wird. So tritt, während Verf. von
Volk, Rat, Beamten im allgemeinen handelt, gar nicht hervor, wel-
chen Anteil diese Faktoren am Gemeindehaushalt haben. Das mußte
ein besonderer Teil werden, in dem das Facit aus dem über die
Verwaltung der einzelnen Posten des Etats gesagten (S. 296—401)
gezogen wurde. Statt dessen müssen wir uns die finanziellen Ob-
liegenheiten der in betracht kommenden Beamten aus dem Wust der
Notizen über das ganze Beamtenwesen einer- und aus den Aus-
führungen über die Verwaltung der einzelnen Posten andererseits
heraussuchen. Ueber das wichtigste Organ des städtischen Finanz-
wesens, die Curie, kann man unmöglich aus den wenigen 8. 251—52
gegebenen Bemerkungen und den unter den einzelnen Posten für
ihre Thätigkeit beigebrachten Belegen Klarheit gewinnen. Während
über die gar nicht zum Thema gehörigen Wahlen von S. 268—72
Liebenam, St&dteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 569
gehandelt wird, fallen fiir die wichtigsten Exekutivbeamten des Fi-
nanzwesens, die Quinquennalen, kaum einige Seiten ab (S. 257 f.).
Die noch dazu zersplitterte Darstellung der Quaestur (S. 266, 298)
ist ganz ungenügend, und wichtige Beamte wie die III virs locorum
publ. persequendorum werden eben nur erwähnt (S. 266). Bei dieser
das wichtige über dem unwichtigen vergessenden Arbeitsweise nimmt
es kein Wunder, daß man vergebens nach einer historischen Würdi-
gung des munizipalen Census sucht. Die übrigens ganz oberfläch-
liche Skizze des griechischen Städtewesens (S. 229—296) ist nur ge-
eignet zu zeigen, daß die Vermengung der beiden so grundverschie-
nen Sphären:: des lateinischen und des hellenischen Städtewesens ein
Hauptfehler des Buches ist. |
Auf S. 296 kehrt Verf. endlich wieder zum Thema zurück. Die
hier einsetzenden Bemerkungen über Grundbegriffe des städtischen
Finanzwesens: Stadtkasse, Budget, Rechtsvertretung der Gemeinde
stünden besser — ebenso wie die bereits erwähnte Abhandlung über
die Erbfähigkeit der Gemeinde (S. 174—205) — am Anfang des
Buches. In der nun folgenden Partie: über die Haft- und Rechen-
schaftspflicht der mit der Verwaltung des städtischen Vermögens be-
trauten Beamten (S. 304—16) fällt auf, daß Humberts zweibändiges
Werk über diesen Gegenstand (Essai sur les finances et la compta-
bilité publique chez les Romains, Paris 1887) dem Verf. offenbar un-
bekannt ist; es wird denn auch unter der Litteratur (S. VI) nicht
erwähnt. Das ist um so bedauerlicher, als Humbert, wenn auch nur
kurz, das ganze Finanzwesen der Gemeinden behandelt (Vol. I, cap. 4:
le budget des communes: p. 402—417; Vol. II, cap. 3: de l’admi-
nistration des finances comm.: p. 60—95) und als ehemaliger Be-
amter des Rechnungshofs für seinen speziellen Gegenstand jenes
praktische Verständnis besitzt, von dem der Historiker, der nicht
selbst darüber verfügt, nur lernen kann.
In der viel zu kurzen (S. 313—18) Behandlung der Verwaltung
des ager vectigalis (S. 513) vermisse ich die historische Auffassung
der Institution. Ihr Verhältnis zu den älteren Kategorien: den als
ager publicus privatusque (s. Festus s. v. possessiones) definierten
Possessionen auf dem ager publicus und dem a. privatus vectigalisque
der lex agraria vom Jahre 111 v.Chr. mußte verfolgt werden. Auch
ist der offenkundige Zusammenhang des ius in agro vectigali mit
den jüngeren Arten des erblichen Besitzes: ius occupandi der afrika-
nischen Saltus, ius perpetuum salvo canone und Emphyteuse der nach-
constantinischen Domanialverwaltung (His, Domänen S. 93 £.) viel zu
wichtig, als daß man sich mit den vom Verf. gegebenen Notizen be-
gnügen könnte. Die wichtige Institution läßt sich nur historisch,
570 Gott. gel. Anz, 1901. Nr. 7.
also mit Bezug auf alle ähnlichen Verhältnisse der früheren und
spateren Zeit ganz verstehen, so wie ich, wenn auch in aller Kiirze,
im Anschinß an die lex Manciana die emphyteutischen Rechtsver-
haltnisse behandelt habe (Lex Manc. 8S. 39 f.). Ich vermisse feraer eine:
Benutzung der fiir die juristische Auffassung des Vectigalrechts wich-
tigen Darstellung bei Weber, Agrargesch. S. 175. Sie wird nicht
einmal citiert. Daß statt der Anmerkung (1 auf S. 317) zur Ara
legis Hadrianae ein Hinweis auf meine Behandlung dieser Urkunde,
durch die der entscheidende Begriff ex[er]centur hergestellt und damit
die frühere Litteratur antiquiert wurde, genügt hätte, bemerke ich nur
deshalb, weil auch sonst in den Anmerkungen eine kritische Sichtung
der Litteratur vermißt wird. Auch durfte hier ein Hinweis auf die
der lex Hadriana so nahe verwandte lex Manciana nicht fehlen.
Beim Gemeindeschuldenwesen (332 f.) wären durch einen Vergleich
mit dessen modernen Gestaltung seine Mängel im antiken Städte-
wesen — z.B. der ungenügende Schutz gegen die Gläubiger — viel
drastischer hervorgetreten.
Von S. 340—408 wird die Verwaltung der einzelnen, unter
»Einnahmen« .und »Ausgaben« festgestellten, Posten der Vermögens-
verwaltung behandelt. Auch hier stören wieder -Dispositionsfehler.
Statt daß 1) auch bei der Verwaltung die der Einnahme von der
der Ausgabe getrennt und 2) die früher gewählte Reihenfolge der
einzelnen Ressorts beibehalten wird, entsprechen die Kapitel 1—3
denen des Abschnitts »Ausgaben<, 4 und 5 dagegen den Kapiteln 5
und 4 von »Einnahmen<; Kap. 6 (Postwesen) greift dann wieder auf
Kap. 4 der »Einnahmen< zurück u.s.w. Ganz ungehörig ist es
vollends, wenn der Kommunalärzte, die früher unter »Ausgaben: 6<
(Wohlthätigkeit etc.) angeführt sind, hier unter »Erziehungswesen«
gedacht wird (S. 353). Das sind formale, nicht eben auf sorgfältige
Arbeit und Beherrschung des Stoffes hinweisende Fehler. Unter
>Kultverwaltung< steht der merkwürdige Satz (S. 346): »auch
im Osten besorgten seit alter Zeit die Heiligtümer ihre Angelegen-
heiten selbständige — obwohl vorher ganz richtig ausgeführt ist,
daß dieses bei den römischen Tempeln nicht der Fall war'). Es ist
schon oben (S. 565) gesagt, daß bei keinem Zweig des Stadthaus-
1) Etwas ähnliches findet sich S. 409. Es heißt da: »Eigene Beamte (für
die Wasserwerke) kommen nur vereinzelt vor«, dann (nach einem Satz über die
venafranische Leitung): »Daß in den Städten ein zahlreiches Personal zur Be-
dienung der Leitungen vorhanden gewesen, ist anzunehmen, wenn auch nur wenige
Beispiele bekannt geworden sind«. Das ist entweder ein Widerspruch oder eine
Wiederholung — das eine wie das andere charakterisiert die wenig sorgfältige
Arbeitsweise des Verf. ,
Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 571
halts die fundamentalen Unterschiede des griechischen und römischen
Städtewesens so hervortreten wie hier. Auf das Kultpersonal brauchte
gar nicht eingegangen zu werden, ebenso wenig wie vorher auf die
nicht an der Verwaltung des Gemeindehaushalts beteiligten Beamten
(s. oben S. 568). Hinter »Bauverwaltung« findet sich eine lange Zu-
sammenstellung über die privaten Servituten (S. 417), die doch mit der
Bauverwaltung nicht das geringste zu thun haben — ein neues Bei-
spiel für die Liebhaberei des Verf. bei jeder passenden und unpas-
senden Gelegenheit Material zu häufen.
Was über die munera gesagt wird (S. 417—430), ist mit dem
Abschnitt über das Ausgabebudget wohl äußerlich (als $ 12), aber
nicht innerlich verbunden. Jedes einzelne der S. 422 aufgezählten
munera mußte bei einem Ausgabeposten berücksichtigt werden, denn
jedes einzelne munus ersparte der Gemeinde eine Ausgabe. Verf. hat
nur einen Teil der Liturgien bei den Ausgaben erwähnt (er zeigt
das selbst durch die beigesetzten Verweise). Auf Grund des unter
den einzelnen Ausgabeposten über den Anteil des betreffenden Munus
an demselben Festgestellten wäre dann in dem zusammenfassenden
Abschnitt über die munera zu sagen gewesen, welche Bedeutung die
einzelnen Liturgien in den verschiedenen Gegenden und Gemeinden
für das Ausgabebudget hatten. Statt dessen giebt Verf. eine Zu-
sammenstellung der munera in der Unordnung, wie sie bei den Ju-
risten stehen. Da mögen wir uns die beiden Fragen: 1) nach ihrem
Verhältnis zum Ausgabeetat und zur Munifizenz (s. oben S. 566) und
2) nach ihrer lokalen Bedeutung selbst beantworten. Die wichtige
Frage nach der historischen Entwicklung des Liturgienwesens (s. S. 419)
wird aufgeworfen, aber sofort bei Seite geschoben.
Das dritte Buch ist überschrieben: Staat und Stadt (S. 431
—538). Auch hier fehlt der organische Zusammenhang mit dem
Früheren. Unter »Ausgaben< mußten vorher die Ausgaben für
Staatszwecke hervorgehoben und hier auf Grund dieser Untersuchung
der Anteil der Stadt am Staatsleben: die Stadt als staatliche In-
stitution gewürdigt werden. S. 431—51 steht ein Abriß des Städte-
wesens. Er tritt mit bescheidenen Ansprüchen auf (s. S.431 Anm. 2),
aber es giebt Dinge, die sich mit bescheidenen Mitteln nicht wohl
leisten lassen, und eine Darstellung des Städtewesens im weiten,
vielgestaltigen römischen Reich, die wenig mehr als eine Aufzählung
der wichtigsten Städte und die zugehörige — recht fleißig gesam-
melte — Litteratur bietet, ist auch dann ohne Wert, wenn man
sie nicht mit Mommsens glänzender Schilderung der Provinzen ver-
gleicht. Für das vorliegende Buch vollends ist dieser Abriß ohne
Belang, denn der bunten Mannigfaltigkeit des Städtewesens, wie
572 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
sie der Abriß darzustellen versucht, wird die vorhergehende Be-
handlung nicht gerecht. Und doch hätte eine genügende Darstellung
des städtischen Haushalts Gelegenheit zu einer interessanten Ueber-
sicht über das ganze Städtewesen vom ökonomischen Gesichtspunkt
aus geben können. Das Fehlen des inneren Zusammenhangs zwi-
schen den einzelnen Teilen des Buchs macht sich eben überall be-
merklich. Es folgen dann einige — für das Thema entbehrliche —
Bemerkungen über die Städtepolitik Roms und die Assimilation der
Provinzen, wobei wie üblich die Grenze zwischen Darstellung und
Noten eine ganz äußerliche ist (S. 456!). Den Beschluß macht eine
Zusammenstellung über die Namen der verschiedenen Gemeinde-
kategorien. Auch dies ist, wie so vieles nicht zum Thema gehörige,
offenbar ein Fragment der ursprünglich geplanten umfassenderen
Darstellung.
In einem 2. Kapitel (S. 463—76) wird das Verhältnis der Staats-
gewalt zur städtischen Selbstverwaltung erörtert. Wieder einmal
behauptet Verf. auf die Hauptsache — die Schilderung des Stei-
gens und Sinkens der munizipalen Autonomie — verzichten zu müs-
sen (S. 463). Allgemein gehalten wie er ist — wir hören einiges
über die Freistädte und das Gewohnheitsrecht —, konnte der Ab-
schnitt überhaupt fehlen; vom Verhältnis der Regierung zu dem
Finanzwesen der Städte — das ist ja doch das Thema — ist
überhaupt nicht die Rede, geschweige daß konkrete Belege in histo-
rischer Folge beigebracht würden. Wie wenig der Verf. seinen Stoff
durchgearbeitet hat, zeigt der verwunderliche Widerspruch zwischen
zwei unmittelbar auf einander folgenden Sätzen auf S. 474. Von
S. 473 an wird das Eingreifen der Staatsregierung in die städtische
Selbstverwaltung behandelt, dann liest man: »zweifellos hat diese
Politik, freien Städten wie den Municipien und Colonien eine weit-
gehende Selbständigkeit .. zu gewähren .. nicht zum wenigsten
zu der großen Entfaltung des städtischen Wesens im Reiche beige-
tragen<. Es folgt ein emphatischer Preis der Blüte des freien
Stidtewesens. Was soll man zu einer solchen Confusion sagen?!
Aehnliche Fälle habe ich oben (S. 570) zusammengestellt.
Ein 3. Kapitel heißt: »Der Niedergang der Stadte< (S. 476—503).
Der Inhalt ist durchaus eine Fortsetzung des 2. Kapitels, denn dar-
gestellt wird die immer drückender werdende Bevormundung der
Städte durch die Regierung: die Einsetzung von Kontrollbeamten,
die Umwandlung des Stadtrats in eine Steuerbehörde und Zwangs-
corporation etc. Verf. hat diesen engen Zusammenhang der beiden
Abschnitte durch ihre Trennung gestört. Aber es ist ja nicht das
Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. 678
erste Mal, daß wir ihn einen historischen Zusammenhang mißachten
sehen.
Kap. 4. »Rückblick« (S. 504—538). In ihm hören wir etwas
über die Ursachen des Verfalls der Städte oder vielmehr des Rei-
ches. Auch hier liegen Bruchstücke aus einer umfassenderen Arbeit vor
uns. Zu den städtischen Finanzen (dem Thema!) haben all die
mehr oder weniger brauchbaren Notizen (über Abgabendruck, agra-
rische Mißstände, und vor allem die an und für sich recht erfreuliche
Ablehnung der von Seeck beliebten Anwendung materialistischer
Theorien auf die Geschichte) zwar allerhand Beziehungen, aber diese
treten nicht hervor. Wie gerne hätten wir diese überflüssigen Noten-
schätze hingegeben für eine knappe Zusammenfassung der aus der
Untersuchung des städtischen Gemeindehaushalts gewonnenen Er-
gebnisse! Hat doch Verf. sein Thema als Frage formuliert, auf die
er uns jetzt die Antwort schuldig bleibt.
Aber ich verlange zu viel: wer zu keinen Ergebnissen gelangt
ist, kann sie auch nicht vorführen.
Wir haben wohl gehört: im ersten Buch, daß die Gemeinden
eine Menge Einnahmen und eine Menge Ausgaben, im zweiten, daß
sie viele Beamten, auch Finanzbeamten, hatten und daß die Bürger
durch freiwillige und erzwungene Naturalleistungen den Ausgabe-
etat erleichterten, im dritten, daß der Staat den Städten manche
Freiheit ließ, aber auch oft sich in ihre Angelegenheiten einmengte,
aber das sind keine historischen und keine statistischen Daten, son-
dern Notizen. Ueber das Verhältnis der Einnahmen zu den Aus-
gaben, über das Verhältnis der drei an der Erfüllung der städtischen
Obliegenheiten beteiligten Faktoren: 1) Ausgaben der Gemeinde, 2)
Munifizenz, 3) Liturgien der Bürger zu einander, über die lokalen
Unterschiede des Finanzwesens, über die geschichtliche Entwicklung
zuerst der finanziellen Autonomie, dann der Staatsknechtschaft: über
alle diese und andere wichtige Fragen giebt das Buch keine Aus-
kunft. Gestreift wird die eine oder andere gelegentlich, aber der
Verf. bedauert dann immer auf sie nicht eingehen zu können (S. 2
Anm. 1: die Frage nach der Geschichte des städtischen Grundeigen-
tums, S. 419: nach der Geschichte der munera, S. 463: nach den
Wandlungen der städtischen Autonomie).
So muß denn die Bearbeitung des Gegenstandes als verun-
glückt bezeichnet werden. Weder ist die das eigentliche Thema dar-
stellende Frage beantwortet noch auch, abgesehen von ihr, das
städtische Finanzwesen genügend behandelt. Ueber wichtige Gegen-
stände herrscht Unklarheit. Das angehäufte Material ist nicht verar-
beitet (s. o. S.564) und im Text fallen seltsame, ebendahin weisende
574 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
Widersprüche auf (s. o. S. 572). Die Disposition ist oft verfehlt
(s. 0. S. 565, 566, 570, 572), Griechisches und Römisches wird durch-
einandergemengt, überall zeigt sich ein Mangel an historischer Auf-
fassung. Kritiklos wird das Wichtige oberflächlich, das Unwichtige
breit behandelt (s. 0. S. 568, 571, 572, 573) — kurz, selbst wenn man
das Buch als eine Stoffsammlung bezeichnen will, muß man ihm den
Vorwurf machen, daß es den Stoff nicht geordnet hat. Und das
liegt wohl nicht so sehr an einem, übrigens auch gar nicht zu ver-
kennenden, Mangel an Sorgfalt, sondern mehr daran, daß dem Ver-
fasser diejenige schaffende und gestaltende Kraft fehlt, ohne welche
die Behandlung einer größeren Materie nicht möglich ist. Hülflos
steht er dem Chaos, welches er gestalten soll, gegenüber. Sein Ma-
terial ist ihm um so mehr über den Kopf gewachsen, als er seine
Sammlungen zum ganzen Städtewesen in das nur ein Kapitel des
Städtewesens behandelnde Buch wie in eine zu enge Form hinein
gepreßt hat. |
Zum Schluß giebt es noch einen »Anhang<: fast 30 Seiten mit
inschriftlichen Belegen für griechische Gemeindeämter. Ohe tam
satis est!
Ueberall erstickt die Darstellung in Notizen; sie geht denn auch
oft genug ohne weiteres in eine Anmerkung über (so S. 12, 422,
477, 510, 514, 520, 527, 536); die Grenze zwischen Text und Noten
ist aber auch sonst oft eine rein äußerliche. Auf stilistische Mängel ')
gehe ich nicht ein; auch sie charakterisieren die Formlosigkeit der
Arbeit.
Muß ich nun zum Schluß noch sagen, daß man das Buch wegen
des in ihm, zumal in den Noten und Exkursen (so besonders S. 476 f.),
angehäuften Materials trotz alledem oft zur Hand nehmen wird und
daß es auch manches Brauchbare~exthalt — das versteht sich bei 572
Seiten am Ende von selbst —, soll Ih dem Verfasser bescheinigen,
daß er offenbar viel Zeit daran gewandt (aber noch zu wenig,
denn die Gestaltung der ungefügen Materie Myja kaum begonnen)?
Ich thue es hiermit, hoffe aber dafür, er erke®g an, daß ich sein
Buch gewissenhaft — und geduldig — geprüft ha Seine metho-
dischen Mängel scharf zu formulieren und zu zeigen: daß eine über-
reiche Materialsammlung noch kein Buch macht, sc mir gerade
jetzt eine Pflicht, wo bei der täglich zunehmenden Wasse der In-
schriften diese bequeme Art, den epigraphischen ®eichtum zu
nutzen, Mode werden und der alten Zeit, die ein besc Menes Ma-
1) 8. 808 Anm. 7 steht: »die von Sintenis ... gezogene, überall ¥ Wider
spruch gestoßene Folgerung«.
L. Apulei Madaurensis apologia et florida rec. J. van der Vliet. 575
terial gewissenhafter benutzt habe, ein Lobredner entstehen könnte.
So zu arbeiten, heißt aber auch der unendlichen Mühe, die an die
Sammlung der Inschriften gewandt worden ist, schlechten Dank ab-
statten. Wenn »epigraphische« Arbeiten bei einigen in Mißkredit ge-
kommen sind, so liegt das nicht an der Epigraphik, sondern an dem
Unvermögen, aus der Fülle das Wichtige herauszufinden und wiederum
den oft in der kleinsten Notiz, in dem unscheinbarsten Denkmal ver-
borgenen Gehalt zu erkennen.
Göttingen, 1. Mai 1901. A. Schulten.
L. Apulei Madaurensis apologia et florida recensuit J. van der Vliet.
Lipsiae Teubner 1900. IX und 202 S. 8°. Preis 4 Mk.
Van der Vliet hatte im Jahre 1897 eine Ausgabe der Meta-
morphosen des Apuleius erscheinen lassen, die heftigen Tadel ge-
funden hat sowol wegen des wunderlichen Einfalles, statt der ein-
zigen Handschrift eine Abschrift zu vergleichen, als auch wegen der
willkürlichen und unüberlegten Conjecturalkritik. Einem Autor wie
Apuleius, dem markantesten Vertreter der raffinierten griechischen
Moderhetorik auf römischem Boden, konnte ınan wirklich eine bes-
sere Behandlung wünschen. Daher werden sich nur wenige gefreut
haben, Herrn vy. d. Vliet wiederum als Herausgeber des Apuleius zu
begegnen; und die neue Ausgabe ist auch nicht viel besser als die
alte. Besser doch insofern, als diesmal nicht blos die Abschrift 9,
sondern auch die Originalhs. F nachverglichen ist, wodurch beson-
ders der Apparat der apologia gewonnen hat, da Krüger hier auf
einer schlechten Collation gefußt hatte; auch der eigenen Conjec-
turen des Herausg. sind es etwas weniger geworden. Nicht viel
besser, weil der Herausg. auf dem Standpunkt steht, daß er eine
Umarbeitung der letzten Ausgabe, wie sie auch beschaffen sein mag,
für genügend hält, dagegen auf eine consequente Durchführung neuer
Gesichtspunkte verzichtet.
Bekanntlich beruht die Ueberlieferung des gesamten Apuleius,
abgesehen von den philosophischen Schriften, auf einer einzigen Hs.,
Laur. 68,2 saec. XI (F), derselben, die auch für Tacitus’ Historien
und den zweiten Teil der Annalen die einzige Quelle ist. Daß sie
verhältnismäßig correct ist, verdanken wir dem Grammatiker Sallu-
stius, der den Text 395 in Rom und 397 in Constantinopel durch-
gesehen, d.h. wahrscheinlich aus einer zweiten Hs. verbessert hat,
576 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
wie seine in F übergegangene subscriptio zeigt). F ist ziemlich stark
verbessert, angeblich von drei Händen, und die ursprünglichen Schrift-
züge sind dadurch vielfach unkenntlich geworden. Der letzte Herausg.
der apologia und der florida, Gustav Krüger, hatte daher eine um
ein Jahrhundert jüngere Abschrift von F herangezogen, Laur. 29,2 (9),
die angeblich dazu dienen sollte, den Text von F, wie er vor der
Correctur war, zu erkennen. Aber Beyte zeigte in einer Göttinger
Dissertation von 1888, daß F bereits einmal von einer zweiten Hand
corrigiert war, als gm daraus copiert wurde, und v.d. Vliet teilte in
seiner Vorrede zu den Metamorphosen weitere Tatsachen mit, durch
welche der Wert von @ bedeutend reduciert wurde. Man durfte
daher erwarten, @ jetzt nur noch da herangezogen zu sehen, wo er
wirklich zur Erkenntnis der früheren Schreibung in F beitrug: aber
was geschieht? Der Apparat wird weiter mit sämtlichen Varianten
von @ belastet; wo er comedica statt comoedica schreibt, wo er um-
quam in unquam verbessert, Dinge die uns selbst bei F kaum inter-
essieren würden, da wird uns das nicht vorenthalten; auch die Blatt-
anfänge von gm werden gewissenhaft am Rande notiert. Auf eine
kurze Strecke (S. 93 ff.) erscheint sogar außerdem noch ein codex
Dorvillianus (0), der gar keine Bedeutung für die recensio hat; wozu
uns 158,11 ausführlich mitgeteilt, was de Furia am Rande von F
bemerkt hat, ist auch nicht einzusehen. Das ist bei einem so schwie-
rigen Autor wie Apuleius doppelt bedauerlich; denn nicht blos wird
der Apparat dadurch unübersichtlich, es geht auch eine Menge Raum
verloren, die zu kurzen Erklärungen, zur Anführung von Parallel-
stellen u. dgl. mit Nutzen hätte verwendet werden können. Aber
auch die Art, wie die Abweichungen von F mitgeteilt werden, ist
nicht einwandsfrei; es werden einzelne Buchstaben in Haken oder
Doppelhaken eingeklammert, ohne daß uns gesagt wird, was diese
m. W. nirgends üblichen Zeichen bedeuten; es werden griechische
Buchstaben gebraucht, z.B. 41,6 lslkü, 114,27 penttere, um ich weiß
nicht was auszudrücken; es werden Abkürzungen typographisch
wiedergegeben — was stets mißlich ist — und dadurch auch an sol-
chen Stellen Mißverständnisse nahe gelegt, an denen gar kein Zwei-
fel über die Lesung besteht (z.B. 72,8. 93,10. 170,7). Da ich die
Hs. selbst nie gesehen habe, so will ich nicht behaupten, daß sich
eine sichere Scheidung der verschiedenen Hände noch weiter hätte
durchführen lassen; aber ich darf nicht verschweigen, daß Lütjohann
vier Hände geschieden und Beyte gezeigt hat, daß nur die Correc-
1) Eine durchgreifende Revision des Textes hat er ebenso wenig vorgenom-
men wie Calliopius Victorinus u.s. w. — was für Terenz von Belang ist,
L. Apulei Madaurensis apologia et florida rec. J. van der Vliet. 577
turen von der Hand des Schreibers selbst Ueberlieferungswert haben;
jedoch gerade die wichtigste Angabe, daß eine Aenderung von F?
herrührt, findet sich ziemlich selten in der neuen Ausgabe. Demnach
wird ein künftiger Herausg. nicht umhin können, die Hs. noch ein-
mal anzusehen (von den Metamorphosen gilt das erst recht).
Im Text findet man ziemlich viel Cursive und denkt natürlich,
sie solle die Abweichungen von der Ueberlieferung bezeichnen. Aber
incredibile dictu! das ist nicht der Fall: vielmehr ‘zeigen cursive
Buchstaben an, daß der Kriigersche Text verlassen ist; von den
Klammern, die moderne Zusätze einschließen, gilt dasselbe. Auch
hier ist der Herausg. nicht consequent gewesen; hätte er aus ästhe-
tischen Gründen gar keine typographischen Unterscheidungen ange-
wendet, so hätte man sich zufrieden gegeben; nun aber führen sie
den Leser nur in die Irre. Ueberhaupt ist Krüger (dessen Ver-
dienste um den Text nicht eben groß sind) eine Autorität für ihn:
Kr. bedeutet ihm häufig die Ueberlieferung, die er vorgefunden hat,
ganz gleich, ob Krüger selbst oder Casaubonus oder die Vulgata für
die einzelne Lesart verantwortlich zu machen ist. Es wäre ange-
gangen, die Urheber der einzelnen Verbesserungen gar nicht zu
nennen, so wie es Buecheler im Herondas gemacht hat; wollte der
Herausg. das nicht — und es empfiehlt sich im Apuleius auch
nicht —, so mußte er die älteren Ausgaben sorgfältiger benutzen,
anstatt, wie es den Anschein hat, nur Krüger und die nach dessen
Ausgaben (1864 und 1865) erschienene Litteratur einzusehen. Es
kommt daher nicht selten vor, daß statt des scrips:, mit dem v. d. Vliet
sehr freigebig ist, ein älterer Name einzusetzen ist; so steht 56,15
de magis et pueris bereits in abgeleiteten Hss.; 114,3 quem bei Hil-
debrand ; 158,18 ist natura comparatum est statt comprobatum richtig,
aber alt; aber Krüger erwähnt es nicht und Hildebrand einzusehen
ist etwas viel Arbeit für einen Herausgeber. Das 47,26 ergänzte
cu:n hat sogar Krüger selbst vorgeschlagen (übrigens wol mit Un-
recht, trotz der freien Stelle in F, vgl. z.B. met. III 9). In der
Anführung fremder Conjecturen ist v.d. Vliet sparsamer als man
wünschen möchte, auch von neueren fehlt manche (z.B. 5,10 [quz]
Dilthey; 147,10 admotum Klussmann; 157,16 clavulae Crusius), die
man gern erwähnt sähe und die der Herausg. aus Burkhards Be-
richten (Bursian 84. 93) bequem kennen lernen konnte; auch hier
wird ein künftiger Herausgeber von vorn anfangen und namentlich die
älteren Ausgaben genau durchsehen müssen; denn außer E. Rohde
hat Keiner der Jüngeren viel für die Textverbesserung geleistet.
Unter den sehr zalreichen eigenen Aenderungen des Herausg.
sind einige richtig oder beachtenswert, z. B. 60,19 didicerit statt
Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 7. 39
578 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
dicerit; 92,1 omnis illa tam foeda animi mutalio statt tum; 186,1
die Tilgung von confestim; auch die Erklärung von 29,9: quod paw
cioris habeo = halito ist schlagend. Aber diese wenigen Perlen
verschwinden unter der Spreu von unnötigen oder verfehlten Aende-
rungen, die man nur aus einer prurigo contectands begreift und die
z.t. von mangelhafter Kenntnis des Sprachgebrauches oder mangeln-
dem Gefühl für die Grenzen der Weahrscheinlichkeit zeugen. Die
Kritik des Apuleius ist außerordentlich schwer, weil man auf die
albernsten Pointen und auf Reminiscenzen aus Autoren der ver-
schiedensten Zeiten gefaßt sein muß; Zurückhaltung ist hier mehr
am Platze als anderswo.
S. 7,s ist multo tanta überliefert, ebenso 55,s und an einigen
Stellen der metam.; man ändert in multo tanto, läßt aber 108,19 di-
midio tanta stehen. Schon Hildebrand hat zu letzterer Stelle darauf
aufmerksam gemacht und neuerdings ist Leo mit Recht für die Bei-
behaltung der Ueberlieferung eingetreten.
S. 8,6 item Zenonem illum antiquum Velia oriundum, qui...
ddlissolverit, eum quoque Zenonem ... tilgt v.d. Vliet wie üblich das
zweite Zenonem; aber Vahlen hat Herm. 33,259 gezeigt, daß eine
derartige Epanalepsis nicht ungewöhnlich ist, nachdem bereits Hilde-
brand zu metam. 8 und apol. 540 den Sprachgebrauch behandelt
hatte (vgl. Hygin. fab. 34,4 Schmidt).
S. 55,18 nec ultra isti quidem progredi mendacio ausi; enim fa-
bula ut impleretur, addendum etiam illud fuit ... Hier vor enim ein
sed einzuschieben empfiehlt sich nicht, da Apuleius es liebt, nach
dem Vorbilde der Komiker enim an erste Stelle zu setzen, und zwar
als begründende Partikel; so met. IV 8 de deo Socr. 8. 19 u. 0.
Vgl. Hildebrand zu unserer Stelle.
S. 109,9 wird atgue ego scio mit Scaliger in atqui geändert, da-
gegen 71,17 geduldet. Letzteres Verfahren ist das richtige, wie
wiederum Hildebrands Anmerkung zu der Stelle zeigt.
S. 123,9 dico exiguum herediolum sexaginta milibus nummum —
id quoque non me, sed Pudentillam suo nomine emisse. Wer weil,
wie Apuleius das Anakoluth als Stilwiirze auch da verwendet, wo
gar kein Anlaß dazu vorliegt, wird sich hüten, hinter nummum ein
emptum zuzusetzen. Vgl. 53,33 solus tlle quantum scram, cum si
cetera exossis, duodecim numero ossa ... in ventre eius conexa et ca-
tenata sunt. S. Hildebr. zu metam. 219.
S. 124,20 eminiscimini quod respondeatis, qui vos tta rogarit.
Ein s+ qui sieht sehr verführerisch aus; aber auch oblique Casus von
ss werden vor dem Relativum leicht weggelassen, nicht blos bei
Apuleius; apol. 24,16 hoc mshi adversum te usu venit, quod qui forte
L. Apulei Madaurensis apologia et florida rec. J. van der Vliet. 579
constitit. ... metam. V 21 tune lae non ignarae quae gesta sunt
vgl. I 4 ex. 16 bell. Alex. 17,3 praemiis magnis propositis, qui prt-
mus insulam cepissct. Bach Studem. Stud. II 347 Sydow de fide
libr. Calliop. 27.
S. 125,14 steht in F dentes splendidos, wo der Sinn keinen
Zweifel darüber läßt, daß es heißen muß: »Du putzest dir die
Zähne«. Das richtige splendidas hat schon Lipsius gefunden, aber
v.d. Vliet schreibt splendicas unter Berufung auf zwei Stellen, an
denen beiden das Wort »glänzen« heißt.
S. 183,15 »sates< inquit »mihr fuerit mercedis« Thales sapiens,
»si id... Hier klammert v.d. Vliet Thales sapiens mit Krüger ein;
aber inquit wird nicht selten so von seinem Subject getrennt, einer
der vielen Graecismen, die bei einer künftigen Behandlung des kaum
angeschnittenen Themas »Graecismen in der lateinischen Syntax< zu
besprechen sein werden: vgl. zuletzt H. Schoene, Rh. Mus. 54, ess ff.
Ich habe solche Stellen herausgegriffen, an denen ich sprach-
liche Bemerkungen machen konnte'). Wenn man sehen will, wie
v.d. Vliet die Ueberlieferung mißhandelt, so schlage man z.B. 54, 51
nach: me non negabunt in Gaetuliae mediterraneis montibus fuisse,
ubi pisces per Deucalionis diluvia repperientur. quod ego gratulor
nescire istos legisse me Theophrasts quoque xeglt daxerav xal BAnte-
xy et Nicandri Onovaxd: ceterum me etiam veneficii reum postularent.
Das sieht in der neuen Ausgabe so aus: ubt p. post D. d. <non>
reperiantur. ceterum <st scirent> quod e. g..... Onovaxd, me etiam
... Die Stelle ist ganz in Ordnung. Aehnlich ist 117,17 geschaltet;
ich notiere kurz 11,6. 23,8. 37,95. 78,8. 104,23. 165,19.
In der Interpunction zeigt sich eine weitgehende Abhängigkeit
von Krüger, der seinerseits wieder auf Hildebrand fußt; vgl. 38, se.
63,20. 164,6. Die Testimonia unter dem Text sind sorgfältig aus
Krüger abgedruckt; hätte der Herausg. S. 110 die Arnobiusstelle
nachgeschlagen, so hätte er Belus gedruckt, nicht Velus; hätte er
zu S. 161 die Pliniusstelle nachgesehen, so hätte er gefunden, daß
Apul. seine Wissenschaft vom Papagei allein aus ihr schöpft, und
nicht das Solinuscitat noch außerdem aus Krüger übernommen.
Einiges hat er aus Weymans und Gatschas Arbeiten und etliche
Parallelstellen aus den Metam. de suo hinzugefügt, ohne rechtes
Princip. 179,19 hören wir zwar, daß die Verse aus Plautus sind
1) Rasch hinweisen will ich noch auf 26,,, haec et alia flagitia divitiarum
alumns solent, wo V1. esse vor solent einschiebt (warum nicht wenigstens patrare,?).
Aber ganz ähnlich 28,,,. 181, ., coeptt nolle quod pepigerat, wo man dare zufügt.
Unser Autor hat Manches der Art, z.B. met. I 7 quod unctui quod tersus spse
praeministro.
39 *
680 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
und auch bei Priscian stehen (was nicht unter die Testimonia ge-
hört); aber die interessanten Varianten der Plautusüberlieferung wer-
den uns nicht mitgeteilt. Die Indices nominum sind ebenfalls die
Krügerschen, kaum um einen Federstrich verändert; selbst die kleine
Mühe hat der Herausg. gescheut, aus den beiden Indices éinen zu
machen, und so haben wir hinter der Apologie und hinter den Flo-
rida je zwei Indices (denn der Herausg. hat indices verborum ange-
fertigt, die in dieser Knappheit geringen Wert besitzen ; die Sprache
des Autors muß von historischen Gesichtspunkten ganz und gar
durchgearbeitet werden, wie auch Norden Kunstprosa 604 bemerkt),
als ob es Werke verschiedener Autoren wären.
Es sei mir gestattet, einige eigene Bemerkungen mitzuteilen.
S. 7,18 homo vere le quidem non disertissimus ist das vere
vielleicht aus Z. 20 eingedrungen; vgl. 186, :.
S. 13,21 in Apuleius’ Liebesgedicht möchte ich vorschlagen:
et Critias mea delicies; sed salva, Charine,
pars in amore meo, vita, tıbı remanet.
delitescet hat F, aber tescet auf Rasur von zweiter Hand, wie ich aus
Krüger entnehme (v. d. Vliets Angabe ist unverständlich) ; delicie stet
g, woraus man gewöhnlich delicies et macht.
S. 28,12 cur eius (sc. paupertatis) pudeat tenuiores, qui eam non
simulata sed vere fungimur? Man schreibt mit Acidalius simulato;
hat noch Niemand an simulate gedacht ?
S. 46,33 celera maris evectamenta, quae ubique litorum ventis ex-
pelluntur, salo expuuntur, tempestate reciprocantur, tranquillo dese-
runtur. Hier las man statt liforum früher locorum, weil in F an
dem Wort corrigiert ist und 9 /ocorum haben sollte; v.d. Vliet giebt
aber ausdrücklich an, daß er auch litorum hat, zieht jedoch nicht die
Consequenz so zu edieren. Was soll aber deseruntur am Schluß?
Ich hatte mir deferuntur notiert und finde es bei Hildebrand aus
einem Apographum angeführt.
S. 47,14 So sehr Apuleius das Asyndeton liebt (z.B. flor. 151,15.
169,7 vgl. Fälle wie Vergil Aen. I 364, der auch hierin von der
Rhetorik abhängig ist), so scheint es mir hier doch nicht seinem Sprach-
gebrauch gemäß zu sein, und ich möchte ein e¢ hinter curat ein-
schieben.
S. 49,20 wel dicant nobis, Aemiliane, patroni tus: vielleicht velsm.
S. 58,2 (es ist die Rede von einem epileptischen Sklaven) omnium
rerum convictum me fatebor, nist rusa de omnium dıu ablegatus est in
longinquos agros. Hier hat Zink vorgeschlagen rus ab ore omnium;
v.d. Vliet hat das zu verbessern geglaubt, indem er n:s3 streicht und
rus adeo <ab ore> liest. Sollte etwa zu schreiben sein rus a domino dis ?
L, Apulei Madaurensis apologia et florida rec. J. van der Vliet. 581
S. 65,4 quod dexterae auris crebriores tinnitus fatebatur , signum
erat morbi penitus adacti. Ich glaube nicht, daß man sagen kann:
morbus adigitur, und halte adaucts für das Richtige.
S. 85,25 sed puerorum avus invitam eam conciliare studebat cete-
rum filio suo Sicinto Claro. Pudentilla war erst mit Sicinius Amicus
vermählt und hatte zwei Söhne von ihm, aber er starb noch bei
Lebzeiten seines Vaters, der jetzt eine Heirat zwischen Pudentilla und
seinem zweiten Sohne herbeizuführen sucht. Rieses derum fiir cete-
rum ist daher nicht übel, aber ich möchte zu bedenken geben, ob
nicht cetero filio = to Aoın® vid möglich wäre.
S. 109,18 haec ego quamquam possim merito dicere, tamen vobis
condono nec satis mihi duco, st me omnium quae insimulastis abunde
purgavi, si nusquam passus sum vel exiguam suspicionem magiae con-
sistere. Apuleius ist im Begriff zu zeigen, daß ihm eine Anwendung
von Zaubermitteln gar keinen Vorteil hatte bringen können. »Viele
würden in meinem Falle es für eine ausreichende Verteidigung hal-
ten, wenn sie zeigten, daß ihr sonstiges Leben zu einem derartigen
Verdacht keinen Anlaß giebt; ich verzichte auf eine derartige Ver-
teidigung, so gut ich sie mir zu eigen machen könnte; ich gebe
mich nicht damit zufrieden, eure Beschuldigungen zu widerlegen, so
lange noch der Schatten eines Verdachtes auf mir ruht<. Also ss
usquam passus sum.
S. 169,14 in der bekannten Charakteristik des Philemon: rarae
apud illum corruptelae et uti errores concesst amores. So haben alle
Herausgeber mit der Hs. geschrieben und wol verstanden: »es kom-
men zwar Verirrungen vor (auf erotischem Gebiet), aber die Lieb-
schaften halten sich in den Grenzen des Erlaubten<. Das ist Non-
sens; es wird zu ändern sein: corruptelae, tuts errores, d.h. Ver-
irrungen, die keine ernstliche Gefahr mit sich bringen.
S. 171,16 inde acerbus dolor intestinorum coortus modico ante
sedatus est, quam me denique violentus examimaret. Die Schmerzen
horten auf, fingen aber dann mit erneuter Heftigkeit wieder an;
sollte der Autor nicht denuo geschrieben haben ?
S. 173,19 testimonium mihi perhibuit in curta ... vir consularis,
cui etiam notum esse tantummodo summus honor est: is etiam laudator
mihi... astititt. Das Gefüge wird besser, wenn man schreibt: <ef>
cui ... est, is eliam ...
S. 180,8 sed verum est profecto, qui aiunt halte ich für unmög-
lich; daß die Vulgata quod liest, hätte v.d. Vliet erwähnen können.
Aber Apuleius hat eher geschrieben: sed verum profecto, qui aiunt.
Z. 13 id ego cum ante alias, tum etiam nunc inpraesentiarum usu ex-
perior, Aber ante ist nur alte Conjectur statt a, das als Ditto-
graphie zu tilgen sein wird.
582 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
S. 183,7 lunae vel nascentis incrementa vel senescentis dispendia
vel delinquantis obstacula. Der letzte Ausdruck bezieht sich natür-
lich auf die Finsternisse; man ändert richtig in delinquentis, ohne
es zu erklären: es ist gedankenlose Uebersetzung von &xAsızovens.
Und ich schließe mit dem Wunsche, daß ein etwaiger Herausgeber
der philosophischen Schriften in der Teubnerschen Bibliothek außer
anderen notwendigen Dingen auch ordentlich Griechisch versteht.
Greifswald, 13. April 1901. W. Kroll.
Chronik der Stadt Zürich, mit Fortsetzungen, herausgegeben von Johannes
Dierauer. XLVII u. 308 S. Gr. 8°. Basel, Ad. Geering, 1900. (Quellen
zur Schweizer Geschichte, herausgegeben von der Allgemeinen Geschichtforschen-
den Gesellschaft der Schweiz. Band XVII).
Schon seit Jahren galt in den Kreisen schweizerischer Geschicht-
forschung und Quellenedition als eine der wichtigsten, aber auch
schwierigsten Aufgaben eine den Anforderungen der Kritik ent-
sprechende Ausgabe des Zürcher Chronikenmateriales. Schon seit
den sechsziger Jahren und vollends seitdem mit dem Jahre 1874
das Programm für die »Quellen zur Schweizer Geschichte festge-
stellt worden war, fand sich auf diesem als ein Hauptpostulat eben
diese Aufgabe. Aber verschiedene in Anfrage gestellte Forscher, so
der St. Galler Scherrer, der schon 1862 mit Eindringlichkeit diese
Fragen zu behandeln begonnen hatte, hatten die Aufforderung ab-
gelehnt. So war es als ein großer Erfolg zu betrachten, daß der
durch seine Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft —
vgl. Gött. gel. Anz. 1889 Nr. 15, 1892 Nr. 17 — bestens bekannte
St. Galler Historiker Johannes Dierauer sich gewinnen ließ, die Edi-
tion zu übernehmen. Schon 1895 konnte, als aus dem Nachlaß von
Georg von Wyß durch die Allgemeine Geschichtforschende Gesell-
schaft die »Geschichte der Historiographie in der Schweiz« veröffent-
licht wurde, nach seinen Mittheilungen der ganze Abschnitt über die
Zürcher Chroniken neu bearbeitet mitgetheilt werden.
Allerdings fehlte es schon bisher nicht an einzelnen Druck-
legungen von Bestandtheilen der Chronik. Im. achtzehnten Jahrhun-
dert erschien in der von Bodmer herausgegebenen »Helvetischen
Bibliothek« — 1735 und 1741 — ein ansehnlicher Theil der hernach
zu charakterisierenden Gloggnerschen Copie. Ludwig Ettmüller ließ
1844 in Band II der »Mittheilungen« der zürcherischen antiquari-
schen Gesellschaft >die beiden ältesten deutschen Jahrbücher der
Stadt Zürich« erscheinen, doch ohne irgend eine klare Einsicht in
die Frage des Verhältnisses der Texte zu einander, und mit der
Chronik der Stadt Zürich, mit Fortsetzungen, herausg. von Dierauer. 588
Liebhaberei des Germanisten, die Färbung einer älteren Sprachform
einzuführen. Vollends war Anton Hennes Publication des Codex San-
gallensis 645, von 1861, unter dem Titel einer »Klingenberger Chro-
nik<, eine Edition, die Waitz alsbald — Gott. gel. Anz. 1862, St. 5 —
beleuchtete, am allerwenigsten geeignet, zur Klärung der Frage bei-
zutragen. Denn, abgesehen von dem ganz irreführenden Titel, ist
das hier abgedruckte Werk eine um die Mitte des fünfzehnten Jahr-
hunderts angelegte Compilation eines anonymen Autors, von pro-
fanen und kirchlichen, von deutschen und schweizerischen, von wirk-
lich zürcherischen und österreichisch gefärbten Stücken. Freilich
sind dann wieder Copieen dieser Sammlung auch in zürcherischen
Handschriften — des Gebhard Sprenger, A 78 der Zürcher Stadt-
bibliothek, worauf eben Ettmüller griff, des Hans Huopli, A 113 der
gleichen Bibliothek — in ziemlich übereinstimmender Form vorhan-
den, und eine gewisse Anlehnung an die alte Zürcher Chronik fehlt
da nicht. Doch die Neigung zu breiterer Ausdrucksweise, Vorliebe
für epische, sagenhafte Züge, mannigfache Ueberarbeitung sind überall
spürbar. Besonders in dem wichtigen Abschnitte der hernach zu
kennzeichnenden sogenannten Mülnerschen Chronik tritt das Eigen-
mächtige einer im österreichischen Sinne, zu Gunsten der Zürich
feindseligen Nachbarstadt Rapperswil thätigen Tendenz zu Tage,
und vom Sempacher und Näfelser Kriege an ist die österreichische
Färbung ganz entschieden; die am Schlusse stehende Darstellung
des alten Zürichkrieges ist wahrscheinlich in Rapperswil geschrieben.
So war ganz besonders infolge der Henneschen Veröffentlichung
eine reinliche Ausscheidung des wirklich zürcherischen Materiales und
hier wieder der ältesten Fassung überall zur wahren Verpflichtung
für den wahrhaft kritischen Bearbeiter gemacht worden.
Kurze gleichzeitige Aufzeichnungen müssen schon im dreizehnten
Jahrhundert in Zürich gemacht worden sein. Dahin gehören die
Daten über die Fehde der Stadt mit dem Freiherrn von Regensberg,
über die Königswahl Rudolfs und dessen Gegner König Ottokar von
Böhmen, über eine große Feuersbrunst in Zürich im Jahre 1280.
Eine einzelne Notiz, über Lebensmittelpreise in der Zeit König Ru-
dolfs, ist dabei auf einen bestimmten Namen, des Ulrich Krieg, zu-
rückzuführen. Die letzte dieser Nachrichten betrifft die arge Nieder-
lage, die Zürich 1292 vor Winterthur erlitt. Dann aber sind aus
der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts fast durchaus nur
ganz dürftige Mittheilungen vorhanden, eine »niichterne, abrupte
Annalistik<; bloß an wenigen Stellen, so über die Gefechte am Mor-
garten und bei Schloß Grinau 1315 und 1337, über die Schlacht bei
Laupen 1339, über eine Wassersnoth in Zürich 1343, ist die Er-
zählung ein wenig einläßlicher. Ganz anders wird dagegen über die
584 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
Jahre 1350 bis 1355 die Fülle der Mittheilungen. Die wichtigen
Ereignisse dieser Jahre, von der Zürcher Mordnacht 1350 und dem
Kriege zwischen Zürich und Herzog Albrecht von Oesterreich, mit
den drei Belagerungen der Stadt, bis zum Regensburger Frieden von
1355 — allerdings ohne alle Erwähnung des Bündnisses von 1351
mit den Waldstatten —, sind da in zusammenhängender Darstellung
von einem Zeitgenossen im Auftrage des Schultheissen Eberhart
Mülner — 1352 und 1357 bis zum Tode 1382 war Mülner in die-
sem Amte — aufgezeichnet worden. Hernach jedoch folgen unter
diesen Materialien zur Zürcher Geschichte von 1355 an bis 1382
abermals nur ganz vereinzelte trockene annalistische Notizen. Erst
mit 1382 setzt neuerdings eine ausführliche planmäßige Schilderung
der Zeitereignisse im Zusammenhang ein, der Begebenheiten seit dem
Ausbruche der Kiburger Fehde bis zum Abschlusse des siebenjährigen
Friedens mit Oesterreich 1389, eine Erzählung, die in Vielem an
jene Chronik von 1350 bis 1355 erinnert, so daß wohl jenes ältere
Stück dem Verfasser dieser jüngeren Aufzeichnung als Vorbild diente.
Der gut eidgenössisch gesinnte anonyme Autor stand den amtlichen
Kreisen nahe und hatte Zutritt zu den Acten; allerdings verzeichnet
er aus den thatenreichen Jahren, des Sempacher, des Näfelser Krie-
ges, eingehender und mit sicherer Kunde bloß die Dinge, an denen
Zürich betheiligt war. Endlich liegen bis zum Jahre 1418 wieder
nur mehr abgerissene annalistische Notizen vor, die — abgesehen von
localen Nachrichten, so über den Bau des neuen Rathhauses — nicht
häufig zu ausführlicherer Berichterstattung sich erweitern, nur bei
den Appenzeller Kriegen, für die Feldzüge nach dem Eschenthale —
Domo d’Ossola — 1410 und 1411, für das Concil von Constanz und
die aus der Aechtung des Herzogs Friedrich von Oesterreich sich
ergebenden Ereignisse.
Aus diesen sehr ungleichen Materialien gestaltete nunmehr um
das Jahr 1415 oder kurz vorher ein Ungenannter »ein coronik der
edlen und loblichen statt Zürich«, wahrscheinlich ein einfacher Bür-
ger, der nicht in der Lage war, die Archive zur Benutzung officieller
Actenstücke heranzuziehen. Immerhin hat er durch diese Compila-
tion mehrere werthvolle Stücke der alten zürcherischen Annailistik
und Geschichtschreibung in ihrer ursprünglichen Form bewahrt, voran
jene sogenannte Mülnersche Chronik, die er wörtlich aufnahm, dann
ebenso die Erzählung über die Jahre 1382 bis 1389. Doch schickte
er dem Ganzen einen einleitenden Theil voraus, die an die Trierer
Gründungsgeschichte sich anlehnenden Fabeln vom Ursprung Zürichs,
die Legende von der thebäischen Legion und den Zürcher Stadt-
heiligen, die im dreizehnten Jahrhundert gemachten Aufzeichnungen
über die Anfänge der Zürcher Kirchen, und dann ließ er die ganz
Chronik der Stadt Zürich, mit Fortsetzungen, herausg. von Dierauer. 588
vereinzelte, durch keine andere Nachricht bestätigte Notiz über die
Berührung Zürichs bei der Translation der Reliquien der heiligen
drei Könige nach Cöln folgen. Erst hernach kommen jene schon er-
wähnten zahlreicheren Nachrichten aus dem dreizehnten Jahrhundert,
deren erste — zu dem Jahre 1251 — »ein gross misshellung under den
burgren« wegen des päpstlich -kaiserlichen Conflicts meldet. Alle
die oben charakterisierten Bestandtheile zürcherischer Geschichts-
schreibung stellte im Weiteren der Anonymus chronologisch geordnet,
so daß deren Ungleichheit so recht in die Augen springt, in sein
Buch ein. Wie weit er etwa da, bis 1418, noch einige selbst ver-
faßte Mittheilungen aus der eigenen Zeit zu dem sonst nur von ihm
zusammengestellten Stoffe hinzugab, läßt sich selbstverständlich nicht
feststellen.
In äußerst klarer Weise hat Dierauer diese Verhältnisse, S. X—
XIX, behandelt, die verschiedenartigen Stücke nach ihrer Eigenart
gekennzeichnet.
Die Chronik ist nur in Abschriften überliefert, und von einer der
ältesten — A. 116 der Stadtbibliothek in Zürich, nach Dierauers Zäh-
lung Handschrift 3 — ist auch der Urheber, Hans Gloggner, der
wohl nach 1439 seine Arbeit begann, bekannt; doch fehlt diesem Texte
leider der Anfang und ein weiteres namhaftes Stück. Aber der Heraus-
geber stellt eine bisher noch niemals im vollen Umfange herange-
zogene auf der Innsbrucker Museumsbibliothek liegende Handschrift
als Nr. 1 voran, von dem Constanzer Stadtschreiber Klaus Schultheiß,
der um 1420 die kurz vorher entstandene Chronik zu copieren be-
gann, allerdings nicht das Ganze, aber so, daß von 1350 — Dier-
auers Cap. 46 — an der gedruckte Text auf dieser Handschrift be-
ruht. Aber außerdem finden sich in den Varianten noch weitere
neun Handschriften mehr oder weniger weitgehend berücksichtigt.
Die Codices 631 und 657 der Stiftsbibliothek in St. Gallen, aus dem
Nachlaß Tschudis, Nr. 5 und Nr. 2, sowie A 80 der Zürcher Stadt-
bibliothek, Nr. 4 — die sogenannte Kriegsche Chronik, ein Sammel-
werk, das aus sehr verschiedenen fragmentarischen Bestandtheilen zu-
sammengefügt ist — , im Weiteren Codex 643 der St. Galler Stifts-
bibliothek aus Tschudis Besitz, Nr. 7, aber ganz besonders Nr.8 —
Stadtbibliothek Zürich B 95, die 1862 durch G. von Wyß: »Ueber
eine alte Zürcher Chronik aus dem fünfzehnten Jahrhundert und ihren
Schlachtbericht von Sempach< hervorgezogene Handschrift mit eigen-
artigen Nachrichten zum Jahre 1353 (S. XXXV, in n. 3), seien hier
genannt. Aber allerdings weichen gegenüber den älteren und besseren
Texten 3 und 2 die jüngeren Copieen mehrfach stark ab, so in der
Legende der Thebäer und der Zürcher Stadtheiligen, wo die jüngeren
eine wahrscheinlich auf Konrad von Mure zurückgehende ausführ-
588 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 7.
lichere Erzählung enthalten, oder auch in späteren Theilen, z.B. den
Schilderungen der Regensberger Fehde mit dem Antheil des Grafen
Rudolf von Habsburg, zu denen 2, im Wesentlichen auch 4 und 5
allerdings sagenhafte und anekdotische Züge hinzusetzen. Einige
chronologische Notizen mehr haben, vor dem Mülnerschen Texte, 2
und 5. Eigenthümlich ist auch das Verfahren des Schreibers von 5:
augenscheinlich ein Glarner von Geburt, suchte er durch kleine Aen-
derungen den Schein zu erwecken, daß die Chronik nicht in Zürich
selbst entstanden sei.
Allein außerdem enthalten nun auch diese Handschriften noch
Fortsetzungen zu der eigentlichen »Chronik< im engeren Sinne des
Wortes. Codex 3, die sogenannte Gloggnersche Chronik, bringt von
1420 bis 1438 Aufzeichnungen, zumal über die Kriegszüge gegen
Bellinzona und Domo d’Ossola, worauf eine zweite Hand mit den An-
fängen des alten Zürichkrieges bis 1440, eine dritte mit Ereignissen
der Jahre 1464 bis 1468, eine vierte mit den Begebenheiten des Bur-
gunder-Krieges 1468 bis 1476 weiter fuhr. Codex 2 hat eine Fort-
setzung über die Zeit von 1420 bis 1450, also bis zum Abschluß des
alten Zürichkrieges. Eine dritte Fortsetzung endlich schließt der auch
schon erwähnte Codex 7 in sich, zuerst über die Jahre 1425 bis 1433,
mit wichtigen Nachrichten über den Feldzug nach Domo d’Ossola 1425
und über die Zürcher Gesandtschaft nach Rom 1433, dann über die
Zeit von 1460 bis 1478, wo weit mehr eidgenössische, als zürche-
rische Dinge behandelt werden, und zwar so, daß man einen Glarner,
der in Glarus selbst schrieb, als Verfasser annehmen möchte. Diese
drei Fortsetzungen, von denen besonders die dritte größeren Raum
einnimmt, füllen S. 187—271 der Ausgabe.
Die Ausgabe der Chronik und der Fortsetzungen ist in der sorg-
fältigsten Weise durchgeführt. Von S. 6 bis S. 46 ist Handschrift 3
(Gloggner), von S. 47 bis S. 183 (Schluß der Chronik) Handschrift 1
(Schulthaiß) zu Grunde gelegt, und das letztere ist auch insofern er-
wünscht, als der Herausgeber (S. XXXVII, wo von der Herstellung
der Ausgabe gesprochen wird) bezeugen kann, daß die Orthographie
dieser Haupthandschrift im Allgemeinen eine gute sei. Die von Dier-
auer getroffene Eintheilung des Textes in 197 Kapitel, mit Columnen-
titeln, erleichtert die Uebersichtlichkeit in hohem Grade. Die Varianten
und Zusätze der neueren Handschriften finden sich unter dem Texte
vollständig verzeichnet.
Ganz besonders aber hat der Herausgeber, mit jener Genauigkeit
und Vollständigkeit der Arbeit, der einsichtigen Selbstbeschränkung,
die seine wissenschaftlichen Leistungen stets kennzeichnet, dem Com-
mentar den größten Fleiß zugewandt. Berichtigungen, Ergänzungen
zu den Aussagen des Textes, topographische, chronologische, über-
Chronik der Stadt Zürich, mit Fortseteungen, herausg. von Dierauer, 587
haupt Erläuterungen jeglicher Art, dann ausgedehnte Litteraturnach-
weise sind gegeben; große Sorgfalt wurde auch der Erklärung der
zahlreichen Personennamen zugewandt, so z.B. S. 96 ff. den in den
Fehdebriefen bei Ausbruch des Sempacher Krieges erwähnten Per-
sönlichkeiten. Dem Benutzer der Edition ist auf diese Weise in einem
Umfang, der auch den weitgehendsten Anforderungen entspricht, das
nothwendige Material zum Verständnis des Textes dargereicht. Ein
Glossar und ein Namenregister, in denen in höchst erwünschter Weise
auch die Ziffern der Zeilen angegeben sind, finden sich angehängt.
Der Herausgeber hat sich um die schweizerische historische
Quellenkunde durch diese längst erwartete Erfüllung einer wichtigen
Aufgabe ein wahres Verdienst erworben. Wenn es ihm möglich sein
wird, in einem weiteren Bande der »Quellen«, so wie es ursprünglich
geplant gewesen war, auch noch das im weiteren Sinn um die eigent-
liche Zürcher Chronik sich gruppierende Material zu edieren, wird
ihm neuer Dank entgegengebracht werden.
Zürich, 26. September 1900, G. Meyer von Knonau.
Die Zürcher Stadtbüeber des XIV. und XV. Jahrhunderts. Auf Veranlassung
der Antiquarischen ‘Gesellschaft in Zürich herausgegeben von H. Zeller-
Werdmüller. II. Band. (VI u. 422 S. gr. 8°). Leipzig, S. Hirzel, 1901.
Auf den GGA., 1900, S. 662—669, besprochenen Band I der
Edition der Zürcher Stadtbücher folgt der über die Jahre 1412 bis
1428 reichende zweite Band. Er enthält die schon dort, S. 664, er-
wähnten Stadtbücher III — das Rathsbuch des Großen Raths der
Zweihundert — und Va — das Rathsbuch des Kleinen Rathes —, die
neben einander über den bezeichneten Zeitraum sich erstrecken.
Eine verhältnißmäßig kurze Epoche tritt aus diesen Aufzeichnungen
an das Licht. Allein es ist eine Zeit kräftigster Entwicklung, in der
die individuelle Thätigkeit der Bürgermeister, voran des Heinrich
Meiß, sich deutlich heraushebt. Zürich fühlt sich noch als Reichs-
stadt und es hält enge Beziehungen zu König Sigmund ; aber zugleich
steht es mit Bewußtsein, und daneben in fester Betonung auch der
eigenen Interessen, im eidgenössischen Verbande, und mit Glück be-
ginnt die Stadt durch Erwerbung landesherrlicher Rechte ein eigenes
Gebiet für sich abzurunden. In diesen Worten hat der Herausgeber
(S. II) die sechszehn Jahre richtig gewürdigt. Schreiber der beiden
Stadtbücher ist der Stadtschreiber Nell, über den (S. IV und V)
noch einige biographische Daten nachgebracht werden; jedenfalls war
er 1432 schon länger nicht mehr am Leben. Besonders Buch III ist ein
ganz in sich abgeschlossenes ausgezeichnet erhaltenes Protokollbuch,
in der Hauptsache eben durchaus ein Werk Johannes Nells, im All-
588 Gott. gel. Ans. 1901. Ne. 7.
gemeinen streng chronologisch geordnet. Stadtbuch Va dagegea
enthält am Ende, am Schluß der Protokolleintrage, noch ein besor-
deres Heft mit Copieen eingegangener oder abgeschickter Schreibea
oder von Zürich nur mittelbar berührenden Actenstücken.
Gleich dem ersten Bande, bringt auch diese Fortsetzung ebenn
wohl Beiträge zur Geschichte der auswärtigen Politik, als zu der-
jenigen der inneren Entwicklung des erstarkenden Staatswesens.
Buch III ist in der ersten Hinsicht weit reicher, als das Rathsbuch
des Kleinen Rathes.
Schon gleich einer der ersten Einträge des Stadtbuches III be-
leuchtet eine der häufigen Störungen der friedlichen Ordnung. In
Nr. 2 und 3, von 1412, tritt ein Dynast, Graf Wilhelm von Montfort-
Bregenz, entgegen, der in Folge von Selbsthülfe der Freiheit beraubt
worden war; die Zürcher hatten für den in ihr Bürgerrecht einge-
tretenen und durch die Ritterschaft des St. Georgen-Bundes einge-
kerkerten Hermann von Hünwil keine Genugthuung bekommen kon-
nen, und deswegen lag der Graf in Zürich gefangen. Eine ganz
klägliche Persönlichkeit, obschon der Sohn eines ehemaligen Schult-
heißen von Zürich, war der 1412 (Nr. 11) als »StraGrauber< in Haft
liegende »her Hans von Seon«, der gleiche völlig verkommene Mensch,
den wieder Buch Va in Nr. 171 als Todtschläger und Nr. 243 und
244 als wüsten Friedensbrecher aufführen; doch ist auch Nr. 31 in
Va sehr bezeichnend, nach der dem Grafen Hans von Löwenstein
durch den Nachrichter in Zürich ein Ohr abgehauen wurde, dafür,
daß er 1414 dem Wirthe zum Schwert zwei Leintücher gestohlen
hatte. Nr. 82 von Buch III ist bemerkenswerth wegen der Nennung
des Stadtschreibers Nell 1416: der Metzger Rudolf Hemmerli, selbst
ein Zürcher, der wegen unredlicher Thaten schon mehrfach gebüßt
worden war, hat mit einigen Mitschuldigen den Stadtschreiber be-
raubt und gefangen genommen, und dafiir wird diesem Frevler das
freie Geleite versagt. Beachtung verdienen ferner Nr. 142, 191 und
192. In der von dem Berner Johannes Gruber wegen eines Erb-
streites gegen Zürich und andere Eidgenossen, seit 1416 gegen die
gesammte Eidgenossenschaft angehobenen Fehde hatte Graf Itelfrits
von Zollern sich Gruber und dessen Helfershelfer Reinhold von Urs-
lingen »Herzog von Schiltach< angeschlossen, während dessen Bruder
Graf Friedrich von Zollern sich 1417 in der 8. 113 n. 1 aus dem
Zürcher Staatsarchiv abgedruckten Urkunde gegenüber Zürich ver-
pflichtete und versprach, »den egenanten Graf Itel Fritzen< (d.h. also
den ihm verfeindeten eigenen Bruder) zu »ertöden«, worauf Zürich
ihm einen Vorschuß von 150 rheinischen Gulden lieferte; aber Graf
Friedrich, der in der Sache nichts ausgerichtet hatte, verlangte jetzt
1418 Aufschub für Zahlung des vorgeschossenen Geldes und ein wei-
Die Zürcher Stadtbücher des XIV. und XV. Jahrhunderts. II. Band. 589
res Darleihen, da er doch einen der Mitschuldigen Grubers ge-
ıgen halte, andere in Hechingen belagere; hernach hinwider 1422
ınte Zürich ein Hülfsbegehren der Reichsstädte, die jetzt, gemein-
m mit Itelfritz, den Grafen Friedrich auf der Burg Hohenzollern
lagerten, von sich ab. Wieder ein anderer Beweis für Störung der
entlichen Ordnung durch adlige Willkür ist 1419 — Buch Va:
. 107, 108, 109 — der Ueberfall von Pilgern durch Hermann, ge-
nnt Bick, von Hohen-Landenberg; auch ein Anderer des gleichen
schlechtes, Beringer von Landenberg-Grichensee, erscheint 1422
d 1428 (Buch UI: Nr. 181, Buch Va: Nr. 221) als schuldig,
rcherische Angehörige der Freiheit beraubt zu haben.
Sind hier kleine Fehden, Händel mehr zufällig privater Art, häß-
he Raubthaten, die das Sinken der feudalen Gliederungen ver-
then, durch Einträge in das Licht gerückt, so sind andere Dinge
n höherer politischer Bedeutung.
Wie schon gesagt, stand Zürich in vielfacher Verbindung mit
jnig Sigmund, und besonders als sich der König während des Con-
anzer Concils 1415 veranlaßt sah, gegen den geächteten Herzog
‘iedrich von Oesterreich die Eidgenossen in die Waffen zu rufen,
wies sich diese Gemeinschaft der Interessen unverkennbar. Eine
oße Menge von Einträgen in Buch III, aus dem Jahre 1416 und
r folgenden Zeit zeigt das ganz deutlich. Alsbald tritt dann nach
‘oberung des Aargaues Baden als wichtiger Gewinn für Zürich in
n Vordergrund. Wegen Schleifung der dortigen Veste wird an
gmund geschrieben (Nr. 44), dann ein zürcherischer Vogt für Baden
ıgesetzt (Nr. 45), weiter an die Eidgenossen der Antrag gestellt,
3 Oesterreich abgenommenen Gebiete als gemeineidgenössischen Be-
z zu behandeln (Nr. 46), und so folgen im Weiteren Anordnungen
ver die Neubesetzung des Raths zu Baden, nachher in Buch Va
Ir. 63, 64) bezügliche Abrechnungen. Zu 1421 (von Buch III: Nr.
‚4 an) ist von der Hülfeleistung zumKriegegegen die Hussiten die Rede.
Sehr zahlreiche Einträge in Buch III haben die auf Wallis und
f die Festsetzung. der Eidgenossen an der Südseite der Alpen —
ı Eschenthal, am Tessin, besonders in Bellinzona — bezüglichen
"agen zum Gegenstande; 1418 suchte Zürich um jeden Preis den
ısbruch des drohenden Krieges zwischen Bern und Wallis zu ver-
ten und schickte seine beiden Bürgermeister auf einen Tag zur
»rmittlung nach Meiringen (Nr. 137), und als 1422 die Zusage einer
ilfe gegen den Herzog von Mailand — »reis gen Lamparten< —
mer dringender von den Eidgenossen begehrt wurde, näherte man
+h in Zürich nur allmählich, nach langer Ablehnung, dem Gedanken
ser Hülfeleistung und schickte 1425 gleichfalls ein Contingent über
8 Gebirge. Zürich theilte im Wesentlichen in diesen Dingen, die
590 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
für die Eidgenossenschaft nothwendigerweise neue weitgreifende Kraft-
anstrengungen herbeiführen mußten, die vorsichtig zurückhaltende
Politik von Schwyz, das, besonders in der Walliser Angelegenheit
(vgl. Nr. 151 und 152, von 1419), die aggressive Auffassung der an-
deren Waldstatte nicht billigte.
Ueberhaupt ist von der Mißstimmung, die bald darauf zwischen
Zürich und Schwyz Platz griff und die Eidgenossenschaft von 1437 an
in den verderblichen inneren Krieg stürzte, noch nichts zu sehen.
Bei dem späteren Ausbruche der Entzweiung schoben zwar als einen
Beschwerdepunkt gegen Zürich die mit den Schwyzern enge verbur-
denen Glarner vor, daß Zürich dem Lande Glarus ein Bündnis mi
dem Bischof und dem Gotteshause Cur widerrathen habe — nur mw
dann Cur, Gotteshaus und Stadt, 1419 in sein eigenes Burgrecht auf-
nehmen zu können —, unter dem Vorgeben, das sei geschehen, um dea
Bischof um so eher mit dem Grafen von Toggenburg, der gleichfalls
dem Zürcher Burgrecht angehörte, aussöhnen zu können. Doch aus
dem Eintrage Nr. 135 des Buches III, vom 27. August 1418, schließt
vielmehr der Herausgeber (S. 107 n. 1), daß dieses Bündnis der Zür-
cher mit Cur, eben achtzehn Jahre später, in entstellender Weise
gehässig gedeutet wurde, da nämlich Zürich gerade schon 1418 >ummb
den byschof von Cur und den von Toggenburg< mit Vermittlung sich
alle Mühe gab (vgl. dann weiter Nr. 156 bis 160 von 1420, Nr. 140
und 141 von 1421)'). Uebrigens gaben die Beziehungen zu dem
Grafen Friedrich VII. von Toggenburg auch sonst Zürich zu thun
Den wichtigen Platz Feldkirch, den der Graf aus dem selbstver-
schuldeten Mißgeschick des Herzogs Friedrich von . Oesterreich an
sich gebracht hatte, half Zürich 1417 belagern (Nr. 109 und 110,
auch schon Nr. 86); ebenfalls 1417 handelt es sich um ein Darleihen
für den Grafen auf Sargans, Windegg und Gaster (Nr. 104); in Han-
deln zwischen dem Grafen und den Appenzellern 1428 nahm sich die
Stadt ihres »burgers« an (Nr. 262, 265 und 266).
Eine hervorhebenswerthe Mahnung richtete Zürich 1418 an die
Stadt Schaffhausen (Nr. 130). Diese nördliche Nachbarin war infolge
der Aechtung Herzog Friedrichs, in Aufhebung der 1331 geschehenes
Verpfändung an das Haus Habsburg, wieder reichsfrei gewordes,
und nun wurde sie von Zürich aufgefordert, sich nicht vom Reiche
drängen zu lassen, sondern Reichsstadt zu bleiben.
In dieser ebenso mannhaften, als zugleich vorsichtigen Politik,
die sich von dem bald danach unter Bürgermeister Stüssi von 1430
an eintretenden blinden Dazwischenfahren und hitzigen Vorwärts
treiben so wohlthuend unterscheidet, sieht der Herausgeber mit Recht
1) So fällt auch hiernach das Urtheil entgegen der GGA. von 1894, S. 70,
charakterisiorten Auffassung Bütlers, in dessen Abhandlung über Friedrich VIL, sus
Die Zürcher Stadtbücher des XIV. und XV. Jahrhunderts. Il. Band. 591
vorzüglich die Thätigkeit des Bürgermeisters Meiß ausgesprochen.
Die Achtung, die Meiß entgegengebracht wurde, fand 1424 ihren
Ausdruck, als Räthe und Bürgerschaft eine Verläumdung ihres Bür-
germeisters durch einen Nidwaldner Tagsatzungsboten als öffentliche
Angelegenheit anerkannten (Nr. 226). Ganz besonders war eben auch
die geschickte Vergrößerung des Zürcher Gebietes Meiß zu verdanken.
Eine große Zahl von Einträgen gehört in diesen Zusammenhang der
Dinge. Zu den schon vorher herangezogenen Gebietsstücken zählte
die Herrschaft Grüningen, die Zürich 1408 als ein Pfand von Oester-
reich von den Gebrüdern Geßler, den Pfandinhabern, erworben hatte,
und wie gegenüber den Herzögen von Oesterreich selbst, die an
Wiedereinlösung der Pfandschaft dachten, ganz wie bei anderen Ver-
suchen, hier sich festzusetzen, verhielt sich Zürich entschieden ab-
lehnend, so 1412, als der in Zürich neu zugewanderte reiche und
anspruchsvolle Geldmann Göldli Grüningen von der Stadt zu lösen
wünschte (Nr. 12, ferner Nr. 20 und Nr. 23 von 1414); 1416 be-
willigte dann Zürich die Bestätigung des Wochenmarktes im Städt-
chen Grüningen (Nr. 89), und deswegen geriethen die, wie sie mein-
ten, dadurch beeinträchtigten Rapperswiler in solche Aufregung, daß
sie — seit Herzog Friedrichs Aechtung ebenfalls Reichsstädter —
eine Verwendung König Sigmunds bei Zürich veranlaßten (abgedruckt
S. 66 in n. 1), worauf Zürich seinerseits 1417 in Nr. 114 dem Kö-
nige — dazu noch über andere vorliegende Fragen — antwortete.
Außerdem wurde aber auch schon die Erwerbung des nachher wich-
tigsten Theiles des Kantonalgebietes, der Grafschaft Kiburg, 1418
ernsthaft erwogen, dann 1424 mit Erlaubnis Sigmunds die Sache mit
der Pfandinhaberin Gräfin Kunigund von Montfort, Gemahlin des
vorhin erwähnten Grafen Wilhelm, in Ordnung gebracht, allerdings
so, daß auch dem Könige, dem an Stelle des geächteten Herzogs
das Lösungsrecht gebührt hätte, eine Summe auf das Pfand vorge-
streckt werden mußte (Nr. 127 und 128, Nr. 216 und 221, wozu
n. 1 von S. 185).
Der weit größte Theil der Eintragungen in Buch Va, aber auch
sehr viele von Buch Ill, beziehen sich dagegen auf innere städtische
Angelegenheiten, polizeiliche Anordnungen und ähnliche Fragen.
Mannigfache, Ordnungen und Vorschriften, Ertheilung von Erlaub-
nissen, besonders in Vermögensangelegenheiten von Bürgern, in Vor-
mundschaftssachen, und dergleichen, die verschiedenartigsten Verbote,
ferner Urfehden und Verbannungen, viele andere bemerkenswerthe
Einzelheiten fallen auf dieses Feld; besonders zahlreich sind wieder
Münzverordnungen, Abrechnungen mit Beamten, Festsetzungen von
Preisen, Ausschreibungen von Steuern und ähnliche finanzielle Be-
592 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 7.
schlüsse. Nur beispielsweise mögen da noch einige Punkte heraus-
gehoben werden.
Für die Rathsverhandlungen stellt Nr. 118 von Buch III fest,
daß als Sachwalter ihrer Gäste auftretende Wirthe, die im Rathe
sitzen, in Ausstand gehen sollen, ebenso Nr. 120 das Gleiche für im Rathe
sitzende Vogt- und Lehnsherrn bei Behandlung von Angelegenheiten
ihrer Lehnsleute ; Nr. 217 verbietet, über Dinge, die nicht vom Rathe
aus vorgelegt worden sind, im Großen Rathe anzufragen; nach Nr. 24
und 25 von Buch Va sind Mitglieder der beiden Räthe für das, was
sie im Rathssaale sagen, nicht verantwortlich. In Nr. 54 von Buch DI
ist die Anlage neuer Weinberge verboten, in Nr. 55 das Verbot für
eine Stelle, wo wegen zu großer Höhe für die Anlage ein Gedeihen
der Weinrebe ausgeschlossen war, wiederholt. Sehr detailliert ist
unter den Ordnungen für die Schiffer diejenige für die Niederwasser-
Schiffahrt, für die Benutzung des Flußwassers von Zürich abwärts,
in Nr. 241 von Buch Va. Auch auf bloßen Versuch von Selbst-
mord steht Verbannung (Va: Nr. 156, 160), und interessant ist Nr.
111 von Buch IJ, das Gericht über den Leichnam eines Selbst-
mörders, eines Geistlichen, der aus dem Kirchhof wieder ausgegraben
und in einem Faß in den Fluß, in dem er sich ertränkte, geworfen
werden soll, doch sichtlich nur aus Nachgiebigkeit gegenüber dem
Aberglauben der Eidgenossen, die durch das Land schreien und das
arge Unwetter auf die Bestattung des Selbstmörders in geweihter
Erde zurückführen. Oder es sei auf die Behandlung der Judenfrage
hingewiesen: 1423 entzieht Zürich ihnen das Aufenthaltsrecht, er-
theilt aber noch im gleichen Jahre die Bewilligung an einen jüdischen
Arzt, prüft 1424 die Frage, ob Juden zugelassen werden sollen, und
thut das bei einigen Juden, was 1425 wiederholt wird (Buch II:
Nr. 196, 205, 225, 229, 257).
Zu dem reichen nach den verschiedensten Richtungen aufschluß-
reichen Inhalte der beiden Bücher fügte der Herausgeber abermals
eine Fülle belehrender Anmerkungen, die die Benutzung des Werkes
nach jeder Seite so sehr erleichtern und auch dem einheimischen
Leser eine reiche Auswahl von Aufschlüssen bringen. Besonders hat
er sich dabei bemüht, die Notizen der Stadtbücher durch ander-
weitiges Material, das vielfach wörtlich eingeschaltet ist, aus dem
Staatsarchiv, zu erläutern und zu ergänzen. Vorzüglich wird auch
die culturgeschichtliche Forschung hier neuerdings gern schöpfen.
Zürich, 16. Mai 1901. G. Meyer von Knonau.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof, Dr. Georg Wentzel in Gottingen.
August 1901. Nr. 8.
Blass, F., Die Rhythmen der attischen Kunstprosa: Isokrates-
Demosthenes-Platon. Leipzig, Teubner, 1901. XI und 199 S.
Blass stellt in diesem Buch eine neue Theorie über die Rhyth-
men der attischen Kunstprosa, speziell des Isokrates, Demosthenes
und Platon auf, die, wenn sie richtig wäre, von großer Bedeutung
für die ästhetische Beurteilung sowie für die Textkritik der genann-
ten Schriftsteller sein würde, wie sie denn auch von dem Verf. selbst
nach diesen Gesichtspunkten ausgebeutet wird. Leider vermag sich
jedoch der Ref. nicht zu der mit gewohnter Gründlichkeit vorge-
tragenen Ansicht zu bekehren.
Das höchste Prinzip bei der Behandlung eines so schwierigen
Problems, wie es der Rhythmus der Prosa ist, muß m.E. eine scharfe
Interpretation der von den maßgebenden Autoritäten des Altertums,
besonders Aristoteles und Theophrast aufgestellten Theorieen sein,
die für uns so lange als verbindlich zu gelten haben, als wir sie
nicht, wozu a priori wenig Grund und Aussicht ist, durch bestimmte
Argumente als falsch erweisen können. In dieser prinzipiellen For-
derung glaube ich mich mit B. eins zu wissen, denn auch er geht
von den genannten Autoritäten aus und glaubt offenbar, daß die
praktische Analyse zahlreicher Partieen aus Isokrates, Demosthenes
und Platon, die er im zweiten Teil gibt, durchaus im Einklang mit
der antiken Theorie steht. Dieser Glaube beruht aber auf einer
Selbsttäuschung ; seine Analyse würde m. E. von den analysierten
Schriftstellern noch weniger verstanden worden sein als die von B.
selbst mit Recht verurteilte des Dionysios von Halikarnass.
Das — mit Aristoteles selbst zu reden — zeärov petdog der
B.schen Argumente ist seine Definition des Rhythmus der Prosarede.
Wir anderen, und B. selbst in seinen früheren Schriften, waren der
Meinung, daß der Rhythmus der Kunstprosa an die nach Kola ge-
gliederte Periode gebunden sei. Das wird von B. jetzt durchaus in
Abrede gestellt; aber die Art, wie er die entgegenstehenden antiken
Zeugnisse beseitigt, ist nicht zu billigen. Ueber Aristoteles sagt er
Gött, gol. Anz. 1901. Nr. 8. 40
594 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
(S. 14), die Lehre von den prosaischen Rhythmen sei bei ihm ganz
entschieden nicht mit der von den prosaischen Perioden und Kola
verknüpft. Nun aber sagt dieser doch kurz und bündig (Rhet. II 9.
1409b 5) dgıduov Eyer n Ev nepiodoıg Agéig: diese Worte citiert
auch B. (S. 15,1), aber nur nebenbei, wodurch allerdings seinen
Lesern, denen dieser Satz nicht grade im Gedächtnis ist, die That-
sache verborgen bleibt, daß Aristoteles ausdrücklich den Rhythmus
an die Periode, d.h. den nach x@da gegliederten Satz, bindet.
Ebenso wenig vermag B. das Zeugnis des Theophrast zu beseitigen,
das Cicero de or. III 185 f. beibringt: si numerosum est ..., quod
metiri possumus intervallis aequalibus, recte genus hoc numerorum,
dummodo ne continua sint, in orutwnis laude ponetur. nam si rudis
et impolita putanda est illa sine intervallis loquacitas u.s. w. (186).
Numerus autem in continuatione nullus est; distincho et aequalium aut
saepe variorum intervallorum percussio numerum conficit ....
Membra illa modificata esse debebunt, quae st in extremo breviora sunt,
infringitur ille quasi verborum ambitus, stcentm has ora
tionis conversiones Graect nominant. Um nicht zugestehen
zu müssen, daß Theophrast hiernach den Rhythmus von der ge
gliederten Periode abhängig gemacht hat, zerreißt B., der doch sonst
zu solchen Analysen nicht geneigt ist, hier die straffe Beweisführung
Ciceros, indem er behauptet (S. 16), Theophrast habe zwar, wie
Aristoteles, die Lehre von den Perioden nach der von den Rhyth-
men gegeben, aber die Verknüpfung beider Lehren habe erst
Cicero hinzugethan : eine Behauptung, die sich nicht nur dadurch
widerlegt, daß Cicero am Schluß dieser Stelle (187) ausdrücklich auf
seine periputetischen Gewährsmänner hinweist, deren Führer Theo-
phrast er auch an ihrem Anfang (184) citiert hatte, sondern auch
dadurch, daß er kurz zuvor (171 ff.) für den an die Periode gebun-
denen Prosarhythmus Isokrates und dessen Schüler Naukrates citiert,
offenbar aus Theophrast, denn diesen citiert er dafür in der fast
wörtlich übereinstimmenden Stelle or. 228. Aber B. glaubt auch
einen >direkten Beweis« gegen die Verknüpfung von Rhythmen und
Kola gefunden zu haben (S. 16). Nach der bekannten Geschichte
bei Cicero or. 190 hat der Peripatetiker Hieronymos dem Isokrates
30 Verse aufgemutzt; aber, bemerkt Cicero dazu, er ist dabei bös-
willig verfahren, denn er hat diese Verse nur dadurch zusammen-
gebracht, daß er die Worte über die Satzinterpunctionen hinweg mit
einander verband. Also, sagt B., hat nach Hieronymos (und mithin
den Peripatetikern überhaupt) die Satzinterpunction, d.h. also die
Periodengliederung, mit dem Rhythmus nichts zu thun gehabt, und
erst Cicero, für den beides allerdings eng zusammenhing, hat das
Blass, Die Rhythmen der attischen Kunstprosa. 595
Verfahren des Hieronymos als »böswillig< bezeichnet. Hier begeg-
nen wir bei B. wieder der petitio principii, daß das rhythmische Ge-
fühl Ciceros von dem seiner peripatetischen Quellen ein diametral
verschiedenes gewesen sei, eine Behauptung, die von ihm nicht be-
wiesen ist und, von allem anderen abgesehen, schon deshalb wenig
wahrscheinlich ist, weil Cicero sich dann doch nicht grade solche
Gewährsmänner ausgesucht haben würde. Doch wozu noch viele
Worte? Es genügt festzustellen, daß die Abhängigkeit des Prosa-
rhythmus von der periodischen Gliederung durch sämtliche griechi-
sche und lateinische Zeugen, primäre und autoritative wie secundäre,
erhärtet ist. Wenn mithin Blass in der zusammenfassenden Ueber-
sicht der Resultate (S. 185) dem modernen Leser, falls er etwas von
der Wirkung des Prosarhythmus spüren wolle, den Rat gibt: »er
mache keine großen Pausen, wo Interpunktion ist, oder ein neuer
Satz oder Teil eines Satzes beginnt. Auch die Schriftsteller selbst
müssen ohne große Pausen vorgetragen haben<, so werden wir uns
hüten, diesem eigentümlichen Rate zu folgen, zu dem B. nur durch
den Zwang seiner eigentümlichen Theorie gedrängt worden ist.
Ref. mußte bei diesem Punkt ausführlicher werden, weil er für
den Verf. der Ausgangspunkt für die praktische Darlegung seiner
Theorie ist. Um so kürzer dürfen wir bei dieser Praxis verweilen,
da sich uns die Theorie als nicht haltbar erwiesen hat. Aber auch
abgesehen davon ist diese Praxis so compliciert, daß Ref. ihr zu
folgen außer stande gewesen ist; sagt doch B. selbst (S. 41), es
handle sich um etwas »mit Fleiß Verstecktes<. Am eigentümlichsten
ist dabei wohl, daß der Verf. die Behauptung aufstellt (vgl. S. 184f.),
Rhythmen könnten in einander übergreifen, so daß eine oder meh-
rere Silben, mitunter viele, gleichzeitig verschiedenen Rhythmen an-
gehören<; z.B. soll (um aus den mehreren Hunderten von Beispie-
len ein ganz beliebiges S. 52 herauszugreifen) ein Satz des Isokrates
nach B. so rhythmisiert werden (die rhythmisch zu wiederholenden
Silben in Klammern): &xısrag tots yuyvopevors 006% &v = uulvsodaı
xal rapappovsiv tuds (xal rapappoveiv tuds) vouloer = -Ev, ol
pilorıuovusda pty E- (da piv Earl tots tov neoydvov Epyoıs = xal
thy nökıv Ex tév été noaydevrov. Dieses Uebergreifen von Silben
soll sogar zwischen Hauptteil der Rede und Epilog statthaft sein
(S. 56)! Auf diese Weise analysiert B. eine große Anzahl von Par-
tieen aus Isokrates, Demosthenes und Platon, und stellt die Resul-
tate in Schemata zusammen, die in ihrer Verzwicktheit auch dem
Auge deutlich machen, daß dies nicht der richtige Weg sein kann.
Bemerkt sei noch, daß B. seiner Rhythmisierung zuliebe auch nicht
vor zahlreichen, z. T. recht eingreifenden Textänderungen zurück-
40 *
596 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
schreckt, und zu einer eigentümlichen Hiattheorie seine Zuflucht
nimmt, wonach z.B. Aysı eivaı oder dovAoı Zaovraı keine verbote-
nen Hiate sein sollen (S. 38).
Um zusammenzufassen : nach Ansicht des Ref. muß die neue
Theorie und Praxis abgelehnt und zu den einfachen und klaren Dar-
legungen unserer alten Gewährsmänner zurückgekehrt werden, die
B. selbst früher als richtig anerkannt hat und auf Grund deren er
damals zu schönen und bleibenden Resultaten gelangt ist.
Breslau, 1. August 1901. E. Norden.
Delbrück, H., Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der po
litischen Geschichte. 1 Theil. Das Alterthum. Berlin 1900. Georg
Stilke. XV 533 8S. 8°.
In diesem Buche hat Hans Delbrück seine früheren Studien zu
den Perserkriegen, zur römischen Taktik und über Perikles zusam-
mengefaßt und mit den erforderlichen Aenderungen zu einer Ge-
schichte der Kriegskunst im Alterthum erweitert, die in 7 Büchern
von den Perserkriegen bis zu den Bürgerkriegen zwischen Cäsar und
Pompeius reicht. Die einzelnen Theile sind nicht ganz gleichartig:
einige sind kurz gefaßt, dagegen das 1. 5. und 7. Buch, die Perser-
kriege, der 2. punische Krieg und die Kriege Cäsars, heben sich
durch Ausführlichkeit und eingehendere Behandlung merklich ab und
sind als die Hauptstücke des Werks zu bezeichnen.
Der leitende Gedanke des Ganzen ist Kritik, und zwar Sach-
kritik, die an die Ueberlieferung wie an die herrschenden Vorstel-
lungen unserer Gelehrten angelegt wird. Delbrück fragt überall:
wie stehen die Nachrichten der Alten und die Ansichten der Neue-
ren mit den Gesetzen der Kriegführung und mit den sonstigen be-
dingenden Umständen, mit Ort, Zeit und Staatsverfassung in Ein-
klang? Er hat sich, wie er in der Vorrede berichtet, durch persön-
lichen Verkehr mit kundigen und erfahrenen Militärs, durch das
Studium der neueren militärischen Litteratur ein Urtheil über die
Gesetze der Kriegführung verschafft und leuchtet nun mit seinem
Licht in die antike Kriegsgeschichte hinein. Wenn die überlieferten
Nachrichten die Probe nicht bestehen, so werden sie verworfen oder
umgedeutet.
Delbrück ist zwar nicht der erste, der dies unternommen hat,
aber er wendet sein Princip viel allgemeiner und kräftiger an als
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 597
vorher geschehen ist. Bei diesem Verfahren, wo der Kritiker die
eigene Einsicht zum Maßstab der Geschichte macht, besteht die Ge-
fahr, daß er seine Einsicht überschätze und hingegen den Werth der
Ueberlieferung zu gering achte. Immer wird es hier wie anderswo
auf richtige Abschätzung der Quellen ankommen; einem zuverlässigen -
Zeitgenossen gegenüber kann nicht erlaubt sein, was bei einem lange
nach den Ereignissen schreibenden Rhetor ohne Bedenken ist. In
dieser Hinsicht freilich kennt unser Verfasser keinen Unterschied ;
alle, auch die besten und zuverlässigsten Autoren, die er selbst als:
solche anerkennt, müssen sich gelegentlich starke Zurechtweisungen
gefallen lassen.
Der Verfasser hat schon in seinen früheren Schriften durch leb-
hafte Anregung verdienstlich gewirkt und viel Lob geerntet. Er
hat der Alterthumswissenschaft kräftig zu Gemüthe geführt, daß sich
auch die antike Kriegführung nicht vom Boden der Wirklichkeit ent-
fernt haben kann; er hat ein lebhaftes, wohlthuendes Gefühl für die
Bedeutung des Feldherrn, für den unschätzbaren Werth, den die
Persönlichkeit des Führers im Kriege hat. An Perikles und Hanni-
bal hat er es hervorgehoben. Mit Grund richtet sich seine Kritik
ferner gegen manche Schlachtbeschreibungen, die in der That oft
sehr viel zu wünschen übrig lassen. Da, wie bekannt, auch die
Schlachten der neueren Geschichte, wo die Quellen viel reichlicher
fließen, sehr oft unrichtig und unvollständig erzählt werden, und die
Ermittelung des wahren Herganges nicht ganz leicht ist, so werden
wir den Alten aus den Fehlern ihrer Schilderungen nicht allzu
schwere Vorwürfe machen dürfen. Es muß aber doch gesagt wer-
den, und es schadet nichts, wenn Delbrück, wie z.B. die letzte
Untersuchung des Schlachtfeldes von Sellasia gezeigt hat, zuweilen
auch fehl schießt.‘ Besonders aber ist seine Kritik gegen die
hohen Heeresziffern gerichtet, wie sie uns vielfach überliefert wer-
den. Nachdem er in seiner früheren Schrift über die Perser-
kriege die Heere der Perser und Griechen beschnitten hatte, maeht
er jetzt den hohen Zahlen durch das ganze Alterthum einen un-
barmherzigen Krieg, besonders wo es sich um Barbaren handelt,
bei den Persern, bei den Galliern, wie bei den Heeren Mithridats
und Tigrans. Man weiß in der That, wie unsicher oft die richtige
Schätzung der Heere ist, und wie oft Patriotismus, besonders aber
Rhetorik die Zahlen übertrieben haben.
Delbrück legt seiner Zahlenkritik die Bevölkerungsstatistik zu
Grunde, er behauptet, der Stand der Bevölkerung habe solche
Heeresziffern, wie sie z.B. in den Perserkriegen erscheinen, nicht
gestattet. Für das Urtheil ist also von entscheidender Bedeutung,
598 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. $.
welche Vorstellungen man sich über den Stand der Bevölkerung zu
machen hat. Hierin hat sich Delbrück an Belochs Arbeiten über
die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt angeschlossen. Be-
lochs Neigungen sind denen Delbrücks nahe verwandt; auch er ist
geneigt, die Bevölkerungsdichtigkeit der alten Welt geringer anzu-
schlagen als sonst vielfach geschieht. Hieraus ergibt sich nun zu-
gleich eine Schwäche der Delbrückschen Beweisführung: denn be-
kanntlich ist die Berechnung der Bevolkerungsziffer der antiken Welt
sehr streitig, und auch Belochs Schätzungen ruhen auf sehr ur
sicherer Grundlage. So ist neuerdings in einem Punkte die Rech-
nung Delbrücks erheblich verändert worden. Kap. 1 S. 15 behan-
delt der Verf. die bekannte Stelle des Thukydides II 13, wo die
Gesammtzahl der attischen Streitkräfte aufgeführt werden, nämlich
an Feldtruppen 13000 Hopliten, 1200 Reiter und 1600 Schützen,
ferner 16000 Hopliten als die zur Vertheidigung der Stadt bestimm-
ten ältesten und jüngsten Jahrgänge mit Einschluß der kriegspflich-
tigen Metöken. Delbrück meint, Thukydides sei ungenau, seine
Zahlen umfaßten in Wahrheit nicht bloß die Hopliten, die bekannt-
lich aus den drei ersten Censusklassen genommen wurden, sondern
die ganze waffenfähige Bürgerschaft mit Einschluß der letzten Classe,
der Theten, und er habe zu sagen vergessen, daß diese in den 16000
des zweiten Aufgebots mit einbegriffen seien. Delbrück berechnet
demnach die gesammte Bürgerschaft auf 36000 Mann. Aber vor
kurzem ist E. Meyer zu ganz andern Ergebnissen gelangt '), was um
so mehr hervorzuheben ist, als sich Meyer früher der Belochschen
Rechnung angeschlossen hatte. Er berechnet die attische Heeres-
macht alles einbegriffen auf 34300 Mann, die Bürgerzahl der drei
oberen Classen auf 35500, die Gesammtzahl der Bürger auf 55500,
und ich glaube, daß diese Rechnung der Wahrheit viel näher kommt
als die Beloch-Delbrücksche, die den Worten des Thukydides offen-
bare Gewalt anthut und einen guten Theil der Bürgerschaft, die für
den Flottendienst bestimmten Theten, viel zu gering anschlägt, ja
fast unberücksichtigt läßt.
Bei so unsicherer Grundlage wird auch die Kritik über eine
subjective Gewißheit nicht herauskommen. Diese Gewißheit ist nun
freilich beim Verfasser im hohen Grade vorhanden; die Sachkritik,
aus der Delbrück die Einsicht schöpft, wie die Dinge hätten sein
oder sich ereignen müssen, ist stärker als die besten Zeugnisse, und
diese müssen im Falle des Widerspruchs weichen oder doch geändert
werden. Vielleicht am seltsamsten berührt uns das Verfahren gegen-
1) Forschungen zur alten Geschichte II 149 ff.
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 599
über dem polybianischen Bericht von der Schlacht bei Kannä. Von
diesem Bericht ist D. geradezu begeistert; er stammt nach seiner
Meinung von keinem geringern her als von Hannibal selbst, der ihn
einem griechischen Begleiter in die Feder dictierte (S. 279 f. 289).
Ueber diese Vermuthung läßt sich nicht viel sagen, sie läßt sich
weder beweisen noch widerlegen. Was mich aber wundert, ist, daß
Delbrück dieses nach seiner Meinung von Meisterhand entworfene, so
zuverlässige und anschauliche Schlachtbild dennoch stark corrigiert und
es z.B. für unrichtig erklärt, wenn Polybios III 113,2 erzählt, die Romer
hätten ihre Front nach Süden gehabt. Dies scheint ihm unmöglich,
also wird es verworfen. Aber woher nimmt er die Berechtigung
dazu? Kennt er alle maßgebenden Umstände, kennt er die Vorge-
schichte der Schlacht bei Kannä so genau, daß er es wagen kann,
wozu sich ein Historiker nicht leicht entschließen wird, die einzige
vorhandene Nachricht außer Acht zu lassen? In Wahrheit läuft
dies Verfahren doch auf Willkühr hinaus.
Der Verfasser erweist sich überhaupt als strengen Dogmatiker,
der seinen Satz allen Hindernissen zum Trotz durchführt. Dies er-
kennt man z.B. an seiner Darstellung des römischen Kriegswesens,
besonders der Kriegsverfassung. Während er auf dem griechischen
Gebiet alles was vor den Perserkriegen liegt als dunkel und unbeglaubigt
bei Seite läßt und nicht einmal für die so wichtige und vorbildliche
spartanische Wehrordnung ein Wort übrig hat, schildert er die rö-
mische Kriegsverfassung von den Anfängen, von der Königszeit und
dem Beginne der Republik an. Er glaubt hier eine streng durchge-
führte allgemeine Wehrpflicht zu erkennen, die dann seit dem zwei-
ten punischen Kriege außer Uebung gekommen sei. Zwar gibt er
zu, daß wir aus der älteren römischen Kriegsgeschichte irgendwie
brauchbare Nachrichten nicht haben, aber er citiert hier den Satz
von der continuierlichen Entwickelung der römischen Verfassung und
des römischen Rechtes, wodurch es ermöglicht wird, aus den Ein-
richtungen der späteren Zeit die ältesten Zustände auch ohne Zeug-
nisse zu erkennen. Da haben wir nun eine Thatsache, die spätere
Normalstärke der Legion von 4200.Mann, und diese setzt er an den
Anfang des Heerwesens zurück. Da nach seiner wiederholt ausgespro-
chenen Behauptung die Legion mehr eine administrative als eine militä-
rische Einheit ist, glaubt er annehmen zu dürfen, daß sich die ur-
sprüngliche Stärke unverändert erhalten, daß also zu Anfang das rö-
mische Heer eine Stärke von 4200 Mann gehabt habe. Diese Zahl
muß aber, wenn man den Umfang des ältesten Rom erwägt und
darnach mit Beloch die Bevölkerungszahl berechnet, das Gesammt-
aufgebot bezeichnen, das alle Bürger ohne Unterschied der Klassen
600 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
und Stände umfaßte, nicht blos die Besitzenden. Es war also eine
allgemeine Wehrpflicht in einer Ausdehnung, wie sie den Griechen
fremd war (S. 226). Nach diesem Princip wird dann auch die ser-
vianische Klassen- und Centurienordnung behandelt und gedeutet.
Der Ausgangspunkt seiner Ausführungen ist also die vermeintlich
uranfängliche Zahl der ältesten Legion. Aber dies ist eine gar
schwache Grundlage für einen so hohen Bau; denn es ist im Gegen-
theil nach den erhaltenen Zeugnissen der Teberlieferung wahrschein-
lich, daß die Stärke der Legion sich im Laufe der Zeit bedeutend
verändert hat, und daß die Zahl 4200 erst aus der Zeit der 35 Tri-
bus stammt. Auch das Dogma von der Continuität des römischen
Staatsrechts kann, selbst wenn es richtig sein sollte, doch auf das
militärische Gebiet nicht in der Weise angewendet werden, da hier
technische Erwägungen gelten. Staatsrechtlich ist es völlig gleich-
gültig, ob die Legion 1000 oder 3000 oder 4200 Mann zählt.
Die Nachrichten, denen zufolge die Römer in ihrem Kriegs-
wesen die Schüler fremder Völker gewesen seien, der Etrusker, Sam-
niter und Griechen, schätzt Delbrück gering. Er nimmt offenbar
an, daß die Römer alles von sich selbst hätten. Es ist wahr, daß
jene Nachrichten etwas unbestimmt lauten, aber es ist eine Tra-
dition, die als solche nicht zu verachten ist. Eins wenigstens ist
klar: die Römer haben in ihrem Kriegswesen unendlich viel von den
Griechen gelernt; ihre Kriegsverfassung ist durchaus und in allen
wesentlichen Stücken nach griechischem Muster eingerichtet. Je
tiefer man eindringt, um so mehr wird man sich davon überzeugen.
Nach dem zweiten punischen Kriege ist, wie Delbrück meint,
die allgemeine Wehrpflicht thatsächlich in Wegfall gekommen, und
das Berufsheer an Stelle des Bürgerheeres getreten, während Poly-
bios doch die Wehrpflicht als noch zu seiner Zeit bestehend schil-
dert. Der Verf. entkräftet dieses Zeugnis durch die Behauptung
(S. 385), daß Polybios ein Idealbild gebe, nicht die Wirklichkeit
schildere. Niemand kann ihm dies verwehren, aber er kann auch
nicht verlangen, daß wir ihm darin folgen. Uns ist dies ein sicherer
Beweis, daß das von ihm gezeichnete Bild der römischen Kriegsver-
fassung im wesentlichen Phantasie ist, die auf irrigen Voraussetzun-
gen beruht. So behauptet er, und das ist für seine Anschauung von
Bedeutung, die Römer hätten nach dem zweiten punischen Kriege
alljährlich etwa 50000 Mann unter den Waffen gehabt (S. 377),
was ganz und gar unrichtig ist. Die Römer haben vielmehr, wenn
keine Kriege zu führen waren, auch ihre Truppen nicht aufgeboten.
Es wurde zwar regelmälig jedes Jahr das Heer gebildet, aber wenn
es nicht gebraucht ward, wieder entlassen. So hören wir denn aus
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 601
dem Jahre 157 v.Chr., daß der Senat den Krieg gegen die Dal-
mater außer andern Gründen auch deshalb beschlossen habe, um das
Volk in Italien nicht allzulange des Krieges zu entwöhnen. Von
dauernder Unterhaltung einer ansehnlichen Kriegsmacht kann also
keine Rede sein. Allerdings kann mir der Verfasser hier entgegen
halten, daß Polybios (32, 23), der uns dies erzählt, sich geirrt habe
oder schlecht unterrichtet gewesen sei; denn mit widersprechenden
Zeugnissen findet sich Delbrück leicht ab, wenn es ihm auch zu-
weilen, wie ich aus S. 388 entnehme, etwas schwül dabei zu Muthe
wird. Außerdem hält er sich keineswegs immer an die besten Quel-
len, sondern nimmt auch mit geringeren fürlieb, wie mit Livius,
mit dem er im übrigen scharf ins Gericht geht, z.B. S. 255ff.
Gleichwohl beruht ein wichtiges Stück seines Systems, die Berech-
nung der römischen Heeresstärke im zweiten punischen Kriege, nur
auf Livius, und auch sonst hat er ihn an Stellen benutzt, wo er
wenigstens nach meiner Meinung nicht benutzt werden darf').
Noch eine andere Bemerkung habe ich zu machen. Der Ver-
fasser hat sich mit der Alterthumswissenschaft nur beiläufig be-
schäftigt, und man kann daher billiger Weise von ihm keine voll-
ständige oder correcte Kenntnis des historischen und antiquarischen
Stoffes erwarten. Er ist stark von seinen Vorgängern, von den
gangbaren Handbüchern abhängig. Nicht selten sind ihm erhebliche
Versehen und Irrthümer begegnet. Dazu gehört z.B. das Kap. 3
S. 33 über die athenische Heeresverfassung gesagte. Es heißt dort:
»In Athen gab es von Alters her vier Schätzungsklassen, von denen
die beiden oberen zu Pferde, die dritte, die Zeugiten (Ausspänner),
die ein Einkommen zwischen 200 und 300 Scheffel (Metreten) Ge-
treide, Wein oder Oel hatten, als Hopliten dienten«. Verkehrteres
läßt sich kaum denken ; denn nicht nur die Zeugiten, sondern auch
die beiden ersten Klassen dienten als Hopliten. Wunderliche Vor-
stellungen muß der Verf. nach S. 140 von der griechischen Reiterei
haben. Offenbar hat er nicht überlegt, daß die griechischen Reiter,
wie Athen, Syrakus, Thessalien u. a. lehren, eine stehende, auch im
Frieden dienende Truppe bildeten. Seltsam ist S. 305 die Schilde-
rung der römischen Armee zur Zeit des zweiten punischen Krieges.
Offenbar hat den Verfasser das Bedürfnis geleitet, einen möglichst
kräftigen Gegensatz zwischen Römern und Karthagern herauszu-
1) So stammt das S. 389 über die Freiwilligen gesagte aus den annalisti-
schen, d.h. schlechten Stücken des Livius. S. 396 theilt er in extenso die Ge-
schichte des Ligustinus mit, eine völlig werthlose, etwas antiquarisch aufgeputzte
Anecdote, die nur für Livius charakteristisch ist, nicht für die Zeit des dritten
makedonischen Krieges.
602 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
arbeiten; das Ergebnis ist ein stark verzeichnetes Bild, auf dem die
Römer als eine Bürgerwehr nach dem Muster etwa der ehemaligen
Hamburger Stadtmiliz erscheinen.
Auf einem Irrthum beruht der Satz (S. 319), daß zwischen den
Jahren 70 und 28 v.Chr. eine Massenverleihung des römischen Bür-
gerrechts nur an die Transpadaner stattgefunden habe. Der Verf.
vergiGt die umfangreichen Biirgerrechtsverleihungen Cäsars, der
Triumvirn und des Brutus und Cassius. Verwirrt und irreführend
sind die Ausführungen über das Verhältnis des Heeres zur socialen
Gliederung der Bürgerschaft in Rom (S. 391 ff, Es kommt hier
nicht zum Ausdrucke was gesagt werden mußte, daß man erst nach
dem Richtergesetz des Gaius Gracchus die Klasse der wohlhabenden
Geschäftsleute, die von Polybios noch djwoc genannt wird, Ritter
(equites) zu nennen begann, während vorher die Ritter zum guten
Theil mit den Senatoren zusammenfielen. Ebensowenig durfte ver-
gessen werden, daß der Legatus erst später zum Offizier wird. Auch
sonst finden wir in diesem Theile (Buch 6) mancherlei Versehen und
Fliichtigkeiten. Wenn es sich um Nebensachen und Kleinigkeiten
handelte, so könnte man es mit Stillschweigen übergehen, obschon
derartige Dinge einem Buche niemals zur Zierde gereichen !), aber
gerade in den wichtigsten Dingen, auf die es dem Verfasser an-
kommt, im Kriegswesen, in der Kriegsverfassung und ihren Grund-
lagen erweist er sich nicht selten als mangelhaft unterrichtet.
Nach diesen Bemerkungen gehe ich zur Besprechung der wich-
tigsten Theile des Delbrückschen Werkes über und beginne mit dem
ersten Buche, den Perserkriegen, von denen Delbrücks Kritik aus-
gegangen ist, wo sie auch vielen Anklang gefunden hat. In der
That ist anzuerkennen, daß hier manche lehrreiche, treffende und
anregende Bemerkung gemacht worden ist, aber die Hauptsache, die
Zahlenkritik in der Ausdehnung, die ihr Delbrück gegeben hat, be-
währt sich nicht. Dies läßt sich gerade am Feldzuge des Xerxes
zeigen, der ja durch seine hohen Ziffern am frühesten und mit Grund
der Kritik Anlaß zu Zweifeln geboten hat?). Es wird dazu nützlich
sein, kurz an den Verlauf der kriegerischen Ereignisse zu erinnern,
was deshalb nicht überflüssig ist, weil der Rahmen der politischen
1) Curios ist, daß S. 295 der Historiker Silenos als eine anerkannt vorzüg-
liche Quelle gepriesen wird. Weshalb Delbrück sich gerade diesen auserseben
hat, ist mir nicht verständlich.
2) Schon früher hat Amédée Hauvette, Herodote, historien des guerres M&
diques, die Delbrücksche Kritik zu widerlegen versucht. Delbrück setzt sich 8. 55
einmal mit ihm auseinander. Hauvettes Buch ist als eine gediegene Leistung anzu-
kennen, wenn ich auch in vielen Punkten anderer Meinung bin als der Verfasser.
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 608
Geschichte, in den Delbrück sein kriegsgeschichtliches Räsonnement
eingespannt hat, äußerst dünn und ärmlich, zuweilen auch etwas
seltsam ausgefallen ist *).
Die Grundlage des griechischen Widerstandes gegen die Perser
war zu Lande der Peloponnes, der außer Argos und Achaia unter
Sparta geeinigt war, eine gewisse militärische Organisation hatte
und sich fest entschlossen zeigte, dem persischen Angriff äußersten
Widerstand zu leisten. An ihn schlossen sich Athen und einige an-
dere Gemeinden an. Ueber die Rüstungen der Verbündeten haben
wir, abgesehen vom Flottenbau der Athener, keinerlei Nachrichten,
doch dürfen wir ohne Gefahr annehmen, daß man sich nach Kräften
auf den bevorstehenden Angriff einrichtete. Als dann Xerxes heran-
zog, ward im Bundesrathe beschlossen, zunächst an der Nordgrenze
Thessaliens Stand zu halten. Zehntausend Hopliten gingen dorthin
ab, um zusammen mit der thessalischen Reiterei den Tempepaß zu
vertheidigen*). Rechnet man dazu noch die Leichtbewaffneten, an
denen die Thessaler und ihre Unterthanen Ueberfluß hatten?), so
waren wohl etwa 25000 Mann versammelt. Als jedoch die Stärke
der anrückenden Perser bekannt wurde, glaubten die Hellenen sich
mit den vorhandenen Streitkräften in Thessalien nicht behaupten
zu können; sie zogen daher ihre Truppen zurück, überließen Thessa-
lien seinem Schicksal und beschlossen jetzt an den Thermopylen
Stellung zu nehmen, im Zusammenhang mit der Flotte, die sich an
der Nordküste Euböas versammelte. Es fanden sich bei Thermopyla
3100 peloponnesische Hopliten ein, außerdem noch 700 Thespier,
400 Thebaner, die opuntischen Lokrer und 1000 Phokier*). Die
Peloponnesier waren nach der Versicherung der Verbündeten nur die
Vorhut einer größeren Macht, die jedoch in Wahrheit nicht eintraf.
Die kleine Schaar blieb allein und konnte der persischen Uebermacht
nur kurze Zeit widerstehen, da sie bald umgangen war. Leonidas,
der lakedämonische König, schickte daher die peloponnesischen Kon-
tingente zurück und opferte sich mit den Spartiaten und Thespiern
auf. Delbrück hat seine That und Leistung gut gewürdigt. Leoni-
das hielt das persische Heer eine Zeit lang auf und gab den Ver-
1) So verstehe ich nicht, weshalb Delbrück einen so großen Nachdruck auf
Orakel und Opfer legt; er scheint diese Dinge für die Hauptsache zu halten,
während sie doch nur die unerläßlichen und herkömmlichen Begleiterscheinungen
kriegerischer und politischer Ereignisse sind.
2) Herodot VII 172 ff.
3) Xenophon Hell. VI 1 8 9. 19.
4) Herodot VII 202 £.
604 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
bündeten nördlich des Isthmos, besonders den Athenern Zeit, sich zu
retten und ihr Land zu räumen.
Warum aber, so fragt man hier, schickten die Verbündeten nur
so geringe Streitkräfte nach Thessalien und an die Thermopylen’
Es gab und gibt darüber keine Nachrichten. Die Olympien und
andere Feste, von denen Herodot spricht, kommen gewiß nicht ernst-
lich in Betracht; wahrscheinlicher ist, daß die Rüstungen der Pelo-
ponnesier noch nicht fertig waren. Es war der erste große aus-
wärtige Krieg, den sie zu führen hatten, und abgesehen von Sparta
war die Kriegsverfassung der peloponnesischen, wie überhaupt der
hellenischen Gemeinden noch wenig entwickelt. Die Peloponnesier
mußten also Waffen schmieden und ihre Leute einüben und waren
damit vermuthlich noch im Riickstande. Mit einer ungenügenden
Streitmacht aber wollten die Lakedämonier sich nicht auf einen ent-
scheidenden Kampf einlassen und hielten sich daher zurück. Die
unerwünschte Folge freilich war, daß alles Land nördlich vom Isth-
mos dem Feinde preisgegeben werden mußte.
Nach dem Verluste der Thermopylen und dem Rückzuge der
Flotte von Artemision eilte das gesammte peloponnesische Aufgebot
schleunigst unter Führung des Lakedämoniers Kleombrotos an den
Isthmos. Die Zugänge wurden zerstört und man baute mit aller
Macht über die Landenge eine Mauer, die im nächsten Frühling
(479 v. Chr.) fertig ward'). Erst als dies geschehen war, sammelte
sich das peloponnesische Heer und zog gegen die Perser unter Mar-
donios ins Feld?). Also waren jetzt vermuthlich die Kriegsrüstungen
im wesentlichen und zur Genüge vollendet, so daß man hoffen
konnte, sich gegen die Perser zu behaupten. Man erkennt ohne
Schwierigkeit einen wohl bedachten Plan der Verbündeten und ihrer
Führer, der Lakedämonier. Ehe sie sich mit dem Feinde messer,
wollen sie eine ausreichende Macht beisammen haben und sich zu-
gleich in der Befestigung des Isthmos für den schlimmsten Fall
einen sichern Rückhalt verschaffen. Auch durch die dringenden Vor-
stellungen der Athener und der übrigen mittelhellenischen Bundes-
genossen ließen sie sich darin nicht irre machen.
Das Heer, welches sich jetzt unter Pausanias bei Platää sam-
melte, hatte nach Herodot IX 28 eine Stärke von 38700 Hopliten,
dazu kamen an Leichtbewaffneten 35000 Heloten und 34500 andere
Hellenen, zusammen also 108,200 Mann, die dann durch Zuzug der
Thespier auf etwa 110000 Mann anwuchsen. Delbrück hält diese
1) Herodot VIII 72. IX 10.
2) Herodot IX 7ff. vgl. VIII 131.
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 605
Zahl für weit übertrieben. Auf Grund der Ansichten, die er im An-
schluß an Beloch über die Stärke der antiken Bevölkerung gewonnen
hat, berechnet er S. 82 das Heer des Pausanias auf etwa 20000
Hopliten und 20000 Leichte ; Herodots Zahl, meint er, beruhe nicht
auf Ueberlieferung, sondern auf willkührlicher Schätzung des Autors.
Es ist zuzugeben, daß dies vielleicht, aber auch nur vielleicht für
die leichten Truppen gelten kann, von denen Herodot, ausgenommen
die Spartiaten, je einen auf den Hopliten rechnet, aber bei den letz-
teren, den Hopliten, liegt für eine solche Annahme kein Grund vor.
Um Herodots Zahlen richtig zu würdigen muß man die Einzelposten
betrachten, aus denen sich die Summe zusammensetzt, die uns der
Autor in folgender Reihenfolge aufzählt:
Lakedämonier 10000 Mann
Tegeaten 1500 »
Korinther 5000 >
Potidäaten 300 >
Orchomenier | 600 >»
Sikyonier 3000 >
Epidaurier 800 >»
Trözenier 1000 >
Lepreaten 200 >
Mykenäer und Tirynthier 400 >
Phliasier 1000 »
Hermioneer 300 >
Eretrier und Styreer 600 >
Chalkidier 400 >
Ambrakioten 500 >
Leukadier und Anaktorier 800 >
Paleer 200 »>
Aegineten 500 >
Megarenser 3000 >
Platäer 600 >
Athener 8000 >
Den Stein des Anstosses bilden für Delbrück die 10000 Lake-
dämonier; soviel, meint er, habe das Land nicht stellen können.
Wenn es sich um das Jahr 430 v. Chr. handelte, würde ich seine
Bedenken vielleicht theilen; denn damals sah Sparta ganz anders
aus als 50 Jahre früher. Dagegen für 480 v. Chr. ist in dieser
ausserordentlich blühenden und bevölkerten Gemeinde eine derartige
Leistung ohne Bedenken zuzulassen. Aber ich will von den Spar-
tanern vorläufig absehen; Delbrück hat darüber offenbar andere An-
sichten als ich; es ist ein strittiger Punkt. Prüfen wir lieber die
606 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
übrigen Zahlen Herodots; wenn sich diese als gut erweisen, so
werden wir auch die Zahl der Lakedämonier mit günstigen Augen
anzusehen haben; denn es ist klar, daß sie alle aus gleicher Quelle
stammen, und daß, was für einen Theil gilt auch für das übrige zu
gelten haben wird.
Zunächst bemerke ich als selbstverständlich, daß Herodots Zah-
len offenbar die Stärke der Kontingente bezeichnen sollen, in der
ausgerückt ward. Was ferner die Glaubwürdigkeit des ganzen Ver-
zeichnisses anlangt, so ist schon längst und mehr als einmal be-
merkt worden, was ich bei Delbrück nicht beachtet finde, daß näm-
lich die Namen der theilnehmenden Gemeinden ebenso wie die ver-
wandten Verzeichnisse der Flottenkontingente bei Artemision und
Salamis!) mit geringen, leicht erklärlichen Ausnahmen aufs genaueste
mit einer gleichzeitigen Urkunde übereinstimmen, dem bekannten
platäischen Siegesdenkmal, das sich jetzt in Konstantinopel befindet ?).
Dies erweckt ein günstiges Vorurtheil auch für die Ziffern. Ebenso
entsprechen die einzelnen Posten durchaus dem, was .wir sonst aus
etwas späterer Zeit von dem militärischen Vermögen der einzelnen
Städte glaublich vernehmen. Wenn man ferner die Kontingentzahlen
unter einander vergleicht, so stehen sie zur Bedeutung und Grösse
der einzelnen Gemeinden in möglichst richtigem Verhältnisse®). Es
würde gewiß sehr wunderbar sein, wenn es einem Fälscher oder
Dichter gelungen wäre, die Ziffern in so richtiger Abstufung zu
geben. Gegen die Mehrzahl der Ziffern hat daher Beloch und ver-
mutlich auch Delbrück nichts einzuwenden. Wem würde es auch wohl
einfallen, die 200 Lepreaten oder die 400 Hopliten aus Mykene und
Tiryns zu beanstanden ? Ebenso wenig Zweifel erwecken die 800
Ambrakioten. Ambrakia war eine ansehnliche Stadt, die im Winter
426/5 v. Chr. 3000 Hopliten zum Angriff auf die benachbarten
Amphilocher schicken konnte, und zwar war dies nicht etwa das
ganze Aufgebot‘). Zur Zeit der Perserkriege sind also 800 Hopliten
eine ganz angemessene, keineswegs übermässige Leistung. Wenn
1) Herodot VII 1. 48.
2) Abgedruckt z.B. bei Dittenberger syll. I? nro. 7. |
8) Das gleiche läßt sich von dem Verzeichnis der nach Thermopylä aur
rückenden Truppen sagen (Herodot VII 202), abgesehen von den 800 Spartanern.
Die übrigen sind je 500 Tegeaten und Mantineer, 120 Orchomenier, 1000 andere
Arkader, 400 Korinther, 200 Phliasier, 80 Mykenier. Das Verhältnis ist nicht
ganz dasselbe, denn es handelt sich ja nur um einen Theil des Aufgebots. Na-
türlich stuften sich die Leistungen auch nach andern Rücksichten ab; x. B. die
entlegeneren, außerpeloponnesischen Städte stellten gewiß verhältnismäßig weniger
als die Peloponnesier und die andern nächst betheiligten.
4) Thukyd. III 105.
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 607
also die kleineren Ziffern den Eindruck voller Zuverlässigkeit machen,
so sind auch die größeren nicht zu verdächtigen. Für Korinth sind
5000 Hopliten nicht zu viel; denn es war eine bevölkerte, reiche
Stadt mit ansehnlichem Landgebiet und geordneter Wehrverfassung.
Daß die Korinther ein zieinlich bedeutendes Aufgebot ins Feld stel-
len konnten, zeigen die spätern Kämpfe mit Athen'). Noch später,
bei der ersten Expedition nach Epidamnos brachten sie ohne Mühe
30 Kriegsschiffe und 3000 Hopliten auf?); da es sich um ein Unter-
nehmen handelte, bei dem es nicht Leib und Leben galt, so war dies
natürlich nur ein Theil, etwa ein Drittel, höchstens die Hälfte des
Aufgebots. Auch was Thukydides IV 42f. aus dem Jahre 425 v. Chr.
berichtet, läßt auf eine Hoplitenmacht von mindestens 7000 Mann
schließen. Es ist also durchaus glaublich, daß die Korinther in der
dringenden Gefahr der Perserkriege, wo sie selbst zunächst am
Feinde waren, nachdem sie ferner mehr als ein Jahr Zeit gehabt
hatten, sich zu rüsten, 5000 Hopliten ins Feld schicken konnten..
Ebenso wenig brauchen wir an den 3000 Sikyoniern, den 3000 Me-
garensern oder den 1000 Phliasiern Anstoß zu nehmen. Was wir
von der Bedeutung dieser Städte wissen stimmt gut zu diesen Zah-
len*), und ebenso die übrigen. Demnach wird auch der Haupt-
posten, die 10000 Lakedämonier in Ordnung sein.
Unter diesen Umständen ist es höchst unwahrscheinlich, daß
Herodots Zahlen auf willkührlicher Schätzung beruhen sollten; sie
müssen vielmehr, ebenso wie das Verzeichnis der Gemeinden auf
gleichzeitige Ueberlieferung zurückgehen; man kann vermuthen,
daß sie auf einem der nicht wenigen Monumente der Perserkriege
verzeichnet waren; die Zahl von 38700 Hopliten kann also für gut
bezeugt gelten. Die von Delbrück geäußerten Bedenken, als ob es
den Griechen unmöglich gewesen wäre, so große Massen zu er-
nähren, kann ich nicht theilen. Platää lag dem Peloponnes sehr
nahe, und es standen mehrere Wege zur Verfügung. Am bequem-
sten ging es vermuthlich zur See über Kreusis oder einen der be-
1) Thukyd. I 105.
2) Thukyd. I 27, 2.
3) Sikyon war eine größere Stadt, die es unter der Tyrannis des Kleisthenes
mit Argos aufnehmen konnte. Freilich hat Beloch, Bevölkerung 118f. einen
geringeren Begriff von ihr; nach ihm vermochte Perikles mit 1000 attischen Ho-
pliten das ganze Aufgebot Sikyons vor den Thoren der Stadt in die Flucht zu
treiben. So erzählt nämlich Diodor; aber Thukydides I 111 sagt wesentlich
anders Zixvorlov tovs neooulkavrag pozy éxeadrnoay, und dies ziehe ich vor.
Phlius wird 100 Jahre nach den Perserkriegen als eine Stadt von mehr als
5000 Bürgern bezeichnet (Xenophon Hellen. V 3, 16).
608 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
nachbarten Häfen; denn die See gehörte den Hellenen, und die Zu-
fuhr aus Italien und Sicilien stand ihnen ungehindert zu Gebote ').
Mit dem platäischen Heere von etwa 110000 Mann, darunter
mehr als 80000 Peloponnesiern, war jedoch die Wehrkraft der ver-
bündeten Hellenen keineswegs erschöpft. Einige peloponnesische
Gemeinden, nämlich die Mantineer und Eleer kamen zu spät ?), an-
dere, wie die Mehrzahl der Arkader, welche bei Thermopylä 1000
Mann gestellt hatten, sind überhaupt nicht zum Ausrücken gelangt,
wahrscheinlich nicht aus bösem Willen, sondern weil sie in ihren
Vorbereitungen zurückgeblieben waren?®). Aber auch diejenigen
Städte, deren Kontingente bei Platäa fochten, haben gewiß nicht
den letzten Mann aufgeboten. Die 5000 lakedämonischen Periöken
waren, wie ausdrücklich bezeugt wird, Auserlesene *), und in Sparta
werden nicht wenige, besonders die ältesten und jüngsten Jahrgänge,
zu Hause geblieben sein, und ähnlich anderswo. Die Verbündeten
führten den Krieg mit großer Vorsicht und haben gewiß nicht alles
auf einen Wurf gesetzt, sondern auf alle Fälle eine Reserve bereit
gehalten. Außerdem waren einige, offenbar nicht ganz geringfügige
Truppenkörper mit der Flotte nach Asien hinübergegangen, die-
jenigen nämlich, welche das persische Lager bei Mykale stürmten,
außer Athenern Lakedamonier , Korinthier, Sikyonier und Trözenier
(Herodot IX 102). Rechnet man alles dies mit ein, so zeigt sich,
daß die Verbündeten, besonders der Peloponnes, nachdem er sich
1) Besonders starken Anstoß erregt bei Delbrück die Nachricht Herodots,
daß jeder der 5000 Spartiaten 7 Heloten bei sich gehabt habe. Er hat dies als
handgreiflichen Unsinn zu Anfang seines Buches S. 11 an den Pranger gestellt.
Ich sehe jedoch keinen ausreichenden Grund zu einem solchen Urtheil, da dies
Verfahren der Spartaner mit dem was wir sonst über ihre Einrichtungen, in-
sonderheit über die Stellung der Heloten wissen, gut stimmt. Auch später wur-
den diese in dringenden Fällen zum Kriegsdienst herangezogen (z.B. Thukyd. V
57,1. 64,2). Wenn sich ein Auszug der Heloten in dem von Herodot geschilder-
ten Maße auch nicht wiederholt zu haben scheint, so beweist es nichts, da man
in der Noth der Perserkriege zu starken Mitteln griff und manches that was
später nicht mehr geschah. Ueberhaupt unterscheidet sich das Sparta der Perser-
kriege nicht wenig von dem späteren. Vor allem der dritte messenische Krieg
macht einen starken Einschnitt.
2) Herodot IX 77. Herodot gibt die Stärke ihrer Contingente nicht an; er
kennt sie nur bei denen, die wirklich mitgefochten haben. Hiedurch kann die
Vermuthung, daß seine Zahlen aus einem Monument stammen, Bestätigung finden.
8) Selbstverständlich kann man auch an andere Hinderungsgründe denken.
Die Arkader haben im übrigen eifrig mitgethan, auch an der Isthmosmauer mit
allem Volke gebaut. Die kleinen Gemeinden, Gaue und Kantone des westlichen
Arkadiens waren damals wenig leistungsfähig.
4) Herodot IX 11.
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 609
einige Zeit hatte rüsten können, eine recht ansehnliche Kriegsmacht
aufzubringen im Stande war, viel mehr als Beloch und Delbrück ihnen
zutrauen. Man wird darnach auch die freie Bevölkerung des Pelo-
ponnes höher zu berechnen haben, und was für den Peloponnes gilt,
wird auch ebenso auf das übrige Griechenland anzuwenden sein.
Ich darf hier auf eine Stelle der Einleitung des Thukydides hin-
weisen, (I 10,2), wo der Historiker die Zahl der Streiter, die mit
Agamemnon gen Ilion zogen, nach Homer ausrechnet. Er zählt
1200 Schiffe mit einer durchschnittlichen Bemannung von je 85 Mann,
also im Ganzen 102,000 Mann. Wenn man erwägt, sagt er, daß der
trojanische Krieg ein gemeinsames Unternehmen aller Hellenen war,
so ist diese Zahl offenbar nicht groß: ob zxodAol paivovraı éhddvrss
as And naans tio EAAddog xoıvij weunousvo. Zu seiner Zeit also
ging nach seiner Meinung das militärische Vermögen des gesammten |
Griechenlands weit über diese Ziffer hinaus, und dem Urtheil dieses
sachkundigen, nüchternen Beobachters werden wir uns lieber an-
schließen als den von vorgefaßten Meinungen beherrschten, oft sehr
zweifelhaften statistischen Berechnungen unserer Kritiker.
Wenn also das hellenische Landheer bei Platää in Wahrheit so
stark war, wie Herodot berichtet, so fällt damit zugleich ein Licht
auf die Zahl der Perser. Denn wenn die verbündeten Griechen ein
so hohes Aufgebot für nöthig hielten, so müssen auch die Perser
ein großes Heer gehabt haben. Dies ergibt sich nicht minder aus
andern Gründen. Ein Feldzug zur Eroberung von Hellas, wie ihn Xer-
xes unternahm, konnte mit Aussicht auf Erfolg nur von einem mächtigen
Heer unternommen werden; nur ein solches konnte bei den zu er-
wartenden starken Abgängen, bei den Besatzungen, die unterwegs
zurückbleiben mußten, in genügender Stärke am Ziele ankommen.
Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die Perser den Hellenen bei
Platää an Zahl überlegen waren und gewiß viel mehr als 100000
Streiter gezählt haben, und daß man ihre Zahl nicht so weit herab-
drücken darf, wie Delbrück S. 82 es versucht, wo er dem Mardonios
nur 15—20000 Mann eigentlicher Krieger geben will'). Er stellt,
ohne sich übrigens auf die Grundlagen der persischen Heeresbildung
näher einzulassen, die Behauptung auf (S. 38), daß wir uns die Per-
ser als Qualitätskrieger in nicht großer Zahl vorstellen müßten.
Worauf er das gründet, weiß ich nicht. Wohl aber ist kein Zwei-
fel, daß die Perser völlig im Stande waren, große Heere aufzu-
1) In einer früheren Schrift (die Perserkriege und Burgunderkriege 8. 140 f.)
geht er nicht so weit. Auf Grund der Angabe Herodots, das persische Lager
habe ein Quadrat von 10 Stadien Seitenlänge gebildet, rechnet er etwa 100000
Krieger heraus, hält jedoch diese Zahl für zu hoch.
Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8 4l
610 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
bringen. Das herrschende Volk, die eigentlichen Perser, waren krie-
gerisch und zahlreich; es bestand eine allgemeine Wehrpflicht, die
streng gehandhabt wurde. Die Geschichte lehrt, daß sie es gelernt
hatten, große Heere zu bilden, in Bewegung zu setzen und zu ver-
pflegen. Als Kyros mit den Völkern, die ihm damals unterthan
waren, gegen Krösos zog, war er diesem, wie glaublich berichtet
wird (Herodot I 76 f.), numerisch überlegen, und dabei hatte Krösos
gewiß eine recht ansehnliche Macht, außer den Lydern verbündete
Kontingente und Söldner. Wie stark die Streitmacht des Kyros war,
wird bei Herodot nicht überliefert, aber wir wissen doch, daß später
ein Theil davon unter Mazares und Harpagos ausreichte, um Ionien,
Karien, Lykien u.s. w. zu unterwerfen und einen recht erheblichen
Widerstand zu überwinden '). Auch das Heer, mit dem Kyros den
. letzten babylonischen König aus dem Felde schlug, Babylon ohne
Schwertstreich eroberte und seinen Gegner in Borsippa gefangen
nahm, wird nicht klein gewesen sein. Noch größer war vermuthlich
die Truppenmacht, die Kambyses gegen Aegypten führte. Sie be-
stand aus den Kontingenten des ganzen Reichs und war von einer
starken Flotte begleitet. Unter andern mußten die kleinasiatischen
Griechen mitziehen, z.B. Polykrates von Samos stellte 40 Trieren,
woraus man abnehmen kann, daß die Flotte mehrere Hundert Schiffe
zahite*). Ferner der Feldzug des Darius gegen Europa, gegen
Thraker und Skythen ward mit sehr bedeutenden Streitkräften unter-
nommen °). Herodot zählt 600 Kriegschiffe und 700000 Mann Land-
truppen, die aus allen Theilen des Reiches kamen‘). Wenn auch die
letztere Ziffer bedeutend übertrieben sein wird, so ist doch nach allem
was wir hören, ersichtlich, daß ein großes Heer zusammen kam. Um
den Uebergang zu erleichtern und zu beschleunigen ließ Darius den
Bosporus überbrücken, eine schwierige und kostspielige Arbeit, die
sich nur für ein großes Heer lohnte. Nur ein großes Heer konnte
ferner das leisten was geleistet ward, die Unterwerfung vieler und
kriegerischer thrakischer Stämme, darunter der Geten, den Zug über
den Balkan und die Ueberschreitung der Donau. An den Feld-
zug erinnerten zwei Säulen bei Byzanz, von denen zu Herodots
Zeiten noch Reste vorhanden waren. Es war eine große, lange In-
schrift in griechischer und assyrischer Sprache und Schrift, worin der
1) Herodot I 154 ff 161. 171 f.
2) Herodot II 1. III 1. 44. Außer Polykrates wird das Kontingent von My-
tilene genannt. Herod. III 13.
3) Wobei zu erwähnen ist, daß gleichzeitig von Aegypten aus der Zug gegen
Barka unternommen ward. Herodot IV 145.
4) Herodot IV 87.
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 611
Uebergang über den Bosporos verewigt und die Kontingente der
Völker des Reichs aufgeführt waren'). Ein Heer, in dem sämmt-
liche Völker des persischen Reiches vertreten waren, kann nicht klein
gewesen sein und darf auf Hunderttausende beziffert werden.
Ohne Zweifel hat nun Xerxes gegen Griechenland noch bedeu-
tend mehr aufgebracht als Darius. Mehrere Jahre ward mit Sorg-
falt gerüstet, Proviant gesammelt, der Athoskanal gegraben, der
Hellespont überbrückt, alles Anzeichen, daß etwas Großes in Wer-
den sei. Freilich die Zahlen Herodots, der das Landheer auf 1,800000
Mann beziffert *), sind, wie man längst erkannt hat und auch Del-
brück bemerkt, weit übertrieben. Wie Herodot selbst sagt, standen ihm
keinerlei Angaben zur Verfügung’), sond@®n alles beruht nur auf
einer Schätzung, die dann sehr ungenügend ausgefallen ist. Wäh-
rend er bei den griechischen Streitkräften und bei der persischen
Flotte die Höhe der einzelnen Kontingente zu nennen im Stande
ist, fehlte ihm für das persische Landheer die Möglichkeit eine
Summe zu ziehen, und auch seine Zahl des unter Mardonios in
Thessalien zurückbleibenden Heeres, 300000‘), kann als beglaubigt
nicht angesehen werden. Bestimmt beziffert werden nur die Garde-
truppen, 2000 Reiter, 2000 Lanzenmänner und die 10000 Unsterb-
lichen). Da diese aus den übrigen Persern immer vollzählig er-
halten wurden, so muß das gesammte persische Kontingent minde-
stens 30000 Mann stark gewesen sein®). Ohne Zweifel war es das
stärkste von allen; ihnen am nächsten standen die Meder, aber
auch andere, wie Baktrier und Saker konnte zahlreiche Mannschaften
liefern. Wer das bezweifelt, möge sich nur in die Geschichte der
baktrischen Feldziige Alexanders vertiefen, aus denen man von der
Leistungsfahigkeit dieser Gegenden einen hohen Begriff gewinnt.
Perser, Meder, Baktrer und Saker zusammen können recht wohl mit
1) Herodot IV 87f. Delbrück, Perserkriege und Burgunderkriege S. 147
deutet an, daß dem guten Herodot mit dieser Inschrift wohl ein Mißverständnis
begegnet sei. Wer die Worte des Historikers genau liest, wird sich dem nicht
anschließen. Herodot selbst hat die Inschrift wohl nicht mehr gelesen, trotzdem
kann ihr Inhalt recht wohl in seine Erzählung übergegangen sein.
2) Herod. VII 184 f.
3) Herodot VII 60 800» u» vor Exacroe xagsizor nindos ds Agıdudr, 06x
Eym sineiv td cegexts, of yao Akyeraı xeds obdapay dvdohrer.
4) Herodot VIII 113.
5) VII 40f. 83. Die Gesammtzahl der Reiter wird auf 80000 angegeben;
die Sagartier, einer der persischen Stämme, haben (nach VII 85) 8000 Reiter
gestellt.
6) Die Kardaker in der Schlacht bei Issos werden auf 60000 beziffert.
Arrian Anab. II 8,6.
4\*
612 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
100000 Mann und mehr ausgerückt sein), und darnach können wir
uns von dem Gesammtheere des Xerxes einen annähernden Begriff
machen, wenn wir auch darauf verzichten müssen, eine bestimmte
Zahl zu geben oder etwa die Angabe des Ktesias, 800000 Mann, als
beglaubigt anzusehen.
Während Herodot über das Landheer der Perser ohne nähere
Kenntnis ist, gibt er von der Flotte genauere Nachrichten. Nach
VII 89 zählte die persische Flotte, als sie von Asien abfuhr, folgende
Kontingente:
Phönizier und Palästiner 300 Schiffe
Aegypter 200 >
Kyprier ® 150 >
Kiliker 100 >
Pamphyler 30 >
Lykier 50»
asiatische Dorier 30 >
darunter war die Königin Artemisia aus
Halikarnasos und Umgegend mit 5 Schiffen.
Karer 70 >
Ionier 100 >»
Inseln 17 >»
Aeoler 60 >
Hellespontier 100 >
aus dem Pontos 100»
zusammen 1207 Schiffe,
zu denen dann später noch 120 aus Europa hinzukommen welche
letztere Zahl jedoch nur auf Schätzung beruhen mag, da die einzel-
nen Kontingente nicht aufgeführt werden. Delbrück hält die Schiff-
zahl für weit übertrieben und meint, daß z.B. bei Arter.’ sion und
Salamis die Perser den Hellenen numerisch nicht überlegen gewesen
seien, vielleicht sogar weniger Schiffe gehabt hätten. Da man be-
kanntlich Schiffe viel leichter zählen kann, als Menschen, so ist die-
ser Zweifel schon früher auf starken Widerspruch gestoßen; in der
That spricht alles dafür, daß hier eine gute Ueberlieferung vorliegt.
Zunächst ist zu bemerken, daß Herodot die Gesammtzahl von 1207
Schiffen überliefert vorgefunden hat, da schon Aeschylos in den 473
v. Chr. aufgeführten Persern (V. 339 ff.) dieselbe gibt. Auch sind
die Ziffern, sobald man wiederum die einzelnen Posten prüft, durch-
aus nicht unglaublich, sondern entsprechen sehr gut allem, was wir
1) Die Flottensoldaten, Perser, Meder und Saker, beziffert Herodot VII 184
auf über 36000 Mann, 30 auf die Triere.
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 613
sonst von den Leistungen der persischen Seestaaten wissen. Ver-
hältnismäßig das Gleiche, nämlich 600 Schiffe, ward gegen die auf-
ständischen Ionier gestellt; dies waren nämlich nur die Kontingente
von Phönizien, Kypros, Aegypten und Kilikien’). Im Skythenfeld-
zuge allerdings war die Flotte des Darius, 600 Schiffe, viel kleiner,
aber hier war auch kein erheblicher Widerstand zur See zu erwar-
ten, wie später im Jahre 480, da es an der thrakischen Küste keine
Seemacht gab. Dagegen wurde später unter Darius Kodomannus
gegen Alexander verhältnißmäßig dasselbe geleistet, wie unter Xerxes.
Die persische Flotte zählte damals 400 Schiffe, die von den Phöniziern
und Kypriern gestellt wurden; davon brachten die Kyprier minde-
stens 120 auf; die Gesammtleistung der phönizischen Städte ist nicht
bekannt; nur hören wir, daß das Kontingent von Arados, Byblos
und Sidon zusammen 80 Schiffe betrug‘). Was die Zahl angeht, so
bleibt die damalige Leistung hinter den Perserkriegen um 50 Schiffe
zurück, dafür waren aber die Schiffe durchweg größer; es waren
nicht nur Trieren, sondern auch Tetreren und Penteren, und damit
wird sich der Unterschied der Zahl ziemlich ausgleichen. Was also
Herodot den Kypriern und Phöniziern zuschreibt, entspricht ihrer
Leistungsfähigkeit, und ebenso sind die übrigen Kontingentzahlen
durchaus glaublich*). Daß die Ionier, die bei Lade 283 Trieren
stellten, unter Xerxes 100 geben können, setzt nicht in Erstaunen.
Verhältnismäßig hoch erscheinen die Zahlen der hellespontischen und
pontischen Schiffe; aber es ist zu erwägen, daß diese Gegenden im
ionischen Aufstande viel weniger gelitten hatten als die Ionier. Kurz
diese Schiffzahlen machen einen durchaus vertrauenswürdigen Ein-
druck und gehen offenbar auf gute, genauere Ueberlieferung zurück,
und daß dem Herodot eine solche nicht nur für die Perserkriege,
sondern auch für den ionischen Aufstand zur Verfügung stand, zeigt
z. B. das offenbar sehr zuverlässige Verzeichnis der griechischen
Tyrannen auf der Flotte des Darius und der verschiedenen Abthei-
lungsführer unter Xerxes*). Um zu verstehen, wie der Historiker
zu diesen Nachrichten gekommen ist, müssen wir uns erinnern, daß
auf den verschiedenen persischen Flotten das griechische, ionische
Element sehr stark vertreten war, und daß er einen guten Theil
1) Herodot VI 6. 9.
2) Arrian Anab. I 15, 8. 7. TI 20, 1.
3) z.B. die 5 Schiffe der Artemisia (Herodot VIII 99) lassen den Gedanken
an eine Uebertreibung nicht aufkommen.
4) Herodot IV 138. VII 96 ff. An letzterer Stelle theilt Herodot nur die
namhafteren Personen mit, die übrigen verschweigt er, da es nicht nöthig sei, sie
zu erwähnen. Es sind die griechischen Kontingentsherren, die er übergeht. |
614 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
seiner Nachrichten ionischen Quellen verdankt. lIonische Griechen,
wie Dionysios von Milet und Charon von Lampsakos sind die ersten
Historiker der Perserkriege geworden. Aus solchen zeitgenössischen,
wohlunterichteten Autoren konnte Herodot schöpfen, und wir haben
daher allen Grund, die Schiffzahlen, wie er sie gibt, für wohl be-
glaubigt anzusehen. Es ergibt sich daraus die Folgerung, daß der
Heereszug des Xerxes in der That sehr große Massen in Bewegung
setzte, viel größere als Delbrück annehmen will, und daß wir so-
wohl bei den Persern wie bei den Griechen eine militärische Lei-
stung ersten Ranges anzuerkennen haben.
Die Perser gaben ihren Rüstungen einen solchen Umfang, um
das Gelingen des Unternehmens zu sichern. Ohne Zweifel waren
sie über die Natur, die politischen Zustände und die Streitkräfte des
griechischen Landes genügend unterrichtet und wußten, daß man
sich namentlich zur See auf einen starken Widerstand gefaßt machen
müsse. Selbstverständlich fanden sich ferner in der großen Flotte
manche minderwerthige Elemente, von denen nicht viel zu erwarten
war; auch hatten die Perser Erfahrung genug, um zu wissen, daß
bei einem solchen Heereszuge starke Verluste unvermeidlich waren;
mit Menschenleben und Material pflegte man nicht eben sparsam
umzugehn. Außerdem konnten natürlich nicht alle Kriegschiffe für
den eigentlichen Kampf verwandt werden, sondern nicht wenige wa-
ren anderen Diensten vorbehalten. Man hielt daher für den end-
lichen Erfolg eine sehr große Zahl für nöthig, um auf alle Fälle
einer starken Ueberlegenheit sicher zu sein. Damit mußten freilich
nicht geringe Uebelstände in den Kauf genommen werden, Schwer-
fälligkeit, Schwierigkeit der Uebersicht, der Unterkunft und der Er-
nährung ; man suchte diesen Schwierigkeiten möglichst zu begegnen ‘),
konnte aber nicht hindern, daß durch die Ungunst der Elemente die
Verluste sehr groß wurden und die Flotte zur Ueberwältigung der
Hellenen nicht mehr ausreichte. Würde es etwa anders gewesen
sein, wenn Xerxes mit einer kleineren Flotte ausgezogen wäre? Ich
glaube nicht. Delbrück behandelt die Perser immer als den Helle-
nen militärisch mindestens ebenbürtig; das trifft aber nicht zu, son-
dern das hellenische Kriegswesen war dem orientalischen weit über-
legen, wie die Orientalen schon seit längerer Zeit dadurch anerkannt
hatten, daß sie hellenische Söldner in ihre Dienste nahmen. Diese
1) Die Flotte war in vier große Abtheilungen getheilt (Herodot. VII 97), und
für die Verpflegung waren umfassende Vorkehrungen getroffen. Sie wurde da-
durch erleichtert, daß das Landheer mit dem Meer in Verbindung blieb. Ueber
diese Schwierigkeiten vgl. Herod. VII 49, wo dem Artabanos eine Betrachtung in
den Mund gelegt wird.
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 615
Ueberlegenheit konnte nur durch eine größere Zahl ausgeglichen
werden, und darnach haben die Perser ihre Rüstungen eingerichtet.
Der militärische Aufschwung, den die Perserkriege den Helle-
nen brachten, war für die meisten nur kurz und ohne nach-
haltige Folgen für die Entwickelung des Heerwesens. Die Fort-
setzung des Krieges blieb allein den Athenern und ihren Bundesge-
nossen überlassen und führte nun zu einer überaus kräftigen Ent-
wickelung der attischen Wehrkraft. Es wurden zwar auch im übri-
gen Griechenland Kriege genug geführt, aber sie waren beschränk-
teren Umfanges, und erst der peloponnesische Krieg brachte die
militärischen Kräfte aller Hellenen zu voller Entfaltung und legte
den Grund für die Folgezeit. Delbrück behandelt diese ganze Zeit
von den Perserkriegen bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts im 2. Buche,
das wiederum manches anregende enthält, z. B. das Kapitel über die
Strategie des Perikles, der fein und gut gewürdigt wird. Anderes
ist dagegen sehr anfechtbar und verräth ganz unhaltbare Anschau-
ungen, wenn z.B. S. 110 angenommen wird, daß die Athener in der
Regel einen Theil ihrer Flottenmannschaften aus den Sklaven ge-
nommen hätten, was damit zusammenhängt, daß der Verfasser, wie
schon erwähnt, die Zahl der Freien und Bürger zu gering ansetzt,
und nur durch diese ganz willkührliche Annahme die nöthige Schiffs-
mannschaft herausschlägt. Das Ganze ist gar zu dürftig behandelt;
es sind mehr zerstreute Bemerkungen. Am meisten fällt auf, daß
dem peloponnesischen Kriege, wo wir doch die zuverlässigsten Nach-
richten haben, so geringe Beachtung geschenkt worden ist. Die-
ser Krieg müßte in Wahrheit der Ausgangspunkt der Erörterungen
sein. In ihm haben die Hellenen und besonders die Athener ihre
volle Kraft gezeigt; so ist die sicilische Expedition trotz ihrem
Mißlingen dennoch eine der größten militärischen Leistungen des
Alterthums. Im peloponnesischen Kriege kann man, wenn man
sich in die Ereignisse etwas vertieft, die Entwickelung der Kriegs-
kunst am besten erkennen. Lehrreich ist z.B. ein Vergleich der
Schlacht bei Delion mit dem Treffen bei Syrakus; man sieht,
wie die Athener auch im Landkriege ihre Fortschritte mach-
ten. Schade, daß der Verfasser über diese für die Geschichte der
Kriegskunst so wichtigen Dinge so kurz hinweggegangen ist. Später
werden die bekannten Hauptactionen etwas eingehender behandelt,
z.B. S. 132f. die Schlacht bei Leuktra. Delbrück nimmt hier an,
daß das lakedämonische Heer dem thebanischen an Zahl gleich ge-
kommen sei, was ich nicht für richtig halte. Auf die Zusammen-
setzung und Grundlage des thebanischen Aufgebotes ist er dabei
nicht eingegangen.
616 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
Er geht im nächsten Buch zu den Makedoniern und zu den
Alexanderfeldzügen über (S. 139 ff.), wobei wiederum der Kampf ge-
gen die überlieferten Truppenzahlen mit Eifer geführt und darüber
manches andere vergessen wird’). Sein Interesse concentriert sich
vornehmlich auf die Hauptschlachten, am Granikos, bei Issos, Gau-
gamela und am Hydaspes; das dazwischen liegende wird kürzer ab-
gethan. In der Schlacht bei Issos weicht er von der neuesten, ver-
dienstlichen Behandlung Ad. Bauers etwas ab (S. 154). Er be-
streitet hier, daß der Perserkönig so viele griechische Söldner gehabt
habe, wie die Berichte angeben, scheint aber dabei nicht beachtet zu
haben, daß Darius kurz zuvor die Armee Memnons unter Thymodes
an sich gezogen hatte. Den Fluß Pyramos, an dem die Schlacht ge-
schlagen ward, hält er nicht für den Deli-Tschai, sondern für den
Paias Tschai. In eigenartiger Weise sucht er die Schwierigkeiten zu
lösen, die bei der Schlacht am Hydaspes unleugbar vorhanden sind.
Nach einem kürzeren Abschnitt über die Diadochen, der eine
Kritik der verschiedenen Schlachtberichte aus jener Zeit enthält,
geht er dann zu den Römern über, beginnend mit der schon oben
charakterisierten Darstellung der altrömischen Heer- und Wehr-
verfassung.
Die beiden nächsten Kapitel behandeln den Pyrrhischen und
den ersten punischen Krieg, der trotz seiner 24jährigen Dauer nur
oberflächlich (S. 266—273) behandelt wird. Ueber das Kriegswesen
der Karthager schweigt der Verf., erwähnt auch nicht die für die
Kriegsgeschichte wichtige Thatsache, daß die Römer an Hieron von
Syrakus einen sehr leistungsfähigen Bundesgenossen gewannen. Erst
der zweite punische Krieg wird eingehender behandelt, er bildet ein
besonderes, das 5. Buch (S. 277—357); es ist, wie schon gesagt,
eins der Hauptstücke des Werks. Mit diesem Kriege und seinen
Feldherrn Hannibal und Scipio hat sich der Verfasser mit besonde-
rer Liebe beschäftigt. Er widmet dem großen Karthager Worte
höchster Bewunderung, denen ich nur zustimmen kann. Im übrigen
bin ich, was den Krieg und seine Beurtheilung angeht meist anderer
Meinung als der Verfasser, der sich leider durch einige neuere Hypo-
thesen hat verblenden lassen.
Er beginnt mit der Schlacht bei Kannä, um aus ihr zunächst
von der damaligen Schlachtentaktik einen richtigen Begriff zu ge-
winnen und darnach auf die Strategie seine Schlüsse zu ziehen. Von
hier geht er auf Beginn und Verlauf des Krieges über, um mit der
1) Wunderlich ist die Behauptung S. 150, daß die griechischen Kontingente
die größere Hälfte des Heeres Alexanders ausgemacht hätten.
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 617
Schlacht bei Zama zu schließen. Ich will hier zunächst auf die ein-
leitenden Ereignisse und Anfänge des großen Krieges etwas eingehen
und darf dazu den Leser an die bekannten Thatsachen in Kürze er-
innern, und zwar im Anschluß an Polybios, den auch Delbrück mit
Recht sehr hoch schätzt, wenn er auch in Praxi oft von ihm ab-
weicht. Uebrigens könnte bei Delbrück auch hier die Orientierung
über die Vorgeschichte des Krieges besser und genauer sein als
sie ist.
Es ist begreiflich, daß zu Anfang des Krieges Hannibals Ab-
sichten klarer zu Tage liegen, als die römischen, weil nur der Kar-
thager seinen Plan rein und vollständig zur Ausführung brachte.
Daß ein Krieg bevorstand, wußte man schon seit einiger Zeit. Seit-
dem die Römer die Schwäche der Karthager am Ende des Söldner-
krieges benutzt hatten, um sich Sardinien anzueignen, bestand zwischen
beiden Gemeinden eine bittere, unverhohlene Feindschaft. Die Römer
betrachteten die Fortschritte der Karthager in Spanien mit äußer-
stem Mißtrauen, mußten sie aber gewähren lassen, weil sie besonders
durch die gallischen Kriege alle Hände voll zu thun hatten. Sie er-
langten nur, daß Hasdrubal, der karthagische Strateg in Spanien,
sich verpflichtete, nicht über den Ebro zu gehen. Später nahmen
sie dann Sagunt in ihren Schutz, und darüber kam nunmehr der
Krieg zum Ausbruch. Hannibal beschloß, während er zugleich für
Spaniens und Afrikas Vertheidigung sorgte, nach Italien zu gehen,
um die römische Macht in der Wurzel zu treffen und dem feindlichen
Angriffe zuvorzukommen. Mit Recht bemerkt Delbrück dazu, wie
schon andere vor ihm, daß bei der römischen Ueberlegenheit zur
See ihm zur Ausführung des Planes nur der Landweg über die Alpen
übrig blieb.
Im Princip entschieden war der Krieg schon 219 v. Chr., als
sich Hannibal zum Angriff auf Sagunt entschloß. Die Römer zöger-
ten aber, da sie zunächst noch eine andere, ebenfalls dringliche Auf-
gabe zu erfüllen hatten, nämlich ihre bedrohten illyrischen Besitzun-
gen zu schützen. Dazu unternahmen sie 219 v.Chr. einen Feldzug
gegen Demetrios von Pharos, wozu die Zeit günstig war, da in
Makedonien der junge König Philipp in einen Krieg mit den Aetolern
verwickelt ward und daher seinen illyrischen Bundesgenossen nicht
zur Hülfe kommen konnte. Den illyrischen Krieg wollten sie be-
endigt haben, ehe sie sich gegen Karthago wandten ; denn sehr un-
gern hatten sie mit zwei Feinden zugleich zu thun. Sie hofften be-
stimmt, Sagunt würde sich bis zum nächsten Jahre halten können;
dann wollten sie nach Spanien gehen und von Sagunt aus den Krieg
gegen die Karthager beginnen. Diese Rechnung schlug jedoch fehl.
618 Gott. gel, Anz. 1901. Nr. 8.
Zwar in Illyrien erreichten sie ihr Ziel, dagegen in Spanien ward
Sagunt von Hannibal mit Aufgebot einer großen Macht rasch über-
wältigt, Hannibal brachte damit ganz Spanien südlich vom Ebro in
seine Gewalt und konnte nunmehr seinen Angriff auf Italien ins
Werk setzen.
Auch nach dem Falle Sagunts dachten die Römer zunächst an
den Angriff. Von den beiden Consuln ward der eine, Scipio, mit
Flotte und 2 Legionen nach Spanien bestimmt, der zweite, Sem-
pronius, ging ebenfalls mit 2 Legionen und einer starken Flotte,
200 Penteren, nach Sicilien, um von hier nach Afrika überzusetzen.
Hier setzt nun die Sachkritik Delbrücks ein, der sich dabei an
Joseph Fuchs anschließt (S. 320 ff.). Weder die nach Afrika be-
stimmte Expedition noch die spanische sei ausreichend gewesen, um
die ihr bei Polybios zugewiesene Aufgabe zu erfüllen. Besonders
die Truppen Scipios hätten gegenüber der großen Macht Hannibal
in keiner Weise genügt. Deshalb vermuthen Delbrück und Fuchs,
die Absicht der Römer sei gar nicht gewesen, den Feind in Spanien
aufzusuchen; sie hätten vielmehr von Anfang an von Hannibals Plä-
nen Kenntnis gehabt und ihm nicht in Spanien, sondern an der
Rhone zu begegnen vorgehabt, um ihm den Weg zu verlegen. Man
habe beabsichtigt, ihn hier festzuhalten, und erst wenn dies ge-
schehen den Sempronius nach Afrika hinübergehen zu lassen, um
nunmehr mit den karthagischen Heeren in Afrika, die jetzt nicht
mehr auf die Unterstützung Hannibals hätten rechnen können, fertig
zu werden.
Die Vermuthung widerspricht der Ueberlieferung und dem was
wirklich geschah, durchaus. Die Römer erfuhren von dem Ueber-
gange Hannibals über den Ebro noch ehe die Heere gebildet waren,
Frühjahr 218 (Pol. III 40, 2). Von seinem Uebergang über die
Pyrenäen hörte Scipio erst auf der Fahrt (c. 41,5), er landete da-
her an den Rhonemündungen, um ihm wo möglich zu begegnen, als
er ihn jedoch verfehlte und Hannibal den Weg über die Alpen ein-
schlug, begab er sich nach Oberitalien, zu den dort stehenden Trup-
pen, während er seinen Bruder mit Heer und Flotte nach Spanien
gehen ließ. Dies alles wäre nicht begreiflich, wenn die Römer wirk-
lich die von Delbrück entwickelten Absichten gehabt hätten. Gewiß
würden sie dann auch in Oberitalien etwas mehr zur Vertheidigung
gethan haben, und vor allem würde dann nicht Scipio sein Heer nach
Spanien geschickt, sondern mit sich nach Italien zurückgenommen
haben. Daß er es nach Spanien schickte, weist deutlich darauf hin,
daß darauf auch sein Auftrag ging. Er muß der Meinung gewesen
sein, daß dies nothwendig sei, und mit Recht; denn Spanien war für
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 619
die Karthager von der größten Bedeutung und lieferte ihnen außer
hohen Einkünften die brauchbarsten Mannschaften in fast unbegrenz-
ter Zahl. Es war also für die Römer dringend geboten, sie nicht
im ruhigen Besitze dieses Landes zu lassen, und von vorne herein,
seit dem Vertrage mit Hasdrubal, sind daher ihre Augen dorthin ge-
richtet. Dadurch daß P. Scipio sich durch Hannibals Angriff nicht
beirren ließ, sein Heer nicht mit sich zurücknahm, sondern nach
Spanien sandte, ist es den Römern gelungen, sich dort festzusetzen.
Scipio hat damals die späteren Erfolge seines Sohnes vorbereitet und
ermöglicht.
Auch die Voraussetzungen der Delbrückschen Kritik sind nicht
zutreffend. Ihm scheinen die römischen Heeresziffern zu gering, aber
dies ist ein Irrthum; vielmehr sind sie vollkommen ausreichend für
die zu erwartenden Aufgaben. Zwei römische Legionen mit Bundes-
genossen betrugen rund 20000 Mann. Viel zahlreicher waren auch
die Kerntruppen Hannibals nicht. Es ist zu erwägen, daß die Rö-
mer hiebei auf Verstärkungen durch ihre spanischen Bundesgenossen
rechneten und rechnen durften, zunächst auf die Völker zwischen
Ebro und Pyrenäen, daß sie ferner mit überlegener Flotte kamen,
daß ihnen endlich die nicht zu verachtende Hülfe der Massalioten
zur Seite stand. Das gleiche gilt von der Expedition nach Afrika.
Ohne Zweifel gedachten sich die Römer zunächst durch Hieron und
ihre sicilischen Unterthanen zu verstärken, auch in Afrika konnten
sie auf Zuzug zählen, da unter den numidischen Stämmen sich stets
Mißvergnügte befanden, die bereit waren, zu einem landenden Feinde
überzugehn.
Ueberdies entspricht die Stärke der römischen Heere vollkom-
men der Tradition und den militärischen Einrichtungen der Römer.
Zwei Legionen bildeten das ordentliche consularische Heer, und,
wenn nicht ein ungewöhnliches Bedürfnis vorlag, ging man davon
nicht ab. Dies zeigt die frühere wie die spätere Geschichte. Da
die Dienstpflicht auf den besitzenden Theil der Bürgerschaft sich be-
schränkte, Proletarier und Freigelassene gesetzlich ausgeschlossen
waren, so ist es durchaus begreiflich, daß man den heerespflichtigen
und zugleich politisch maßgebenden Theil der Bevölkerung nach
Möglichkeit schonte. Außerdem sprachen auch finanzielle Gründe
mit, die Delbrück nicht in den Kreis seiner Erwägungen gezogen
hat. Die römische Staatswirthschaft war noch wenig entwickelt ’),
die italischen Bundesgenossen zahlten keinen Tribut, ein Staatschatz
wurde, wie es scheint, nicht gesammelt. Die Einkünfte der Stadt
1),.Vgl. Diodor XXIX 6, 1.
620 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
reichten aus zur Bestreitung der gewöhnlichen Bedürfnisse, wenn
aber ein Krieg kam, so mußte man auf außerordentliche Weise Geld
schaffen, zunächst durch eine directe Steuer, das Tributum. Ein gu-
ter Theil der Kriegsausgaben ward zwar von den Bundesgenossen
getragen, die ihre Truppen selbst bezahlten, aber für die Bürger-
schaft blieb doch immer noch genug übrig. Ein Krieg legte immer
bedeutende Opfer auf, und es ist deutlich, daß man sich darnach
einrichten mußte. Die Rüstungen der Römer entsprechen also durch-
aus ihren militärischen und politischen Institutionen. Sie waren an-
sehnlich genug und nach der bisherigen Erfahrung vollkommen aus-
reichend. Wenn es sich diesmal zeigte, daß sie nicht genügten, so
lag es daran, daß sie weder die Person Hannibals genauer kann-
ten, der ja erst vor kurzem zum Kommando gelangt war, noch die
Kraft und Umsicht seiner Kriegführung, noch auch die Stärke seiner
Streitmacht. Sie werden im allgemeinen wohl orientiert gewesen
sein, daß er aber den weiten und gefährlichen Marsch über die Alpen
antreten und durchführen werde, haben sie ohne Zweifel nicht ge-
wußt. Sie konnten es auch dann nicht erwarten, als sie hörten, daß
er über den Ebro gegangen sei; denn hiebei konnte es sich ja zu-
nächst um die Eroberung des Landes bis zu den Pyrenäen handeln.
Auf der anderen Seite hat Hannibal, um sein Unternehmen
durchzusetzen, Opfer gebracht, die ein römischer Feldherr mit römi-
schen Truppen nicht hätte bringen können. Er überschritt mit
90000 Mann Fußvolk und 12000 Reitern den Ebro, und unterwarf
rasch, unter heftigen Kämpfen und mit großen Verlusten die zwischen
Ebro und Pyrenäen wohnenden Völker der Küstenlandschaft. Er
ließ hier 10000 Mann und 1000 R. als Besatzung zurück und ent-
ließ die gleiche Zahl in die Heimath (Polyb. IH 35). Mit 50000
M. z. F. und 9000 R. ging er dann durch die Pyrenäen. Der Krieg
hat ihn also gegen 20000 Menschen gekostet, und man sieht, Hanni-
bal hat, um sein Ziel rasch zu erreichen, das Leben seiner Soldaten
rücksichtslos geopfert. Ohne Zweifel fällt der Verlust hauptsächlich
auf die spanischen Kontingente; die Afrikaner und Karthager wird
er nach Kräften geschont haben. Delbrück hat zwar die Zahlen des
Polybios bezweifelt und stark beschnitten, aber sie sind ungewöhn-
lich gut überliefert; denn sie gehen wahrscheinlich auf Hannibals
eigene Aufzeichnung zurück, und aus sachlichen Gründen liegt zu
Zweifeln kein Anlaß vor!). Gerade dadurch, daß Hannibal seine
1) Es liegt sehr nahe zu vermuthen, daß Polybios die Ziffern der Inschrift
verdankt, die Hannibal am Lakinion bei Kroton setzen ließ, der Polybios andere
analoge Ziffern entlehnt hat. Polyb. IH 33,17. 56,4. Delbrück selbst hält es
für wahrscheinlich und will auch dem Hannibal den Glauben nicht versagen, aber
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Ralımen der politisch. Geschichte. 621
Leute nicht zu schonen brauchte, hat er die Unterwerfung des Lan-
des und seiner kriegerischen, den Karthagern durchweg feindlichen
Völkerschaften so rasch beenden und den Widerstand brechen kön-
nen. Gerade in dieser Absicht ist er mit einem so großen Heere
ausgerückt; denn wenn er Italien erreichen wollte, durfte er keine
Zeit verlieren.
Nördlich von den Pyrenäen hatte er es dann mit den Kelten zu
thun, die er theils in Güte, theils mit Gewalt bezwang, und sich so
den Weg bahnte. Daß es dabei blutige Kämpfe gab, sehen wir aus
seinen erheblichen Verlusten, gegen 12000 Mann'). Wiederum meint
Delbrück, die Verlustziffern seien weit übertrieben, der Widerstand
der Völker habe zwar den Marsch sehr aufgehalten, da man mit
Vorsichtsmaßregeln habe marschieren müssen, aber sie hätten sich
bei der großen numerischen Ueberlegenheit der Karthager auf Ge-
fechte kaum einlassen können. Gewiß haben sie keine rangierten
Schlachten geliefert, aber sie haben die Pässe, Befestigungen ?) Fluß-
übergänge und sonstige Hindernisse gesperrt und dadurch den Han-
nibal zu verlustreichen Kämpfen genöthigt. Nähere Angaben fehlen;
Polybios drückt sich ganz allgemein aus, da er auf diesem Gebiete
grundsätzlich auf Einzelheiten nicht eingeht, sondern sich auf die
Erzählung des Rhoneüberganges beschränkt, und die spätern sind
von ihm abhängig; daß aber gekämpft ward, deutet er verständlich
genug an. Auch waren die Gallier keineswegs wehrlos, sondern
kriegerisch und genügend bewaffnet. Durch die Berührung mit den
Griechen von Massalia wie mit den Karthagern hatten sie schon ge-
nug gelernt. Wir erfahren, daß Hannibal nach dem Rhoneübergange
bei einem gallischen Fürsten freundliche Aufnahme fand und von
ihm sein Heer nicht nur mit Nahrung, Kleidung und Schuhwerk,
sondern auch mit Waffen neu ausgestattet ward. Ohne Zweifel war
Hannibal über die Widerstandskraft der Völker, die er durchziehen
mußte, genügend unterrichtet und traf darnach seine Vorbereitungen.
Aus den früheren Ereignissen (Polyb. III 13f.) sieht man, daß bis
dahin die gewöhnliche Feldarmee in Iberien von mäßiger Stärke war.
Wenn also auch in unsern sehr summarischen Berichten nichts davon
geschrieben steht, so wird doch anzunehmen sein, daß Hannibal zu-
erst für den Angriff auf Sagunt und dann für den Zug nach Norden
Polybios, meint er, habe die Inschrift mißverstanden (8. 326). Man sieht, zu
welcher Willkühr diese Kritik ausartet.
1) Nach dem Ucbergang über die Rhone hatte Hannibal noch 38000 Mann Fuß-
volk und über 8000 Reiter. Polyb. III 60,5.
2) ’Avvißas pty obv Evezelgesi zaig dsexPolaig rdv Ilvonvalor beady xardgo-
Bos wy tots Kelrots dia tas Öyvodınrag tev téxav Polyb. DI 40, 1.
622 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
sein Heer aus den spanischen Völkerschaften bedeutend verstärkt
hat, um jeden Widerstand unterwegs unterdrücken und dennuch mit
ansehnlicher Macht in Italien eintreffen zu können.
In merklichem Gegensatze zum Eifer, mit dem Delbrück die
von Polybios überlieferten hohen Ziffern des karthagischen Hee-
res bekämpft, steht die Nachsicht, die er den jüngeren Nachrichten
über die römische Heeresstärke während des zweiten punischen Krie-
ges schenkt. Auch seine Grundansicht über die römische Kriegsver-
fassung scheint dadurch beeinflußt zu sein. Vielleicht ist für sein
Urtheil nicht ohne Bedeutung, daß Beloch diese Zahlen unter seinen
Schutz genommen hat. Darnach haben die Römer im zweiten puni-
schen Kriege jährlich 18 Legionen und mehr unter den Waffen ge-
habt, also etwa 90000 Mann, was 81/3 Prozent der gesammten Be-
volkerung , ein Drittel der Bürgerschaft ausgemacht hätte. So er-
zählt nur Livius, ein Historiker, der wie Delbrück selbst weiß und
zugibt, ganz unzuverlässig ist. In der That sind diese Zahlen wie
seine ganze Geschichte des zweiten punischen Krieges unbeglaubigt
und stark übertrieben. Die einzige brauchbare Angabe der Art, die
aus der Zeit nach der Schlacht bei Kannä vorhanden ist, steht bei
Polybios VIII 3. Daraus sehen wir, daß in Italien 4 Legionen stan-
den, und dabei ist es allem Anscheine nach meistens verblieben. In
Sicilien befanden sich in der Regel nicht mehr als zwei Legionen;
auf Spanien kann man vielleicht die gleiche Zahl rechnen, obwohl
es zweifelhaft ist; denn das Heer, welches die Scipionen 218 v. Chr.
dahin führten und das noch nicht abgelöst war, bestand in der
Hauptsache aus bundesgenössischen Kontingenten, nicht aus Römern !);
noch später hatte Scipio Afrikanus sehr viele Bundesgenossen bei
sich. In Sardinien hat während der dortigen, übrigens nicht be-
deutenden Kämpfe kaum mehr als eine Legion gestanden. In Nly-
rien endlich, Makedonien und Hellas gab es überhaupt keine Legio-
nen, sondern nur Seesoldaten, die ohne Zweifel zum größten Theil
aus den Bundesgenossen genommen waren. Ebensowenig wie die
Legionszahlen des Livius darf man mit Delbrück das glauben, was
bei ihm über die Bildung besonderer Truppenkörper aus Sclaven,
Freigelassenen und Sträflingen erzählt wird. Derartiges widerspricht
gründlich den antiken Anschauungen, insonderheit den römischen.
Erst in der Noth des Bundesgenossenkrieges haben sich die Römer
einmal entschlossen, Freigelassene in die Legionen zu nehmen?) und
sogar Augustus hat dazu nur in dringendsten Fällen gegriffen. Ich
1) Polyb. II 40, 14.
2) Livius epit. 74 ibertint tunc primum militare coeperunt. Vgl. Appian b.
civ. I 49.
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 623
wundere mich, daß der Verfasser, der sonst so ungläubig ist und so
leicht Wachtstubengespräche und Adjutantengewäsch wittert, dem
Livius gegenüber in solchem Grade jede Vorsicht außer Acht ge-
lassen hat. Gewiß wollen wir vor den Leistungen der Römer im
zweiten punischen Kriege allen Respekt haben, aber so groß wie
Livius will sind sie doch nicht gewesen. Solche Zahlen wären über
ihre Kräfte gegangen; denn die Soldaten mußten bezahlt und er-
nährt werden und auch die daheim bleibenden wollten leben.
In engem Zusammenhange zu dem eben hervorgehobenen Irr-
thum Delbrücks stehen die bereits oben erwähnten eigenartigen An-
sichten, die er von der Entwickelung der römischen Wehrpflicht hat.
Gegen das Zeugnis des Polybios glaubt er, daß auch die ärmeren,
nichtbesitzenden Bürger in den Legionen dienen mußten, und da-
durch kann er die hohen Legionsziffern des Livius zur Noth er-
“klären. In Wahrheit braucht man sich darum keine Mühe zu geben.
Man muß streng an der überlieferten Vorstellung festhalten, daß der
Dienst in den Legionen auf die Besitzenden beschränkt war; die
unterste Schicht der Bürgerschaft war vom Dienst im Heere frei
und ward auf die Flotte geschickt. Dieses System hatte auch seinen
guten Grund und ermöglichte eine verhältnismäßig sehr starke An-
spannung der Heerespflichtigen. Die arbeitenden Hände blieben
zum großen Theil zu Hause, Handwerk und Landbau konnten ihren
Fortgang nehmen. Um die Widerstandskraft der Römer im zweiten
punischen Kriege zu erklären muß man dabei erwägen, daß die
Landschaften, in denen die römische Bürgerschaft saß, also Mittel-
italien, zum größten Theil nur auf kurze Zeit von den Verheerungen
des Kriegs berührt worden sind. Was das zu bedeuten hatte, sieht
man an dem einen Jahre, wo Roms nächste Umgebung von Hannibal
heimgesucht ward, 211 v. Chr.’). Damals brach eine gewaltige
Theuerung aus, und die Römer mußten sich, um Brotkorn zu er-
halten, an den König von Aegypten wenden. Es war ein Glück, daß
sie nicht öfters ähnliche Jahre zu ertragen hatten.
Ein besonderes Interesse hat bei Delbrück die Schlacht bei Zama
und ihre Vorgeschichte. Als 202 v.Chr. nach schon geschlossenem
Frieden die Karthager den Waffenstillstand brachen und nun der
Krieg wieder anging, stand Scipio bei Utika, während sein Bun-
desgenosse Massinissa mit einem Theil seiner Truppen und der
Reiterei nach Numidien gegangen war. Scipio brach nun sofort ver-
heerend ins karthagische Gebiet ein, worauf Hannibal, der seine
Truppen bei Hadrumetum gesammelt hatte, gegen ihn bis Zama
1) Die Erzählung vom Zuge Hannibals gegen Rom verwirft Delbrück 8. 314.
624 Gött. gel. Auz. 1901. Nr. 8.
vorriickte. Scipio befand sich nun, wie Delbrück ausführt, in einer
kritischen Lage. Ohne Massinissa, der einen großen Theil seiner
Reiterei bei sich hatte, konnte er sich nicht mit Hannibal messen.
Zurückgehen konnte er ebenso wenig; denn alsdann hätte ihn Han-
nibal eingeschlossen und dauernd von Massinissa getrennt. Was that
er? Kühn verzichtete er auf die Verbindung mit der See und zog
dem Massinissa weit nach Numidien, nach Naragara entgegen, um
sich mit ihm zu vereinigen und dann dem Hannibal die Schlacht zu
liefern. Und das Glück belohnte seinen kühnen Entschluß. Del-
brück folgt hier einer von Konrad Lehmann N. Jahrb. f. Philol.
Suppl. 21 S. 559 ausgesprochenen Vermuthung; er vergleicht S. 349
den Zug Scipios mit dem Rückzuge Blüchers von Ligny auf Wavre
und dem Abmarsch der Schlesischen Armee von der Mulde über die
Saale im Oktober 1813. Scipio, meint er weiter, habe seine Kühn-
heit selbst nicht einzugestehen gewagt aus Furcht vor den Kritikern
in Rom, und daher die Schlacht nach dem näher gelegenen Zama
genannt, nicht nach dem wirklichen Orte Naragara, was dann in den
Polybios übergegangen sei. Mit dieser Vermuthung und Betrachtung
stehen die Quellen stark in Widerspruch ; denn Polybios '), von dem
alle übrigen im wesentlichen abhängen, erzählt die Sache anders in
folgender Weise: Hannibal rückt bis Zama in die Nähe Scipios vor
und läßt ihn um eine Unterredung bitten, Scipio willigt ein, be-
hält sich aber vor, den Zeitpunkt zu bestimmen, am nächsten Tage
trifft der erwartete Massinissa mit 10000 Mann im römischen Lager
ein, nun geht Scipio bis Naragara vor und läßt dem Hannibal sagen,
er sei zur Zusammenkunft bereit, Hannibal rückt näher an Scipio
heran, die Feldherrn haben ihre 'Begegnung, Scipio lehnt die Frie-
densvorschläge des Karthagers ab, und es folgt am nächsten Tage
die Schlacht. Also es ist keine Rede davon, daß Scipio dem Massi-
nissa entgegenzieht, sondern er wartet auf seinen Bundesgenossen,
der zu ihm eilt. Vorher ist demgemäß erzählt worden, daß Scipio
den Massinissa durch wiederholte und dringende Botschaften zu sich
berufen habe.
Delbrück hat keine Bedenken getragen, sich von seiner Quelle
zu entfernen, weil er zu erkennen glaubt, daß Polybios’ Erzählung
hier recht mangelhaft und von mythischen Elementen durchsetzt ist.
Er rechnet dazu, wiederum nach K. Lehmanns Vorgange, die Er-
zählung?) von den Kundschaftern Hannibals, die Scipio aufgreift und
in seinem Lager umherführen läßt, und die Unterredung der beiden
1) Polyb. XV 6.
2) Die Konrad Lehmann auf Ennius zurückführen will N. Jahrb. f. Philol.
Bd. 158 S. 573 ff.
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 625
Feldherrn. Das erste erweckt in der That Verdacht, weil es eine
alte Geschichte ist, die schon Herodot') von Xerxes erzählt. Ich
will nicht behaupten, daß dies unbedingt entscheidet, aber die Ge-
schichte ist verdächtig; auch läßt sich nicht leugnen, daß bei Poly-
bios zuweilen aus seinen rhetorisch angehauchten Vorlagen derartige
Sachen hängen geblieben sind. Es liegt aber kein Grund vor,
deshalb die Substanz der Erzählung anzufechten und die Unter-
redung der beiden Feldherrn zu streichen. Ebenso gut könnte man
dann noch weiter gehen und die Schlacht bei Zama leugnen.
Der eigentliche Grund der Delbrückschen Combination ist die
Schwierigkeit, die bei Polybios der Ort Naragara macht, bei dem
die Schlacht statt fand. Naragara ist ein in Numidien drei Tage-
märsche westlich von Zama liegender Ort, während er nach Polybios
ganz nahe bei Zama liegen müßte. Um diese Schwierigkeit zu be-
seitigen, hat Mommsen an ein zweites, gleichnamiges Naragara bei
Zama gedacht?). Jedoch muß vor allem hervorgehoben werden, daß
der Name Naragara gar nicht fest steht), denn bei Polybios ist
Meoyaoov überliefert, und bei Livius XXX 29, 9 gibt zwar der Pu-
teanus Naraggara, aber die gleichwerthige Recension des Spirensis
Narcara, so daß es sehr zweifelhaft ist, ob Polybios den Ort wirklich
Naragara nannte, womit den strategischen Combinationen Delbrücks
vollends jeder Boden entzogen wird.
Im 6. Buche, »Die Römer als Welteroberer«, durchfliegt der Ver-
fasser die Geschichte nach dem zweiten punischen Kriege bis zu den
Bürgerkriegen. Zuerst behandelt er die Kämpfe mit Makedonien
und den Seleukiden. Bemerkenswerth sind hier (S. 362) seine auf
praktische Versuche gestützten Untersuchungen über die makedoni-
sche Phalanx und ihre Bewaffnung. Die Berichte über die Haupt-
schlachten, bei Kynoskephalä, Magnesia und Pydna werden kurz kri-
tisiert; am ungünstigsten beurtheilt er den Bericht über die Schlacht
bei Magnesia, die freilich einen eigenartigen Verlauf genommen hat.
Noch kürzer behandelt er das Spätere, die Kriege mit Mithridates und
den Parthern. Die Ueberlieferung hierüber ist nach Delbrück (S. 400 ff.)
so schlecht, daß es nicht der Mühe werth ist, sich mit ihr zu beschäf-
tigen; besonders sind es wiederum die hohen Heeresziffern, an denen
er Anstoß nimmt, aber auch in anderer Hinsicht scheinen ihm die
Berichte äußerst mangelhaft, so daß eine wirkliche Kriegsgeschichte
unmöglich ist. Es wird uns z.B. erzählt, daß Sulla vom Sommer 87
1) VII 146.
2) Hermes 20, 155.
3) Konr. Lehmann hat diesen Thatbestand richtig hervorgehoben, Delbrück
schweigt davon.
Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 8. 42
626 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
bis Frühling 86 v. Chr. Athen und den Piräus belagerte, während
gleichzeitig ein großes mithridatisches Heer über den Hellespont
nach Makedonien hinübergegangen war. Das ist unmöglich, sagt
unser Verfasser; denn dieses Heer hätte ja die Römer bei der Be-
lagerung Athens stören müssen, folglich hat es gar nicht existiert,
es ist Phantasie der Berichterstatter, eitler Rhetoren, die den Din-
gen selbst gleichgültig und unkundig gegenüberstanden, zu denen
diesmal, wie ich hinzufügen darf, Sulla selbst gehört, der in seinen
Denkwürdigkeiten diese Ereignisse erzählt hat, und der Stoiker Po-
sidonius, einer der angesehensten Historiker des Alterthums. Auch
hat Delbrück nicht beachtet, daß das mithridatische Heer in Make-
donien sehr ernstlichen Widerstand fand, den es erst überwinden
mußte, ehe es nach Griechenland gelangen konnte. Die Schlachten
von Chäronea und Orchomenos ferner scheint der Verfasser für iden-
tisch zu halten, was sich jedem, der es nicht verschmäht, die Ereig-
nisse im Zusammenhange und nach den Quellen zu betrachten, so-
fort als unmöglich herausstellen wird. Die beiden Schlachten sind
durch eine Reihe von andern Ereignissen getrennt, vor allem
durch das Eingreifen des Valerius Flaccus, des Rivalen Sullas. Sulla
befand sich eben in etwas verwickelter Lage, da er nicht nur gegen
Mithridates Krieg führen, sondern sich auch mit der inzwischen in
Rom zur Herrschaft gelangten marianischen Partei abfinden mußte.
Tigranes von Armenien endlich soll an 300000 Mann ins Feld geführt
haben; nach Delbrück S. 404 ist diese Zahl ganz unmöglich, da er nur
ein mittelgroßes Gebiet beherrschte. Ohne Zweifel sind die Heeres-
ziffern des Tigranes stark übertrieben; unsere Ueberlieferung ') selbst
läßt erkennen, daß hier nur eine oberflächliche Schätzung vorliegt.
Aber Delbrück befindet sich in einem starken Irrthum, wenn er dem
Gebiete des Tigranes nur eine mäßige Ausdehnung gibt. Er scheint
es auf Armenien zu beschränken, während der König in Wahrheit
große Theile Mediens, Mesopotamiens und Syriens beherrschte. Nicht
minder flüchtig und von manchen Irrthümern durchsetzt ist die Be-
handlung der Partherkriege. Die neueren, verdienstlichen Unter-
suchungen Kromayers scheinen ihm unbekannt geblieben zu sein.
Man thut dem Verfasser und dem Werke kein Unrecht, wenn man
diesen Theil des Buchs als werthlos bezeichnet.
Offenbar hat der Verfasser diese Abschnitte nur der Vollstän-
digkeit halber hinzugethan; er eilt zum letzten Buche, den Kriegs-
thaten Cäsars, wo er mit einer ihm sympathischen Persönlichkeit,
einem großen Feldherrn zu thun hat, wo er auch wieder festen Bo-
1) Am genauesten bei Plutarch Lucull. 26.
Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politisch. Geschichte. 627
den unter den Füßen hat. Der Stoff ist längst gesammelt und all-
seitig verarbeitet; besonders in den Werken des Obersten Stoffel
und des Engländers Holmes giebt es sehr nützliche Vorarbeiten.
Zunächst werden die Feldzüge gegen Ariovist und Vercingetorix,
dann die Bürgerkriege behandelt. Unter allen Theilen des Buchs
ist keiner, in welchem die Delbrücksche Sachkritik so gerechtfer-
tigt ist wie hier. Dies liegt an der Beschaffenheit der Haupt-
quelle, der Commentarien Cäsars, die Delbrück nach meiner Meinung
durchaus zutreffend würdigt (S. 516). Bei Cäsar ist in der That die
höchste kritische Vorsicht geboten. Zu positiven Resultaten gelangt
man freilich nur, wenn eine andere, bessere Ueberlieferung vorhanden
ist, deren Spuren jedoch von D. nicht verfolgt werden. Auch hier wer-
den die hohen Ziffern, besonders der Barbarenheere bekämpft. Del-
brück verficht die Ansicht, daß die numerische Ueberlegenheit eher
auf römischer Seite gewesen sei. Im übrigen wird wesentlich neues
nicht gesagt; es findet sich manche Unklarheit und mancher Irr-
thum, aber auch manche beachtenswerthe Vermuthung, z.B. über
die Gründe des Auszuges der Helvetier, die beabsichtigt haben sol-
len, den Aeduern gegen Ariovist zur Hülfe zu kommen. Dies sei
der Erwägung des Lesers empfohlen, wobei ich jedoch nicht bemerkt
finde, daß der Auszug der Helvetier schon 3 Jahre vor der Aus-
führung geplant wurde, und daß damals die römische Provinz von
Narbo sich ernstlich bedroht sah, woraus man über die Richtung des
Zuges immerhin Schlüsse ziehen kann.
In der Geschichte der Bürgerkriege erörtert Delbrück (S. 481.
495 f.) die Möglichkeit, daß Cäsar seine Truppen aus Italien über
Land durch Illyrien gegen Pompeius hätte führen können. Dieser
Weg kann jedoch in Wahrheit nicht in Betracht kommen; er ist erst
von Augustus nach langen und schweren Kämpfen eröffnet worden,
für Cäsar oder Pompeius war er nicht gangbar.
Kein Leser wird, denk ich, am Schluß das Delbrücksche Buch
aus der Hand legen, ohne sich lebhaft angeregt zu fühlen, und
darin liegt der eigentliche Vorzug des Werkes. Hingegen der un-
mittelbare Werth für die Kriegsgeschichte des Alterthums ist nur
gering. Eine solche kann nur auf den Quellen erbaut werden,
während der Verfasser sich in seinen kritischen Bemerkungen von
den Quellen lossagt und auf Wegen wandelt, wo er die Forschung
nur mittelbar fördern kann. Man lernt aus seinem Buche zugleich,
daß noch viele Theile der alten Kriegsgeschichte einer gründlichen
Bearbeitung im hohen Grade bedürftig sind. Wie diese anzustellen
ist, hat ktirzlich Kromayer an einigen Fällen gezeigt. Wenn die-
ses rühmliche Beispiel Nachfolge gefunden hat, wenn auf solchem
42*
628 | Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
Wege Thatbestand und Bedingungen der Kriegführung festgestellt
sind, dann wird man mit Nutzen das Delbrücksche Buch zur Hand
nehmen und aus ihm Anregung und Belehrung schöpfen. Diejenigen
hingegen, welche mit der antiken Kriegsgeschichte noch weniger ver-
traut sind, wird es leicht in die Irre führen.
Marburg, Juli 1901. Benedictus Niese.
Waitz, H., Das pseudotertullianische Gedicht adversus Mar-
cionem. Ein Beitrag zur Geschichte der altchristlichen Litteratur sowie zur
Quellenkritik des Marcionitismus. Darmstadt (Joh. Waitz) 1901. VIII 158 5. 8°.
Preis 5,60 Mk.
Den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bildet ein in
5 Biicher von durchschnittlich etwa 260 Versen eingeteiltes Poem,
das 1564 zuerst von Fabricius unter dem Namen Tertullians publi-
ciert worden ist und längst, obwohl Niemand es mehr diesem großen
Afrikaner zuschreibt, in den Ausgaben seiner Werke einen festen
Platz erhalten hat, gleichsam ein poetisches Seitenstück zu seinen in
machtvoller Prosa geschriebenen 5 Büchern adv. Marcionem. Eine
Handschrift des Gedichts existiert nicht mehr, der Text ist in sehr
dürftigem Zustande; da auch die litterargeschichtlichen Fragen, die
das der Originalität nicht entbehrende Werk anregte, keineswegs ein-
fach zu beantworten sind, hat es die Aufmerksamkeit schon vieler Ge-
lehrten auf sich gezogen. Neben E. Hückstädt hatte sich besondere
Verdienste darum A. Oxe, der auch im Wiener Corpus script. eccl.
eine neue Textausgabe veranstalten soll, erworben. Aber so wenig
wir bisher einen zuverlässigen Text besitzen, so wenig ist ein Ein-
verständnis über Zeit, Heimat, Quellen und kirchliche bzw. theolo-
gische Stellung des Verfassers erzielt; eine neue Monographie über
dies Thema kann sonach nicht überflüssig erscheinen.
H. Waitz ist bei quellenkritischen Arbeiten über Marcion und
die antimarcionitische Polemik auf unser Gedicht gestoßen und hat
bei näherer Erforschung desselben neue Ergebnisse gewonnen, die
er (wenn sie feststiinden, mit Recht) als für die Geschichte des
Christentums und der Kirche im Abendlande nicht unwichtig er-
achtet. In 3 Kapiteln behandelt er Heimat, Zeit und Quellen des
Gedichts (S. 4—75), weist dann S. 76—112 die älteren Hypothesen
über den Verfasser zurück, um von S. 112 an uns den wirklichen
Verfasser in Commodian, dem bekannten Dichter der Instructiones
und eines Apologeticum vorzustellen. Der lange Umweg, den der
Waitz, Das pseudotertullianische Gedicht adversus Marcionem. 629
Verf. da nimmt, ehe er uns sein Ziel verrät, der eine Reihe von
Wiederholungen zur Folge hat und in andern Fällen Zeitverschwen-
dung wäre, ist hier, weil Commodian auch eine ziemlich dunkle Ge-
stalt für uns ist, berechtigt; W. bemüht sich ehrlich, die Rechnung
mit unbekannten Größen nach ihren eigenen Gesetzen zu führen.
Schade, daß er es doch auch nicht über einen in vielen Einzelheiten
dankenswerten Beitrag zur Verfasserfrage hinaus und nicht zu einer
abschließenden Darstellung dessen gebracht hat, was wir mit größe-
rer oder geringerer Wahrscheinlichkeit über die Person des Anony-
mus und den geschichtlichen Wert seiner Dichtung jetzt feststellen
können.
Die wichtigsten Resultate von Waitz sind: Das Gedicht ist afri-
kanischen Ursprungs, es kann nicht viel später als Cyprian ange-
setzt werden, gehört also (?) ins 3. Jahrh. Dazu stimmt auch das
Ergebnis der Forschung nach seinen Quellen, unter denen obenan
stehen ein von dem Unbekannten gemeinsam mit Irenaeus benutzter
antignostischer Tractat, der eine römische, bei Anicet endende, Bi-
schofsliste enthielt, wahrscheinlich Justins Syntagma, und eine von
ihm wie von Tertullian verwertete Streitschrift wider Marcion, wahr-
scheinlich des Theophilus von Antiochien Buch xard Magx/ovos,
außerdem hat er den Hippdlytus gründlich studiert. Die Identificierung
des Verfassers mit Commodian gründet W. — vielfach im Anschluß
an Oxe, der allerdings unsern Anonymus nur als Nachahmer
Commodians ansieht — auf beinahe wörtliche Uebereinstimmungen
in der Schilderung der religiös-sittlichen Zustände in der Heidenwelt,
auf Gleichheit ihrer Anschauungen über Kirche und kirchliche Einrich-
tungen sowie ihrer theologischen Eigenart, ihre gleichartige Stellung
zur h. Schrift und die Benutzung des gleichen Bibeltextes, die Be-
kanntschaft mit den gleichen kirchlichen und Profanschriftstellern bei
beiden, endlich (S. 137—153) eine ganz außergewöhnliche Ueberein-
stimmung in Stil, Sprachgebrauch und Metrik beider Dichter. Den
Nachweis, daß die äußeren Lebensverhältnisse, soweit sie feststellbar
sind, zu dem Gesammtbilde passen, werden wir trotz S. 153—5
Waitz gern erlassen, denn >eine gewisse Kenntnis des Hebräischen«
verrät uns c. adv. M. sowenig wie Commodian, den bischöflichen
Rang (»nur ein Mann in einer solchen Stellung konnte so ängstliche
Sorge um die Neulinge im Christentum haben, wie sie c. a. M. IV
11—15 verrät<!) finden wir weder für Commodian noch für den
Verf. des carmen gesichert, und von dem syrischen Gaza als seiner ,
Heimat sollte man doch lieber nicht mehr reden.
Ein bischen Uebereifer in der Ansammlung von Empfehlungen
für das von dem Autor gewonnene Resultat und einige Ueberschätzung
oH Giet. al. Awe 1561 Sr =
4arcliuchlazeaden Pride dieser Umerswrusg werim Eur (wa
schlimme Fehler verbindern. an denen sie 3300. arge Nectar n
der Form und eine zu große Zahl unhakiarer. beweum rem ve-
kehrter Debauptungen, luftiger Constructkece. Ge tus Verzemn
auch zu dem solid Pundamestierten erschitiern
Für die Nonchalance. mit der W. schreit. mt er Sur > ti
sch nicht der kräftigste Beweis: >Und doch st es: ales wom
als nebensachlich, von wo aus es die mancherlei Zastind „asnn-
tet, die es zur Voraussetzung hat<. Schreibungen wie jsFus. Aer
kus werden wol noch weniger Billigung als de schism. de_ -ur int
natistarum) dial. c. tryph. (st. Trspbone) u. dgl finden. das Teieixcz
ist die unglaubliche Unzuverlassigkeit der hier gerade so rahlreamer
Citate. Als Beispiel nenne ich die kleine Iuvencusspalte 3. 72£. wt
IV 790 in 791, sub-begit, in sub-eyii, II 303 in III 303 (oder m II 3=3°_
sequitur vestigia in vestigia sequetur, 1 154 in 1354, 1461 m I455.0 =
in 1137 £, placidum in placidam, gaudia canta in g. cana zu Verbesserz
ist; die falsche Stellenangabe für peccata renutti II 267 vermag ich nic
zu rectificieren. Wie viel ist von dem Irenaeuscitat S. 50 n. 2: 4
ixtog deu thy dzocıdiev xadloraraı Sveros wohl in Ordsze::
S. 39 wird uns ein Irenaeustext so verwirrt angeboten, daß er v=
dem einen Gott Marcions aussagt, bonum esse ei bellorum comceapir-
centem! Einige dieser Druckfehler, die überhaupt oft den Sinn ra
nieren wie ignari st. wmorari, tectis st. lectis, angulos terrae x
angelos t. lassen auf unzureichende Sprachkenntnisse schließen: 3. 9
n. 1 wird ein tertullianisches fruticaverant in fructicaverant, S. 108
de jud. Dom. v.135 fruticat in fructicat »verbessert« ; S. 108 schreit
W. de jud. Dom. v. 158: mofantur sanguine venae als mutantfur, um
es ohne eine Ahnung von der Verschiedenheit der Verba als Par-
allele zu c. a. M. II 158 mutari .. sanguine vents anzubieten: eine
andere Accentuation als dvriypisron begegnet nirgends. Waitz
Vorschläge zur Textemendation sind selten einleuchtend, S. 119
wird man wenigstens sicher nicht wegen Commod. Apol. 123 (gus
formatur modo, <modo> se diffundit in auras) im c. a. M.
IV 24 »Spirius, aeris est divisor, conditor, auctor< das divisor in
diffusor verbessern dürfen, S. 122 ist die Conjectur dei munera sal-
vus st. munere kaum möglich, da das Object zu cognoscat I 238 folgt:
ammensum virtute deum; 8. 50 n. 1 wird ein apostolicis doch gar zu
„fink »nach den Parallelen< in apostolis verwandelt, und ein aller-
dings verdorbener Text c. III 298 wird durch Waitz’ Conjectur re-
clusit st. reclusum nur noch corrupter. Von seinen Vorgängern eig-
net er sich neben vorzüglichen auch recht zweifelhafte Emendationen
Waitz, Das pseudotertullianische Gedicht adversus Marcionem. 681
an, wie von Hückstädt (S. 63 n.) in c. II 234 mortua dejiciunt et
rursus viva resurgunt statt des überlieferten deficiunt — von den
Blättern der Bäume, von Blumen und Gras ist die Rede! — oder
von Oxé S. 29 n. 2 das pedantisierende locuta est st. loguuniur in
I 34 (Subject turba prophetarum); auch spiritu sancto dei st. spiritu
deque dei erscheint mir unnötig. Der begreiflichen Neigung, den
Text des c. a. M. nach den neuerdings veröffentlichten versus Victo-
rini, einem wol im 8. Jahrh. mit kräftiger Ausplünderung unseres
Gedichts fabricierten Cento umzugestalten, giebt m. E. Waitz zu viel
nach. II 37f. z.B. liest er wie der Cento: hunc sequitur Joseph,
cuius sine sorde juventa, carceris et dura conficta calumnia poena st.
h. s. Joseph, foedae sine sorde juventae (d. h. der Mann mit der
trotz seiner Schuldlosigkeit so erbärmlichen Jugend) carceris ei durae
c. c. poenae; muß denn der Centoknöpfer überall noch einen besseren
Text als Fabricius besessen und, falls er ihn hatte, ihn immer rich-
tig verstanden haben? — Auch W. hat seine Texte nicht immer
verstanden, S. 10 weist er zwar Hückstädts Träumereien über c. U
186—8 gut ab, setzt aber schwerlich Besseres an die Stelle, wenn
er darin den allgemeinen Gedanken findet, daß die christliche
Wahrheit, reich wie sie ist, keiner äußeren Zeugnisse bedarf, son-
dern sich durch sich selber rechtfertigt. Der Context läßt keinen
Zweifel, daß die ganz spezielle Idee von Christus als dem zwei-
ten Adam in diesen Versen gerechtfertigt werden soll in den Bahnen
der Recapitulationstheorie. Gleichviel ob wir c. 125 partito gras-
satus tempore oder praeterito lesen, nie heißt partito tempore, wie W.
S. 11 es für Commod. Apol. 834. 184 fordert: >in der Mitte eines
bestimmten Zeitraums«, sondern: während des ihm zugeteilten Zeit-
raums oder zu der bestimmten Zeit. Instr. I 21,2 wird nicht wie
c. III 14 Abel magister genannt (so Waitz S. 132 n. 2), sondern
c. HI 14 heißt Abel pecudum magister, Instr. II 21 ist der apse
magister, der von Abel unterschieden wird, Jesus. An derselben
Stelle verwechselt W. zu Instr. I 36, 6 f. offenbar den Kainiten Enoch
mit dem berühmten Offenbarungstriger. Mit rätselhaften Worten
zwängt er in Commodians Apol. 314 f. »eine Kenntnis der Legende
vom Grabe Adams auf Golgatha« hinein. Aehnliche Haarspalterei
findet in dem ¢raditur c. IV 132 den Hinweis auf eine Auslegung
Anderer und Aelterer, unmöglich aber einen auf die vom Dichter sel-
ber in einer anderen Schrift gegebene Auslegung. Ich dächte, we-
der das eine noch das andere, durch ¢raditur wird lediglich die vom
Dichter gegebene Erklärung als überliefert, d. h. gut begründet
empfohlen.
Was die Thesen Waitz’ angeht, so stimme ich ihm am ent-
632 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
schiedensten in der Ablehnung der vielen als Verfasser des c. adv.
Marc. aufgebotenen Victorini bei, obschon ich bedaure, daß der Victo-
rinus von Pettau bei dieser Gelegenheit so schlecht wegkommt, wie
wenn er nur Uebersetzer gewesen wäre (S. 99 n.), gegenüber dem »geist-
vollen< Commodian eine ältere Idee »geistlos weiterspinnend<, oder wenn
sein Fragment de fabrica mundi >ein abgeschmacktes schriftstelleri-
sches Produkt< heißt (S. 91 n. 3). Hoffentlich ist die Annahme einer
Entstehung unsers Poems indernachnicänischen Zeit und seiner
Abhängigkeit von Dichtern wie Ausonius oder Verecundus definitiv
abgethan, fast möchte ich sagen, trotz Waitz, denn in seinen Be-
weisen vergreift er sich hier bisweilen stark: der einzige durch-
schlagende, aber auch völlig ausreichende Grund ist die rudimentäre
und widerspruchsvolle Theologie des Verfassers. Die Annahme, daß
Commodian der Verf. ist, hat Waitz ziemlich wahrscheinlich gemacht,
während er es bei den reconstruierten Quellen (Justin und Theophi-
lus) nicht über interessante Anregungen hinaus bringen konnte: daß
er jene vermeintlichen Quellenwerke z.B. S.56 sogar zu charakteri-
sieren wagt, >dieselbe klare und übersichtliche Gliederung des Stoffes,
dieselbe gedrängte Art der Stoffbehandlung, dieselbe Vorliebe für
kleinere historische Notizen, derselbe präcise Stil<, wo er doch nur
ein paar abgerissene Zeilen vor sich hat, zeigt einen bei solchen
Debatten bedenklichen Wagemuth.
Daß ich die Hauptfrage, die nach Commodian als dem Verfasser
des carmen a. M., ohne eigene Neubearbeitung des Stoffes immerhin
noch nicht für erledigt halten kann, hat folgenden Grund. W. hat
zwar ältere Vorarbeiten, wie namentlich die wertvollen Oxeschen
Tabellen, geschickt benutzt und vielfach ergänzt, aber er hat die
Arbeit nicht von Grund aus aufgenommen. Er stützt sich auf den
gewiß vortrefflichen Index in Dombarts Commodianausgabe, zieht
aber daraus Folgerungen wie (S. 121) über den Gebrauch der Prä-
dikate omnipotens und summus für (oder neben) Gott in den Instruct.
und im Apol., ohne nachzusehen, ob diese Verzeichnisse vollständig
sein wollen, resp. unter welchem Gesichtspunkt sie angefertigt sind.
Unzähliges bringt er als Beweise für Verwandtschaft des Commodian
mit dem carmen a. M. vor, was Beide aus älteren Vorlagen schöpfen
oder was sie der gemeinen Sprache ihrer Zeit entnehmen. Ueber
das afrikanische Latein redet W., als wüßte er nichts davon, daß neuer-
dings dessen Existenz ganz bestritten wird, aber auch wenn er diese
für die Commodianthese nicht ausschlaggebende Behauptung glaubte
ignorieren zu dürfen, mußte er bei dem grammatischen und lexikali-
schen Detail etwas mehr als immer blos Commod. und c.a.M. bieten.
Die Anfertigung eines genauen Index verborum et locutionum zu c. a. M.
Waitz , Das pseudotertullianische Gedicht adversus Marcionem. 633
wäre die erste Vorbedingung für abschließende Arbeit, nach einem
solchen müßte der Index zu Commodian ergänzt werden und die an-
dern Lateiner von Tertullian bis Arnobius und vielleicht noch etwas
weiter herab in Auswahl sorgfältig verglichen. Eins der wertvollsten
Beweismomente, das aus dem von den Autoren benutzten Bibeltext,
wird bei W. mit ein paar Worten abgethan; weil eine so inter-
essante Stelle wie Mt. 5, 22 mit elxi (sine causa) — Tertullians
Bibeltext weiß von dem ein nichts — bisher in Instr. II 39,4 un-
bemerkt geblieben ist, übersieht sie auch Waitz, und keine Silbe
erfährt der Leser davon, daß c. a. M. IV 35 Eph. 3,15 so wieder-
giebt: ex quo omnis patria in caelo terruque vocatur. Dies patria
wird auch nicht unter den Gräcismen des c. a. M. notiert, zu denen
es wahrhaftig gehört; m. W. ist noch kein Lateiner bekannt, der
zereıa an dieser Stelle (anders liegt es Act. 3,25) patria übersetzt
hätte. Bei Besprechung der Beziehungen zwischen dem carmen a. M.
und Cyprian ist W. stolz auf seine (auf Victorini versus gegriindete)
Beobachtung, daß beide den letzten ATlichen Propheten Malachiel
nennen und daß der Wortlaut von Jes. 54,1 bei Cyprian Test. I 20
genau mit dem c. III 9f. übereinstimmen. Allein die Malachiel-
stellen bei Cyprian werden nur in einer Handschrift (W) überliefert,
von allen andern, auch der besten, L, ausgelassen, mindestens die
Schreibung des Namens ist dadurch als cyprianische beinahe unhalt-
bar geworden, und Jes. 54,1 lautet bei Cyprian nach den allein zu-
verlässigen Zeugen: Jocundare, sterilis, im c.a. M.: laetare, o sterilis.
Bei Vergleichung der Berichte über die vier Prophetenmärtyrer Je-
saias, Jeremias, Zacharias, Johannes in c. a. M. III 173 ff. und bei
Commod. Apol. 221 f. 513 ff. wird nicht mitgeteilt, daß im carmen
jene 4 verstreut in einer Aufzählung aller Propheten auftreten, bei
Commod. dagegen wie bei Tert. und bei Ps-Cypr. adv. Judaeos für
sich allein. Sectum ligno c. III 177 soll einen Hinweis auf den Baum
enthalten, in den sich Jesaias flüchtete — ich meine, auf die Holz-
sige, mit der ihn die eine Form der Legende zerschneiden läßt —;
und während von der Reihenfolge Esaias, Hieremias bei Commod.
und im c.a.M. viel Aufhebens gemacht wird (gegenüber Tert. und Ps-
Cypr.: Hierem., Esaias), bleibt die weit interessantere Frage, an wel-
chen Zacharias jeder der genannten Autoren gedacht habe, die
allerdings tief in die Geschichte der Exegese hineingeführt hätte,
unangeschnitten. Ein Argument wie S. 116, daß Commod. Instr. I
22,15 die gleiche Abneigung gegen die Institution der doctores
zeige wie c. a. M. IV 3, kann trotz S. 15 kein Sachkundiger ernst
nehmen ; diese »Kategorie von Gemeindebeamten< ist erträumt,
684 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
da lediglich ein unschuldiger Rückblick des Dichters auf Jac. 3, 1
neben Mt. 23,8 und II Tim. 4, 3 vorliegt.
So nötigt Vieles zur Zurückhaltung in der Annahme von Waitz’
Vorschlägen, immerhin hat er auf ein noch nicht genügend gewür-
digtes Ueberbleibsel der ältesten Poesie aus der lateinischen Kirche
mit manchen verdienstlichen Untersuchungen und Tabellen neu die
Aufmerksamkeit gelenkt, und auch darin, daß er es später als Com-
modians Instr. und Apolog., wenngleich von demselben Poeten ver-
faßt, ansieht, m. E. richtigen Tact bewiesen.
Marburg, Juni 1901. Ad. Jülicher.
Meyer, Ph., Die theologische Litteratur der griechischen Kirche
im sechzehnten Jahrhundert. (Studien zur Geschichte der Theologie
und der Kirche III 6). Leipzig, Dieterich (Theodor Weicher) 1899. XII u.
179 S. Preis 4 M.
Nachdem Philipp Meyer sich durch seine »Haupturkunden für
die Geschichte der Athoskléster< sowie durch eine Reihe von Ar-
tikeln in den »Theologischen Studien und Kritiken<, der » Zeitschrift
für Kirchengeschichte<, der »Theologischen Literaturzeitung<, der
»Byzantinischen Zeitschrift« und endlich in der 3. Auflage der
Hauckschen »Realencyklopädie< als einen der wenigen evangelischen
Theologen ausgewiesen hat, welche sich in der neueren Geschichte
der griechischen Kirche umgesehn haben, kann es nur mit Freuden
begrüßt werden, wenn er seine Vorarbeiten und Studien nunmehr zu
einem ausführlichen und abschließenden Werke zusammenfaßt. Das-
selbe gilt speziell der von der neueren griechischen Kirche seit
1453 hervorgebrachten theologischen Litteratur und schließt sich da-
her ergänzend dem Abschnitte an, welchen A. Ehrhard für die 2.
Auflage der Krumbacherschen »Geschichte der byzantinischen Litte-
ratur< geliefert hat. Der Plan zu diesem Unternehmen stammt be-
reits aus den achtziger Jahren, als Philipp Meyer noch Pfarrer der
deutschen evangelischen Gemeinde in Smyrna war. Da aber die
Herbeischaffung der nötigen Materialien einen großen Zeitaufwand
verursachte und den Abschluß der Arbeit peinlich verzögerte, so
bietet Verf. einstweilen der gelehrten Welt in der vorliegenden
Theologischen Litteratur der griechischen Kirche im sechzehnten
Jahrhundert< als einem ersten Teile eine Abschlagszahlung.
Er hat seine guten Gründe für diese Abgrenzung. Die Er-
Meyer, Die theologische Litteratur der griechisch. Kirche im sechz. Jahrh. 635
oberung von Konstantinopel, ein welthistorisches Ereignis ersten
Ranges, hat gleichwohl nicht sofort auch auf dem Gebiete der Wis-
senschaft eine Umwälzung herbeigeführt. Vielmehr zehrt man noch
eine Reihe von Jahren vom Erbteil der Väter, bis erst im 16. Jahr-
hundert die Einwirkungen des Abendlandes, die Unionsversuche der
Jesuiten, die Auseinandersetzungen mit den Protestanten der grie-
chischen Theologie einen anderen Charakter geben. Zugleich sieht
sich der Klerus angesichts der wachsenden Unfähigkeit des Volkes,
die altgriechische Kirchensprache zu verstehn, nach einigem Zögern
schließlich dazu gezwungen, den Gläubigen das Wort Gottes in ihrer
Sprache zu übermitteln und damit eine bisher völlig unbekannte
Erbauungslitteratur im Volksdialekte zu schaffen. Das Alles sind in
der Tat charakteristische Momente, welche auf dem Gebiete der
griechischen Theologie nötigen, als zeitliche Grenze zwischen Mittel-
alter und Neuzeit rund das Jahr 1500 festzuhalten.
Schwerer ist es einzusehen, warum Verfasser sich vorerst mit
einer Darstellung der Litteratur des 16. Jahrhunderts begnügt. Es
sind indessen nicht blos praktische Rücksichten, welche ihm diese
Beschränkung auferlegt haben. Vielmehr hat auch die griechische
Kirche trotz allem Konservatismus in der Neuzeit ihre Entwicklungs-
phasen durchgemacht, von denen die erste durch die Ablehnung der
Tübinger Lutheraner und den Widerspruch gegen die Kalender-
reform Gregors XIII. charakterisiert wird und sich also etwa mit
dem 16. Jahrhundert deckt. Ein ruhiges Zurückgreifen auf die
orthodoxe Lehre und eine konziliante die Gegner bis zu einem ge-
wissen Grade anerkennende Form sind den griechischen Theologen
damals eigen. Von Aufklärung ist noch keine Spur zu bemerken
und ein Einfluß der abendländischen Bildung auf das griechische
Volk nirgends nachweisbar. In diesen ihren Eigentümlichkeiten son-
dert sich daher die theologische Litteratur jener ersten Periode von
derjenigen der drei folgenden Geschichtsabschnitte, welche durch
die Patriarchennamen Kyrillos Lukaris, Jeremias III. und Gregor VI.
gekennzeichnet sind.
Daß Verf. dieses zeitlich klar abgegrenzte Gebiet nunmehr stoff-
lich gliedert, liegt ziemlich auf der Hand. Aber man muß sich hü-
ten, aus dem Umfange, welcher den einzelnen Disziplinen in der
Meyerschen Behandlung zuteil wird, sichere Schlüsse auch auf ihre
einstige Bedeutung für das kirchliche Leben im 16. Jahrhundert
ziehn zu wollen. Erst gegen Ende, jedenfalls erst in der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts kommt neues Leben in die systematische Theologie
durch die Polemik gegen Jesuiten, Lutheraner und Sekten. Gleich-
wohl nimmt die Besprechung dieser systematischen Schriften bei
636 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
Meyer die erste Stelle ein und füllt zugleich das halbe Buch. Un-
ter ihren zwölf Titeln sind einige entschieden von allgemeinerem
Interesse. Der klassisch gebildete Pachomios Rhusanos ver-
teidigt in temperamentvoller Weise die Orthodoxie gegen wirkliche
und vermeintliche Ketzer. Nicht minder bekämpft er die sittlichen
Schäden im Volksleben und speziell die Laxheit der Idiorrhythmiker
im Kloster, welche vom gemeinsamen Leben der Mönche nichts wis-
sen wollen: eine nicht uninteressante Zeiterscheinung, auf welche
Verf. bereits in seinen »Haupturkunden für die Geschichte der
Athosklöster« näher eingegangen ist. Eine Schrift ist an den >Fra
Marti Luteri< gerichtet; aber ihr Inhalt, der die sittliche Berechti-
gung der Wallfahrten zum heiligen Lande darlegt, scheint in der
Hauptsache einer griechischen Adresse zu gelten. Kartanos war in
verdienstlicher Weise bestrebt, die religiöse Bildung des gemeinen
Mannes zu fördern, freilich nicht ohne daß er sich dabei mancherlei
dogmatische Inkorrektheiten zu schulden kommen ließ. Rhusanos
weiß mit Sicherheit diese schwachen Stellen aufzuspüren und wird
nicht müde, den in der Vulgärsprache schreibenden unwissenschaft-
lichen Phäaken und seine Sekte an den Pranger zu stellen. Mele-
tios Pegas, Patriarch von Alexandrien, einer der bedeutendsten
griechischen Gelehrten und Kirchenfürsten in der zweiten Hälfte des
16. Jahrh., beherrscht vortrefflich die klassischen Sprachen und ist in
der Bibel wohl bewandert. In seiner Polemik gegen Katholiken,
Protestanten und Juden zeigt er Milde, Weitherzigkeit und allge-
meine Gesichtspunkte. Sein Hauptwerk ist eine Monographie über
das Wesen der Kirche. Maximos Margunios und Gabriel
Severos leben, obwohl der eine Bischof von Cerigo, der andere
Metropolit von Philadelphia, dauernd in Venedig und streiten über
die große Frage der Zeit. Denn der geistvolle und philosophisch
gebildete Margunios denkt gering von den Unterscheidungslehren der
beiden katholischen Kirchen und empfiehlt in seinen Schriften über
die Lehre vom Ausgang des heiligen Geistes die Union; er ist nahe
daran, mit der Inquisition in Berührung zu kommen. Ihm gegen-
über verficht Severos, ein Mann der Praxis, der als Priester an
St. Georg in Venedig eine reich gesegnete Tätigkeit entfaltet, die
ausschließliche Giltigkeit des griechischen Dogmas. Und die Tat-
sache, daß dieses damals von Bellarmin schlechtweg als häretisch
bezeichnet wurde, war nur allzusehr dazu angetan, daß man seiner
ablehnenden Haltung in der Unionsfrage vollauf recht gab. Der
kraftvolle Patriarch Jeremias II. spielt gegen Ende des Jahr-
hunderts in der Kirchengeschichte des Ostens eine respektable Rolle.
Zwar steht er den Wissenschaften ziemlich fern, aber unter seinem
Meyer, Die tbeologische Litteratur der griechisch. Kirche im sechz. Jahrh. 637
Namen gehn neben verschiedenen Erlassen, welche sein kirchliches
Selbstgefühl gegenüber römischen Annäherungsversuchen zum Aus-
druck bringen, vor allem die Acta et scripta, welche in den sieben-
ziger Jahren zwischen Tübingen und Konstantinopel gewechselt wur-
den; sie legen von der griechischen Selbstgenügsamkeit ein nicht
minder charakteristisches Zeugnis ab.
Weit anziehender als diese Produkte einer versteiften und sich
stets in denselben Kreisen bewegenden Orthodoxie wirken indessen
die Erbauungsschriften, welche das zweite Kapitel des Meyerschen
Buches ausmachen. Nur die wenigsten von ihnen sind hochgriechisch
geschrieben. Denn die klassische Sprache behauptete sich nach dem
Zusammenbruch der alten Bildungsanstalten zwar noch im Kultus
und hielt dadurch den Zusammenhang zwischen der Kirche der Vä-
ter und der Kirche der Gegenwart aufrecht, aber sonst war sie zu
einem Vorrechte kleiner Kreise zusammengeschrumpft. Wollte man
daher an das Gros der Gemeinde selbst herankommen können, so
war man genötigt, das Wort Gottes in der allgemein verständlichen
Volkssprache darzubieten. Eine Opposition der Konservativen gegen
die Neuerung ward leicht überwunden, denn rasch widmeten sich
die besten Kräfte dieser zeitgemäßen Gattung der religiösen Litte-
ratur. Den Anfang machen Volksschriften, deren religiös-moralischer
Inhalt allgemeinerer Natur ist, die neben der kirchlichen Frömmig-
keit auch den Aberglauben und Volksglauben zur Darstellung brin-
gen und gewissermaßen den Einfluß des Christentums auf das welt-
liche Leben repräsentieren. Da findet man Schilderungen der Pest,
des Erdbebens, einer Hadesfahrt mit erbaulichen Nutzanwendungen.
Zu solchen muß ein anderes Mal die Geschichte von Susanna und‘
Daniel den Anlaß bieten. Neben der Klage über die Vergänglich-
keit des Lebens und neben einem Lehrgedicht von den bösen und
guten Weibern findet sich die Opferung Isaaks als legendarisch aus-
geschmücktes geistliches Schauspiel. Ein Schulbuch stellt den Haupt-
tugenden die Hauptlaster gegenüber, und den Sohn geleiten triviale
Moralitäten und Lebensweisheiten vom Elternhause in das Treiben
der Welt. Steht bei all diesen Stücken der Verfasser ziemlich
im Hintergrunde, so weist die kirchliche Erbauungslitteratur im
engeren Sinne, die etwas später in die Erscheinung tritt, mehrere
scharf markierte Physiognomieen auf, die sich charakteristisch von
den sonstigen Alltagsgesichtern abheben. Mit dreien hat Philipp
Meyer die theologische Welt bereits durch einen Artikel in den
»Theologischen Studien und Kritiken« 1898 bekannt gemacht, mit
Kartanos, Rharturos und Damaskinos. Von dem bereits genannten
Kartanos, dem das Lebensglück — ob mit, ob ohne seine Schuld,
638 Gött. gel. Anz. 1%1. Nr. 8.
mag dahin gestellt bleiben — wenig hold war, besitzt die griechische
Kirche ein merkwürdiges Konglomerat von dogmatischen, historischen,
ethischen und liturgischen Materien, welches ausgesprochenermaßen
das Volk mit allen diesen Gegenständen bekannt machen will und
deshalb die Vulgärsprache gewählt hat. Zwar zeigt die ganze An-
lage den Dilettanten und kritiklosen Stümper, der Echtes und Apo-
kryphes durcheinanderwirft, und dem es auf eine Hand voll Hetero-
doxieen nicht ankommt, weshalb Pachomios Rhusanos im Namen der
Orthodoxie vor dieser gefährlichen Lektüre warnte. Aber andere
Partieen wiederum, besonders die ethischen Traktate und eine vor-
treflliche Erklärung des Vaterunsers, sind zum Gemeingut des grie-
chischen Volkes geworden und behaupten sich an Popularität ent-
schieden neben den Heiligenerzählungen seines erbitterten Gegners.
Nicht ohne Bedeutung sind des Rharturos blumenreiche Fasten-
predigten. Indessen treten sie entschieden zurück hinter dem The-
sauros des Damaskinos, einem vielfach aufgelegtem Werke, aus
dem man in den Dorfkirchen vorlas, das der kirchlichen Volkslitte-
ratur eigentlich erst die Wege ebnete und das heute noch in Vene-
dig gedruckt wird. Es ist eine Sammlung von hagiographischen und
Perikopenpredigten, die im Anschluß an die Väter und ohne jede
römische Anwandlung die Linie der griechischen Orthodoxie streng
einhalten. Diesem sicheren Takte entsprechend hat Damaskinos auch
aus dem Werke des Kartanos die unzweifelhaft wertvollen Partieen
ausgeschieden und ihnen durch Aufnahme in seinen Thesauros zu
einer Verbreitung verholfen, an der sie wohl sonst der anrüchig ge-
wordene Name ihres Verfassers gehindert hatte. Und nicht minder
sind als ein Erbauungsbuch die Heiligenleben des geistvollen Maxi-
mos Margunios gedacht, die noch im 17. Jahrhundert überaus
häufig gelesen wurden. Man bedauert mit dem Verf. sich bei die-
sen wenigen Proben griechischer kirchlicher Volkslitteratur begnügen
zu müssen, und man stinmt gern mit ihm in den Wunsch ein, daß
die Zahl derjenigen Gelehrten wachsen möge, die uns aus den Hand-
schriften immer neues Material dieser Art zu Tage fördern. Denn
bei diesen Schriften fallen die engen Schranken der Schuldogmatik,
von ihnen aus kann man allein in das Wesen der griechischen Kirche,
in die Lebensideale der griechischen Frommen befriedigende Ein-
blicke gewinnen.
Soviel über den Inhalt der beiden umfangreichen Hauptkapitel.
Außer ihnen bietet etwa noch die von Meyer an fünfter Stelle ge-
nannte kirchenhistorische Litteratur allgemeineres Interesse. Alles
Uebrige hingegen, Liturgie, Bibel und Exegese, Kirchenrecht, Edi-
Meyer, Die theologische Litteratur der griechisch. Kirche im sechz. Jahrh. 639
tionen, kommt nicht über den Standpunkt dürrer Namensverzeichnisse
hinaus, so daß das ganze Buch ziemlich matt ausklingt.
Ueberhaupt hätte sich wohl aus dem Stoffe etwas Anmutigeres
machen lassen. Freilich handelt es sich in der ganzen Schrift ja nur
um ein Verzeichnis von Namen und Titeln, und mehr hat Meyer über-
haupt nicht geben wollen. Bereits einen Einblick in das litterarische
Treiben des 16. Jahrhunderts zu bieten, lag ihm noch durchaus fern.
Es galt und gilt nach seiner eigenen Erklärung noch immer in erster
Linie, das weitschichtige, aber schwer zugängliche Material über-
haupt erst einmal herbeizuschaffen, zu ordnen und zu sichten, ehe
Spätere mit Hülfe dieser Bausteine es wagen können, ein wirkliches
litterarisches Gebäude aufzuführen. Das sind Alles unzweifelhafte
Tatsachen. Trotzdem wäre es möglich gewesen, hier und da bereits
so etwas wie ein Stückchen Bauriß, eine kleine harmlose Skizze dar-
zubieten, dem Verfasser zur Ermutigung, dem Leser zur Belohnung.
Es ist keine behagliche Arbeit, sich durch diesen Katalog durchzu-
arbeiten, und doch ist er geschrieben, um gelesen zu werden. Auch
ich habe mich dieser Mühe unterzogen, und zwar um dadurch in ein
mir noch völlig fremdes Stück Kirchengeschichte eingeführt zu wer-
den. Aber ich habe mich, indem ich die Sache pflichtgemäß er-
ledigte, wiederholt fragen müssen, ob man sie dem Anfänger nicht
hätte bedeutend leichter und freundlicher gestalten können. Es
ist doch gar zu viel Knochengerüst und zu wenig Fleisch in dem
ganzen Buche. Und obendrein sind die bibliographischen Notizen
und die kirchen- und kulturhistorisch anziehenden Resultate nicht
klar geschieden. Der Leser muß beständig über dürre Stoppelfelder
wandern, wenn er ein Blümlein pflücken will. Für solch eine Ar-
beit bedarf es der Scheidung der Materialien durch einen zwiefachen
Druck. In Text und Anmerkungen muß getrennt werden, was in-
haltlich nicht zusammengehört, damit der Leser rasch findet, was
ihn interessiert, der eine die Bibliographie, der andere die litterar-
geschichtlichen Auseinandersetzungen, der dritte die inhaltlichen Er-
gebnisse von allgemeinerer Bedeutung.
Eine solche Gruppierung des Stoffes dürfte obendrein ebenso-
wohl dem Stile wie der sorgfältigen Durchführung der Einzelheiten
zu Gute kommen. Dagegen sieht man bei der gegenwärtigen Anlage
der Schrift nur allzu oft im Geiste das Konzept vor sich mit seinen
Kürzungen, Zusätzen und daraus entstandenen Unebenheiten, denen
die letzte glättende Hand nicht zuteil geworden ist. Dahin gehört
das häufige und obendrein zwecklos wechselnde (»Ich« und »Wir«)
Personalpronomen, wenn der Verfasser von sich, seinen Bemühungen,
seiner Privatbibliothek spricht (Vgl. S. 20: So kann ich mich doch
640 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
auf eine Reihe trefflicher Vorarbeiten stiitzen. Wir nennen zuerst
u.s. w.). Dahin ferner unschöne Wiederholungen (S. 24: Vor allen
haben die Griechen u.s. w. Namentlich haben sie sich u.s.w. Auf
die innere Entwicklung der Theologie haben sie u.s.w. S. 71: Er
wurde der Inquisition verdächtig u.s.w. Er knüpfte mit vielen Ge-
lehrten u.s.w. Er starb in der Nacht u.s.w. S. 85: Doch hat er in
Padua studiert. Er führte u.s.w. In der zweiten Hälfte des Jahr-
hunderts hielt er sich u.s.w. Er war Priester u.s.w. S. 122:
Quellen — Hauptquelle). Dahin drittens die Härte, den Artikel vor
Eigennamen zu setzen, wo er entbehrlich ist, und ihn ein anderes
Mal wegzulassen, wo er um der Verständlichkeit willen dringend not-
wendig wäre (S. 17: Den Franz Budde, den Hauptvertreter. S. 35:
Litteratur über den Manuel. S.89: Auf den Jeremias; übrigens ist
hier das sinnstörende Komma zu streichen. Dagegen der harte Da-
tiv S. 46: Gennadius Scholarius liegt es nahe). Dahin endlich irre-
führende Wechsel der Konstruktion (S. 90: Schüler des H. von M.,
A. von T. und dem Studiten Damaskinos. S. 132: Die Ideen der
Vergeltung, vom Gehorsam gegen die Kirche und von der Askese.
S. 147: L. P., Metropoliten von Cypern und L. de B., dem Metro-
politen von Rhodos). Unbeholfen klingt der Uebergang S. 20: Wie
ich oben bemerkte, ist nun ein kurzer Ueberblick über die Litteratur
zu geben. Ebenso eine Stelle wie S. 85: Der Titel des Werkes lau-
tet u.s. w. Der Titel fährt nun fort. Ueberhaupt ist an stilistischen
Versündigungen in dem Buche kein Mangel, so daß man manchen
Satz lesen und wieder lesen muß, ehe man sicher weiß, was Verf.
hat sagen wollen. S. 33: Die systematische Litteratur hat aber (statt:
zwar) nie ganz geruht u.s.w. Doch erst am Ende des Jahrhunderts
u.8.w. Schief sind die Sätze S. 54f.: Den Protestanten gegenüber
stand er milder, wiewohl auch er an eine Union nicht ernstlich
dachte. Doch scheint er von protestantischen Gedanken nicht unbe-
einflußt zu sein. Auch verteidigte er das Christentum gegen die
Juden. Misverständlich lautet S.86: Zum Vierten fragt der Kardinal
nach dem Charakter des Opfers in der Eucharistie, ob es ein Dank-
oder ein Sühnopfer sei. Der Grieche läßt es beides sein.
Nicht minder dunkel klingen S. 86: Väter und Synodalbeschlüsse
bilden den Grund; S. 91: Nach außen hin hob er das Ansehen der
Kirche durch den Anschluß an Rußland, denn das bedeutete für
ihn der neue Patriarchat im Norden; S. 99: Nur die Anordnung ist
eigen (= Eigentum des Autors). Unerlaubt ist eine Beziehung auf
die Ueberschrift wie S. 105: Zweites Kapitel. Die Erbauungslitteratur.
Hiermit betreten wir ein Gebiet u.s. w. Eine fatale Härte bringt
S. 131: Die Kirche ist die Heilsvermittlerin durch Kultus und Sakra-
Meyer, Die theologische Litteratur der griechisch. Kirche im sechz. Jahrh. 641
mente. Misverständlich sind S. 144: In der Zeit (statt: In dieser Z.);
S. 147: Inhalt die drei Hauptliturgien (statt: Die Ausgabe enthält
die drei H.). Daran reihen sich eine Menge von Flüchtigkeiten und
Wunderlichkeiten (S. 28: Beachtbaren Katalog; S. 52: Er breitet
sich dann in diesem Sinne über die Sache weiter aus; S. 55: Bei
aller Polemik hielt sich Mel. u.s.w. und betont; S.97: Daß er
nicht Selbständiges bringen wolle; S. 101: Daß Rom darum den
ersten Rang unter den Bistümern erhalten, weil Petrus dort den
Märtyrertod erlitten; S. 105: Seit langem; ebendas.: Entpupt;
ebendas.: Wie ihn Niemeyer abgedruckt; S. 128f.: Der dritte Da-
maskinos ist gewesen — gilt — und war; S.131 : Der Sakramente sind 7).
Es scheint vielleicht kleinlich, derartige Nachlässigkeiten und
Unrichtigkeiten in einem Buche zu rügen, bei dem der Verf. auf
andere Dinge Wert zu legen gehabt hat als auf peinliche Stilkorrekt-
heit. Laufen solche Kleinigkeiten ja doch jedem Schriftsteller einmal
mit unter. Aber sie müssen hier berührt werden, da sie für die
ganze Arbeit charakteristisch sind. Der unfertige Zustand des Kon-
zeptes tritt überall zu Tage und beleidigt auch auf andern Gebieten.
Mit der Orthographie ist es heutzutage zwar eine misliche Sache,
aber man kann sich doch wenigstens konsequent bleiben und braucht
nicht zu schwanken zwischen Cardinal (S. 85) und Kardinal (S. 86),
Constantin (S. 102) und Konstantinopel (S. 64), Corinthios (S. 35)
und Korinthios (S. 120), Pachomius (S. 40) und Pachomios (S. 41),
Margunios (S. 70) und Margunius (S. 74), Demetracopulos (S. XI)
und Demetrakopulos (S. 69), Hellenomnemon (S. XI) und Helleno-
mnimon (S. 120), an St. Georg und an St. Johannis Baptista (S. 125);
am allerwenigsten aber in solchen Fällen, wo dem Leser Zweifel in-
betreff der Identität aufsteigen könnten wie bei Buddeus und Budde
(S. 17), luthersch (S. 45) und lutherisch (S. 46); oder bei selteneren
Namen und Titeln, mit denen der Neuling auf dem Gebiete der by-
zantinischen Geschichtswissenschaft ohnehin seine Last hat. So wird
nicht jeder gleich ohne Weiteres einen Cod. Ath. (S. 123) für einen
Athous (S. 127) ansehn, und ebensowenig trägt es zur Uebersicht-
lichkeit bei, wenn auf derselben Seite (133) Cod. 1169 Athous neben
Cod. Athous 2128 steht. Bei einer Lektüre dieser Art wird das
Auge von jeder Unregelmäßigkeit besonders peinlich berührt. Die
Tugend eines Katalogs besteht nicht blos in seiner sachlichen Rich-
tigkeit, sondern zugleich in seiner äußeren Sauberkeit. Und an die-
ser hat es Verf. leider sehr oft fehlen lassen. Auf Schritt und Tritt
fragt man sich, ob hier eine beabsichtigte Unterscheidung oder ein
bloßes Versehn vorliegt. Und man gerät nicht gerade in die ange-
nehmste Stimmung, wenn man immer und immer wieder das letztere
konstatieren muß.
Gött. gel. Anz. 1001. Nr. 8. 43
642 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
Die Art und Weise, wie Verf. die Litteratur zu citieren beliebt,
ist auch oft unerfreulich. Bei bekannten Werken mag es noch hin-
gehn, wenn bald Herzog R. E?. Bd. 4 (S. 25), bald blos Herzog’,
aber daneben Bd. II (S. 20), bald wieder Herzog Realencyklop.*
(S. 128) geschrieben wird. Dasselbe gilt, wenn bei der »Byzantini-
schen Zeitschrift« bald die Bände (S. 32), bald die Jahrgänge (S. 47.
99) genannt werden. Und ebenso mag es hingehn, wenn das be-
ständig als »Krumbacher?< herangezogene Werk mit einem Male
S. 111 überflüssiger Weise als »Krumbacher, Gesch. der byz. Litt.*«
erscheint. Aber schön sieht es gleichwohl nicht aus. Auch nicht,
wenn wir neben Hist. eccl. Rit. (S. 119) noch Hist. Eccl. Rit. (S. 142)
und sogar, was jedenfalls irreführend sein kann, H. E. Rit. (S. 144.
145) lesen. Ebenso wechseln Gr. orth. (5.102), Graec. orth. (S. 103),
Graecia orthodoxa (S. 29) und Graecia Orthodoxa (S. 77). Ein vom
Verf. viel gebrauchtes Werk führt den wechselvollen Titel Bibl.
grecque vulgaire (S. 107), Bibl. Grecque vulgaire (S. 109), Bibl. gr.
vulg. (S. 103), Bibl. Gr. vulg. (S. 111). Besser bekannt als mit die-
sem modernen Sammelwerk Legrands ist wohl der Leser mit dem
alten Fabricius; trotzdem sieht er nicht ein, warum derselbe als Fabr.
Bibl. Gr. ed. Harl. (S. 69), Fabr. Bibl. Gr. (S. 116), Fabr. Harl. B.
Gr. (S. 119), Fabr. Harl. Bibl. Graec. (S. 128), Fabr. Harl. (S. 135),
Fabr. Harl. a.a.O. (S.96) abgekürzt und variiert werden muß. Auch
habe ich erst eine Stichprobe machen müssen, ehe ich glauben konnte,
daß die hinter Migne (S. 36) oder Migne Pr. Gr. (S. 38) stehenden
ebenso auffallenden als überflüssigen Buchstaben B. und C. nichts
anderes als Band und Kolumne bezeichnen solleu; denn zur Ab-
wechselung erscheint wieder Migne C. (S. 39) oder Migne a.a.0. C.
(S. 40). Dieser Mangel an Ordnung im Citieren führt fort und fort
zu Weitschweifigkeiten, ohne daß dem Leser daraus irgend ein Vor-
teil erwiichse. So S. 113: Ueber u.s.w. hat neuerdings Hesseling
gehandelt in der oben S. 108 genannten Schrift. Warum nicht ein-
fach : Vgl. Hesseling, Charos? zumal dieser Titel zwei Zeilen später
schon wieder begegnet. Oder: Wie man bei Legrand nachsehn wolle
(S. 127). Oder: Welches Werk hier auch heranzuziehen ist (S. 55).
Oder S. 120: Wie ich in dem oben genannten Artikel in den Theol.
Studien und Kritiken nachgewiesen habe. Unnütz breit und doch
ungenau. Nun kann der Leser wieder auf die Suche nach dem »Oben«
gehn. In der Regel habe ich dabei Erfolg gehabt, zuweilen aber
verlor ich die Geduld und gab die Jagd auf, z.B. bei dem »Oben«
auf S. 128. Auch das trägt nicht zur Annehmlichkeit bei, wenn ein
obskurer Theologe wie Zacharias Skordylios (S. 85) bald mit dem
einen, bald mit dem andern Namen genannt wird. Unwillkürlich
stutzt der Leser und fragt sich, von wem denn eigentlich die Rede
Meyer, Die theologische Litteratur der griechisch. Kirche im sechz. Jahrh. 643
ist. Auch empfiehlt es sich, wenn man ein Siglenverzeichnis an die
Spitze gestellt hat, sich nach diesem zu richten. Denn nicht jeder
kann sofort erraten, daß Gedeon ’E. ’4/. V (S. 135) einen Artikel
von M. J. Gedeon in der Zeitschrift ‘“ExxAnovatixn ’AArdsıa bedeuten
soll. Mag sein, daß ein Kenner der einschläglichen Litteratur hier
einen besseren Ueberblick hat. Aber es gibt doch in jeder Disziplin
auch Anfänger, und auf diese hat der Autor Rücksicht zu nehmen.
Drum ist es gut, wenn er nicht Ausgabe und Auflage (S. 23) ver-
wechselt und wenn er auch deutsche Büchertitel korrekt wiedergibt.
Daß Verf. konsequent das bekannte Buch von Kattenbusch »Lehr-
buch der vergleichenden Konfessionskunde« (S. 22. 23. 55) statt
»Confessionskunde<« nennt, läßt sich leidlich verschmerzen. Dagegen
mußte ich lange nach Crakau (S. 80) suchen. Endlich erkannte ich
ihn in >Cracau, Die Liturgie des h. Joh. Chrysostomus.< Zwei Feh-
ler in einem Titel! Und wenig angenehm wirkt es, wenn Verf. sein
bisheriges Hauptwerk S.46: Haupturkunden für die, S. 47 aber: zur
Geschichte der Athosklöster betitelt, oder wenn er einen gern benutz-
ten Artikel von Steitz über »Die Abendmahlslehre der griechischen
(S. 80: Gr.) Kirche« S. 61 in der Z. f. d. Th., S. 80: J. f. D. Th,,
S. 96: J. D. Th. erscheinen läßt. Mit solchen Fällen verglichen will
es dann nur wenig besagen, wenn Verf. dem Leser die Wahl läßt
zwischen S. 60: Theol. St. u. (und) Kr., S. 120: Theol. Studien und
Kritiken, S. 121: Theol. Stud. und Krit., S.127: Th. Stud. u. Krit.,
S. 130: Stud. u. Krit., S. 131: Studien und Kritiken, wenn den
Band-, Kapitel- oder Seitenzahlen die betreffenden Bezeichnungen
bald vorangehen, bald nicht (z.B. S.59: Lib. XI cap. 1., Lib. XV, 5;
S. 113: Krumbacher? S. 814; S. 116: Krumbacher? 556; S. 117:
Legrand? 1183; S. 119: Legrand® IS. 203), wenn lateinische Titel einmal
große, ein andres Mal kleine Anfangsbuchstaben führen (S. 97. 99:
Responsum ; 8. 100: responsum; S. 99: De coena domini, de Con-
fessione, de poenitentia; S. 73: eine disputatio u.s.w.; S. 75: der
Brevis tractatus), wenn man bald liest »Königliche Bibliothek zu
Hannover< (S. 89), bald »Kgl. Bibl. zu Hannover (S. 92), bald Kgl.
Bibl. Hannover (S. 96), oder S. 93: Gött. Un.-Bibl.; S. 101: Göt-
tinger Universitätsbibliothek, wenn die der Münchener Hof- und
Staatsbibliothek entnommenen Bücher teils mit, teils ohne ihren
Standort (S. 114. 116) angegeben sind und es dann wieder scheinbar
sehr genau und in Wirklichkeit ungenau S. 117 heißt: das Münche-
ner Exemplar A. Gr. b. 47. 4°., wenn Verf. beim Citieren der eig-
nen Schriften im Zweifel ist, ob er »mein< (S. 46. 47) oder »Mein«
(S. 80. 120) schreiben soll. Solch ein Mangel an Akkuratesse kann
die Lektüre des Buches geradezu erschweren. So fand ich S. 90.
92 Sathas, ozyedéaopa, S. 92 außerdem noch Sathas, Zysd. angeführt.
43*
644 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
Was war es mit diesem Buche? Das Siglenverzeichnis gibt zwei
Schriften des Sathas an, aber unter ihnen kein oyeddacpa. Die
litterargeschichtliche Einleitung wiederum, die ich zu diesem Zwecke
wiederholt durchlas, nennt zweimal ein oyediasue«, aber das eine
stammt von Joseph De-Kigalla (S. 26), das andere von Matthäus K.
Paranikas (S. 28). Als ich schon alle Hoffnung aufgegeben hatte,
fand ich das Gesuchte endlich unter der den Patriarchen Jeremias I
betreffenden Speziallitteratur als Bioypayındv oysdiasun megi tov
zargıcpyov Iegeulov B’ (S. 89). Eine solche Art abzukiirzen ist
unerlaubt. Warum nicht wenigstens Bioygagixdy oyedlacua, damit
von vornherein jede Verwechselung mit ähnlichen Titeln ausgeschlos-
sen ist? Warum nicht eine klare Scheidung zwischen Litteratur-
angaben und übrigem Text, damit der Leser sich rasch und sicher
orientieren kann? Warum sur ein Verzeichnis der »hauptsächlich-
sten« und nicht aller Abkürzungen ?
Philipp Meyer gilt mit Recht als Autorität auf dem Gebiete
der neugriechischen Kirchengeschichte. Kaum einen andern prote-
stantischen Theologen dürfte man finden, der jene schwierigen und
fern abliegenden Materien mit gleicher Meisterschaft beherrscht. Ich
kann es daher nur mit Freude begrüßen, daß die auch mir lieben
»Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche< diesen inter-
essanten Mitarbeiter gewonnen haben. Auch fördert die vorliegende
Schrift mit ihren in Aussicht gestellten Weiterführungen entschieden
aufs dankenswerteste unsere Kenntnis des religiösen Lebens in der
griechischen Kirche der letzten Jahrhunderte. Um so mehr bedaure
ich jene reiche Auswahl von formellen Unrichtigkeiten und Flüchtig-
keiten haben treffen zu müssen; der verehrte Herr Verfasser möge
mich deshalb nicht der Splitterrichterei zeihen. Hätte er uns eine
Geschichte der griechischen Litteratur geboten, so würde es mir
nicht in den Sinn gekommen sein, auf derartige Aeußerlichkeiten
den Finger zu legen. Da es sich aber um die entsagungsvolle und
notwendige Aufgabe einer vorläufigen Materialiensammlung, um einen
Katalog handelt, so muß der Leser die peinlichste Korrektheit ver-
langen. Ja er hat sogar Anspruch auf eine Uebersichtlichkeit, welche
ihm das leichte Nachschlagen und die rasche Orientierung ermöglicht.
Beides wird ebensowohl durch typographische Mittel wie durch eine
ıninutiöse Sichtung und Behandlung der einzelnen Bestandteile erreicht.
Verf. sei aber um so mehr gebeten, diese Ausstellungen bei der das
17. bis 19. Jahrhundert umfassenden Fortsetzung seiner litterarhistori-
schen Arbeit in Erwägung zu ziehn, als er es doch in der Haupt-
sache mit einer Gemeinde von Laien zu tun hat, die, wie dies bei mir
der Fall war, gerade erst durch seine Schriften mit Personen und
Wendt, Das Johannesevangelium. 645
Verhältnissen vertraut gemacht werden wollen, von denen sie bisher
kaum allgemeine Umrisse gekannt haben.
Erlangen, November 1900. Friedrich Wiegand.
Wendt, H. H., Das Johannesevangelium. Eine Untersuchung seiner Ent-
stehung und seines geschichtlichen Wertes. Göttingen, Vandenhoeck und
Ruprecht, 1900. VI und 239 S. Preis 6 Mk.
Das vorliegende Buch ist, wie W. in seinem Vorwort bemerkt,
eine erneute und verbesserte Darlegung der von ihm im Jahre 1886
in seiner »Lehre Jesuc I S. 215—342 vorgetragenen Hypothese,
daß im vierten Evangelium, speciell in den Redestücken, ältere
schriftliche Aufzeichnungen verarbeitet seien. Diesen ursprünglichen
Kern des Evangeliums, den er kein Bedenken trägt dem Apostel
Johannes zuzuschreiben, glaubt W. aus der späteren Umhüllung los-
lösen zu können und dadurch seine eigentliche Bedeutung in ein
helleres Licht zu setzen.
Zwei Gründe lassen W. eine solche Scheidung notwendig schei-
nen: 1) Differenzen zwischen den Anschauungen in den Reden und
den erzählenden Partieen des Evangeliums und 2) Störungen der
Beziehungen und Zusammenhänge jener durch diese.
Die Differenzen zwischen den Reden und den erzählenden Par-
tieen gipfeln nach W.s Meinung darin, daß in diesen Jesus als der
große Wunderthäter erscheint, der seine Messianität durch Wunder
und Zeichen beglaubigt, während in den Reden auf diese nicht nur
kein Gewicht gelegt, sondern sie sogar völlig ignoriert werden.
Gegen diese Behauptung liegt der Einwurf auf der Hand, daß
Jesus in seinen Reden doch so nachdrücklich auf seine Werke hin-
weist und diese Werke nicht wohl etwas anderes sein können als
die Zeichen, die uns zwischen den Reden erzählt werden. Aber die-
sen Einwurf beseitigt W. eben durch seine Hypothese. Es ist nur
der täuschende Rahmen, sagt er, der diesen Schein bewirkt. Ent-
rücken wir die Reden ihrer historischen Einkleidung, so erkennen
wir, daß unter den Werken das ganze »Verkündigungswirken« Jesu
zu verstehen ist, daß sie nicht etwas zweites neben den Worten sind,
sondern steigernd als der vollere, die Worte mit umfassende Begriff
eintreten (S. 58).
Wunderbar, wie kam nur der Verfasser des Evangeliums dazu,
ein Bild in seinen Rahmen zu stellen, das so wenig dazu paßte?
Warum zogen ihn Reden, die bewiesen, daß Jesu seine göttliche
Persönlichkeit ohne Wunderthaten unmittelbar durch ihre geistige
Natur beglaubigt habe, so mächtig an, wenn er das Uebermenschliche
646 Gött. gel. Anz. 1%1. Nr. 8.
doch nur in äußeren Wundern sah? Und wenn er auf Wunder so
erpicht war, warum erzählte er dann nur von sechsen? Warum
brachte er diese unter einander und mit den Reden in einen künst-
lichen Zusammenhang , um auf diesen Unterbau ein Stück von an-
nähernd demselben Umfang zu setzen, in dem von neuen Wundern
keine Rede ist?
Indessen statt ins allgemeine zu schweifen, wird es besser sein,
die Voraussetzung zu prüfen, aus welcher W. eine Verschiedenheit
der Anschauung in den Reden und den erzählenden Teilen folgert.
W. findet einen Beweis dieser Verschiedenheit schon in dem
sprachlichen Ausdruck. Nur so glaubt er es erklären zu können,
daß Jesus sich in seinen Reden immer auf seine Werke (£py«) be-
rufe, während in den erzählenden Partieen dafür der Ausdruck
Zeichen (onpeta) gebraucht werde. Wenn man diese Erklärung nicht
annehme, müsse man an einen unbegreiflichen Zufall glauben (S. 56).
Natürlich leugnet W. nicht, daß unter Werken auch wunderbare
Werke verstanden werden können, ja er giebt zu und muß es natür-
lich von seinem Standpunkt aus so auffassen, daß auch der Evange-
list, d.h. derjenige, der nach seiner Meinung die Reden zu dem
Evangelium verarbeitet hat, den Ausdruck so verstanden habe. Liegt
aber die Sache so, so wird man auf einem andern Wege zu dem
Zufall zurückgeführt, den W. durch seine Erklärung ausschließen
möchte. Denn wenn für den Evangelisten Werke und Zeichen gleich-
wertige Begriffe waren, so lag ja für ihn gar keine Veranlassung
vor, den Ausdruck »Werke« in den erzählenden Partieen zu vermeiden.
Thatsächlich hat er dies freilich auch nicht gethan, denn 7, 3
ist in einer erzählenden Partie von Werken die Rede. Gleich hier
zeigt sich die Achillesferse der W.schen Hypothese: obwohl Erzäh-
lung, leitet W. dies Stück doch aus der »Quellenschrift« ab. Um
aber dem Zwange zu entgehen, in der >Quellenschrift< den Begriff
anzuerkennen, den er auf die Bearbeitung beschränkt, muß er zu
einer überaus künstlichen Erklärung greifen. Die Brüder Jesu, de-
nen an jener Stelle der Ausdruck »Werke« in den Mund gelegt wird,
dächten dabei zwar an wahrnehmbare Wunderthaten, sagt er, aber Jesus
nehme ihn in einem andern Sinne (S. 60 Anm. und §.132f.). Dem
widerspricht aber, daß Jesus durchaus nicht gegen die unzweideutige
Voraussetzung seiner Brüder, sondern nur gegen ihre Zumutung,
sich schon jetzt in Judaea zu offenbaren, protestiert.
Aber auch in der Rede 7, 21 ist der Ausdruck so deutlich wie
möglich auf ein Wunder bezogen. Denn die Heilung des Gelähm-
ten, um die es sich hier handelt, ist nach 5, 8 durch ein bloßes
Wort bewirkt worden. W. greift hier wieder zu der Aushilfe, daß
die Erzählung in der Quellenschrift anders gelautet habe (S. 68 ff.),
Wendt, Das Johannesevangelium. 647
und auf Grund dessen behauptet er, die Heilung käme nicht als
wunderbare That in Betracht, sondern als verbotene Arbeit.
Wiederholt berührt W. die Stelle 5, 20, wo Jesus von den Wer-
ken spricht, die ihm der Vater zeigt, und von größeren, die er ihm
zeigen wird, ohne die einfache Thatsache, die sich aus dieser Stelle
ergiebt, anzuerkennen. Jesus geht von der Heilung des Gelähmten
aus und als größere Werke, die ihm der Vater zeigen wird, damit
die Juden sich verwundern, nennt er Totenerweckungen. Die That-
sache, daß hier Wunderthaten Werke genannt werden, bleibt von
den Schwierigkeiten unberührt, die auf den weiteren Ausführungen
Jesu ruhen. Und wenn diese Ausführungen sogleich eine allge-
meinere Wendung nehmen und von der Herrschaft des Sohnes über
Leben und Tod überhaupt handeln, so beweist doch die Form des
Satzes in v. 20: »und größere Werke als diese — nämlich, die ihr
gesehen — wird ihm der Vater zeigen, damit ihr euch verwundert«,
daß zunächst an einzelne Totenauferweckungen gedacht war.
Derselbe Sinn liegt aber in dem Worte »Werke« auch an andern
Stellen, die W. für seine Auffassung in Anspruch nimmt.
14, 10f. und 15, 24 sollen nach W. Werke und Worte wesent-
lich gleich gesetzt sein. An der ersten Stelle heißt es: 10 »Glaubst
du nicht, daß ich in dem Vater und der Vater in mir ist? Die
Worte, die ich euch sage, spreche ich nicht aus mir selbst, der Va-
ter aber, der in mir bleibt, thut seine Werke. 11 Glaubt mir, daß
ich in dem Vater und der Vater in mir; wo nicht, so glaubet mir
wegen der Werke allein !), — Nach W. beruft sich Jesus für den
Anspruch auf seine Wesenseinheit mit Gott v. 10 auf seine Worte,
v. 11 auf seine Werke. Daß aber beides der Art nach gleiche Be-
griffe seien, gehe daraus hervor, daß in dem Zwischensatze v. 10
dasselbe Urteil erst in negativer, dann in positiver Form gegeben
wäre (S. 58). Gesetzt dies wäre so, was wird dann aus dem Argu-
mente, das hier, wenn auch nicht in logischer Form, so doch mit
thatsächlichem Gewichte geltend gemacht wird? Die Behauptung,
daß er seine Worte nicht aus sich, sondern von seinem Vater habe,
ist doch noch kein Beweis dafür, daß Christus im Vater und der
Vater in Christus, sondern lediglich ein anderer Ausdruck für eben
das, was zu beweisen war. Jesus läßt ja die Forderung, daß ihm
um der Worte willen geglaubt werde, ausdrücklich fallen und ver-
langt nur wegen der Werke Glauben. Daraus geht hervor, daß
Worte und Werke hier als wesensverschiedene Begriffe gesetzt sind,
nämlich Worte als etwas, wofür nicht ohne weiteres Glauben gefor-
dert werden kann, Werke aber als unmittelbar evidente Wirklich-
keit, gegen die sich nur Verstocktheit sträubt.
1) ta fey atrod B, alle andern r& feya aür«.
648 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 8.
Wo möglich noch deutlicher redet 15, 24: »Wenn ich die Werke
unter ihnen nicht gethan hätte, die kein anderer gethan hat, so hät-
ten sie keine Sünde. Jetzt aber haben sie gesehen und doch haben
sie mich wie meinen Vater gehaßt«. Zwar geht der parallele Ge-
danke voraus: »Wenn ich nicht gekommen und zu ihnen geredet
hätte, so hätten sie keine Sünde. Jetzt aber haben sie keine Ent-
schuldigung für ihre Siinde«. Wenn, wie W. sagt, in v. 24 eine
Steigerung liegt, so liegt sie doch nicht darin, daß an Stelle des
speciellen Begriffes der allgemeinere gesetzt ist. Ich weiß nicht,
wie die Werke als etwas unmittelbar äußerlich wahrgenommenes
schärfer den Worten hätten entgegengesetzt werden können.
Vielleicht wird W. sich darauf berufen, daß er ausdrücklich be-
tont habe, man dürfe natürlich nicht sagen, in den Reden des vier-
ten Evangeliums seien unter den Werken Jesu einfach seine Worte
verstanden, sondern seine »Verkiindigungswirksamkeit< überhaupt
(S. 59). Ich gestehe, daß mir dieser schillernde und im Grunde
nichtssagende Ausdruck höchst anstößig ist. Die Frage ist doch
eben, ob dies Verkündigungswirken lediglich in Worten besteht oder
ob zu den Worten noch etwas anderes hinzutritt. Wenn W. S. 57
sagt, Werke und Worte seien in solche Verbindung gesetzt, daß sie
wie gleichwertige Begriffe erschienen, so weiß man, was er sagen
will. Wenn aber dann sogleich dafür der nebelhafte Begriff »Ver-
kiindigungswirken< eingeführt wird, so scheint die Definition in Frage
gestellt, und mehr als zur Hälfte aufgehoben wird sie, wenn zu den
Werken Christi alle »seine helfenden Liebesthaten« gerechnet wer-
den (S. 59). Denn was sind diese helfenden Liebesthaten anders als
eine verschämte Umschreibung des schlichten alten Wortes Wunder?
Aber selbst wenn man den Begriff zugeben will, den W. mit
dem Worte »Werke« verbinden möchte, so bleibt die Behauptung
falsch, daß die Worte in den Werken einbegriffen seien. Daß
darunter vielmehr Christi Thaten unter Ausschluß der Worte ver-
standen sind, zeigt ganz besonders deutlich das fünfte Capitel.
Hier führt Jesus die Zeugnisse an, die für ihn sprechen. Es sind
1) das Zeugnis des Täufers, auf welches, als das Zeugnis eines
Menschen, kein Gewicht gelegt, das aber doch als ein Moment des
Glaubens angeführt wird (v. 33. 34), 2) seiner Werke (v. 36), 3)
Gottes (v. 37), 4) der Schriften (v. 39).
Das Zeugnis Gottes ist den Juden unzugänglich, weil sie weder
jemals seine Stimme gehört, noch seine Gestalt gesehen, und auch
sein Wort nicht in sich haben, was sich daran zeigt, daß sie an den
nicht glauben, den er gesandt hat (v. 37. 38). Der Beweis beruht
offenbar auf dem Satze: Gleiches kann nur von Gleichem erkannt
werden, und es ist die Meinung, daß Jesus als Gottes Sohn das Gött-
Wendt, Das Johannesevangelium. 649
liche unmittelbar zum Ausdruck bringe. Das intuitive Erfassen die-
ses Göttlichen ist offenbar als die höchste, aber schwerste Art der
Erkenntnis und des Glaubens gedacht, weil sie Wesensverwandtschaft
voraussetzt. Die Werke, die wie die Schriften von dem Zeugnis
Gottes unterschieden werden, müssen wie diese einen objektiven, je-
dem Verstande zugänglichen Maaßstab in sich tragen. Sie sind gött-
lich, weil sie von Gott gegeben sind, sie sind also nicht menschlich,
sondern übernatürlich. Darum sagt Christus 10,57: »Wenn ich die
Werke meines Vaters nicht thue, so glaubt mir nicht; wenn ich sie
aber thue, so glaubt den Werken, wenn ihr mir .nicht glaubt«.
Deutlicher kann man wohl nicht die Werke von den Worten oder,
um mit W. zu reden, von dem Verkündigungswirken unterscheiden,
denn eben der Verkündigung, daß Jesus Gottes Sohn sei, hatten ja
die Juden, die auf das Zeugnis seiner Werke verwiesen werden, den
Glauben versagt.
Der Umstand, daß Jesus Wunder gethan hat, ist also auch nach
den Reden im vierten Evangelium ein höchst bedeutendes Moment
für den Glauben an ihn. Wenn darauf in den erzählenden Partieen
so großes Gewicht gelegt wird, so hat man darin vielmehr ein Zei-
chen der Uebereinstimmung als des Gegensatzes zu sehen. Es bleibt
die Verschiedenheit des Ausdrucks, Zoy« und onweta. Darf man
daraus allein auf eine Verschiedenheit der Verfasser schließen ?
Die Häufigkeit des Ausdrucks »Zeichen« für die Wunder Jesu ist
ebenso eine Eigentümlichkeit des vierten Evangeliums wie der Ge-
brauch des Wortes »Werke« für dieselbe Sache. Wie die Synoptiker
die Bezeichnung der Wunder Jesu als Werke nicht kennen, mit ein-
ziger Ausnahme des Matthaeus, der 11,2 das Wort genau in dem
johanneischen Sinne anwendet, so meiden sie dafür auch das Wort
Zeichen. Es geht aber aus ihnen auch deutlich hervor, daß in den
Krankenheilungen und Daemonenaustreibungen ursprünglich kein Be-
weis der Messianität erblickt wurde. Marcus, der die ursprüngliche
Auffassung am treuesten festgehalten zu haben scheint, führt sie auf
eine in Jesu innewohnende Kraft zurück, die auch ohne sein Wissen
und Wollen durch den Glauben dessen, der sie in Anspruch nimmt,
wirksam werden kann, und die, wo Glauben an sie nicht vorhanden
ist, auch trotz des Willens dessen, der sie besitzt, versagt. Sie sind
aber andererseits wiederum etwas, was doch auch übertragen und
gelehrt werden kann, so daß auch die Jünger in den Besitz solcher
Kraft gelangen. Es ist zwar auch bei den Synoptikern von Zeichen
oder vielmehr einem Zeichen die Rede, dessen Ausübung die Messia-
nität unmittelbar beweist. Wenn man die Parallelberichte darüber
bei Mc 8,11 = Mt 16,1 = 12,38 = Lc 11, 29 unter einander ver-
gleicht, so sieht man, wie die ursprüngliche Bedeutung dieses Zei-
650 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
chens mehr und mehr verblaßt. Es ist ein Zeichen gänzlich anderer
Art, als Jesus bisher gethan hatte, ein Zeichen vom oder am Himmel,
wie an den beiden ersten Stellen durch einen Zusatz deutlich ge-
macht wird. Nach demselben Zeichen fragen auch die Jünger Mt 24, 3
= Mc 13,4 = Le 21,7, wie aus der Antwort Mt 24,29 Mc 13, 24
Le 21,25 hervorgeht. Aber dieses Zeichen wird erst erscheinen,
wenn des Menschen Sohn vom Himmel wiederkehrt.
Halten die Synoptiker an einer ganz bestimmten Beschränkung
des Wortes fest, sofern ihnen das Zeichen als die unmittelbare Mani-
festation der Messianität gilt, so ist dagegen in dem unechten Marcus-
schluß das Wort in dem Sinne des vierten Evangeliums von den
Werken gebraucht, die der Herr durch die wirkt, die seinen Namen
verkündigen. Es zeigt sich darin zugleich eine neue Auffassung der
Wunder, die nur darum hier nicht so deutlich ist, weil es sich um
Zeichen handelt, die nicht von Jesu unmittelbar, sondern durch seine
Jünger zur Erscheinung gebracht werden. Das vierte Evangelium
zeigt diese neue Auffassung deutlicher, indem es die Werke Jesu zu
seinen Lebzeiten als die unmittelbare Aeußerung seiner Göttlichkeit
erscheinen läßt. In wiefern aber die Werke Zeichen genannt sind,
geht aus dem Schluß des Marcusevangeliums hervor, wo wir alle die
Begriffe, die uns hier beschäftigt haben, beisammen finden. »Der
Herr wirkte mit den Aposteln, heißt es da (16, 20), und bekräftigte
ihr Wort durch die nachfolgenden Zeichen<. Der Herr wirkt also
die Zeichen zur Bestätigung des Wortes, die Zeichen sind seine
Werke. Sie sind Werke dessen, der sie thut, Zeichen für den, der
sie sieht, zwei verschiedene Seiten derselben Sache, die sich wie
Aktivum und Passivum zu einander verhalten. Nichts natürlicher,
als daß der Evangelist den Zeichenthäter von seinen Werken spre-
chen läßt, während er als Berichterstatter von seinen Zeichen erzählt.
Die Harmonie der Sache wird also durch den Ausdruck nicht ge-
stört, sondern auch im Ausdruck herrscht zwischen den Reden und
den erzählenden Teilen des vierten Evangeliums Uebereinstimmung.
Wenden wir uns dem zweiten Argumente W.s zu, daß durch die
historischen Partieen die ursprünglichen Beziehungen und Zusammen-
hänge gestört seien, so muß sogleich die Bemerkung stutzig machen,
daß auch in der »Quelle< die einzelnen Redestücke durch Mitteilungen
über ihre geschichtliche Veranlassung eingeleitet gewesen seien (S. 154).
Die Bemerkung, es sei aber nicht eigentlich auf die Mitteilung der
geschichtlichen Thatsachen abgesehen gewesen , ist wenig geeignet,
das geweckte Bedenken abzuschwächen, denn auch dem Evangelisten,
mag er nun eine Quellenschrift benutzt haben oder nicht, kam es
zweifellos in erster Linie auf die Mitteilung der Reden an.
Es zeigt sich aber gleich bei dem ersten Anstoß, den W. an der
Wendt, Das Johannesevangelium. 651
Einkleidung der Reden nimmt, daß er sich auch hier von vorgefaßten
Meinungen leiten läßt. Wir haben bereits oben zu bemerken gehabt,
daß er dem Evangelisten eine Fälschung der geschichtlichen Ver-
anlassung zu der Rede 5,17 ff. vorwirft (S. 5). Er findet in dieser
Rede und den mit ihr zusammenhängenden Bemerkungen 7, 19—24
Voraussetzungen, denen die Einleitung zu dieser Rede widerspreche.
Wenn Jesus sage, daß er so gut wie der Vater am Sabbat arbeiten
und Kranke heilen dürfe, so sei das nur so zu erklären, daß er bei
der Heilung wirklich Hand angelegt habe, denn nur so könne sie
unter den Begriff der Arbeit gestellt werden. Dagegen lasse der
Evangelist Jesus die Heilung durch ein bloßes Machtwort vollziehen
und die Verletzung der Sabbatordnung dadurch bewirken, daß er den
Geheilten veranlasse, sein Bett zutragen. Da nun Jesus sich in seiner
Rede hiergegen mit keinem Worte verteidige, so sei es klar, daß der
Evangelist eine ältere Ueberlieferung umgestaltet habe, weil die nach-
apostolische Generation für die durch praktische Handanlegung von
Jesu bewirkten Heilungen kein Verständnis gehabt habe (S. 68 ff.).
Wenn der nachapostolische Charakter in der Erzählung des Evan-
gelisten darin hervortreten soll, daß der Gelähmte bei ihm durch ein
bloßes Machtwort Jesu geheilt wird, so ist nur merkwürdig, daß die
parallele Heilung des Gichtbrüchigen bei den Synoptikern genau auf
dieselbe Weise vor sich geht (Mt 9,6 etc... Auch bei diesen aber
wird eine solche Heilung als eine nach pharisäischen Begriffen mit
der Heiligkeit des Sabbats unvereinbare Arbeit dargestellt. Denn sie
erzählen, wie die Pharisier gegen Jesu Rat halten, weil er einem
Manne die verdorrte Hand am Sabbat geheilt hatte, was er auch
nur durch die Kraft des Wortes bewirkte (Mt. 12, 10 ff. etc.).
Man muß daher in Abrede stellen, daß es W. gelungen sei, dem
Evangelisten ein für ihn charakteristisches Motiv zur Umgestaltung
der Ueberlieferung unterzuschieben. Es ist aber auch nicht richtig,
wenn er sagt, der Evangelist habe den ganzen Nachdruck der Er-
zählung auf das Lasttragen gelegt (S. 69). In Wahrheit ist das für
ihn lediglich ein Mittel, das geschehene Wunder zur Kenntnis der
Juden zu bringen (v. 10. 11). Nachdem sie es erfahren, verfolgen
sie Jesus, weil er einen Menschen am Sabbat gesund gemacht hat,
ohne sich um das Lasttragen weiter zu bekümmern (v. 15. 16).
Man kann aber auch nicht sagen, es sei für den Evangelisten
eine anstößige Vorstellung gewesen, daß Jesus Kranke durch prak-
tisches Handanlegen geheilt habe. Die Blindenheilung, in der sich
steigernden Reihe der erzählten Wunder das zweithöchste, wird wie
bei Mc 8,23 mittelst Speichels bewirkt. In solchen Zügen ist der
Evangelist durch die Ueberlieferung gebunden. Für seinen Zweck
genügte die Erzählung der Heilung des Gelähmten. Aber in seiner
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Zug mit einer älteren Ueberiieierung versunien ten vr VEimmir.
daß diese Verbindung in der älteren Terrier segeDer ox.
Von dieser älteren Ucherlieferung ist der Evaszemst 3 ahr =
herrscht, daß er sich allerdings in einen Wiiersprach verwickei ver
daß er an einer andern Stelle liegt als W. ihn sesackt hat. vs im
der aufmerksame Leser. der den Zusammenhang der ganzen Erzih-
lung überlegt, leicht finden wird.
Nicht glücklicher scheint mir W. in der Interpretation des 6.
Kapitels zu sein, in dem er gleichfalls eine schreiende Diszomanz ent-
deckt (8. 7HfL.). Die Rede, in der Jesus sich als Himmelsbrot be-
zeichnet, schemt ihm nur dann verständlich. wenn sie von dem
Speisungswunder losgelöst wird. Er läßt sie v. 27 mit dem Worten
beginnen : »Wirket nicht die vergängliche Speise, sondern die Speise,
die bis ins ewige Leben bleibt«, alles was vorhergeht gehört nach
ihm dem Redaktor des Evangeliums an.
Daß die Kede nicht so abrupt begonnen haben kann, liegt auf
der Hand. Man dürfte daher wohl erwarten, daß W. sich darüber
erklärt hätte, wie denn in der »Quelle< diese Rede eingeführt ge-
wesen sei. Aber hiervon kein Wort. In der Einleitung des Evange-
listen stört ihn wieder ganz besonders das Wunder. Wenn Jesus ein
so großes und eindrucksvolles Zeichen gethan habe, so sei es undenk-
bar, daß die Zeugen eben dieses Zeichens am folgenden Tage wieder
gekommen seien, um ein Zeichen zu verlangen, als hätten sie gar
keins gesehen. Und wenn sie es gleichwohl gethan hätten, wie wäre
es denkbar, fragt er, daß Jesus nicht »auf ihr gestriges Gesehenhaben
seines großen Zeichens Bezug genommen hätte«? Nun hat freilich
Jesus v. 26 darauf Bezug genommen, aber W. verlangt eben darum,
daß es auch v. 30 hätte geschehen müssen. Ich glaube, daß das
richtige Verständnis von v. 26 diese Forderung beseitigt.
»Ihr sucht mich, sagt Jesus, nicht weil ihr Zeichen gesehen, son-
dern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid«.
Der Vorwurf, der hier erhoben wird, ist der, daß die Zeugen des
Speisungswunders seine Bedeutung nicht erkannt haben. Sie kom-
men wegen der Wirkung, nicht wegen der Ursache, deswegen werde
sic getadelt. Sie haben aus dem Zeichen geschlossen, daß Jesus der
Prophet ist, der in die Welt kommen wird, aber nicht, daß er ein
göttliches, vom Himmel herabgestiegenes Wesen ist. Sie wollten ia
Wendt, Das Johannesevangelium. 658
zum Könige machen, während doch sein Reich nicht von dieser Welt
ist. Mit v. 26 wird also deutlich der Zusammenhang zwischen dem
Wunder und der Rede vermittelt. Es handelt sich darum, das rich-
tige Verständnis des Wunders zu erschließen als einer unmittelbaren
Manifestation des göttlichen Wesens Jesu und eines Mittels zum
Glauben an ihn, nicht eines Vorgangs von rein materieller Bedeutung
und weltlichen Consequenzen. Es ist durchaus kein Widerspruch,
wenn die Juden, die das Speisungswunder gesehen, von neuem ein
Zeichen fordern. Sie verstehen sehr wohl, daß Jesus sie auffordert,
Gottes Werke zu thun, wenn er von ihnen verlangt, Brot des ewigen
Lebens zu schaffen. Aber wenn er sagt, daß dies Gotteswerk eben
in dem Glauben an seine Sendung und seinen göttlichen Ursprung
besteht, so verlangen sie dafür ein Zeichen, daran sie eben dies er-
kennen, ein Zeichen wie Moses es ihren Vätern gegeben hat, der
ihnen Brot vom Himmel gab. Denn was sie gesehen und gegessen
haben, war doch immer nur Brot, irdisches Brot, wenn auch auf
wunderbare und unbegreifliche Weise hervorgebracht. Der Messias
aber muß sich durch ein Zeichen vom Himmel offenbaren. Das alles
ist ganz consequent, und ebenso consequent, wenn Jesus seinerseits
ausführt, wie er das wahre Manna, das echte Himmelsbrot ihnen in
seiner Person selbst darbringt.
Eine deutliche Beziehung auf das Speisungswunder, zugleich frei-
lich auch auf die andern Wunder, liegt in v. 36: »ich habe euch ge-
sagt, daß ihr gesehen [al. mich gesehen] habt und doch nicht glaubt«.
Bei der ersten, äußerlich schwächer bezeugten, aber innerlich wahr-
scheinlicheren Lesart (vgl. 1, 34. 19,35) kann die Beziehung auf den
Anfang der Unterredung v. 26 (»ihr sucht mich nicht, weil ihr Zei-
chen gesehen habt<) keinen Augenblick zweifelhaft sein, aber auch
die andere Lesart kann materiell nichts anderes bedeuten als: »ihr
habt gesehen, was ich gethan habe«. Welcher Art dies Thun ist,
ergiebt sich aus der Rede nicht. Man kann sie daher nicht aus dem
Zusammenhange, in dem sie erscheint, loslösen, ohne die Voraus-
setzung des Verständnisses aufzuheben. Wenn W. die Berechtigung,
v. 36 aus v. 26 zu erklären, bestreitet, weil v. 26 von Zeichen die
Rede ist (S. 73), so bleibt er in dem Zirkelschluß, auf dem seine
ganze Argumentation beruht, indem er das, was zu beweisen ist, als
bewiesen voraussetzt.
Hier kommt aber noch etwas hinzu. Die Juden wollten nicht an
Jesum glauben, sagt W., obgleich sie ihn in seiner das ewige Leben
verleihenden Heilswirksamkeit gesehen hatten. Das ist eine contra-
dictio in adiecto. Hätten die Juden gesehen, daß Jesus Wirksamkeit
das ewige Leben verleihe, so hätten sie auch an ihn geglaubt. Das
fällt notwendig zusammen oder vielmehr, es ist ein Sehen der Heils-
654 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
wirksamkeit — wenn man den Ausdruck zulassen will — nur auf
dem Wege des Glaubens möglich. Nun aber haben die Juden nur
die Wirksamkeit Christi gesehen, aber nicht den Eindruck und den
Glauben daraus gewonnen, daß diese Wirksamkeit auf das ewige
Leben abzielt. Das ist es, was ihnen vorgeworfen wird.
Der Ausdruck »Heilswirksamkeit«, der hier an die Stelle von »Ver-
kündigungswirksamkeit« tritt, erregt aber auch nach einer andern
Seite Bedenken. Wenn die Wirksamkeit Christi schon auf dieser
Stufe heilwirkende Kraft hat, so hat sein Tod offenbar keine andere
als eine rein accidentielle Bedeutung. Das ewige Leben wird dann
nicht durch den Tod Jesu, sondern durch sein Wirken auf Erden
herbeigeführt. Wenn dieses Wirken seinen Tod zur Folge hatte, so
mag man darin einen Beweis seiner Berufstreue und insofern ein
Förderungsmittel des Glaubens erblicken, aber der Erfolg seines
Wirkens wird durch den Tod nicht bedingt.
Diese Auffassung drückt W. nicht nur an unserer Stelle implicite
aus, er sagt in einem andern Zusammenhang (S. 182 f.) ausdrücklich,
daß in den johanneischen Reden im Gegensatz zu der paulinischen
Auffassung unter dem seligmachenden Glauben nicht der Glaube an
den Kreuzestod und die Auferstehung Christi, sondern das Aufnehmen
seiner Worte und die Befolgung seiner Gebote verstanden werde.
Mit bezeichnender Halbheit wird dann allerdings diese Behauptung
hinterher durch die Bemerkung eingeschränkt, daß freilich auch die
Heilsbedeutung des Todes Jesu in den Reden zum Ausdruck käme.
Diese Heilsbedeutung wird von W. allerdings nicht in dem Vorgang
des Todes selbst gefunden, sondern in der Wirkung, die von dem
Beispiel treuer Berufserfüllung ausgeht.
W. bringt es fertig, aus einem Worte wie 6, 51: >»ich bin das
lebendige Brot, der aus dem Himmel herabgestiegene; wenn einer
von diesem Brote ißt, wird er in Ewigkeit leben, und das Brot, das
ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt«, die Be-
ziehung auf den Tod Jesu wegzudeuten und die Bedeutung des Flei-
sches darin zu sehen, daß es das Organ der lebengebenden Worte
ist. Das soll aus v. 63 folgen: »der Geist ist das Lebendigmachende,
das Fleisch nützt nichts<. Da sich diese Bemerkung aber an die Ar-
deutung anschließt, daß der Sohn des Menschen dahin aufsteigen wird,
wo er zuvor war, und dadurch die gewünschte Beziehung verdunkelt
wird, so wird dieser Hinweis auf die Auferstehung von W. als ein Zu-
satz des Evangelisten beseitigt. So werden Tod und Auferstehung Jesu
ihrer Heilsbedeutung entkleidet, während das vierte Evangelium von
vornherein betont, daß (um mit W. zu reden) das Verkündigungswirken
Jesu nicht zum Heilswirken werden konnte, weil die Menschen die
Finsternis mehr liebten als das Licht (3, 19). Erst der Tod Jesu
Wendt, Das Johannesevangelium. 655
macht seine Lehre lebendig, denn selbst den auserwählten Jüngern
geht die Erkenntnis, daß Jesus in seinem Vater ist, erst an dem
Tage auf, wo ihn die Welt nicht mehr sieht (14, 20).
Es wird nicht nötig sein, W. noch weiter zu folgen. Er findet
freilich noch andere Anzeichen einer Quellenbenutzung, namentlich in
einer vermeintlichen Verschiebung in der großen Abschiedsrede K. 13
—16, wobei er von Anstößen ausgeht, die vor ihm Spitta und B.
W. Bacon genommen haben (S. 95 ff.). Mich wundert dabei beson-
ders, daß W. hierin eine Stütze seiner Quellenhypothese erblickt, auf
deren besondere Merkmale er so großes Gewicht legt (S. 50f.). Denn
gesetzt es seien in den Reden Verschiebungen eingetreten — m. M.
sind die Argumente, die dafür angeführt werden, ganz unzureichend
— so könnte doch diese Erscheinung sehr verschiedene Ursachen ha-
ben, wie denn Spitta eine rein äußerliche annimmt. W. muß denn
auch, um seine Hypothese hier anwenden zu können, zu der Annahme
seine Zuflucht nehmen, daß der Evangelist seine Quelle nicht nach
einem vorliegenden schriftlichen Exemplare, sondern nach dem Ge-
dächtnis bearbeitet habe (S. 100). Hiermit wird der Boden, auf dem
eine Discussion möglich ist, verlassen, denn unter dieser Voraus-
setzung läßt sich alles mögliche behaupten, aber nichts beweisen.
Wenn man zum Schlusse fragt, warum eine mit so großer Um-
sicht und Sorgfalt geführte Untersuchung sich so unfruchtbar erweist,
so glaube ich, daß der Grund in den Bedingungen liegt, aus denen
sie hervorgegangen ist. W. hat es sich, wie er in der Vorrede sagt,
zur Aufgabe gemacht, eine Hypothese zu begründen, die geeignet
schien, das schwierige johanneische Problem in befriedigender Weise
zu lösen. Der Gedanke, daß in dem vierten Evangelium ein aposto-
lischer Kern enthalten sei, ist also das erste, die Interpretation des
Evangeliums, durch welche die Hypothese begründet ist, das zweite
gewesen. Demnach ist das Resultat der Untersuchung nicht sowohl
aus der Interpretation erwachsen, sondern an der Interpretation ist
eine auf allgemeine Eindrücke basierte Voraussetzung erprobt. Gewiß
ist dieser Weg an sich möglich, aber ebenso gewiß ist, daß er die
größten Gefahren in sich birgt. So fest ich von der Aufrichtigkeit
der W.schen Interpretation überzeugt bin, so sicher scheint es mir
doch, daß sie, ihm selber unbewußt, von einer vorgefaßten Meinung
geleitet ist. Er ist mit dem Bilde des Heilands, das er im Herzen
trägt, an das vierte Evangelium herangetreten und hat das Spiegel-
bild davon in den Reden dieses Evangeliums zu erblicken geglaubt,
während in Wahrheit der johanneische Christus ganz andere Züge
trägt. W. hört ihn reden, wie nach seiner Vorstellung Christus in
dem Bewußtsein seiner unvergleichlichen Heilsbedeutung von sich
denken und bei gegebener Gelegenheit von sich reden mußte (S. 180 f.).
656 Gott. gel. Anz. 1901. Nr.’ 8.
Da nun von den Synoptikern Christus dasselbe Bewußtsein zuge-
schrieben werde, so, meint er, entsprächen die johanneischen Reden
auch dem synoptischen Maaßstab. Auf diese Weise scheint der
schmerzlich empfundene Widerspruch zwischen dem Christus der
Synoptiker und dem johanneischen Christus hinwegräumt, als wenn
die Schwierigkeit nicht dieselbe bliebe, wenn das gleiche Bewußtsein
zu so völlig verschiedenen Ausdrucksformen führte. In der Vereini-
gung des johanneischen und synoptischen Christusbildes erblickt W.
offenbar die eigentliche Schwierigkeit des johanneischen Problems und
in der von ihm gefundenen Ausgleichung das befriedigende seiner Lö-
sung. Aber die Differenzen zwischen den Synoptikern und dem vier-
ten Evangelium bilden lediglich eine Schwierigkeit für die Glaubens-
lehre, nicht für die voraussetzungslose Wissenschaft, für die es gleich-
gültig ist, ob sie den Widerspruch aufhebt oder anerkennt.
Es wäre ein Irrthum, wenn man behaupten wollte, daß die Be-
einflussung und Störung theoretischer Gesichtspunkte durch praktische
Motive auf die theologische Forschung beschränkt wäre. Aber es
liegt in der Natur der Sache, daß gerade sie solcher Gefahr ganz
besonders ausgesetzt ist, und in jedem Fall um so mehr, je höher
die Probleme liegen. An dieser Klippe scheint mir auch die vor-
liegende, mit dem redlichen Streben nach Wahrheit geschriebene Ar-
beit gescheitert zu sein.
Berlin, 14. Juli 1901. P. Corssen.
Braude, M., Die Elemente der reinen Wahrnehmung. Ein Beitrag
zur Erkenntni8theorie. Lemberg 1899. 222 Seiten.
Wenn ich der Arbeit des Herrn Braude eine allgemeine Censur
geben sollte, so würde sie ganz zu seiner Zufriedenheit ausfallen,
wenn ich aber seine Ergebnisse beurteilen soll, so muß ich in vielen
und wichtigen Stücken widersprechen.
Nur beistimmen kann ich seiner Grundvoraussetzung (»dem Satz
der Immanenz« S. 11, 15 u. 16), daß es kein »transscendentes Sein«
gibt, welches Objekt unserer Erkenntnis werden könnte, und daß
alle objektive Wirklichkeit im .Bewußtseinsinhalte liegt. Denn ich
selbst habe dies gelehrt, und zwar einst, wie ich glaubte, als der
einzige unter den philosophierenden Zeitgenossen. Aber nun beginnt
auch mein Dissens.
Wenn Braude findet, daß durch den Satz der Immanenz der
Dualismus zwischen dem Erkennenden oder dem Subjekt und dem Er-
kannten oder dem Objekte noch keineswegs überwunden ist, so kann
ich nur entgegnen, daß dieser gar nicht überwunden werden soll und
kann. Seine Ueberwindung würde den Begriff des Denkeng und Er-
Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 657
kennens und des Bewußtseins selbst aufheben. Das letztere weiß er
freilich selbst, aber er schmälert den Wert dieser Anerkennung so-
gleich durch eine Unterscheidung, welche für mich den Charakter
der Geheimlehre hat. Denn S. 12 heißt es, >denn auch die ur-
sprüngliche Tatsache des Bewußtwerdens trägt in der Unmittelbar-
keit, wie wir sie erleben, bereits den ausgesprochenen Charakter
einer Korrelation zwischen einem bewußtwerdenden Subjekt und
einem bewußtgewordenen Inhalt, welche der Beziehung von Sub-
jekt und Objekt im Akte des Erkennens völlig analog erscheint«.
Ich finde nicht Analogie, sondern völlige Identität. Ich weiß
nicht, was Erkennen anderes ist, als Bewußtwerden von solchem und
solchem Inhalte, und wenn Braude es für etwas anderes hält, so ist
das schon eine Inkonsequenz. Eine Inkonsequenz, denn er erklärt
das Erkennen nicht durch Subsumtion unter Bewußtsein als Bewußt-
sein von dem und dem (S. 13), sondern unter »thätige Stellung-
nahme, Aktualität unseres Selbst gegenüber dem, was uns als Gegen-
stand gegenüber tritt<, als wenn er von der erkennenden Seele spräche.
Diese Aktualität wird uns, so behaupte ich gegen Braude, nicht ein-
mal >in den Fällen klar, in denen wir ein sog. beziehendes Urteil
fällen«e. Ich kann nur bedauern, daß mein Versuch, den Begriff der
Tätigkeit zu erklären, keine Beachtung gefunden hat. Er hätte doch
wenigstens darauf aufmerksam machen können, daß sie nicht, wie et-
was Ursprüngliches, was der Erklärung weder fähig noch bedürftig
ist, vorausgesetzt werden darf. Am nächsten liegt der auch von mir
angeführte Sinn der Tätigkeit, daß eine Veränderung im Subjekte
die Ursache einer Veränderung von Objekten sei, vorzugsweise wenn
die Veränderung im Subjekte der Eintritt eines Willens ist, welcher
die Veränderung von Objekten zu seinem Inhalte hat. Allein wenn
ich auch dem Verfasser diese Meinung unterschieben wollte, um die
Unterlassung der nötigen Erklärung gut zu machen, so wäre noch
keineswegs klar, welchen Wert für die Erkenntnißlehre die Subsum-
tion des Erkennens unter Aktualität habe. Denn wer zwei Steine
sehend den einen größer als den andern findet, ist sich niemals einer
Tätigkeit bewußt, welche er »von den bezogenen Gegenständen un-
abhängig und nur den eignen Gesetzen des Denkens gemäß vollzöge.
Diese >eignen Gesetze des Denkens< möchte ich kennen lernen. Wer
in seiner Angabe über Gleichheit und Ungleichheit der wahrgenom-
menen Dinge, z. B. der Größe zweier Steine nur den eignen Gesetzen
des Denkens gemäß unabhängig von den bezogenen Gegenständen
verführe, würde sehr bald nicht mehr für glaubwürdig gelten. Aber
nehmen wir auch an, daß das gedachte Urteil ganz richtig in Ueber-
einstimmung mit allen andern Wahrnehmenden ausfiele, es wäre doch
nicht zu ersehen, welche Veränderungen im Subjekte, d.i. im Ur-
Gétt. gel. Anz. 1901 Nr. 8. 44
658 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
teilenden, die Ursache welcher anderen eintretenden Erscheinung sein
sollte. Und wenn die hervorgebrachte Wirkung, — wie wir ver-
muten müssen — das im Bewußtsein des Subjektes eintretende Urteil
über Gleichheit oder Ungleichheit der Größe der beiden Steine sein
soll, so wäre doch die Veränderung im Subjekte, welche dieses Er-
gebnis hat, nicht entfernt angedeutet. Deshalb ist die »Aktualität«
nur der allgemeine recht unklare Eindruck, daß Denken’ und Er-
kennen kein ruhiger gleichmäßig verharrender Zustand, sondern eine
Tätigkeit ist. Ich habe sie erklärt, aber meine Erklärung der An-
wendbarkeit des Tätigkeitsbegriffes ist keine Erklärung des Denkens
und Erkennens selbst. Wenn diese Tätigkeit, welche nach Braude in
den Fällen des beziehenden Urteils »besonders klar« sein soll, auch
in diesen Urteilen nach meiner Ansicht so wenig klar ist, muß sie
für mich in allen andern Fällen noch viel weniger klar sein. Und
auch bei Braude selbst muß sie etwas sehr Unklares sein, da ihm
S.13 das Wort möglich ist, was von dieser Tätigkeit sich zu einem
Erkenntnisakt zu einem Urteil verdichtet etc.<. Also »Verdichtung«!
Verständlich wird diese Betonung der angeblichen Aktualität zu-
nächst durch den Gegensatz der »Passivität« (S. 13), oder des Zu-
standes >des bloßen Bewußtgewordenseins<«, in welchem sich die be-
zogenen Gegenstände befinden. Aber ebenso verständlich wäre es,
daß von einem Erleiden einer Einwirkung keine Rede ist, der Gegen-
satz von Aktualität und Passivität also gar nichts erklärt, sondern
blos die auch dem naivsten Bewußtsein bekannte Tatsache zum
(nicht ebenso bekannten) Ausdrucke bringt, daß in jedem Vergleichungs-
urteile die verglichenen Gegenstände, z.B. die oben genannten 2
Steine, etwas anderes sind, als der Begriff der Gleichheit oder Un-
gleichheit, welche von ihrer Größe, oder Farbe oder Gestalt ausge-
sagt wird.
Indeß Braude meint es nicht so. S. 17 wird die Aktualität des
erkennenden Subjektes, an der ich oben gezweifelt habe, darin ge-
funden, daß es dem Inhalt seines Urteils die Geltung einer Wahr-
heit zuerkennt. Braudes Lehren über die Elemente der reinen Wahr-
nehmung ruhen auf dieser Voraussetzung. Aber ich kann weder zu-
geben, daß dieses >die-Geltung-einer-Wahrheit-zuerkennen< den er-
klärungsbedürftigen Begriff der Tätigkeit oder Aktualität klarer
machte, noch daß das Urteil nicht in der Verknüpfung von Vor-
stellungen, sondern erst in dem »Annehmen oder Ablehnen einer
Vorstellungsverknüpfung< bestehe. Aus dem Charakter der Aktualität
wird nichts abgeleitet, er. ist also für uns gleichgültig, aber aus
jener Lehre werden wichtige Consequenzen gezogen. Es liegt ja
nichts näher, als daß, wenn nur das Annehmen oder Ablehnen das
Erkennen oder Urteilen ist, die Verknüpfung nicht zu dem letzte-
Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 659
ren, sondern zum Wahrnehmen gehört, was Braude in verdienstlicher
Ausführlichkeit dartut. Aber er hat sich doch diese seine These
nicht klar genug gemacht, wenn er sie, S. 17, für gleichbedeutend
damit hält, daß der Charakter der Erkenntnis doch unzweifelhaft in
dem Wahrheitswerte liege, den wir dem Inhalte des Urteils beilegen.
Es liegt ja freilich auf der Hand: ein Urteil, welches wir nicht
für wahr halten, ist keine Erkenntnis. Das kann man nicht nur
zugeben, sondern selbst eifrig behaupten, und doch Braudes obiger
These, daß nicht schon die Vorstellungsverkniipfung , sondern erst
deren Annehmen oder Ablehnen das Urteil sei, auf das lebhafteste
widersprechen.
Ich habe einst Anlaß gefunden, es wie eine neue Entdeckung
recht hervorzuheben, obgleich es doch eigentlich selbstverständlich
ist, daß jeder Denkende und Urteilende (das Denken vollzieht sich
bekanntlich immer nur in Urteilen) überzeugt ist, wirklich Seiendes
zu denken und im Urteil auszusprechen. Wenn freilich das Bewußt-
werden dieses Reflexionsbegriffes Wahrheit von dem des Gegensatzes
Irrtum abhängt, also zur Behauptung der Wahrheit immer der Ge-
danke möglichen Irrtums als Anlaß gehört, so kann man doch auch
in den Fällen ganz naiven Denkens, den Anspruch, Wahrheit erkannt
zu haben, anerkennen, wenn sich ersehen läßt, daß er abweichenden
Urteilen gegenüber ganz sicher erhoben werden würde, und wenn er
durch die Tat bewiesen wird. Er gehört zum Wesen des Denk-
oder Urteilsaktes. Und wird die Vorstellungsverknüpfung nur probe-
weise als eine der Prüfung werte Möglichkeit gedacht, so ist auch
diese Möglichkeit als eine wirklich vorhandene behauptet. Aber et-
was anderes ist es, den Urteilsakt durch Subsumtion unter Wahrheit
erklären zu wollen, während doch der Begriff Wahrheit (und Er-
kenntnis) immer schon das Urteil voraussetzt. Wahrheit kann ja
nur eine Beschaffenheit von Urteilen sein, welche immer erst im
Gegensatz zu ihrer etwaigen Irrtümlichkeit behauptet wird.
Wenn wir einem Urteile > Wahrheitswert beilegen<, so ist das
Beilegen doch auch ein Urteil, welches dem früheren Urteile als
dem Subjekte das Prädikat wahr beilegt. Soll vielleicht der Vor-
stellungsverkniipfung: >»dieses Urteil ist wahr«, damit sie ein wirk-
liches Urteil werde, aufs Neue Wahrheitswert beigelegt werden ?
Was ist >die Stellungnahme< des Subjektes anderes, als das Urteil:
»dieses Urteil ist wahr<? Will Braude das Urteil durch Subsumtion
unter Annehmen oder Ablehnen erklärt haben, so soll er doch sa-
gen, was das Annehmen anderes ist als wiederum das Urteil: dieses
Urteil ist wahr, und was das Ablehnen anderes als das Urteil: die-
ses Urteil ist nicht wahr. Und noch niemand hat gesagt, wodurch
die Urteile, das Urteil »die Erde ist rund, ist wahr« und das Urteil
»die Erde ist eine Scheibe, ist unwahr< sich von den Ürtellen rhe
AA*
660 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
Erde ist rund< und »sie ist keine Scheibe« anders unterscheidet, als so
wie die naive Selbstverständlichkeit, daß da Wirkliches Bewußtseins-
inhalt geworden ist, von der Reflexion auf die Möglichkeit des Irr-
tums. Und endlich bin ich im höchsten Grade der Belehrung darüber
bedürftig, worin eine Vorstellungsverknüpfung, welche noch nicht
Urteil, d.h. noch weder angenommen noch abgelehnt, weder aflır-
mativ noch negativ ist, bestehen mag. Was ich meine wird durch
den Gegensatz klar. Wie unterscheiden sich die unverknüpften Vor-
stellungen Erde und rund von der Verknüpfung? Worin kann denn
die Verknüpfung von Vorstellungen bestehen außer in der Identifi-
cierung oder Unterscheidung im Akte der Vergleichung und außer
in der behaupteten Zusammengehörigkeit, >die Erde ist rund«?
Oder was bedeutet sonst dieses >ist<«? Ist das noch kein Urteil?
Ja, wird man antworten, »diese Verknüpfung habe ich ja schon an-
genommen«. Gut, aber was für eine Verknüpfung ist vor der An-
nahme oder Ablehnung vorhanden ?
»Die Auffassung des Erkennens als einer anerkennenden Stellung-
nahme< soll (S. 18) zum eigentlichen Problem der Erkenntnistheorie
führen, welches Braude in der Frage nach den Erkenntnisgründen,
welche das erkennende Subjekt in seiner Stellungnahme gegenüber
der Geltung unserer Urteile bestimmen können, findet. Aber ich
meine die »Gründe, welche etc.< müssen selbst Erkenntnisse sein,
weshalb ich es für richtiger halte, das eigentliche Problem der Er-
kenntnistheorie in der Frage: was ist Erkenntnis? zu finden, in de-
ren Beantwortung selbstverständlich auch, wie sie zu Stande kommt
und ihre Geltung und ihr Umfang zur Darstellung gelangt. Die
Frage nach den Gründen des Annehmens oder Ablehnens setzt die
Klarheit des Begriffes Erkenntnis voraus.
Der Grund für die Anerkennung des Wirklichkeitscharakiers ist die
Anerkennung eines tatsächlichen Erlebtseins eines Vorstellungsinhaltes.
Dieses Erleben heißt Wahrnehmen und so kommt Braude zu dem Satz:
die Wahrnehmung ist der alleinige Erkenntnisgrund aller Wirklichkeit,
dem ich, obgleich ich selbst das Erleben, d.i. den tatsächlichen Bewult-
seinsinhalt hier und jetzt als Ausgangspunkt benutzt habe, wider-
sprechen muß. Die tatsächliche Wahrnehmung ist nicht der Erkennt-
nisgrund der Wirklichkeit, den das Subjekt erst aus andern Ueber-
legungen über den Begriff des Wirklichen hinzubringen müßte, son-
dern die Erkenntnistheorie lehrt: das Wirkliche ist das Erlebte oder
das Wahrgenommene (natürlich Erklärung des Irrtums vorbehalten).
Neben diesen Wirklichkeitsaussagen giebt es »beziehende Urteile«.
Aber Braude findet das Urteil nicht schon in dem Beziehen selbst,
sondern läßt uns erst »über den Charakter dieser Beziehungen Urteile
fällen«, S.21 z.B. das Aehnlichkeitsurteil. Die ausgesagte Aehnlich-
keit ist nichts in dem Inhalt der verglichenen Vorstellungen, sondern
Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 661
dieses Prädikat ist >erzeugt durch eine spontane Tätigkeit des ak-
tuellen Subjekts<. Aber Braude rechnet merkwürdiger Weise Gleich-
setzung und Unterscheidung nicht zu den so erzeugten Prädikaten,
sondern zu >den unmittelbaren Bestimmungen des passiven Gegeben-
seins der Vorstellungsobjekte«. Wie mag er da wol Aehnlichkeit
definieren ? Doch kommt es darauf jetzt weniger an, als auf den Er-
kenntnisgrund. Die erkenntnistheoretische Frage, welche in dieser
Anwendung der Kategorie gefunden worden ist: wie kann diesen vom
Subjekt erzeugten Begriffen objektive Geltung zukommen ? oder wie
kann behauptet werden, daß die Vorstellungsinhalte a und b wirklich
einander ähnlich sind? beantwortet Braude zunächst inhaltlich gar
nicht. Denn ich halte es für gar keine Antwort, wenn er sich, S. 23,
nur »auf die unmittelbare Natur des Denkens, der aktuellen Funk-
tion des Subjektes beruft, und auf die den Gesetzen dieser Funktion
innewohnende logische Evidenz, die uns unmittelbar zwingt, das be-
wußtgewordene Ergebnis unseres Denkens als giltig anzuerkennen«.
Aber S. 29ff. nimmt er sich der Frage an und handelt von der
Objektivität und der Allgemeingiltigkeit der Erkenntnis. Von jener
im Sinne der Uebereinstimmung mit ihrem Gegenstande kann keine
Rede sein, aber die Allgemeingiltigkeit (= Unabhängigkeit vom in-
dividuellen Subjekt und Notwendigkeit) wird anerkannt, nur kann ich
seine Begründung nicht gutheißen. Das Subjekt des Erkennens ist
nämlich nach Braude nicht das individuelle Ich, sondern »das Be-
wußtsein überhaupt (S. 32), welches das Subjekt schlechthin für alle
Wahrnehmungsinhalte und alle Urteile ist und welches selbst niemals
Objekt wird, weil es eben das unentbehrliche Bewuftseinkorrelat zu
allen Objekten ist«. Und doch denkt auch Braude, wie ich und alle
andern, das Bewußtsein überhaupt, denkt das Ich, welches sich seiner
bewußt wird. Er will dem Bewußtsein Vorschriften machen! Nach
seiner Darstellung der Sache kann es überhaupt keine Erkenntnis
geben. Die Erklärung der Allgemeingiltigkeit, welche das Bewußtsein
überhaupt leisten soll und kann, wird vernichtet, wenn es, S. 33, »das
Gesammtsubjekt< »eine Summe mehrerer Subjekte des Erkennens«,
S. 36 »ein Komplex mehrerer Einzelbewuftseine<, wenn, S. 37, »das
Einzelbewußtsein ein Teil des erkennenden Subjekts iiberhaupt< ge-
nannt wird, und wenn S. 42, »das Bewußtsein überhaupt ja auch nur
eine Gesammtheit von Einzelsubjekten darstellt«. Es ist auch ganz
konsequent, wenn er, S.49, den Unterschied zwischen subjektiver und
objektiver Erkenntnis nicht aus der Notwendigkeit der Ueberein-
stimmung zwischen den Wahrnehmungen ableiten will. Sie ist ja
erst das Problem, und, setze ich hinzu, es kann gewiß nicht gelöst
werden, wenn wir blos die Tatsachen registrieren dürfen, daß die vie-
len einzelnen Menschen so zu denken pflegen. Der Begriff der
662 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
Wahrheit und Wirklichkeit kann erst der Ertrag der erkenntnis-
theoretischen und logischen Untersuchung sein und vorher muß aus
dem Bewußtsein überhaupt, d.i. nicht der Summe der einzelnen, son-
dern dem gemeinsamen gattungsmäßigen Wesen erwiesen sein, daß
die Wirklichkeit, welche Objekt oder Inhalt des Denkens sein soll,
ein durchgängig zusammenhängendes in sich übereinstimmendes Ganzes
sein muß und daß diese Wirklichkeit erst von dem Kausalprincip kon-
stituiert wird, wie ich an vielen Stellen meiner Schriften behauptet habe.
Gegen die Umdeutung unserer Urteilsevidenz in ein Sollen
wendet sich Braude S. 49—57 mit bestem Erfolge, und kommt S. 57
zur Beurteilung eines »weiteren Versuchs der neueren Erkenntnis-
theorie, über das in Frage stehende Problem hinwegzukommen«. Er
meint damit den Versuch, auch die reinen Wahrnehmungsurteile als das
Resultat einer Bearbeitungsfunktion des Denkens darzustellen. Warum
er dies eine »dogmatische Voraussetzung<, warum nachwirkende
Tradition des Rationalismus< nennt, warum er Kant »in Bezug auf das
Wahrnehmungsurteil« der Inkonsequenz beschuldigt, ist mir nicht klar
geworden. »Wenn wir die Wahrnehmung als letzte Tatsache anerkennen
müssen, welche uns alle Kenntnis der wirklichen Vorstellungsobjekte
vermitteln kann, so fehlt uns damit principiell auch jede Möglichkeit,
die Inhalte der Wahrnehmung noch weiter als ein Produkt gesonder-
ter Elemente im genetischen Sinne zu erklären« heißt es S. 61. Frei-
lich, wenn alsletzte. Es fragt sich aber, ob das, was Braude Wahr-
nehmung nennt wirklich das Letzte nicht mehr Analysierbare ist.
Leider hat er es nicht zu erklären versucht, sonst würde er wol auch
darauf verfallen sein, daß es aus lauter mit räumlichen und zeit-
lichen Bestimmtheiten versehenen Empfindungsinhalten besteht.
Die »Lehrmeinung, daß wir in der Natur nur das erkennen«, was
wir in sie hineintragen«, hat Braude nicht gehörig gewürdigt und mié-
versteht auch den Sinn »der Bearbeitung<, welche ich und andere >in
die unmittelbare Wahrnehmungserkenntnis hineintragen<. Wenn
ich in der Wahrnehmung eines blühenden Baumes und der in ihm
singenden Vögel außer den reinen Empfindungsinhalten auch Be-
stimmtheiten finde, welche nicht durch die Sinnesnerven gegeben sein
können, so ist das ein Ergebnis vorurteilslosester Analyse, und ich
habe nichts in Folge der vorgefaßten »Lehrmeinung< in die unmittel-
bare Wahrnehmungserkenntnis >hineingetragen<«. Auf das Wort »Be-
arbeitung< kommt dabei gar nichts an. Braude setzt sich dieselbe
Aufgabe der logischen Analyse, S. 62, aber er nennt als deren Ob-
jekt »die Vorstellungswelt<, ohne uns über den Sinn dieses Wor-
tes ausreichend belehrt zu haben. Denn die eingangs gegebene Be-
lehrung über das rein passive Bewußtwerden im Gegensatz zur
»Aktualität« enthielt ja nur die Behauptung, welche jetzt erst erwiesen
Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 663
werden soll. Da erfahren wir denn, damit das rein passive Bewußt-
werden nicht etwa durch unsere falsche Auffassung in der behaupteten
reinen Passivität bezweifelt werden könne, S. 67, es sei ja von vorn-
herein klar, daß der Charakter des Subjekts und die Formen seiner
Betätigung bei der untrennbaren Natur der Subjekt- und Objektkor-
relation notwendigerweise bei den Objekten selbst zur Geltung
gelangen und auch deren Inhalte ihren Stempel aufdrücken
müssen. Noch mehrfach wird von diesem Hülfsmittel Gebrauch ge-
macht (S. 86 »Produkt des unmittelbaren Verhältnisses des Subjekts
zu seinen Okjekten und a.a.0O.). Da doch von dem rein Gegebenen
als solchen gewiß dieser Charakter, das Produkt des unmittelbaren
Verhältnisses, dieser Stempel zu unterscheiden ist, so hat Braude drei
Grundfaktoren der Erkenntnis, nicht nur 1) das Gegebene und 2) das
Denken, sondern noch 3) (wol zwischen ihnen stehend) diesen Cha-
rakter, Stempel etc. Und das ist nicht etwa der Ertrag einer grund-
legenden Untersuchung, sondern es kommt so gelegentlich zu Platze,
wie etwas Selbstverstandliches. Das Demonstrandum ist dabei voraus-
gesetzt. Worin besteht denn dieses »Zur-Geltung-gelangen des Cha-
rakters des Subjekts<, und was ist der Stempel? Vielleicht genau
dasselbe, was ich und andere Bearbeitung nennen, was ich (ich setze
das Wort »vergleichsweise« dazu) die Wirksamkeit des Identitäts-
prinzipes nenne, was ich meine, wenn ich die Natur der Kategorie
mit dem Worte darstelle; es muß am Subjekt liegen, daß ihm nichts
gegeben sein kann ohne die logischen Bestimmtheiten, die wir Iden-
titätsprineip nennen. Es ist kein Fortschritt, wenn uns ebenda —
um das was ich der Kategorie der Identität zuschreibe, zum Gegebe-
nen zu ziehen — versichert wird, »wie uns ein Vorstellungsinhalt ge-
geben ist, ist er uns in ‘seiner vollen Inhaltlichkeit und in durch-
gängiger Uebereinstimmung mit sich selbst, mit der Gesammtheit
dessen, was er enthält, bewußt, und in dieser totalen Gegebenheit
ihres Inhaltes gehört jede Vorstellung zur unmittelbaren Wirklich-
keit<. Natürlich, auch nach meiner Lehre kann uns kein Vorstellungs-
inhalt anders gegeben sein. Auch ich lasse ihn sich nicht aus Be-
standteilen, die auch für sich allein existieren könnten, zusammen-
setzen, auch ich kann für die kategorialen Begriffe dasselbe und
nicht dasselbe den Ausdruck »gegebene« hinnehmen, aus dem von mir
angeführten Grunde, weil wir uns nicht bewußt sind, sie erst im
Laufe unseres Lebens aus eigner Tiefe hervorzubringen. Aber das
kann alles nicht hindern, daß wir in der Analyse des Bewußtseins-
inhalts das durch die Sinne Gegebene und die positive Bestimmtheit,
von der alles Unterscheiden und Wiedererkennen abhängt, unter-
scheiden. Das Wort Vorstellungsinhalt verdunkelt den Punkt, auf
den alles ankommt; der Gegensatz ist das durch die Erregung des
664 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
Sinnesnervs Zugeleitete und die kategoriale Funktion. Will Braude
etwa, daß diese in derselben Art und Weise wie die Sinnesquali-
täten gegeben sei, obgleich sie doch für alle noch so verschiedenen
Nervenerregungen dieselbe ist und nie erfahren oder durch Erfah-
rung bestätigt zu werden braucht, während, welche Sinnesqualitäten
es gibt, immer nur erfahren werden kann? Die Fixierung der posi-
tiven Bestimmtheit im Gegensatz zur Unterscheidung kann freilich
von der bewußtwerdenden Qualität nicht losgelöst werden, ohne sie
kann ja keine Qualität bewußt werden, wie ich selbst in der Erk.
u. Log. und im Grdriß gelehrt habe, aber deshalb ist es doch
möglich, diese Fixierung nicht der Qualität als solcher, sondern dem
Bewußtwerden derselben zuzurechnen.
Braude nennt es das Erfassen einer gegebenen Vorstellung und
wählt dafür den Terminus >inhaltliches Identitätsbewußtsein«. Dabei
muß natürlich der Terminus Identität zur Erläuterung kommen und
Braude bekämpft u. a. auch meine Deutung der Identitätsurteile.
Wenn man in dem Rot hier und dem Rot dort die räumlichen Be-
stimmtheiten hier und dort, welche die zur Vergleichung nötige Ver-
schiedenheit hergeben, wegläßt, so bleibt, meint Braude, doch nur
das weder räumliche, noch zeitliche Rot übrig, welches nicht mehr
vergleichbare Zwei, sondern nur eins ist. »Was hat es also für
einen Sinn zu sagen, das identische Rot sei deswegen verschieden,
weil es an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gegeben
erscheint?« S. 75. Damit soll ich widerlegt sein! Das identische
Rot sei — verschieden, habe ich nie gesagt. Daß es zwei ganz
gleich rote Stellen geben könne, wird wol Braude nicht läugnen
wollen; von der Zweiheit der Erscheinungen spreche ich, welche aber
nicht ausschließt, daß in beiden ein Moment oder Element ist, wel-
ches, sobald wir von den die Zweiheit begründenden örtlichen oder
zeitlichen oder sonstigen Unterschieden absehen, nicht mehr zwei,
sondern nur eins ist. So habe ich es gemeint. Um das Problem zu
lösen, bestreitet Braude S. 80, daß Identität ein Relationsbegriff sei
und notwendig eine Zweiheit voraussetze, und schließt S. 82, da bei
einer wirklichen totalen Selbigkeit gegebener Vorstellungsinhalte von
einer Zweifachheit derselben gar nicht geredet werden könne, so
stelle sich »das Bewußtsein der logischen Identität überhaupt nicht
mehr dar als das Produkt einer beziehenden Funktion des Denkens,
welches zwei gesonderte Vorstellungsinhalte vergleicht, sondern es
ist das konstante Bewußtsein des schlechthin mit sich übereinstim-
menden Vorstellungsinhaltes selbst, der immer wieder, wenn er auch
im Bewußtsein auftaucht, als derselbe festgehalten und erkannt wird.
Allein wenn ein Vorstellungsinhalt immer wieder, wenn er auch
im Bewußtsein auftaucht, als derselbe festgehalten und erkannt wird«,
Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 665
so ist er durch Verschiedenheit der Zeitpunkte, in welchen er auf-
taucht, ein mehrfacher, das rot jetzt und das vorhin oder neulich,
und wenn Braude es »>als dasselbe festhält und erkennt<, so hat er
in den beiden oder mehreren der Zeit nach verschiedenen Vor-
stellungsinhalten das identische Moment erkannt. Das Prädikat
‚dasselbe< ist ohne Beziehung auf eine zweite Erscheinung, in wel-
cher es auch vorkommt, vollständig sinnlos. »So betrachtet ist die
logische Identität — Braude sagt »kein Relationsbegriff< — ich sage
doch ein Relationsbegriff, S. 82, und wenn er hinzusetzt, »sondern
nur der sprachliche Ausdruck für das tatsächliche und kon-
stante Vorhandensein eines Vorstellungsinhaltes im
Bewußtsein und der Fähigkeit des letzteren, seine Vorstellungen
stets in der Totalität ihres Gegebenseins aufzufassen<, so ist erstens
die Totalität des Gegebenseins eine unklare Redensart, zweitens aber
das »stetse doch wieder die Hindeutung auf die nur zeitlich ver-
schiedenen Vorstellungsinhalte. Eigentlich hebt Braudes Scharfsinn
das Zählen auf, da bekanntlich immer nur Gleichartiges gezählt wer-
den kann und die Gleichartigkeit immer in einem identischen Moment
besteht. Wenn 1000 Soldaten gezählt werden, so ist doch das Sol-
datsein dasselbe eine Identische, denn von ihren sonstigen Unter-
schieden wird ja geflissentlich abgesehn. Nach Braude müssen sie sich
ebenso wenig als 1000 verschiedene unterscheiden lassen wie die zwei
rot. Wenn er meinen sollte, daß wir uns beim Wiedererkennen wie
auch bei Unterscheiden unzähligemale keines Identitäts- und Unter-
scheidungsurteils bewußt werden, so wäre das doch etwas anderes, was
ich übrigens ausdrücklich anerkannt habe, s. Grundriß der Erk. und
Log. S.40. Aber wenn wir sagen sollen, worin eigentlich »das in-
haltliche Identitätsbewußtsein«, S. 83, besteht, so bleibt uns doch
nichts anderes übrig, als >die aktuelle Urteilsfunktion«. Freilich soll
es zu dieser, dem Identitätsurteil, noch »der Anerkennung des im
Bewußtsein Gegebenen durch das Subjekt des Erkennens« bedürfen.
Doch möchte ich fragen, ob das »inhaltliche Identitätsbewußtsein«
sich nicht von dem Nichtidentitätsbewußtsein unterscheidet. Tut es
dies, so ist ganz sicher in ihm schon das Urteil (nach gemeinem
Sprachgebrauch), daß das Rot jetzt und das gestern, das hier und
dort eines und dasselbe ist, nur in verschiedenen Zeitpunkten und
an verschiedenen Orten erscheinend bez. »im Bewußtsein auftauchend«
enthalten. Oder heißt Identitätsbewußtsein nicht Bewußtsein von
Identität? Und was heißt Bewußtsein der Identität, wenn das Sub-
jekt von der Identität nichts weiß? Ich definiere das Identitäts- und
Unterscheidungsurteil mit denselben Worten »Bewußtsein der Iden-
tität und Verschiedenheit«.
Vermutlich steckt Braude ein nicht zu klarem Bewußtsein gebrach-
666 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
ter Gegensatz im Sinne, der nicht erkenntnistheoretisch-logischer, son-
dern psychologischer Art ist. Es ist eine hochbedeutsame psycho-
logische Tatsache, die ich mehrfach anerkannt habe, daß des Men-
schen Denken beginnt und sich auch beim Erwachsenen und sogar
beim gebildeten Erwachsenen oft vollzieht, ohne als solches bewußt
oder doch ohne klar bewußt zu werden. Mit gleichem Rechte könnte
man die unzähligen Schlüsse aller Art, welcher sich der gemeine
Mann nicht bewußt wird, obgleich er die Konklusionen in seinem
Reden und Handeln verwendet und welche sich so blitzschnell im
Gedankenlauf vollziehen, daß auch der Gebildete, um sie darzustellen,
noch der Ueberlegung bedarf, zum Gegebenen, nicht zur Urteils-
funktion rechnen.
Wenn das >inhaltliche< Identitätsurteil auf der realen Evidenz<
(das war die der Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalte) beruhen
und deshalb der Sphäre der wahrgenommenen Wirklichkeit angehören
soll, so habe ich ein Zweifaches zu erinnern, 1) daß Braude sich
dem Schlusse, daß dann die inhaltliche Identität (gegen seine Lehre)
selbst auch Vorstellungsinhalt sein muß, durch eine nichtssagende
Redensart entzieht, denn eine solche und nichts anderes sind die
Worte, S. 84, »die inhaltliche Identität ist zwar nicht selbst Vor-
stellungsinhalt, sie ist aber der unmittelbare Ausdruck des Ver-
hältnisses des vorstellenden Subjekts zu seinen Vor-
stellungen.« Dieses Verhältnis ist sehr dunkel, wenn es nicht das
des Denkens zum Gegebenen der Sinne als seinem Okjekt ist; er
hätte es einer eingehenden Untersuchung unterwerfen sollen.
Und zweitens. Die Wirklichkeit der inhaltlichen Identität kann
man ganz und gar anerkennen, ohne sie mit Braude in Gegensatz zur
Denkfunktion als »Wahrnehmung« zu bezeichnen. Ich habe gerade
vom Standpunkte der Immanenz aus mit besonderer Betonung er-
klärt, daß die Kategorien, obwol zum Bewußtsein überhaupt gehörig
oder ihm entstammend, die objektiv wirkliche Welt bilden. Die
Data sind wirklich einander gleich oder ungleich, stehen wirklich in
kausalem Zusammenhange. Mein Denken (Anerkennen) dieser Be-
ziehungen ist kein innerseelisches Abbilden der »wirklichen«, sondern
ich werde mir der wirklichen bewußt. Das Bewußtsein ist eben mit
seinem ganzen wirklichen und möglichen Inhalt ein Ganzes, durch
keine Grenze von ihm abgetrennt.
Aber diese erkenntnistheoretische und logische Reflexion über
Natur und Herkunft dieser Beziehungen, ja sogar die Unterscheidung
derselben von dem Gegebenen der Sinne kann auch fehlen, und dann
werden sie, die ja sozusagen in den Dingen stecken und das Gerüst
der Welt bilden, auch ganz wie Gegebenes angesehn. Vgl. Erk. Log.
8.91. 123 u. Grdriß S. 37. Daß wir in der Formel a = a, dem wieder-
Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 667
holten und gleichen A nur den Ausdruck der unveränderlichen Konstanz
desselben Bewußtseinsinhaltes zu erblicken haben (S. 84), muß ich dem
Sinne nach gutheißen, bedaure aber den unglücklichen Ausdruck Kon-
stanz. Erist unglücklich, weil er das Identitätsprincip darin zu finden
scheint, daß wirkliche Bewußtseinsinhalte es als ihre eigne Eigenschaft
haben unveränderlich zu verharren, vielleicht im Gegensatz zu solchen,
welche, veränderlicherer Natur, nicht in Konstanz verharren. Haben
wir den Bewußtseinsinhalt derselben bestimmten Röte, welche wir
früher schon gesehen haben, dann sollen wir ihr die unveränder-
liche Constanz nachsagen ? Wenn wir jetzt aber Grünes sehen, sollen
wir dem einstigen Rot nachsagen, daß es nicht in unveränderlicher
Konstanz verharrt habe? Das wird gewiß auch Braude nicht wollen.
Wenn wir einen alten Bekannten mit ganz unveränderten Gesichts-
zügen wiedersehen, so ist bei dem Wiedererkennen gewiß das Iden-
titätsprincip sozusaggn in Funktion, aber nicht das ist sein Sinn, daß
dieses Ding im Gegensatz zu anderen (bisher !) unveränderliche Kon-
stanz bewiesen habe. Von den gestern gesehenen Blüten ist heut die
eine noch so wie gestern, die andere hat sich verändert. Das Prä-
dikat unveränderlich setzt sein Subjekt, dem es nachgesagt wird, ge-
rade so in die Zeit, wie das Prädikat veränderlich; jenes hat nur
Sinn, wenn das Subjekt doch überhaupt der Veränderung fähig ist.
Von den Eigenschaften eines Dinges kann man ja freilich auch den
Ausdruck brauchen, daß sie sich veränderten oder aber unveränder-
lich verharrten, aber doch immer nur in dem Sinne, daß sie noch
anwesend sind oder aber aufgehört haben, dieses Dinges Eigenschaft
zu sein, also immer eigentlich dem Dinge wird nachgesagt, daß es
einmal eine Eigenschaft hat und dann wieder nicht, oder daß es
eine seiner Eigenschaften dauernd hat. Aber der abstrakte Begriff
rot ist als Abstraktum der Zeit entnommen und man kann ihm eben
deshalb unveränderliche Konstanz ebensowenig als seine Eigenschaft
nachsagen, wie Veränderlichkeit, so wenig wie man den Stein, weil
er nicht klug ist, unklug nennt.
Was Braude nun aus seinen bisherigen Aufstellungen, S.86 und
87, folgert, »daß in der Welt gegebener Wahrnehmungen jeder
Bewußtseinsinhalt vermöge seiner eignen inhaltlichen Be-
stimmtheit, sich im wahrnehmenden Bewußtsein von selbst aus der
Gesammtheit der übrigen Inhalte zu eigener Realität loslöst« und
daß es unzulässig sei, von der Art, wie Vorstellungsinhalte gegeben
sind, zu sprechen, verstehe ich wol nicht. Vielleicht findet Braude
für die von mir gemeinten Unterschiede den Namen »Arten des Ge-
gebenseins« nicht passend, aber diese Unterschiede selbst, ob als
gegenwärtige Sinnesempfindung oder als Erinnerungsbild gegeben,
ob mit aller räumlicher und zeitlicher Bestimmtheit oder ganz
668 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
ohne solche im Bewußtsein anwesend, wird er doch nicht läugnen
können. Warum diese Bezeichnung so ganz unzulässig ist, kann
ich aus seinen bisherigen Darlegungen nicht ersehen. Braude hätte
vielleicht besser gesagt, daß es bei seiner Untersuchung auf diese
Unterschiede gar nicht ankomme, sondern blos auf das Gegeben-
sein. Aber mir kam es bei der Offensichtlichkeit dieser Unterschiede
darauf an trotz ihrer das Gegebensein zu behaupten, daß die Qua-
lität rot auch wenn sie ohne alle räumliche und zeitliche Bestimnt-
heit im Bewußtsein anwesend ist, doch nicht vom Denken erzeugt
ist, sondern gar kein möglicher Bewußtseinsinhalt wäre, wenn sie
nicht vorher schon mit aller räumlichen und zeitlichen Bestimmtheit
Gegebenes gewesen wäre.
Daß sie (Braude sagt in dem ersten der angeführten Sätze »je-
der Bewußtseinsinhalt<) »sich im wahrnehmenden Bewußtsein von
selbst aus der Gesammtheit der übrigen Inhalte zu eigner Realität
loslöst«, soll die Tätigkeit des Denkens bei diesem Ereignisse aus-
schließen, damit es ganz und gar der Wahrnehmung verbleibe. Ich
habe solche Ausdrücke auch gebraucht, nur eben als Bilder, und
nicht daran gedacht, im Ernste eine Tätigkeit des Sichloslösens einem
Bewußtseinsinhalt anzudichten. Wir wissen gar nicht, wie es sich
begibt, daß ein Bewußtseinsinhalt später ohne die Umgebung, in der
er zuerst erblickt worden ist, auftritt. Auch wie das Subjekt die
Loslösung vornimmt, kann nicht gesagt werden. Aber für mich ist
es auch ganz gleichgültig, wer dabei im sprachlichen Ausdruck zum
Subjekt gemacht wird, da ich doch nur die Tatsache, daß statt
eines früheren abc nun einmal blos a im Bewußtsein anwesend ist,
geltend machte und das Denken schon in diesem Im-Bewußtsein-haben
finde, von einer besonderen rein subjektiven Denktätigkeit aber
nichts weiß. Braude mißversteht mich, wenn er mir die Meinung
nachsagt, S. 84, »nur das Gesammtobjekt sei das einzig Wirkliche,
und das Vorstellungselement (er meint mein »Erscheinungselement«)
sei ein Nichtwirkliches nur durch funktionelle Unterscheidung zu Ge-
winnendes«. Das »funktionelle haben wir ja schon abgemacht, und
ich begnüge mich, wenn Braude nur Unterscheidung zugesteht. Und
da wird er wol nicht läugnen können, daß, was wir im Gegebenen
unterscheiden, doch zum Gegebenen gehört und — so wie ich es
behaupte — die Wirklichkeit des Gegebenen hat, da wird er ferner
nicht läugnen können, daß uns nicht zuerst die Erscheinungselemente
gesondert zum Bewußtsein kommen, aus denen wir erst ein konkretes
Ganzes zusammensetzten, und daß bloße Röte ohne Ort, Größe, Ge-
stalt niemals ein erlebter Empfindungsinhalt ist. Was ich da gemeint
habe, ist unschwer zu ersehen.
Wenn er sie »für sich gegeben< nennt, so hat er den neuen
Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 669
Sinn dieses Terminus anzugeben, wenn er sie reale Elemente nennt,
so hat er nur meine Ansicht ausgesprochen.
In Sachen der »räumlichen und zeitlichen Wirklichkeitselemente » (im
zweiten Kap.) befindet Braude sich, obgleich er ganz andre Aus-
drücke braucht, als ich, fast vollständig in Uebereinstimmung mit
meinen Lehren.
Nur seine Erörterung der sog. Allgemeinvorstellungen will ich
noch hervorheben.
Ich stimme ganz mit ihm darin überein, daß die Allgemeinheit
eines Elementes nicht erst das Produkt einer Abstraktion aus meh-
reren Objekten, sondern eine den Vorstellungen selbst im Bewußt-
sein unmittelbar innewohnende Eigenschaft ist‘), und auch darin, daß
die Raumvorstellung nicht in diesem Sinne allgemein ist, sondern daß
ihre Allgemeinheit nur den ganzen Raum, von welchem jeder be-
grenzte Raum ein Teil ist, meine.
Bei der Allgemeinvorstellung Baum, sagt Braude, unter welche wir
Tanne und Eiche und Palme subsumieren, S. 164, denken wir nicht oder
brauchen wenigstens nicht zu denken an den naturwissenschaftlichen
Begriff des Baumes, »sondern wir meinen (ganz richtig) etwas tatsäch-
lich Wahrgenommenes auszusprechen, indem wir in der Gestalt sowol
der Tanne, als auch der Eiche und der Palme die Gestalt eines Baumes
wiedererkennen«. (Ueber welchen Weg der Begriffsbildung zu vergl.
Erk. Log. 487—495). Und diese Baumvorstellung soll, S. 165, inhalt-
lich nichts anderes sein, als die unmittelbare Vorstellung der Gliede-
rung der Teilgestalten und ihrer gegenseitigen räumlichen Lagebe-
ziehung innerhalb der Gesammtgestalt. Aber Braude irrt, wenn er, S.166,
diese letztgenanute Vorstellung nicht für eine Allgemeinvorstellung hält.
Das in allen identische Moment der Gliederung der Teilgestalten und
ihrer gegenseitigen räumlichen Lagebeziehung ist nach meiner An-
sicht freilich auch in dem unmittelbaren Gesichtsbild enthalten, aber
doch nur so, wie das Abstrakte im Konkreten mitenthalten ist. Denn
in dem tatsächlichen Gesichtsbilde ist bei jedem Baume die gemeinte
Gliederung eine etwas andere, als bei jedem andern.
Sehr treffend ist die Bemerkung, S. 186, >die Tatsache, daß wir
in einem Wahrnehmungsakte die verschiedenen Zeitwerte »durch-
laufen<« und dieselben zusammenfassend verknüpfen müssen, um die
gesammte Zeitvorstellung zu gewinnen, ist, wenn wir uns ihrer re-
flektierend bewußt werden, als objektiver Wahrnehmungsinhalt
der Zeitvorstellung selbst völlig koordiniert; denn indem sie uns den
Wahrnehmungsakt in seiner Gegebenheit als psychische Wirklichkeit
zeigt, gehört sie nicht mehr zum Subjekt des Erkennens, sondern in
die Objektssphäre des unmittelbaren Bewußtseins«.
»Die qualitativen Wahrnehmungselemente< (im dritten Kapitel)
1) Cf. Erk. Log. S. 204f. Grundriß d. Erk. u. Log. 8. 91.
670 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 8.
sind, S. 188, erlebter Vorstellungsinhalt, dessen wir uns bewußt wer-
den,< worin ich vollständig beistimme. Wenn es eben da weiter heißt
>Und ebenso unmittelbar erlebt und mit der einfachen Tatsache des
Bewußtwerdens der Vorstellungsinhalte gegeben ist auch das Be-
wußtsein der inhaltlichen Sonderung der verschiedenen Qualitäten von
einander. Um zu wissen, daß rot nicht blau und nicht süß ist,
brauche ich nicht erst rot, blau und süß aus irgend einer inhaltlichen
Vermischung durch einen besondern Akt des Bewußtseins von einan-
der zu unterscheiden etc.<, so habe ich darauf hinzuweisen, daß ich
nirgend etwas von einem besonderen Akt des Bewußtseins dieser
Art lehre, sondern im Gegenteil auf das nachdrücklichste betone,
daß die Tätigkeit des Denkens, wenn sie etwas anderes sein soll, als
das Bewußtsein oder Bewußtwerden der und der Inhalte nichts ist,
die des Unterscheidens also mit dem Bewußtsein oder Bewußtwerden
der Verschiedenheit zusammenfallt. Denken nenne ich dieses Be-
wußtsein, weil dieser Inhalt, obgleich er immer mit Gegebenem zu-
gleich auftritt, nicht durch die Sinnesnerven gegeben ist, also auf
Rechnung dessen zu setzen ist, daß etwas einem Bewußtsein
als sein Inhalt gegeben ist. Braude unterscheidet sich von mir da-
durch, daß er statt Bewußtseinsinhalt »Wahrnehmungs- oder Vor-
stellungsinhalt« sagt, das unklare Wort >inhaltliches Identitätsbewußt-
sein< und endlich das viel unklarere »Stempel etc.< (s. oben) braucht.
Nur dem Dogma zu lieb, daß das Denken nur eine beziehende Funk-
tion ist und daß das Bewußtsein der Verschiedenheit von rot und
blau und süß oder m. a. W. das Bewußtsein, daß rot nicht blau
und nicht süß ist, keine Beziehung enthielte, also kein Denkakt
wäre, bekämpft Braude, S. 191, meine Unterscheidung der Erschei-
nungselemente. Es soll eine unmögliche Annahme sein, daß wahr-
genommene Vorstellungen in gedachte Begriffe verwandelt würden.
Aber ich nehme gar nichts an, und am wenigsten dieses. Nichts
‚verwandelt sich«, sondern es ist etwas anderes, ob ich rot mit der
nötigen räumlichen und zeitlichen Bestimmtheit wahrnehme, oder ob
ich es ohne solche Bestimmtheit (um nicht zu sagen »denke«) im
Bewußtsein habe. Seine Polemik wird hinfällig durch sein eignes
Zugeständnis, S. 192, denn für uns bedeutet die Tatsache, daß
‚die Elemente< als solche wahrgenommen werden, nichts anderes, als
daß die Elemente in ihrem eignen Inhalte den unmittelbaren Cha-
rakter von gegebenen Vorstellungen besitzen«. Da liegt also offen-
bar nur ein verschiedener Gebrauch des Wortes vor. Den Charakter
von Gegebenem (in dem erkenntnistheoretischen Gegensatze) hat das
Rot ohne räumliche und zeitliche Bestimmtheit auch für mich; es
behält ihn und wird nicht in seinem Inhalte bloßes Gedankenprodukt,
da ich es im Gegebenen finde. Aber der Unterschied zwischen ihm
und dem Ganzen muß doch auch durch Braudes >inhaltliches Iden-
Braude, Die Elemente der reinen Wahrnehmung. 671
titätsbewußtsein< gegeben sein. Ich »postulire« S. 192, ihn nicht,
sondern finde ihn vor.
Ein Mißverständnis muß vorliegen — ich kann nur nicht sehen
welches — wenn er S. 193 gegen mich bemerkt »wir wissen ja nichts
von den Bedingungen der wirklichen Wahrnehmung, wir können nie
sagen, warum sie so ist, wie sie ist«. Ich habe oft genug einge-
schärft, daß sich die Erscheinungselemente nur im Gattungsmäßigen,
nicht im Speciellen fordern und bedingen, daß also zur wirklichen
Wahrnehmung immer eine (irgend eine) Qualität, räumliche und zeit-
liche Bestimmtheit gehört, aber daß weder aus der Bestimmtheit einer
Qualität als solcher noch aus der Bestimmtheit eines Wo und Wann
als solchen hervorgehe, warum sie verbunden sein müßten, rot grade
hier und jetzt erscheinen müsse. Aber freilich bin ich sein Gegner,
wenn Braude ebenda entgegnet, daß im eignen Vorstellungsinhalt
einer Qualität nichts liege, was uns zu der Behauptung berechtigte,
daß dieselbe ohne Verbindung mit einem Wo und Wann nicht wahr-
genommen werden könnte, und »die tatsächliche Verbindung der
Elemente gibt uns kein Recht, von einer »inhaltlichen« Unzer-
trennlichkeit derselben zu sprechen<? Um die Meinung, daß alle
Empfindungsinhalte an Zeit und Raum geknüpft sind, zu widerlegen,
braucht Braude sich nicht speciell gegen mich zu wenden; sie ist alt
und heut noch allgemein. Ich habe sie auch nicht als meine Ent-
deckung vorgetragen, aber in einer erkenntnistheoretischen Logik
kann dieses Kapitel doch nieht fehlen. Braude gesteht nun selbst,
194, rot ohne jedes Wann und Wo nicht sinnlich wahrnehmen zu
können, aber dies sei nur >psychologisch wahr«. Kann nun »erkennt-
nistheoretisch« falsch sein, was psychologisch wahr ist? S. 195 kommt
das Mißverständnis heraus, wenn er, oflenbar gegen mich, erklärt,
daß die tatsächliche Verbindung der Elemente deren inhaltliche Selb-
ständigkeit und Sonderung nicht beeinträchtige. Ich denke, die Son-
derung habe ich genug betont. Und was er unter der gegen mich
behaupteten »Selbständigkeit« versteht, ist leider nicht gesagt. Ich
vermute: nicht mehr als ich, es sei denn die erkenntnistheoretische
Möglichkeit des psychologisch Unmöglichen. Dann muß eben die Er-
kenntnistheorie von der Natur des erkennenden Menschen und der
Herkunft der einfachsten Vorstellungselemente abstrahieren. Wonach
sollen wir denn dann die Möglichkeit beurteilen? Sollen wir etwa
dabei mit in Rechnung bringen, was dem göttlichen Bewußtsein mög-
lich ist? Ich gestehe, es nicht zu wissen.
Nicht faßbar ist es mir, wie Brande, S. 195, dazu kommt, meine
Lehre, daß das ausgesonderte Element für sich allein nicht sinnlich
wahrnehmbar sei, nur dann für haltbar zu erklären, wenn man die
Wirklichkeit für etwas Transscendentes und das im Bewußtsein Vor-
gestellte für Abbilder von jenem halte. Er müßte wissen, daß ich
672 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 3.
die wirkliche Wahrnehmung und die Vorstellung nicht als Existieren-
des und blos Gedachtes unterscheide, sondern auch dem blos Ge-
dachten (wenn es nicht ein irrtümliches ist), auch dem abstrakt All-
gemeinen, auch dem Begriffsinhalt der Kategorien objektive Wirk-
lichkeit zuspreche. Weil ich meine, daß es mehrfachen zu unter-
scheidenden Bewußtseinsinhalt gibt, solchen, der den Charakter des
erlebten Sinneseindruckes hat, und solchen, der diesen nicht hat,
müsse ich das Wirkliche inkonsequenter Weise als Transscendentes
denken! Gegen ihn S. 195 und 196 muß ich sagen: Vom Stand-
punkte der Immanenz aus ist es durchaus geboten, die eben genann-
ten Arten der Bewußtseinsinhalte zu unterscheiden, und die Wucht
seiner Worte S. 196 beruht nur auf der unerwiesenen Behauptung,
daß sich rot ohne jedes Wo und Wann, was nach meiner Ansicht
nicht wirklich gesehen wird, im Bewußtsein unmittelbar als eben
solcher Vorstellungsinhalt darstellen, wie das wirklich irgendwo und
wann gesehene. Unmittelbare Realitäten sind die Qualitäten in der
Aussonderung auch nach meiner Theorie, denn die Aussonderung tut
ihnen nichts an, nimmt von ihrem eignen Inhalt nichts weg und
fügt ihnen nichts hinzu, läßt sie als Qualitäten so, wie sie wahrge-
nommen werden, und lenkt nur den Blick von der räumlichen Bestimmt-
heit ab, wodurch allerdings ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit wegfällt.
In Betreff der Allgemeinvorstellungen muß ich der Behauptung,
S. 211, daß innerhalb jeder Nüance. die Grundfarbe etwas durchaus
Selbständiges und Anschauliches ist (wenn ich auch »die Selbständig-
keit« vielleicht nicht ganz ebenso auffasse, wie Braude), das sich in
jeder seiner Nüancen mit der gleichen unmittelbaren Inhaltlichkeit
wiederholt und darum auch gleich benannt wird, beistimmen. Aber
ich kann nicht zugeben, »daß es in Wirklichkeit kein Allgemeines
sei, sondern ein identischer Vorstellungsinhalt, der sich in verschie-
denen Complexen in der Wirklichkeit wiederholt und aus denselben
im vorstellenden Identitätsbewußtsein zur unmittelbaren Selbständig-
keit erhoben wird«. Ich meine: darin liegt eben die Allgemeinheit,
bei welchem Worte sich Braude wol etwas anderes denkt, als ich.
Und ich kann es ferner nicht mit dem Angefithrten reimen, wenn
sogleich S. 212 behauptet wird, daß die als Farben, Tone u. s. w. zu-
sammengefaßten Vorstellungsgruppen in ihren eigenen Vorstellungs-
inhalten keinerlei gemeinsames Vorstellungselement enthalten. Kon-
sequentermaßen kommt Braude S. 216 zu dem Ergebnisse, »daß es
unmöglich ist, für die inhaltliche Allgemeinheit als solche einen tat-
sächlichen Nachweis zu führen«.
Greifswald, Mai 1901. Wilhelm Schuppe.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen.
September 1901. Nr. 9.
Encyclopaedia biblica, a dictionary of the Bible ed. by T. K. Cheyne and
J. Black. U. Lex. 8. 1143 halbe Seite (1145—2288 des ganzen Werks).
9 Karten. London, Charles Black, 1901. Preis 20 sh.
Dem vor Jahresfrist hier angezeigten ersten Bande (Jahrgang
1900, Nro. 3, S. 177—185) ist rasch ein zweiter, die Buchstaben E
bis K enthaltender, gefolgt. Auch er zeugt noch von dem intellec-
tuellen Urheber des Werkes, dem vor 7 Jahren verstorbenen W. Ro-
bertson Smith. Auf von ihm herrührenden Unterlagen schreiben hier
Cheyne über Haggai, Marti über Hosea, Driver über Ioel, Bevan
(fehlt vorn unter »list of contributors<) über hebräische Sprache,
H. von Soden über Hebräerbrief, Kautzsch über die Königsbücher,
G. A. Smith und Conder über Jerusalem. Unter den von neu ein-
tretenden Mitarbeitern gelieferten Artikeln wird man besonders Well-
hausens Hexateuch begrüßen. Weiter sind als deutsche Namen von
gutem Klang zu nennen Nöldeke (z.B. Edom, Ester,. Ismael), Budde
(z.B. Habakkuk), Benzinger Fasten, Feste, Familie, Verwandtschaft,
Herrschafts- und Verwaltungsangelegenheiten), Jülicher (z. B. Gnosis,
Häresie). Im ersten Bande noch nicht vertreten sind Deissmann,
der im zweiten Bande zwei Artikel über oroıyel« (cod xdauov) und
Epistel-Literatur (im Unterschied von eigentlichen Briefen), und P. Volz
der den Artikel über den griechischen Esra geliefert hat.
Mehr noch als im ersten Bande macht sich im zweiten die ori-
ginelle Gelehrtennatur des Herausgebers Cheyne geltend. Seine Hand
ist überall, selbstverständlich auch sein Wissen. Demgemäß betreffen
seine Artikel ebenso die biblische Weltanschauung überhaupt (z.B.
Erde und Welt, Sonnenfinsternis, Erdbeben), wie die biblische Theo-
logie insonderheit (diese, im Allgemeinen ausgeschlossene Region wird
doch berührt in Behandlung von Begriffen wie Ewigkeit, Glaube,
Kopf, Herz, Feuer, Exorcisten u. a.), weiter auch Geographie (z.B.
Galiläa, Galiläischer See, Gennesar, Gilead, Gath, Gaza, Haran, Hau-
ran, Jericho) und Geschichte (z.B. Enos, Enoch, Isaak, Jakob, Joseph,
Jephta, Jerobeam, Hiskia, Josaphat, Ioram, Jotham, Iehu, Iesaja, Hulda,
Jona), endlich auch sprachliche und exegetische Fragen (z.B. Ho-
Gött- gel. Ans, 1901. Nr. 9 45
674 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
sanna, Hymnen, Hypokrisie, Immanuel). Nicht wenige in diesen Ar-
tikeln niedergelegte Forschungsresultate werden Widerspruch er-
regen, zumal auf Seite des sog. moderate criticism. Wenn dieser
sich aber in den letzten Jahren schon merklich in die Enge getrie-
ben fühlt und eine dem entsprechende heftigere Sprache führt, so
ist ein solcher Erfolg fragelos in erster Linie auf Rechnung des
Oxforder Gelehrten zu setzen, welcher heute in der Festung genannt
advanced criticism gebietet und selbst sehr entlegene und ausge-
setzte Posten mit oft überraschend kühnen Combinationen zu be-
haupten unternimmt. Jedenfalls machen uns seine Artikel stets mit
dem Neuesten bekannt, was eine von der Tradition emancipierte
Kritik auf dem Tisch des Hauses alttestamentlicher Gelehrsamkeit
niedergelegt hat. Während beispielsweise Guthe im Artikel Israel
den Aufenthalt in Aegypten auf die Rahelstämme beschränkt, ver-
mittelt Cheyne im Artikel Exodus zwischen dieser und der Ansicht
Wincklers, wornach Aegypten (Misraim) überhaupt nur mißverständ-
lich an die Stelle eines nordarabischen Landes (Musri) getreten wäre.
Aber auch das neutestamentliche Gebiet beschreitet er jetzt häufig,
und zwar nicht selten mit derselben Vorliebe für neue Versuche und
Conjecturen. So soll man Marc. 6,45 statt Bethsaida lesen Tibe-
rias, Matth. 26, 50 statt &p' 6 ndosı vielmehr Öroxgive:, Joh. 12, 6
Gr. yadexds tv xal cd xoıvdv BaAAdvrov éBdorafe, Apostelg. 8, 26
adın éorl nindiov rijg Eoriuov, Gal. 4,25 to de “Ayag Live soos
éotly év ti ‘AgaBig, als sinnlose Unterbrechung des Zusammenhangs
streichen. Die Lesart @veidısasg Marc. 15,34 Codex D erklärt er
aus Verschreibung des hebräischen Aequivalents nach Chase. So
thut bei uns auch Dalman; aber einleuchtender ist doch wohl die
neuerdings von Harnack in den Sitzungsberichten der Berliner Aka-
demie (Philosophisch-historische Classe XI, S. 261—265) gegebene
Auskunft. Der Hymenäus der Pastoralbriefe soll seinen Namen als
Feind Hymens 2 Tim. 4, 3 tragen (lucus a non lucendo). Die Hero-
dianer Marc. 3, 6 seien unhistorisch, weil dieser Name in Galiläa viel-
mehr die Zugehörigkeit zur Familie des Herodes bedeuten würde.
Die Erzählung vom Verrat des Judas sei unhistorisch, und in der
gleichfalls mythischen Jairusgeschichte soll der Text des Matthäus
ursprünglicher sein als der des Marcus.
Abgesehen von den eignen Artikeln entfaltet Cheyne übrigens
auch eine redactionelle Thätigkeit in der Form von Bearbeitung und
Erweiterung fremder Beiträge. Wie er R. Smith fortsetzt, so auch
den verstorbenen Kosters (Esra und Nehemia). Während Jülicher
die Essener mehr in Analogie mit der spätgriechischen Asketik (Neu-
pythagoreismus) verstehen will, verweist Cheynes Zusatz auf zoroa-
Encyclopaedia biblica, ed. by Cheyne and Black. II. 675
strische Einwirkungen. Auch der sehr besonnen abwägende Artikel
über Hellenismus (im Spätjudentum und N.T.) trägt neben dem
Zeichen Jülichers dasjenige des Herausgebers, welcher auch zu H.
v. Sodens Bericht über die Genealogien Jesu eine Schlußbemerkung
in Betreff des Namens Rhesa macht. Den oben genannten Artikel
Wellhausens versieht er gleichfalls mit einem Anhang, welcher die
Studenten auf Gunkels Genesis vorbereiten soll. Dagegen bringt auch
sein eigener Artikel über den Täufer Johannes absichtlich keine den
Gegenstand erschöpfende Arbeit, sondern nur Ergänzungen zu dem,
was darüber bei Guthe (Geschichte Israels $ 92 und $ 95), Bruce
(Jesus § 6) und Schmiedel (Johannes Zebedäi § 17) zu lesen ist.
Aus diesen und andern Beispielen erhellt die Sorge der Redaction
für Herstellung einer gewissen Fühlung und Harmonie zwischen den
einzelnen Beiträgen. Selbstverständlich ließ sich eine solche Tendenz
oft nur annäherungsweise durchführen.
Besondere Beachtung verdient eine Anzahl von größeren Ar-
tikeln, deren jeder, aus dem engen Druck in die gewöhnliche Buch-
schrift umgesetzt, ein Bändchen, beziehungsweise einen Band füllen
und als selbständige Monographie auftreten könnte. So was M. W.
Müller (Philadelphia) über Aegypten (Sesostris ist hier noch Ram-
ses II, wogegen seither Sethe aufgetreten ist), Charles über Escha-
tologie (am Anfang mit Inhaltsangabe, am Schluß mit Register ver-
sehen), Guthe über die Geschichte des Volkes Israel, Cheyne über
Hiob geschrieben haben (»das Buch ist gewachsen, nicht gemacht«,
daher ohne schriftstellerische Einheit und Zweck), E. A. Abbott (Lon-
don) und Schmiedel (Zürich) über die Evangelien geschrieben haben.
Dieser ausgedehnteste Artikel ist so angelegt, daß der erstgenannte
Verfasser in 107 Kapiteln (descriptive and analytical) über den that-
sächlichen Befund berichtet, welcher die Unterlage aller Theorien
über den Hergang der Evangelienbildung ausmacht (die durchaus
selbständige Arbeit bietet eine nicht geringe Zahl neuer Beobach-
tungen und erwägenswerter Urteile), während der diesen aufs Glück-
lichste ergänzende, zweite in 49 weiteren Kapiteln (historical and syn-
thetical) eine umsichtig angelegte Geschichte des synoptischen Pro-
blems mit annähernder Lösung gibt, selbstverständlich im Sinne der
Zweiquellentheorie. Während aber im ersten Artikel synoptische und
johanneische Data gemeinsame Behandlung finden, hat Schmiedel die
johanneische Frage in einem eigenen Artikel in 66 Kapiteln behan-
delt (» Johannes, der Zebedaide«e),. Von diesen, mit musterhafter
Sorgfalt geführten Untersuchungen gilt das Gleiche, wie von dem
Artikel des ersten Bandes über die Apostelgeschichte. Hier pflanzt
die freieste und zugleich gründlichste Kritik bezüglich des N. T. eine
45 *
676 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
für das ganze Lager bezeichnende Fahne auf. Demselben Verf.
verdanken wir auch zwei Artikel über Galatien und den Galaterbrief.
Dabei wird die schwebende Vexierfrage »Nord- oder Südgalatien ’«
in allseitiger und unparteilicher Weise behandelt, indem nämlich
Woodhouse, der auch über Ephesus, Illyrien und die Herodes-Dynastie
schreibt, fiir die zweite, Schmiedel dagegen fiir die erste Seite der
Alternative eintritt und bei dieser Gelegenheit die eingehendste und
schärfste Kritik der Constructionen Ramsays gibt, die hier zugleich
auch ihre schwankende Wandelbarkeit offenbaren. Selbst in das Ge-
biet der Jurisprudenz ist der deutsche Gelehrte dem schottischen
siegreich nachgeriickt. Ganze Bücher hätten übrigens leicht auch
aus den Artikeln >Jesus< und »Abendmahl« (Eucharist) werden kön-
nen. Aber auf diesem Gebiete ist dermalen Alles noch im Fluß, und
die Redaction hat vielleicht den kürzesten und für ihre Zwecke
gangbarsten Weg eingeschlagen, wenn sie für das Leben Jesu einen
kurzen, durchweg an den Synoptikern orientierten, Aufsatz des ver-
storbenen Professors der freien schottischen Kirche A. B. Bruce in
Glasgow aufnahm und sich für die verwickelte Herrnmahlsfrage mit
einer, von 8. Armitage Robinson besorgten, Zusammenstellung des
altchristlichen Materials begnügte.
Aus den Reihen der amerikanischen Theologen erscheinen auch
hier wieder vor allen G. F. Moore (Historische Literatur, Genesis,
Exodus, Josua, Richterbuch, Höhendienst, Götzendienst), N. Schmidt
(Jeremia), F. Brown (Geographie), Jastrow (Hittiter). Neu hinzu-
gekommen ist erfreulicher Weise der durch Wissen und Freimut
gleich vorteilhaft bekannte Orello Cone, welcher gute Auskunft über
Personen und Briefe des Jakobus und Judas gibt. Aus der engli-
schen Theologie heben wir noch hervor Kennedy, welchem erhebliche
Küchenartikel (food, fowl, fruit) zugefallen sind, A. B. Davidson
(Kohelet), Toy (Ezechiel, Sirach), Box (Erziehung), Hogg (Ephraim,
Gad, Isaschar), Bennett (Heiden), Cook (Haus, Hebron), Gaster (Ju-
dit), Addis (Elia und Elisa), Johns (Euphrat und Hiddekel). Am
Artikel Pferd sind ihrer drei beteiligt: Shipley, Cook und Cheyne.
Recht knapp ist der von M. R. James in Cambridge herrührende
Artikel über das vierte Buch Esra ausgefallen; aber er rechnet auf
Ergänzung seiner Lücken in den Artikeln über Eschatologie und
Messias.
Höchste Anerkennung verdient der uneigennützige Eifer, welchen
die Gebrüder Black als Verleger auf die Ausstattung des großen
Unternehmens wenden. Als auf einen besonderen Schmuck dieses
zweiten Bandes müssen noch die, im ersten nur spärlich vertreten
gewesenen, Karten und Pläne rühmlichst hervorgehoben werden. Man
Encyclopaedia biblica, ed. by Cheyne and Black. II. 677
kennt die nichtssagenden Täfelchen, die unserm einheimischen Bibel-
werken und Darstellungen der Geschichte des Volkes Israel oder des
Apostels Paulus u.s. w. beigegeben zu werden pflegen. Welch ein
Abstand von dem, was hier geboten wird! Mir wenigstens sind der-
artig zweckmäßige Leistungen in ähnlichen Werken noch nicht vor-
gekommen. Auf dieser Karte von Kleinasien treten die römischen
Provinzialverhältnisse deutlichst vor Augen, was z.B. zur Klarlegung
der galatischen Frage nicht wenig beiträgt. Die vier den Welt-
gegenden entsprechenden Karten von Palästina lassen in achtfacher
Färbung die Unterschiede der Höhenlage erkennen, so daß die Augen
des Betrachters beständig Gänge über Berg und Thal machen. Je-
rusalems verschiedene Zeitschichten lesen sich ebenso leicht vom
Blatt ab. Eine große Karte und 4 kleinere, außerdem zahlreiche
Bilder veranschaulichen die geographische Lage und Altertümer
Aegyptens. Dem hebräischen Weltbild selbst, wie es sich durch die
Erfahrungen der Jahrhunderte erweitert hat, sind vier geographische
Zeichnungen gewidmet, und den Abschluß bildet die Weltkarte Stra-
bos. Aber auch die ägyptischen, assyrischen und hebräischen Alter-
tümern gewidmeten Abbildungen sind in hohem Grade lobenswert;
überhaupt ist die ganze Ausstattung des Werkes so vornehm wie
sein Inhalt reichhaltig.
Straßburg i. E., Juni 1901. H. Holtzmann.
Gunkel, H., Genesis übersetzt und erklärt. Göttingen, Vandenhoeck u.
Ruprecht, 1901. LXXIV. 450 S. Preis 9,80 M. Handkommentar zum A. T.
herausg. von Nowack. I Abt. 1. Band.
Der Herr Verfasser behandelt nach einer sehr ausführlichen Ein-
leitung den Inhalt der Genesis nach den einzelnen Quellen in folgen-
der Reihenfolge: 1) Urgeschichte bei J S. 1—92. 2) Urgeschichte
bei P S. 92—145. 3) Abrahamgeschichten von J und E S. 146—
236. 4) Abrahamgeschichten bei P S. 237—265. 5) Jakobgesch:ch-
ten von JE S. 265—346. 6) Nachrichten über Isaak, Jakob und
Esau bei P S. 347—356. 7) Die Josephgeschichte bei J und E
S. 356—443. 8) Erzählung von Jakob (Joseph) bei P S. 443—448.
Der Hr. Verf. übersetzt den Beginn der Urgeschichte bei J
Gen. 2, 4° ff.: »Zur Zeit, da Jahve Gott Erde und Himmel schuf —
als noch keine Sträucher auf Erden waren und keine Kräuter ge-
wachsen waren, weil Jahve Gott noch nicht hatte regnen lassen auf
678 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9,
Erden und Menschen noch nicht waren, den Acker zu bebauen ; aber
ein Strom brach aus der Erde hervor und tränkte die ganze Fläche
des Ackers — da formte Jahve Gott den Menschen etc.<. Es ‘ist
wenig glaublich, daß die Quelle, die den einfachsten und edelsten
Stil zeigt, mit solch plumper Parenthese eingesetzt haben sollte.
Der Anfang des jehov. Berichtes ist, wie anerkannt, verstümmelt.
Es ist darauf zu achten, daß nach dem Inhalt der Zustandssätze v5
Gestriipp und Graswuchs die natürliche Folge des Regens sind: weil
Jahve damals noch nicht hatte regnen lassen, gab es selbstverständ-
lich auch noch kein Grün auf Erden; als Er zum ersten Mal regnen
ließ, erschien natürlich auf der öden Steppe Gras und Halm. Wenn
es heißt »und die Menschen waren noch nicht da, das Land zu be-
stellen«, so soll damit gesagt sein: wie es noch kein Gras und Kraut
gab, wie heute, so gab es auch noch nicht die Menschen, die, wie
heute, den Acker bestellen. Einen Widerspruch zwischen dieser No-
tiz und der Paradiesgeschichte kann nur der finden, der diese naive
ganz unbetonte Bemerkung mißversteht: der Erzähler will weiter
nichts sagen als: es war noch nicht so wie heute. Daß “x ein
Strom sei, glaube ich kaum: dem widerspricht zu sehr v 6b, ein
Strom kann nicht >die ganze Oberfläche der Erde< tränken. Daraus,
daß nicht gesagt wird, Gott habe den "x geschaffen, darf man nicht
mit dem H. Verf. den Schluß ziehen, dieser ‘x sei eine Art mytho-
logischer Größe und von Jahve unabhängig; mit ganz demselben
Recht könnte man behaupten, daß auch die Erde, deren Existenz ja
in diesem Bericht vorausgesetzt erscheint — vgl. unten —, dadurch
als eine mythologische von Jahve unabhängige Größe erwiesen werde.
Der H. Verf. meint, in der Quelle Gen. 2,4 ff. werde oder sei ur-
sprünglich die »Schöpfung«e von Himmel und Erde erzählt worden.
In Wirklichkeit kennt dieser Bericht gar keine >»Weltschöpfung«;
die »Welt« ist da und Jahve wirkt auf ihr, d.h. er ruft das Pflan-
zenleben hervor durch den Regen und bildet den Menschen (und die
Tiere). Die Frage, woher die »Welt«, d.h. Himmel und Erde ge-
kommen sind, liegt gar nicht im Gesichtskreise des Erzihlers. Die
ungeheure Abstraktion des qv dre ovx nv kann er für die »Welt< gar
nicht vollziehen: Die Erde, d.h. Ackerland und Weideland ist selbst-
verständlich immer da gewesen und die Pflanzen sind selbstverständ-
lich im selben Augenblick aus der Erde hervorgekommen, als Jahve
zum ersten Mal regnen ließ, das kann man ja heute noch sehen und
erleben. Das Dasein des Menschen (und der Tiere) allein ist dem
Erzähler verwunderlich. Sein einziges Interesse ist der Mensch, die
Tiere sind nur so nebenbei entstanden und sind dem Menschen an
Bedeutung untergeordnet. Der Erzähler kennt nur eine »Schöpfung«,
Qunkel , Genesis übersetzt und erklärt. 679
wenn es erlaubt ist, diesen für seinen Bericht ganz unpassenden
Ausdruck zu gebrauchen, die des Menschen (und der Tiere) — Him-
mel und Erde sind die selbstverständlichen Voraussetzungen dieser
Schöpfung, in ihrem Vorhandensein sieht er kein Problem. Dieser
fundamentale Unterschied gegen Gen. 1 ist dem H. Verf. mit den
meisten Erklärern gar nicht zum Bewußtsein gekommen: er behan-
delt beide Stücke als Weltschöpfungen und stellt sie in dieser Be-
ziehung auf eine Stufe. — Durch »das Einhauchen des göttlichem
Odems in die Nase wird der Mensch ein Lebewesen<. Der H. Verf.
teilt die gewöhnliche Ansicht über ve> und mw», 8. 5: »die mw»
. ist das Prinzip des Lebens, das allen gemeinsam ist; die we)
das gewirkte Leben, das in jedem ein andres ist, das Einzelindivi-
duum«. Aber auch nach der herkömmlichen Ansicht falsch ist, was
diesem Satz vorausgeht und nachfolgt: »Dieser göttliche Wunder
wirkende Odem wurde im Menschen ein selbständiges Wesen« und:
im Tode nimmt Gott die nv wieder an sich Job 34, 14, die
wo) aber geht dann in die Sinw<! Wo giebt es im A.T. nur eine
Stelle, die bewiese, daß die ‘> im Menschen ein selbständiges Wesen
sei und nach dem Tode in die ‘w gehe! Die Drohung in v. 17 er-
füllt sich in cap. 3 nicht, einfach aus dem Grunde, weil es eine »leere<
Drohung war, wie die Geschichte deutlich empfinden läßt. Gott
schafft dem Menschen ein Weib mit der Begründung: es ist nicht
gut, daß der Mensch allein sei, nämlich zur Wartung und Pflege des
Gartens, darum will ich ihm ein Wesen zur Hilfe beigeben. Der
Mensch soll also eine Hilfe haben zu seiner Arbeit, weiter nichts;
ganz falsch ist die Eintragung: »Die Wahrheit und Tiefe des Ge-
dankens, daß der Mensch ohne seinesgleichen nicht glücklich sein
kann, versteht jeder Einsame« — um das Glück des Menschen han-
delt es sich nicht im entferntesten. v. 24 kann nicht von dem ur-
sprünglichen Erzähler stammen, der bei aller >Naivetät« doch be-
sonnen erzählt; die Geschlechtsgemeinschaft ist nicht der Zweck, zu
dem Gott das Weib ursprünglich geschaffen hat. »Und die Schlange
war klüger als alle Tiere des Feldes<, »klüger«, nicht »listiger« ist
zu übersetzen. Denn die ganze Erzählung giebt nicht den gering-
sten Anhalt, sich die Schlange als ein listig-böses Tier mit tückischen
Hintergedanken zu denken. Für die Behauptung des H. Verf. zu
3,1: »Jetzt stellt sie sich, als ob sie nur ungenau orientiert sei und
sich jetzt beim Menschen selber genau instruieren wolle. Sie über-
treibt Gottes Verbot dabei aufs stärkste und thut, als sei sie be-
fremdet über solche Härte«e — fehlt jeder Anhalt. Auch der Rest
des Bösen, der der Schlange in der Erklärung heute noch anhaftet,
ist Einbildung. Sie hat etwas von dem göttlichen Verbote vernom-
680 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
men und was ihr davon zugekommen spricht sie in der Frage an das
Weib aus. Aus der berichtigenden Antwort des Weibes lernt sie
auch die Drohung kennen, durch die Gott sein Verbot, vom Baum
mitten im Garten zu essen, eindringlich gemacht hat. Sie weiß
gleich: das ist nicht wahr, von dem Genuß dieser Frucht stirbt der
Mensch nicht, Gott hat vielmehr einen anderen Grund, ihn zu ver-
bieten ; und weil sie das weiß, deshalb heißt sie tiny. Sie spricht
was sie weiß und was nach der Meinung des Erzählers offenbar
wahr ist. Durch den Genuß der verbotenen Frucht haben die Men-
schen wirklich 931 ‘oy ns erlangt, d.h. das Wissen und Empfinden
von dem, was nützlich und schädlich, passend und unpassend ist;
dies Wissen beginnt mit dem Bemerken, daß sie nackt sind und der
Scham darüber als dem ersten Schritt zu dem, was wir Kultur nen-
nen. Die Worte des Menschen in 3,10 »ich fürchtete mich, denn
ich bin nackend< sind durchaus kein Vorwand, wie die Erklärer mei-
nen — als ob es eigentlich heißen müßte: ich fürchte mich, denn
ich habe dein Gebot übertreten —, sondern ganz wirklich gemeint.
In dem Fluche über das Weib muß es statt des alten Schreibfehlers
snpron 3,16 heißen swpn, parallel zu 73 won, vgl. bereits Gött.
gel. Anz. 1900 Nr. 11 S. 836.
In einem Exkurs §. 21 ff. redet der H. Verf. über die Quellen
dieser jahvistischen Urgeschichte. Er meint, zwei Parallelberichte
innerhalb J unterscheiden zu können, die er Je und Jj nennt. Zu
der Zurückhaltung, mit der der H. Verf. die Vermutung über die
Grenzen dieser Quellen aufstellt (S. 22) steht die Kühnheit, die er
in der Charakterisierung der in etwa 5 Versen enthaltenen Quelle Jj
entwickelt, in seltsamem Gegensatz: dort hat Eva noch im Paradies
empfangen, der Mensch trug im Paradies ein prächtiges Kleid
(Ez. 28,13!), bei der Vertreibung zog Gott ihm dies Paradieskleid
aus, S. 23. Aber der kritische Scharfsinn ist damit noch nicht zu-
frieden : »auch die Erzählung von Je ist trotz ihrer gegenwärtigen
Einheitlichkeit nicht einheitlichen Ursprungs<. Sie besteht nämlich
aus zwei Traditionen »1) einer Geschichte vom Ursprung der Welt,
d.h. des Ackers, der Pflanzen, des Menschen, der Tiere, des Weibes,
und 2) einer Erzählung vom Paradies und der Austreibung«e. Daß
-der H. Verf. die Erzählung 2, 4 ff. nicht recht verstanden hat, be-
weist er durch die Inhaltsangabe dieser »Schöpfungsmythe«, vgl.
oben. Aber der Scharfsinn des H. Verf. findet noch mehr »Unzu-
traglichkeiten<. »Nach 2, 5, heißt es auf S. 24, wird die Entstehung
der Pflanzen und Kräuter angekündigt, aber nach 2,9 werden nur
die Bäume des Paradieses geschaffen ; so erfahren wir also gar nicht,
wie die Pflanzen dieser Erde entstanden sind<. Nun, das erfahren
Gunkel, Genesis tibersetet und erklärt. 681
wir doch aus v. 5 deutlich genug: durch den Regen; von einer An-
kündigung der Entstehung der Pflanzen ist in diesem v. keine
Rede, wenn man ihn recht versteht wird eine besondre »Schöpfung«
der Pflanzen durch ihn gerade ausgeschlossen; und in 2,9 werden
die Bäume des Paradieses nicht »geschaffen« , sondern das Paradies
wird von Gott gepflanzt, wie wir Menschen uns einen Garten pflanzen.
»Ebenso fällt auf, daß nach 2,5 der Regen es ist, von dem die
Fruchtbarkeit der Erde abgeleitet wird, während sie nach v. 6 —
wie es scheint — vom “x herrührt«. Vielmehr dient der se nur
ad hoc, um den Erdboden zu befeuchten, so daß Gott ihn zur Bil-
dung des Menschen kneten kann. »Eine ähnliche Schwierigkeit ist
es, wenn der Mensch nach 2,5 geschaffen ist, um den Acker zu be-
stellen; wenn er aber anderseits ursprünglich ins Paradies versetzt
worden und erst durch den Fluch hieraus auf den Acker vertrieben
worden ist 3, 23<. Vgl. darüber oben; die Angabe in v. 5b besagt
nur, daß der Mensch, der heute das Land bebaut, damals noch nicht
da war. Die Frage endlich, was aus den Tieren geworden sei, von
deren Vertreibung aus dem Paradies zugleich mit dem Menschen
doch nichts erzählt wird, ist sehr pedantisch; das ganze Interesse
des Erzählers dieser Geschichte ruht auf dem Menschen und seinem
Lose, das Entstehen der Tiere ist nur eine untergeordnete Episode
in der Schöpfung des Menschen. Wenn der H. Verf. den Mythus in
seiner naiven Begrenztheit, in der er mit der Schöpfung der Welt
gar nichts zu thun hat, erfaßt hätte, würde er jene Fragen gar
nicht gestellt haben. »Alle diese Schwierigkeiten, schließt er, werden
gelöst, wenn wir 3,23 entfernen. Dann ist die ursprüngliche Mei-
nung .... gewesen, daß das Paradies (nicht ein bestimmter Ort
auf Erden, sondern) eben diese Erde »auf der ganzen Fläche der
mowe« gewesen ist 2,9;..... als aber die Menschen sich ver-
gingen, »verwünschte« Gott das Paradies . . .c. Jene Annahme löst
keine Schwierigkeit, sondern schafft ein Heer von neuen. Denn
durch eine solche > Verwünschung« (!) würde ein 1739 mn entstan-
den sein, aber nicht diese Erde mit ihren Pflanzen, Kräutern etc.;
wo steht denn nun die Schaffung dieser Erde? Aber abgesehen
von dieser nicht zu lösenden Schwierigkeit —, welch ein Gott ist
nötig, um so Ungeheures zu vollbringen! Wenn der H. Verf. den
Gott, den eine solche Annahme erfordert, verglichen hätte mit dem
Gott, der in derselben Erzählung 2, 18 ff. 3, 7 ff. zu Tage tritt, würde
er wohl den ungeheuren Abstand zwischen beiden gespürt haben.
Ein Gott, der einen feuchten Erdklos knetet und in die Nase des
Gebildes einhaucht, einen Garten pflanzt ganz wie unser einer, Tiere
bildet zu verunglückten Versuchen, sie den Menschen als Hilfe bei-
682 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
zugeben, der in ängstlicher Eifersucht den Menschen von der wunder-
baren Frucht fernhält und in der Art von 3,8ff. mit ihm verkehrt
— der kann das gar nicht zu Wege bringen, was ihm der H. Verf.
zutraut. Wer die naive Beschränktheit der Gottesvorstellung, die
2,4ff. zu Grunde liegt, begriffen hat, dem kann jene Vorstellung nur
barock erscheinen. — Nicht glücklicher ist der H. Verf. in der An-
führung »Israelitischer Varianten zur Paradieseserzählung«, S. 29f.
»Bist Du als Erster der Menschen geboren und vor den Hügeln ge-
kreist? Hörtest Du zu in Gottes Rat und stahlest Dir Weisheit ?«
In diesen Worten Job. 15,7f. sei eine Anspielung an eine Rezen-
sion der Paradiesgeschichte gegeben. »Elihaz will 7* dem Zusam-
menhang nach zu Hiob sagen: bist Du wirklich so superklug, wie
Du zu sein glaubst? Er sagt dafür höhnisch : bist Du wirklich der
Urmensch ? Dies Wort setzt voraus, daß der Urmensch als Muster
aller Weisheit galt«. Es ist wirklich schwer, diese Worte im Hiob
mißzuverstehen. Bei dem Alter ist die Weisheit und die Erfahrung,
je älter einer ist, desto weiser ist er, das ist der überall vertretene
Grundsatz der Freunde Hiobs. Wer Gottes Schickung und Lenkung
in der Welt meistern will, muß dabei gewesen sein, als er die Welt
in seiner Weisheit schuf, muß zugehört haben, als er sich beriet,
zugesehen haben, wie ers dann machte. Ganz in demselben Sinne
stehen die Fragen in Gottes Munde Job 38,4 ff. Der Schluß des
H. Verf. aus jener Frage: also galt der Urmensch als Muster der
Weisheit — ist ein trefflicher Trugschluß. Mag die Exegese der
Zukunft, die der H. Verf. erhofft, noch so »lebendig« sein, die Logik
und die geistige Einheit des lit. Zusammenhanges wird sie doch ach-
ten müssen. — Auch die Anführung von Ez. 28,1—19 für diese
Hypothese ist ganz ungerechtfertigt. In der mop v. 12 ff., die, wie
oft die Form des Sw hat (vgl. m. Komment. zu Prov. 1,1) ist der
König von Tyrus (resp. dieses selbst) mit nichts andrem verglichen
als einem köstlichen Siegelringe, kunstfertig gearbeitet (ma zn adn, 'n
spez. von Kunstfertigkeit) und mit kostbaren Edelsteinen besetzt;
lies v. 13 mp n>ebn und v. 14 nx und nn». In v.15 geht der
Profet etwas unvermittelt zwar, aber für den, der seine Art kennt,
nicht unbegreiflich, auf (den König resp.) Tyrus selbst über. In
v. 14 ist nsbden®m zu v. 15 zu ziehen und "ns dort zu streichen.
Von einem »wundervollen und weisen Geschöpfe Gottes, dessen Kleid (?)
von den 12 Edelsteinen bedeckt war, das in Eden, dem Gottesgarten,
auf dem heiligen Berge, in Mitten feuriger Steine gewandelt hat«
ist in 12 ff. keine Rede, sondern von einem kostbaren, edelstein-
besetzten, schön geschnittenen und gut gebohrten Siegelringe, der
zu dem Schatze Gottes gehört und mit anderem Edelgestein von
Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 688
einem Schatzhüter (Kerub) bewacht wird. In v. 15ff. ist deutlich
von Tyrus und seinem Handel die Rede, durch den es sich "Us zu-
zog. Ebenso unglücklich sind die »Varianten zur Vorstellung vom
Paradies«, die der H. Verf. auf S. 31f. aufführt. Zum Beweis für
die Behauptung, »daß das Paradies, das nach dem Mythus der Ur-
sitz der Menschheit gewesen ist, nach einigen Stellen in der Endzeit
wiederkommen soll«, weist der H. Verf. auf Ez. 36, 35 und Jes. 51, 3.
Hier heißt es, daß Gott Zions Einöde wie Eden und ihre Wüste wie
einen Gottesgarten machen will. Bekanntlich ist Garten Gottes
oder Garten Eden eine ganz gewöhnliche Bezeichnung für eine reich
gesegnete fruchtbare Landschaft. Kein Mensch, der die religions-
geschichtlichen Voraussetzungen des H. Verf. nicht teilt, wird in
jenen Stellen einen Beweis für seine Behauptung sehen; wenn man
scharf zusieht, beweist gerade die Vergleichung: >es wird sein wie
Eden, wie ein Garten Gottes« — die Unrichtigkeit jener Behaup-
tung. Daß jene Stellen nicht zwingend sind, fühlt der H. Verf.
selbst, deshalb fährt er fort: »Daß diese Anspielung aber nicht etwa
ein zufällig gewähltes Bild ist, sondern vielmehr auf einem Glauben
beruht, lehren die Schilderungen des Dtjes., wo noch in der letzten
Zeit, wenn Jahve sich selber offenbart, in der Wüste wunderbare
Wasser hervorbrechen und herrliche Bäume aufsprießen sollen,
Jes. 41,8f. 43, 19. 49, 10 f. — vgl. besonders Jes. 35<. Aber auch
in diesen Stellen vermag ich nicht die geringste Berechtigung zu
jener Behauptung des H. Verf. zu finden. Gott verheißt dort bei
der Rückkehr seines Volkes durch die Wüste aus dem Exil seine
Herrlichkeit zu zeigen, indem er frische Quellen sprudeln läßt, daß
seine >Erlésten< nicht dürsten, und prächtige Bäume sprießen läßt,
damit sie in ihrem Schatten wandeln. Es ist von dem Wege durch
die Wüste die Rede, aber nicht von einem bleibenden Paradies der
Endzeit, in dem Israel wohnen sollte. Diese That Gottes wird
Jes. 43,19 eine mwsn genannt, d.h. etwas unerhörtes und beispiel-
loses! Vgl. auch w. Zed. 11,5f. Baruch 5,7f. — Aehnlich steht es
mit den Vorstellungen des Ezechiel und der späteren Profeten, nach
denen sich in der letzten Zeit vom heiligen Berge aus Wasser er-
gießen werden. Das soll eine Erinnerung an das Paradies sein, das
nach Ez. 28 — der H. Verf. ist kühn genug zu behaupten, dies
Kap. des Ez. sei dem Inhalt nach älter als Gen. 2! — auf dem
Gottesberge gelegen habe. Es ist aber für jeden, der nicht von der
Richtigkeit der Behauptung des H. Verf. überzeugt ist, klar, daß
die Profeten nur sagen wollen, das hl. Land solle in der Endzeit
fruchtbar sein wie ein Garten Gottes; da kann natürlich das Wasser
nicht fehlen. Zudem sind die Stellen, die der H. Verf. anführt, zum
684 Gött, gel, Anz. 1901. Nr. 9,
Teil ganz miGverstanden. »Es sind lebendige Wasser Sach. 14, 8«
— d.h. aber frisches Quellwasser, weiter besagt der Ausdruck nichts.
Davon, daß »diese Wasser alles leben machen, wohin sie kommen,
Ez. 47,9« ist an dieser Stelle nichts gesagt. Der Strom, der vom
Tempel ausgeht, wird die vergifteten (bittern) Wasser des toten
Meeres »heilen« (d. h. süß machen), so daß alles Wassergetier darin
leben könne, vgl. die Uebersetzungen, nach denen der MT zu ver-
bessern ist; aber auch aus dem hebräischen Text ist deutlich, daß
nur von dem Wassergetier die Rede ist, das dann auch im toten
Meere leben können wird. Daß die Bäume an diesem herrlichen
Wasser nicht welken sollen, ist weiter nichts wunderbares, sie sind
ja >gepflanzt an Wasserbächen«. Es sind bei aller Herrlichkeit doch
wirkliche natürliche Wasser und natürliche Bäume, von denen Ezechiel
redet, während Apokal. 22,1 — das nach dem H. Verf. die ur-
sprüngliche Bedeutung enthält, — nur eine phantastische Vergeist-
lichung ist. Es ist durch nichts auch nur wahrscheinlich zu machen,
daß nach der ältesten Vorstellung das Paradies auf einem Berge
liege; in den älteren Texten werden gerade fruchtbare Ebenen mit
einem Garten Gottes verglichen. Daß schließlich die älteste Vor-
stellung das Land Eden im — Himmel gesucht habe, ist eine Vor-
stellung, die sich nur aus dem ganz eigentümlichen Bannkreis, in
dem der H. Verf. steht, erklären läßt, und daß der himmlische
Strom, der sich in vier Armen vom Himmel ergießt, die — Milch-
straße sei, ist eine Anschauung, zu der nur der kommen kann, der,
die literarischen Kriterien verachtend, den nüchternen Boden der
Wirklichkeit, die uns das A.T. giebt, verliert. Wie der H. Verf.
sich diesen Sprung vom Himmel zur Erde denkt, lehren seine Worte
S. 33: »das Paradies lag ursprünglich im Himmel und seine vier
Ströme waren ursprünglich die Ströme am Himmel; eine spätere
Zeit aber nahm Anstoß an dieser allzugrellen Mythologie: sie glaubte,
daß das Paradies ein wunderbarer, weitentfernter Ort auf Erden sei
und behauptet, daß die 4 Ströme auf Erden fließen«. Es ist zu be-
klagen, daß der H. Verf. uns den Gedanken, der hinter den Worten:
eine spätere Zeit nahm Anstoß an dieser allzugrellen Mythologie —
liegt, nicht genauer wiedergegeben hat. Wo soll denn dieser An-
stoß einer späteren Zeit herkommen ? Wird etwa die Mythologie
weniger grell, wenn die Gottheit auf die Erde versetzt wird? Es
ist eine wunderliche Vorstellung, daß dadurch, daß die Gottheit aus
dem fernen Himmel in unsre Nähe, auf unsere Erde versetzt wird,
die mythologischen Züge weniger anstößig, weniger graß würden.
Von der gewaltigen Veränderung des Gottesbegriffes, die in dieser
örtlichen Verlegung des Gottessitzes liegen würde, scheint der H. Verf.
Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 685
keine Ahnung zu haben. Eine ungeheure Degradierung der Gottheit
wäre die Folge gewesen. Der H. Verf. scheint durchgängig der
Meinung zu sein, das »mythologisch Grelle<, das wir in der Religion
der ältesten Kulturvölker, lange vor Israel, finden, sei das Urspriing-
liche; das ist ein verhängnisvoller Irrtum: in den meisten: Fällen ist
die »Mythologie« der poetische Niederschlag eines langen und rei-
chen Gedankenlebens über Gott und Welt. — Alles das gehört ja
nun eigentlich wenig oder gar nicht zur Auslegung des Textes. Da
aber der H. Verf. diesen Gedanken einen sehr weiten Raum gönnt
in seinem Kommentar, so wäre es Unrecht gewesen, nicht darauf
einzugehen. Vieles davon hätte im Kommentar m.E. ohne Schaden,
ja zum Nutzen der Sache fehlen können.
Ueber die andern zur Urgeschichte von J gehörenden Stücke
können wir uns kurz fassen. An sprachlichen Mängeln sind mir auf-
gefallen die Uebersetzung von 9,20: »Noah, der Ackermann, begann
auch Weinberge zu pflanzen<; für den, der Hebräisch versteht, ist
es selbstverständlich, daß die Worte na von m) bm bedeuten:
Noah fing an das Land zu bebauen. Die Verben des modifizierten
Seins, wie Sri, dim, a1w werden so im Hebräischen wie im Arabi-
schen konstruiert. Die alten Uebersetzer, die noch besser Hebräisch
verstanden, haben die Stelle meist richtig übersetzt, vgl. auch den
Verf. von ıowe> sp» (Berlin 1899) a. d. Stelle. Ebenso falsch
dürfte die allgemeine Erklärung von 11,1 sein: »Die ganze Mensch-
heit hatte dieselbe Sprache und dieselben Worte<: das ist ein ganz
nichtssagendes idem per idem, abgesehen davon, daß D&’ınx nicht
»dieselben< heißt. Der Erzähler will vielmehr sagen, daß die Mensch-
heit eine Einheit auch in ihren Unternehmungen bildete, daß sie in
corpore dafür einstanden, ohne zersplitternde Sonderinteressen. Im
Deutschen ließe sich der Sinn etwa wiedergeben durch: sie wa-
ren eins in ihrer Sprache und in ihrem Handeln. Der Ausdruck —
der durchaus hebräisch ist — entspricht einem ähnlichen im Arabi-
schen. Auch da sagt man, wenn zwei oder mehrere Familien —
etwa durch Verschwägerung — Gemeinsamkeit der Interessen und
Ziele erhalten haben Srl, Ls » lo, vgl. z.B. 1001 N. ed. Mac. III,
234. 551 (659). Grammatisch ist übrigens ‘1 nicht etwa Kopula
zwischen Subjekt und Prädikat, sondern man hat sich hinter diesem
Wort gleichsam einen Doppelpunkt zu denken: ‘31 ‘am >> ist ein
vollständiger Satz.
In der Erklärung der Schöpfungsgeschichte von P, S. 93 ff. macht
der H. Verf. Front gegen die wohl ziemlich allgemein vertretene An-
schauung, daß die Vorstellungen von Gott und Welt, die jenem Be-
richte zu Grunde liegen, erst in oder nach dem Exil möglich sind,
6s Gött. gel. Anz. 1901. Sr. 9.
Zunächst sucht er Wort und Berrifi x: als >alt< zu erweisen. »Da
er — dieser Ausdruck x~s — hier als Term. einer Erzählung ge
braucht wird, so ist er nach sagengeschichtlichen Instanzen fur urak
zu halten<. Aber die »sagengeschichtlichen Instanzen<. auf die e
sich beruft, überzeugen nur überzeugte Anhänger seiner Anschar
ungen. »Dagegen spricht nicht, fährt er fort. daß das Wort ms
sonst nur aus späteren Schriften bezeugt ist: die uns bekannte AT.-
liche Literatur ist viel zu dürftig, als daG auf das mehr oder minder
zufällige Vorkommen oder Nichtvorkommen eines solchen Ausdrucks
allzu viel zu bauen wäre (gegen Wellh. Proleg.* S. 395)<. Wenn
ein Wort wie dieses mit einem so charakteristischen Inhalte in der
ganzen alten Literatur zweifellos gar nicht vorkommt, dann aber im
Exil und nach dem Exil überaus häufig, ca. 40 mal begegnet, ohne
daß sein Gebrauch abreißt, so kann nur die Voreingenommenheit die
Beweiskraft dieser Thatsache leugnen. »Ebensowenig aber darf man
behaupten, der durch x73 ausgedrückte Gedanke sei der alten Zeit
Israels unerschwinglich gewesen (gegen Wellh. Proleg.‘ S. 310);
warum sollte das alte Israel nicht habe denken können, daß es Got-
tes Sache sei, Unerhörtes, Wunderbares hervorzubringen, und daß er
dieses speziell bei der ersten >Schöpfung< gethan?« Daß das alte
Israel nicht nur hat denken können, sondern gedacht hat, es sei
Gottes Sache, Unerhörtes und Wunderbares hervorzubringen, be-
streitet dem H. Verf. kein Mensch, wenn es auch der alte Erzähler
Gen. 18, 14 nicht ausdrücklich sagte; aber daß er beides, Wunder
thun und die Welt schaffen in eine Reihe stellt, beweist, daß er
sich des ungeheuren Abstandes, der zwischen beiden besteht, gar
nicht bewußt geworden ist. Etwas anderes ist es, Gott innerhalb
der Welt Wunder zutraun; etwas anderes, ihm die Schöpfung der
Welt zuschreiben. Die Welt schaffen ist nicht nur ein größeres Wun-
der als andere, sondern ist etwas ganz Eigenartiges und setzt einen
ganz anderen Gottesbegriff voraus; hier ist das naive Band zwischen
Gott und Welt durch die Abstraktion zerschnitten. — Was der H.
Verf. mit dem limitierenden »speziell< in seiner Frage sagen will,
ist mir nicht klar. Soll etwa Gott bei der Schöpfung größere Kraft
aufgewandt und gezeigt haben, als ihm nachher zu Gebote stand?
Dann wäre Gott ja nicht der Herr geblieben der Welt, die er ge
schaffen. Inderthat, wenn der Gott von J die Welt erschaffen hätte,
wäre er nachher depossediert. Nur wo Gott als der Allmächtige
vorgestellt wird, kann der Glaube an die Weltschöpfung aufkommen.
Es ist doch so, daß da, wo die Ueberzeugung von der Allmacht
Gottes vorhanden ist, der Glaube an die Weltschöpfung' geboren
wird, nicht umgekehrt, als ob die Vorstellung von der Weltschöpfung
Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 687
dem Gotte ad hoc spezielle Kraft gabe. Nun kann der Gott des
alten Israel gar keine >» Welt« schaffen, also ist auch dem alten Israel
der Glaube an die Weltschöpfung unerschwinglich — wie gerade
Gen. 2,4 ff. deutlich beweist. »Daß die Anschauung von der Wun-
derwirkung des göttlichen Wortes nicht in junge Zeit gehört, beweist
der uralte babylonische Schöpfungsmythus, wonach Marduks Wort
Wunder wirkte. Es ist mir unbegreiflich, wie der H. Verf. das Vor-
handensein einer solchen Vorstellung in dem uralten babylonischen
Schöpfungsmythus im Ernste zum Beweis dafür anführen kann, daß
die Wunderwirkung des göttlichen Wortes — wohlgemerkt, wie sie
Gen. I zu Tage tritt — in Israel auch alt sei. Wenn man von
»jungen« und »alten« Vorstellungen spricht, so sind das doch ganz
relative Begriffe, die in jedem Erscheinungsgebiet ein besondres
Maß bezeichnen. Was in Babylon (!) uralt ist, zeitigt Israel erst
sehr spät. Ebenso steht es mit den Bemerkungen des H. Verf. über
731 15m. Auch hier behauptet er: »Der Ausdruck ist offenbar Ter-
minus der Schöpfungsgeschichte und daher nach Analogie ähnlicher
Termini für uralt zu halten«, vgl. oben über x72. Zum Beweis da-
für, daß ‘a1 ‘mn offenbar Terminus der Schöpfungsgeschichte sei,
führt der H. Verf. Jes. 45, 18. 34, 11. Jerem. 4,23 an. Woher der
H. Verf. weiß, daß in diesen Stellen »an die Schöpfungsgeschichte
angespielt< wird, erfahren wir nicht. In der ersten Stelle sagt der
Profet, daß Gott die Erde nicht ıın geschaffen habe, sondern zum
Bewohntwerden bestimmt habe. Hier bedeutet also 1m die wüste
und unbewohnte Einöde auf der Erde: von einem Anklang oder
gar einer Anspielung an Gen. I keine Spur; ebenso steht’s mit den
beiden anderen Stellen. Noch seltsamer ist die Erklärung von ‘31 ’n,
die uns im Folgenden geboten wird. >Der Ausdruck Leere und
Oede bedeutet dasselbe wie das griechische Xaog, die Kluft, oder
Bvdos, der Abgrund, der Gnostiker; wir würden sagen der leere
Raum, der Weltenraum. Der leere Raum — so wird also (!) hier
vorausgesetzt — ist älter als die Geschöpfe; in den Raum hat Gott
die Dinge hineingestellt«. Das mögen wohl »altorientalische Speku-
lationen< sein, wie der H. Verf. schreibt, aber sicher keine nüchterne
Exegese. Die sagt einem jeden, Jdaß in dem Satze: die Erde war
‘a1 'n diese Worte nicht den leeren Weltraum bedeuten können. —
Der Plural mw erklärt sich sicher nicht aus der babylonischen
Lehre (!), wonach es 7 Himmel mit den 7 Planeten giebt, sondern ’w
bedeutet ursprünglich weiter nichts wie die Decke des Hauses, wie
noch im Syrischen. Die Welt oder richtiger das Land ist ein Haus,
dessen Fußboden ist die yıx, der Himmel ist die Decke darüber,
die Berge sind die Eckpfeiler, die ihn tragen. Wie in jeder Decke
688 Gat. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
‘sind auch im S&’nv misse d.h. nicht Fenster, wie man immer über-
setzt, sondern Dachluken, durch die der Rauch abzieht und die bei
Regenwetter geschlossen werden; vgl. G.G.A. 1900 Nr. 11 S. 836.
Mit Unrecht liest der H. Verf. in 1,29 den Mythus vom Frieden der
goldenen Zeit hinein; an den ist dort so wenig ein Anklang, wie in
Jes. 11 eine Projektion des Friedens der Urzeit in die Endzeit vor-
liegt; von der »Endzeit« ist dort gar nicht die Rede. Poetische
Schilderungen verdichten sich dem H. Verf. zu Mythologien, in eigen-
tümlichen Bildern und Redewendungen, die sich ganz nüchtern aus
der Natur einer naiven, kräftigen Sprache erklären, spürt er reli-
gionsgeschichtliche Probleme auf. Vgl. z.B. S. 119: »Auch sonst
klingt in Anspielungen an Schöpfungstraditionen (im A.T.) Mytholo-
gisches nach: so erinnert » 90,2 an die Zeit, da die Berge >ge-
boren<, Welt und Erde »gekreist«e wurden< — was würden solche
Mythologen aus den altarabischen Gedichten herauslesen ! Welche
Verkennung der Thatsachen liegt z.B. in dem Satze S. 111 vor:
»Derselbe mythische Stoff — vom Kampfe Jahves mit dem Urmeer
— tritt auch in eschatologischer Wendung und allegorisiert auf;
was einst in der Vorzeit — geschehen ist, das soll in der letzten
Zeit wieder geschehen: brausend und übermütig werden die Wasser
heranfluten; aber ehe der Morgen kommt, wird Jahves Stimme sie
anfahren und verjagen. Diese Wasser aber werden von den Pro-
feten und Dichtern auf die Feinde Israels gedeutet. Daß Heere
mit Wasserfluten verglichen werden ist doch eine aus dem Hebräi-
schen und Arabischen ganz bekannte Vergleichung, zu deren Er-
klärung man wahrhaftig keine Mythologie braucht. —
In einem Exkurs über das >Alter der Tradition Israels< S. 112 ff.
sucht der H. Verf. den Beweis dafür, daß Gen. I erst in den Zeiten
des Exils und später in Israel denkbar ist, zu entkräften. »Man
hat behauptet, Israel habe unmöglich in alter Zeit den Gedanken der
Schöpfung fassen und auf seinen Gott übertragen können. Eine wun-
derliche Vorstellung! Die Kulturvölker rings umher haben ....
Schöpfungsmythen, und Israel sollte so barbarisch gewesen sein, daß
der Gedanke der Schöpfung ihm zu hoch gewesen wäre ? sein Gott
sollte ihm so klein gewesen sein, daß es ihn nicht hätte als Schöpfer
der Welt denken können ?« Wir haben diese Fragen schon oben ge-
würdigt. Es ist durchaus keine wunderliche Vorstellung, daß der
Gott, den das alte Israel verehrte, keine Welt schaffen konnte. Mag
uns auch vieles in der Geschichte Israels dunkel sein — der H. Verf.
nimmt diese unsre Unwissenheit oft zu stark bei seinem Gegenbeweis
in Anspruch —, darüber kann kein Urteilsfahiger im Zweifel sein,
daß wir über die Gottesvorstellnng der alten Zeit durch Profeten und
Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 689
Historien gut unterrichtet sind und daß diese Gottesvorstellung ge-
gen Gen. I den schärfsten Protest einlegt. Wenn der H. Verf.
Recht hätte damit, daß das alte Israel seinen Gott als Weltschöpfer
erkannt habe, wäre das auch religionsgeschichtlich das Wunder-
lichste und Abnormste, was man sich denken kann, ja die ganze
Entwicklung bliebe uns unverständlich. »Alle Bedenken aber wer-
den niedergeschlagen durch den Schöpfungsmythus von Gen. 2, der
sicherlich in uralte Zeit gehörte. Gen. II enthält gar keinen
»Schöpfungsmythus«e in dem Sinne und hat mit Gen. I nichts ge-
mein; das Vorhandensein von Gen. II ist nicht ein Beweis für, son-
dern gegen den H. Verf. »Und schon im Tempelweihlied des Salomo
heißt es, Jahve habe die Sonne an den Himmel gestellt«. Dieser
Gedanke mag gewiß alt sein, aber er wird nicht spekulativ ausge-
nutzt. Uns liegt der Gedanke, daß der, der die Sonne scheinen
läßt, der Schöpfer der Welt ist, sehr nahe, aber das alte Israel hat
nie diese Konsequenz gezogen. Von Jahve kommt Regen und Licht
und Wärme, — aber an der Konsequenz, die darin liegt, daß diese
auf der ganzen Erde verbreiteten Güter von Jahve kommen,
ist die alte Zeit vorübergegangen. Nicht, weil die Schöpfungsidee
»bei den älteren Profeten selten oder gar nicht vorkommt<, hat die
einseitige »moderne Literarkritik< ihr hohes Alter abgesprochen,
sondern weil die Gottesvorstellung der Profeten und überhaupt die
religiösen Ideen und Bedürfnisse des alten Israel Gen. I neben sich
unmöglich machen. Dem stimmen nicht nur »Literarkritiker« bei,
sondern alle, denen um ein Verständnis der Religion Israels, meinet-
wegen um eine »Geschichtskonstruktion<, aber eine vernünftige, zu
thun ist. Wenn der H. Verf. fortfährt: »der Schöpfungsglaube hat
von jeher bestanden, aber erst in bestimmter Zeit hat die große
politische Profetie sich seiner bemächtigt und damals hat dies Dogma,
das früher für die praktische Religion ohne besondren Wert war,
gewaltige Bedeutung bekommen< —, so erinnert das lebhaft an die
vortrefiliche Begründung, mit der man s.Z. das Deuteronomium ‘als
eine zwar »latente«, aber wirklich vorhandene Größe für die Zeit
vor dem Exil retten wollte. Mit dem Schluß: »dabei ist indes für
sehr wahrscheinlich zu halten, daß derselbe oder ähnlicher Stoff auch
in späterer Zeit in Israel aufs neue wieder eingeströmt ist< — trägt
der H. Verf. der Wucht der Thatsachen Rechnung und giebt im
Grunde seine eigne Stellung auf.
Zu der Exegese der Abrahamgeschichte in J und E ist nicht
viel zu bemerken. Wenn der H. Verf. in Gen. 12, 7, der Zusage
Gottes, eine Erhöhung der Verheißung in v. 1 erblickt, insofern hier
von einem Besitz des Lands die Rede sei, in v. 1 nicht — so ist
Gott. gel. Ans, 1901. Nr. 9. 46
690 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
das m.E. kaum richtig. Vielmehr ist in der Verheißung v. 1 das
Land für den Erzähler selbstverständlich mit eingeschlossen, denn
ein Volk ohne Land giebt’s nicht. Auch die Berechtigung, in 15, 11 (12)
13—16 die Spur eines selbständigen Berichts und zwar aus E, zu
sehen, ist mehr als zweifelhaft. Diese Verse sehen viel eher wie
eine Wucherung auf dem Stamm von J aus, als wie der Rest einer
selbständigen Erzählung neben v. 9. 10. 17. Denn daß E ebenfalls
von einem, bei ihm ganz grund- und folgelosen Opfer erzählt haben
sollte, bei dem Abraham eingeschlafen sei, ist wenig glaublich, v. 12
ist aus Bruchstücken von v.17 gebaut. In cap. 15 malt der H. Verf.
die Charaktere viel zu grell. Abraham ist vom hebräischen Stand-
punkt aus beurteilt durchaus nicht der Pantoffelheld, als den er ihn
darstellt. Die Vermutung, daß es in dem Texte v. 7 ursprünglich
gelautet habe, sie traf den Engel, ist nicht nur unbegründet, sondern
nachweisbar falsch; aus v. 11 geht doch deutlich genug hervor, daß der
‘ms? ‘abn ihr entgegen gesandt ist, um ihr diese frohe Botschaft zu
verkiindigen; xx» ist gerade der treffende Ausdruck von dem »Fin-
den« (Erreichen) Gottes. Ebenso unbegründet verwandelt der H. Verf.
noch an zwei oder drei anderen Stellen den Text »vor dem ich (meine
Väter) gewandelt habe« in »der vor mir (m. V.) gewandelt ist<; im
Text stehtimmer 75n7! Die Vermutung Wincklers, der der H. Verf.
beistimmt, Hagar sei keine Aegypterin, sondern aus dem nordarabi-
schen Stamme Mucr gebürtig, wird durch 21,21 widerlegt, wo die
Mutter ihrem Sohne ein Weib aus ihrem Volke nimmt. Die Er-
zählung 18,1ff. stellt der H. Verf. unter den Gedanken , daß die
Gottheit Abraham, d.h. seine Gastlichkeit habe auf die Probe stellen
wollen; doch ist davon nirgends auch nur andeutungsweise die Rede.
In 18, 22 haben die Rabbiner ein ‘p10 51pm gesehen, weil sie an-
gesichts der Notiz 19,1 eine Antwort auf die Frage suchten: wo
bleibt Jahve? Ihre Angabe beruht nicht etwa auf alter Tradition,
sondern ist aus dem gegenwärtigen Texte herausgesogen. Daß der
Erzähler nicht geschrieben hat mnax ’5 ns 's minh, glaubt wohl
jeder, der den Sinn dieser Phrase kennt. Durch den Zug, daß die
Männer in 19,2 zuerst abschlagen, also daß Lot in sie dringen muß,
soll gewiß nicht dargestellt werden, »daß die Männer als arme, ge-
ringe Leute auftreten, denen Bescheidenheit ziemt<. Die Männer,
die zur Untersuchung und eventuell zur Bestrafung Sodoms ausge-
sandt sind, schlagen ab, weil sie sich durch die Einkehr bei einem
Sodomiten nicht die Hände binden wollen für ihr Strafgericht; denn
nur, weil die Männer das Gastrecht ehren müssen, wird Lot gerettet,
nicht etwa, weil er mit Abraham verwandt ist. Unbegreiflich ist,
wie der H. Verf. in der Bemerkung Ez. 16,49 f. eine Anspielung an
Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 691
die Erzählung in Kap. 19 sehen kann. »Das war die Schuld So-
doms: es lebte herrlich und in Freuden, hatte Brotes die Fülle und
behagliches Wohlleben sammt ihren Töchtern, aber dem Elenden und
Armen reichten sie nicht die Hand (die 3 Wandrer Gen. 19 nahmen
sie nicht auf)<. Wenn man es wirklich für möglich hielte, daß
Ezechiel auf diese ganz bestimmte Geschichte angespielt haben sollte,
wäre man doch wenigstens berechtigt, zu erwarten, daß er statt des
generellen »der Arme< von den (3) »Armen« redete. 3° purnn heißt
kaum jemandem die Hand reichen und wenn es das wirklich hieße,
wäre es noch lange nicht so viel wie jemanden aufnehmen ; was hat
das »Hand reichen« mit dem Beherbergen zu thun? Falsch ver-
standen hat der H. Verf. auch die Stelle Deut. 32, 32. »Diese
(schmähsüchtige) Auffassung der Erzählung (von dem Ursprung Moabs
und Ammons) findet sich schon Deut. 32,32: denn vom Weinstock
Sodoms stammt ihr Weinstock, von den Gefilden (? vgl. die Ueber-
setzungen) von Gomorrhac. Richtig der Verf. von ‘> xnpn S. 377:
FINA yoam “DO JEAN WIND... . TIN BND SA IW 1983
JIT 720 yam wp 103 785 WNW 789 . wD VAN Nam amd
sp 91 ..... Inow mbsanm 0135 Sn Nw 713 937d MApAN
[03h ta nw 'nyı 10 Ind ODD sINDm DIVD ANA ‘AIT
Unberechtigt ist die Behauptung zu 20, 4>: »Dieser Satz, wonach
Gott jedem nach seinen Werken vergilt , ein Satz, den die meisten
modernen Theologen, weil er bei den älteren Propheten keine Rolle
spielt, für jung halten, gehört in Wirklichkeit bereits der ältesten
Religion Israels an, vgl. I Sam. 26,23. II. 3,33 f.c.. Diese Stellen
sprechen durchaus nicht für die Meinung des H. Verf.; gerade aus
unsrer Geschichte vgl. v. 7. 17, geht ja aber klar hervor, daß das
Haus, d.h. die (unmündigen) Weiber, Kinder und Sklaven, mit dem
Hausherrn leiden. Selbstverständlich behauptet der Hebräer, daß
Gott die Guten belohnt und die Bösen bestraft, aber er sieht darin,
daß jener Unmündigen Schicksal mit dem des Hausherrn geht, kei-
nen Widerspruch. Daß Gott jedem Einzelnen als Individuum nach
seinen ‚Werken vergilt, ist im alten Israel nicht denkbar. — An die
Geschichte cap. 20, Abraham in Gerar, schließt der H. Verf. eine
Vergleichung der verwandten Erzählungen 12,9 ff. 26,6 ff. an. Er
macht folgende Beobachtung: »Nach 12 ist der Ehebruch begangen
worden, nach 20 ist er im letzten Augenblick von Gott verhindert
worden, nach 26 hätte er vielleicht einmal geschehen können<«, und
kommt zu diesem Resultat: >12 erzählt mit antiker Unbefangenheit
Dinge, die dem späteren Empfinden höchst anstößig erscheinen muß-
ten; 20 behält die Thatsachen im Allgemeinen bei und giebt sich
die größte Mühe, das Anstößige aus ihnen fortzubringen und Abraham
46 *
692 Gott. gel. Anz, 1901. Nr. 9.
moglichst rein zu waschen; daher die eigentiimlich verzwickte Hal-
tung v. 9ff.; 26 greift energisch ein und schneidet das AnstoLige
ganz weg«. Zunächst ist die Behauptung, 26 schneide das Anstößige
weg und verhülle die Schande Sarahs in den anderen Erzählungen,
durchaus unbegründet. Der Befehl des Königs 26,11, in dem der
H. Verf. seltsam genug das böse Gewissen des Erzählers über das
in 12 (und 20) berichtete spüren will, ist durch v. 7 sehr gut moti-
viert. Nun beachte man aber Folgendes. Nach 12,11 nimmt sich
Abraham, noch ehe er nach Aegypten kommt, gleich vor, die Sarah
für seine Schwester auszugeben; er sieht alles voraus, was geschehen
wird, ja er nimmt es als selbstverständlich an. Die Worte und Be-
denken Abrahams sind gänzlich unmotiviert. Ganz anders in 26.
Da kommt ihm der Gedanke, die Schönheit Sarahs könnte ihn in
Lebensgefahr bringen, anfangs gar nicht , sondern erst bei einer be-
stimmten Gelegenheit; sein Weib hat Aufsehen erregt, man fragt
nach ihr und darauf giebt er sie für seine Schwester aus. Das ist
ein lebendiger durchaus sachlicher Zug, der 26 die Ursprünglichkeit
vor 12 sichert; in cap. 20 wird gar erzählt, Abraham habe es auf
seiner Reise überall so gemacht. Damit hängt zusammen die starke
Betonung der Schönheit der Sarah in 12, von der aus 26 nur bei
diesem Anlaß berichtet; diese Schönheit gewinnt dort das Herz des
Großkönigs Pharao, während sie hier namenlose Leute in Gerar in
Versuchung führt: eine außerordentlich charakteristische Verschieden-
heit des Schauplatzes. Die Erzählung 12 ist durchaus widerspruchs-
voll und unklar: unmotiviert ist die Rede Abrahams v. I11f.; ganz
unbegreiflich, woher der Pharao es weiß, daß Sarah Abrahams Weib
ist und ihn um ihretwillen jene Plagen treffen. Der Mangel an jeg-
lichen konkreten Zügen entwertet Gen. 12 ebenso, wie das Vorhan-
densein derselben Gen. 26, (v. 7. 8) empfiehlt. Das Kriterium des
H. Verf., daß die spätere Zeit in solchen sittlichen Dingen fein-
fühliger gewesen sei, ist nicht zu gebrauchen, denn es beruht auf
einer unerwiesenen Behauptung und läßt der Individualität der Er-
zähler zu viel Spielraum. Die bei aller Farblosigkeit phantastische
Geschichte 12 gehört gewiß nicht einer besonderen Quelle in J an.
Es bewährt sich auch hier Wellhausens Behauptung, -daG die Er-
zählungen von Isaak älter und ursprünglicher sind als die von Abra-
ham. — In seinem Streben, die Persönlichkeiten lebendig zu machen,
zeichnet der H. Verf. oft zu kühn und malt zu grell. So in der
Exegese zu 21,8fl. »Die alte Sage hat nun erzählt, daß Abraham,
verträglich wie er war, seinem Weibe gehorcht hat, schweren Her-
zens vielleicht; aber — so dürfen wir weiter ausführen, — sie trieb
ihn mit ihren Worten in die Enge und quälte ihn so, daß sein
Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 693
Atem (sic!) kurz ward bis zum Sterben Jud. 16, 16. 14,17 .....
die spätere Zeit, die in Abraham ein sittliches Ideal sehen möchte,
nahm Anstoß daran, daß er sein eigen Kind verstoßen hat. Darum
schiebt unser Erzähler v. 11—13 ein .... Gott sei dem Abraham
erschienen, habe ihm befohlen, Ismael zu verstoßen und ihn zugleich
über das Geschick seines Sohnes beruhigt<. Für solche Vermutungen
giebt es keinen einzigen plausiblen Grund; die >inkonkrete Art« der
Gottesoffenbarung ist in E nicht seltsam. In der darauf folgenden
Geschichte, die in Beerseba spielt, 21,22ff., ist v. 25f. falsch ver-
standen. Die Verhandlung v. 28f. bezieht sich selbstverständlich
auf diesen Brunnen, d. h. Beerseba; daß LXX in v. 25 den (vom
H. Verf. acceptierten) Plural mgeara haben, beweist nur, daß sie dies
Kapitel nach Kap. 26 konformiert haben, wie sie ja auch den b>»
dorther eingetragen haben. In cap. 22 vermutet der H. Verf. als
Ort der Opferung Isaaks bax, die in der Erzählung gegebenen
Anspielungen geistreich benutzend. — In der Erzählung über Re-
bekkas Brautwerbung cap. 24 hat der H. Verf., wie schon früher,
versucht, zwei Quellen innerhalb J nachzuweisen. Rebekka bekommt
mehrere Dienerinnen mit v. 61; sie nimmt nur die Amme mit v. 59.
Die Verwandten Rebekkas wissen auf den Heiratsantrag nichts
(weder nein noch ja) zu sagen v. 50°; sie gehen sofort auf den An-
trag ein, denn Jahve hat schon dafür entschieden v. 50*. 51. Sie
fragen in einer so zweifelhaften Sache das Mädchen selbst v. 57 f.
(Diese Frage bezieht sich nach dem gegenwärtigen Zusammenhang
darauf, ob das Mädchen sogleich mitziehen will; nach dem Wort-
laut aber, ob es überhaupt mitzugehen willens ist); nach v. 50°, 51
dagegen verfügen sie über das Mädchen, ohne es nur zu befragen.
Zweimal bricht dann Rebekka auf: v. 61*|| 61>... Zweimal bricht
auch der Sklave von Abraham auf v. 10. Zweimal läuft Laban zu
dem Mann an der Quelle v. 30 || 29. Zweimal macht der Knecht
Rebekka das Brautgeschenk v. 22 || 53 etc.<. Man wird die Uneben-
heiten in der Erzählung am Schluß v. 59 ff. anerkennen müssen,
aber sie allein weisen noch nicht auf einen doppelten Faden der Er-
zählung. Solche Unebenheiten finden sich in Folge späterer Text-
bearbeitung öfter und es ist gefährlich, dann gleich auf parallele Be-
richte zu rathen. Doch müßte man im gegenwärtigen Falle einen
Doppelbericht annehmen, wenn die übrigen Bemerkungen, die der
H. Verf. macht, richtig wären. Das ist aber nicht der Fall, so weit
ich sehe. Zunächst kann ich den Widerspruch, den der H. Verf.
innerhalb v. 50f. konstituiert, nicht empfinden. Die Verwandten
sagen: Jahve hat es bestimmt, wir können nichts dazu sagen, d.h.
wir ergeben uns ganz in seine Bestimmung. Es ist ganz unmöglich,
694 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
die Worte in v. 50 "5515 xb von dem vorhergehenden ’= xx ‘7 zu
trennen. Jahve hat entschieden, darum ist jede weitere Verhandlung
mit dir überflüssig, die Sache ist abgemacht, da ist Rebekka etc.
Der H. Verf. läßt die Worte in v. 50° ungefähr das gerade Gegen-
teil von dem besagen, was sie bedeuten. Die Bemerkung ferner über
v. 57 f. entbehrt jeglicher Begründung. Die Befragung des Mäd-
chens ist durch die Situation sehr wohl motiviert. Wer die Sitten
der alten Hebräer und Araber kennt, weiß, daß der Aufbruch des
Knechtes schon am folgenden Morgen etwas ganz unerhörtes ist.
Drei Tage ruht man sich wenigstens aus, das kann man verlangen;
der Widerspruch gegen v. 51 ist ganz hinfällig. In v. 10 bricht
der Sklave nicht zweimal auf, denn daß LXX das Richtige haben ist
doch wohl nicht gut zu bestreiten; leg. sıo 55m, die Erwähnung
der Kameele allein genügt doch nicht! Unrichtig ist endlich auch
die Behauptung, daß der Knecht zweimal das Brautgeschenk gebe,
einmal vor der Verlobung (!) v. 22, und das andre mal nach der
Verlobung v. 53. Als Brautgeschenk oder, wie wir richtiger sagen
wollen, als Brautgeld, durch das ein rechtlicher Anspruch begründet
und der Handel perfekt wird, ist die Gabe v. 22 viel zu klein;
wozu nimmt denn dann der Knecht in v. 10 die 10 Kameele und
die allerlei Güter mit? Ueberhaupt wäre, wenn v. 22 das Brautgeld
gegeben wäre, die ganze folgende Geschichte unverständlich. In v. 30
gerät Laban über die Höhe dieser sogen. Brautgeschenke ganz außer
sich vor Freuden und ist, wie man sagt, ganz in einander, als aber
der Knecht (unbegreiflich genug!) die Werbung vorgetragen hat,
hat er nur die kühle Antwort: wir können Dir weder ja noch nein
sagen (nach des H. Verf. Uebersetzung). Vielmehr das Geschenk
v. 22 hat der kluge Knecht gegeben zur empfehlenden Einleitung
seines Geschäftes, damit die Verwandten der Rebekka von dem
Reichtum des Bewerbers einen Begriff bekommen. Die ganze Hypo-
these des H. Verf. scheitert zudem an der ganz selbstverständlichen
Thatsache, daß das Kaufgeld nicht die Braut, sondern ihre Ver-
wandten erhalten, an dieser Sitte läßt sich nicht riitteln. Die Ge-
schichte, die der H. Verf. konstruiert, ist ganz widerspruchsvoll.
Wie können die Verwandten (in der Rezension II) antworten: »Wir
können Dir weder ja noch nein sagen« — der Knecht hat sie ja —
nach jener Rezension — gar nicht gefragt. Wie kann überhaupt
noch ein Zweifel an der Willigkeit des Mädchens sein, da sie ja das
»Brautgeld«e — freilich ohne daß ihr mitgeteilt wird, wofür es ist!
— angenommen hat! Schließlich ist eine Brautwerbung, bei der das
Mädchen so selbständig handelt, wie der H. Verf. hier voraussetzt
(vgl. S. 226 f.!) im ältesten wie im jüngsten Israel gleich unmöglich.
Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 695
Daß ein Mädchen so frei über sich verfügt, wie der H. Verf. an-
nimmt, giebt es einfach nicht. Daß »alles auf die Freiwilligkeit des
Mädchens< ankomme, geht auch aus v. 4ff. — vgl. auch v. 41 —
nicht hervor. Dort ist nur vorausgesetzt — was wir auch sonst als
arabische (und hebräische) Sitte kennen, — daß das Mädchen in solchen
Fällen, wo es sich um eine weite Ferne handelt, das Recht der Wei-
gerung hat; gewöhnlich gilt es auch für die Verwandten als Schande,
wenn sie ein Mädchen weit nach auswärts geben. Um diesen beiden
neu gefundenen Quellen mehr Kolorit und Eigentümlichkeit zu geben,
konstruiert der H. Verf. noch andere künstliche Unterschiede. Die
erste Rezension spreche bis v. 61 von Abraham als einem Lebenden;
in ihr müsse also sein Tod nach v. 61 erzählt sein. Dagegen werde
in Rezension II nach v. 8 Abraham an keiner Stelle mehr als lebend
vorausgesetzt; es sei also zu schließen, daß in dieser Rezension der
Tod Abrahams vor dem Aufbruch des Knechts erzählt sei. Aber in
v. 35f. erscheint doch Abraham — nach dem Wissen des Knechts
— so deutlich wie möglich als lebend! Sein Herr liegt auf dem
Sterbebette, deshalb eilt er so schnell heim.
Wir kommen zu den Abrahamsgeschichten bei P. Zu cap. 17
bietet der H. Verf. einen Exkurs über die 4 durch die Namen Adam,
Noah, Abraham, Moses, bezeichneten Zeitepochen im Vierbundesbuche.
Dieser Exkurs zeigt so recht die Eigentümlichkeit des Denkens des
H. Verf. »Sehr beachtenswert ist die Vierzahl der Weltperioden.
Eine merkwürdige Parallele dieses Systems sind die 4 Weltreiche des
Daniel, die durch 4 gewaltige Tiere symbolisiert werden. Diese
Tiere sind ihrer Art nach offenbar mythische. Daß diese Tradition
älter als die Schrift Daniel ist, lehren Dan. 2 und 8,22... ferner
Sach. 2,1ff.... . und besonders der Umstand, daß die Vierzahl nur
schwer unter den Weltreichen, die die Verf. kannten, unterzubringen
ist. ... Das Mythologische der Tiere Daniels legt die Vermutung
sehr nahe, daß die Tradition von den 4 Weltepochen ethnischen Ur-
sprungs ist. Dieser Schluß wird durch Hesiods W. und T. 109 ff.
bewiesen ...« Hier ist jeder Satz und jeder Schluß unverständlich.
Wodurch die vier gewaltigen Tiere bei Daniel zu den vier Perioden des
P eine merkwürdige Parallele bilden, fragt man vergebens; wohl,
weil es hier vier sind und dort auch vier. Warum die Tiere ihrer
Art nach offenbar (!) mythisch sind, ist unerfindlich, zumal der
H. Verf. selbst richtig angiebt, daß es Symbole sind. Inwiefern aus
Dan. 2 und 8,22, sowie aus Sach. 2,1ff. (vom H. Verf. mißver-
standen, vgl. Wellhausen z. St.) hervorgeht, daß diese »Tradition«
älter ist als Daniel, ist nicht einzusehen. Wieso durch Hesiod be-
wiesen (!) wird, daß die 4 Perioden von P = 4 »myth.< Tiere von
696 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9,
Daniel ethnischen Ursprungs sind, fragt man vergebens. Hier wird
zusammengeworfen, was innerlich gar nichts mit einander zu thun
hat. Auf S. 250 kommt der H. Verf. zu reden auf den Sinn der
Erzählung 23 in der Vorlage des P. »Die Notiz der Vorlage ist
ebenso zu deuten wie die ganz parallele 33, 19 f. .. . charakteristisch
ist, daß in beiden Notizen der Kaufpreis ausdrücklich genannt wird,
das soll besagen: das Grundstück ist in ehrlichem Kauf erworben
und gehört daher uns. — Der Besitz der Höhle Machpela wird
den Israeliten bestritten, sie aber betonen, daß es ihr rechtlich
erworbenes Eigentum sei. — ... Die Sage zeigt selber ganz deut-
lich, weshalb man so hohen Wert auf den Besitz dieser Höhle legt:
daselbst suchte man das Grab des Ahnherrn. Nun wird, so ist zu
ergänzen, die ältere kanaanäische Bevölkerung der Gegend das Pa-
triarchengrab Israel streitig gemacht haben. In solchen Streitig-
keiten . . . berief man sich in Israel darauf, daß der Erzvater die
Höhle von den Hethitern .. . in ehrlichem Kaufe erworben habe«.
Aber warum wird Gen. 33,19 f. der Kaufpreis so genau angegeben?
etwa auch, weil die Kanaanäer den Israeliten das Grabmal Josephs
(Jos. 24, 32) streitig machten? Oder fügt etwa der Erzähler in
I Reg. 16, 24 deshalb so genau den Kaufpreis für den Berg Sama-
rien bei, weil um den Besitz des dort liegenden Grabes des Omri
(v. 28) ein Streit entstanden war? Oder beweist etwa die starke Be-
tonung, daß David die Tenne Araunas in aller Form Rechtens er-
warb, daß den Juden später das Recht auf den Tempelplatz strittig
gemacht wurde? Man fühlt, daß solche Erwägungen lächerlich sind,
zugleich aber steht fest, daß jene Eigentümlichkeit nicht anders zu
erklären ist als in Gen. 23. Den Sinn der Erzählung hat der Verf.
der ‘05 xp» richtig erfaßt, S. 63:
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Wert darauf, daß das Land, in dem man begraben werden wollte, un-
bestreitbares und zweifelloses Eigentum sei: Das Grab soll ja ein
radix ma sein. Alle die religionsgeschichtlichen Folgerungen, die der
H. Verf. und andre an Gen. 23 knüpfen — Grab des Heros, ur-
sprünglich ein Heiligtum — sind hinfällig. — In der Erklärung der
Erzählung 14, »Abrahams Sieg über die vier Könige« bemüht sich der
Hr. Verf. — wie auch sonst — zwischen der alten Auffassung und der
Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 697
neueren Kritik (Nöldeke und Wellhausen) zu vermitteln. »Die Er-
zählung enthält uralte, sicher historische Angaben. Das sind vor
allem die Namen der vier Könige und der geschichtliche Rahmen
des Ganzen, die Herrschaft elam.-babylonischer Könige bis nach Pa-
lästina hin. Auch die Gestalt Melchis. kann sehr wohl historisch sein.
Andrerseits enthält die Erzählung innerlich unmögliches. . . . Die Er-
zählung enthält also im schreienden Kontraste gut Beglaubigtes und ganz
Unmögliches. Ebenso bunt ist die Herkunft der Angaben des Stücks.
Die Ueberlieferung von den 4 babylonischen Königen kann der Verf.
nur aus Babylonien selbst haben ... Von dem Siege Abrahams
kann man sich nur in Israel erzählt haben ... Der Name Melchis.
dagegen und die Urnamen der Orte und Völker sind kanaanäische
Ueberlieferung. ... Schließlich mag die Zahl 318 auf Mythisches
zuriickgehen<. Was will man mehr? Durch Beurteilung könnte
man diese Kritik nur abschwächen.
Der H. Verf. kommentiert darauf die Jakobgeschichte in JE.
Das interessante m525 25, 21 hat er — mit den andern Exegeten —
nicht verstanden. Er übersetzt den Vers: Isaak betete zu Jahve für
sein Weib — aber »für« heißt 'ns)b niemals. Richtig der Verf. von
‘oeapa 8.71: "3b 13 827191 wawn> inwe bw Ov TOR IN 795)
Bsu1. by nax> num ‘x. Ans ‘stm wis (Gen. 30, 38) x
— ampin DR awe Ton nbdbww ‘pos TOyIV 03 REND 357
darauf folgt eine treffliche Bemerkung zu Jes. 37,14 ff. So deutet
man im Arabischen bei dem Heiligtum vor dem Götzen wohl auf
den hin, für den oder gegen den das Gebet geschieht. An Stelle
des trotz aller Erklärung unmöglichen tanw sw 25,27 vermute ich
einfach swınn, und für sı® 7 „nd, wofür der H. Verf. vorschlägt
"> moe ‘tS, empfiehlt sich nz '7 5, vgl. 27,46. Schon früher
haben wir in dieser Besprechung darauf aufmerksam gemacht, daß
der H. Verf. in dem Bestreben, den Geschichten Leben und Farbe
zu geben, zu dick aufträgt. Die Jakobsgeschichten fallen besonders
hierin auf. Ob für den alten Erzähler ein gewisser Humor darin
liegt, daß die Zwillinge im Mutterleibe keinen »Frieden halten< kön-
nen, sei dahingestellt; ich glaube es nicht. Aber ganz sicher falsch
ist es, wenn der H. Verf. schreibt S. 269: »Ueber die Namen Edom
und Seir macht die Sage ihre humoristischen Glossen; man amü-
siert sich über die rotbraune Hautfarbe der Edomiter ... und man
findet, daß ein richtiger Seirit sich wie ein Pelzmantel anfühle; er
ist haarig wie ein Ziegenböckchen«. Vielmehr sind jene Eigentüm-
lichkeiten Esaus ganz ernsthaft aus den Namen Edom und Seir ent-
sponnen und besagen über die körperliche Beschaffenheit des Volkes
Edom gar nichts. Wenn die rotbraune Hautfarbe der Edomiter
wirklich eine so hervorstechende Eigentümlichkeit des Volkes gewesen
698 Gött. gel. Ans. 1901. Nr. 9.
wäre, wäre die Entstehung der Variante v. 30 kaum erklärlich;
der Wert beider Etymologien steht ganz auf gleicher Stufe. Schwer
zu begreifen ist, wie der H. Verf. fortfahren kann: »Und aus diesen
körperlichen Vorzügen des geliebten Bruders erklärt man voller Be-
hagen seinen Namen: das sind also nachbarliche Liebenswürdig-
keiten<. In Wirklichkeit ist es doch gerade umgekehrt, daß man
ihm aus dem Namen jene körperlichen Vorzüge andichtet! Der
H. Verf. vermutet zu der Geschichte 25, 29—34 eine Fortsetzung
der Art: »als nun Isaak gestorben war, machte Jakob seinen Anspruch
auf die Erstgeburt geltend und erinnerte Esau an den Eid, den er
vor Zeiten geleistet hatte. Da erkannte Esau zu spät, was er ver-
scherzt hatte. So verlor Esau die Erstgeburt«e. In 27,5 ist statt
des deutlich anstößigen aber von keinem Exegeten beanstandeten
wand zu lesen ard. Daß dich segne meine Seele v. 4 ist nicht
»poetisch großartiger Ausdruck< für »aus ganzem tiefem Herzen seg-
nen<, sondern besagt nichts mehr als: daß ich dich segne, wenn ich
satt bin. wo: ist das Hungergefühl, hier im Zusammenhang das ge-
stillte. Die falsche Auffassung von Jakob und Esau als Volkstypen
setzt der H. Verf. in der Erklärung zu 27,11 fort. Eigentümlich
berührt es, wenn aus v. 44f. ein neuer »Charakterzug« Esaus heraus-
gelesen wird, daß er ein Kind des Augenblicks (sic) sei: »nach eini-
ger Zeit ist sein Zorn verraucht, da hat er die ganze Geschichte
vergessene. Später vergißt der H. Verf. diesen neuen Charakterzug
Esaus selbst wieder, indem er ihn — Notabene nach 20 Jahren — in
ursprünglich feindlicher Absicht dem Jakob entgegenziehen läßt. —
Wenn es auch zweifellos ist, daß in dem Segen 27, 27 ff. Jakob und
Esau als Vertreter der Völker Israel und Edom erscheinen , so muß
man sich doch wohl vor der Ansicht hüten, als ob diese Personifika-
tion durchgeführt sei. Man darf nicht vergessen, daß der ganze
Stoff novellistisch erzählt wird und daß Jakob und Esau durchgängig
als Einzelpersonen gefaßt sind. Deshalb ist die Hypothese, die der
H. Verf. auf S. 287 aufstellt, auch sehr wenig wahrscheinlich. In
der Bethelsage bemerkt der H. Verf. zu den “Sx 2 >xbn 28, 12 S. 289:
‚Dem Engel Jahves oder Gottes entspricht in der ursprünglichen
Rezension der Erzählungen ein bestimmter Gott; hiernach sind die
Engel Gottes (im Plural) hier und 32, 2 an die Stelle ursprünglicher
Götter getreten<. Es mag sein, daß unter manchem Engel ein Lo-
kalnumen versteckt liegt — in 16,7 ff. übrigens sicher nicht, wenig-
stens zeigt diese Erzählung keine erkennbare Spur mehr davon.
Aber an unsrer Stelle liegt zu der Annahme, die »Engel Gottes«,
die hier ein- und ausgehen, seien ursprünglich Götter gewesen, gar
kein Grund vor. Denn daß »Gott< seine Boten auf Erden sendet
Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 699
ist ein jedenfalls sehr alter und bei E ganz bekannter Glaube. In
die Bethelgeschichte paßt jene Annahme auch gar nicht, denn in
einem Hause können wohl mehrere wohnen, aber nur einem kann
das Haus gehören, wie an den alten Heiligtiimern nur ein Numen
verehrt wird. Sx na ist nicht etwa — wenigstens nicht nach der
ursprünglichen Meinung der Geschichte — etwas auf Erden, die
Gottheit dagegen im Himmel, wie der H. Verf. sagt, sondern der
ganze heilige Bezirk wird aufgefaßt als Se“nıa, als ein Haus Gottes,
dessen Boden die heilige Landschaft und dessen Decke der Himmel
ist. Wie jedes Haus eine Leiter hat, auf der man durch die mans
auf die Decke steigen kann, so steht hier die Leiter, auf der Gott
seine Boten hinab sendet und auf der sie herauf steigen, um ihm zu
melden, was sie erspäht haben. So heißt auch wohl bei dem Pro-
feten das heilige Land das Haus Jahves. Wenn Jakob übrigens
sagt: dieser Stein soll ein Gotteshaus werden —, so gelobt er damit
natürlich nicht, wie der H. Verf. sagt, >ihn als einen Sitz Gottes,
d.h. als heiligen Stein fortan zu verehren<. — In den Jakob-Laban-
geschichten, die der H. Verf. auf S. 296 ff. behandelt, tritt uns die-
selbe Grellmalerei entgegen, wie schon vorher. »Der Erzähler, der
sich über diesen Kontrast — im Wesen des pfiffig-biedern Laban
nämlich — köstlich amüsiert, hat andrerseits doch nicht die Mittel,
diesen Kontrast direkt anzugeben; er ist nicht im Stande, mit Wor-
ten über seinen Helden zu reflektieren; er kann den Hörer nur
durch einen schalkhaften Seitenblick, durch ein Lächeln verständigen«.
Da ist denn natürlich allen individuellen Empfindungen Thür und
Thor geöffnet. So schreibt der H. Verf. z.B. zu 29,13f. »Da —
als ihm Jakob alles erzählte — erkennt der edle Laban die unver-
kennbare Familienähnlichkeit Jakobs mit ihm; hier lacht die Sage
zum Schluß hell auf. Oheim und Neffe einander ebenbürtig!« In
Wirklichkeit versichert Laban mit jenen Worten den Lieblingssohn
seiner Schwester seines „>. Es ist mit dem Humor in diesen al-
ten Geschichten eine eigne Sache. Das individuelle Befinden führt
hier fast immer irre, nur eine genaue Kenntnis der Gemütsart der
alten Hebräer (und Araber) kann einigermaßen das Richtige treffen.
Thatsächlich entbehren die Bemerkungen des H. Verf. in dieser Be-
ziehung oft jeder greifbaren Unterlage. Warum sollen die Worte
Labans v. 15 nicht ehrlich gemeint sein? S. 296: »er wählt die
Maske schöner Uneigennützigkeit: er kann es nicht mit ansehn, daß
sein junger Vetter umsonst bei ihm dient!«. Ebenso bodenlos ist
die Glosse zu v.19: Laban der nicht gern baares Geld zahlt 30, 31(?),
geht auf diesen Vorschlag, bei dem er 7 Jahre lang den Lohn spa-
ren kann, gern ein; aber natürlich hat er einen vortrefilichen Grund:
700 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
man verheiratet die Tochter wirklich gern in die Familie, besonders
an den Vetter«. Jakob hat angeboten, ihm sieben Jahre um Rahel zu
dienen — wie soll denn Laban anders darauf antworten, um den
Verdächtigungen des H. Verf. zu entgehen? Zu v.26: »Laban hüllt
sich in seine unverwüstliche Ehrbarkeit und hat einen prächtigen
Grund für sein Thun. ... Der Grund ist übrigens gut gewählt,
denn so ist es wirklich vielfach Sitte. Wenn der Grund so gut
paßt, haben wir kein Recht, so ohne weiteres einen Scheingrund
daraus zu machen. Den ärgsten Streich hat die Vorliebe für »leben-
dige Exegese« dem H. Verf. aber in seiner Bemerkung zu v. 22
gespielt: »Der geizige Laban giebt ein Fest! weil er sich Zeugen
verschaffen will, vor denen ihn Jakob nicht blamieren kann«. Als
ob eine Hochzeit ohne Gelage (x J.) auch beim Aermsten überhaupt
denkbar wäre! Die eigentlichen Betrügereien Labans gehen einge-
standenermaßen erst nach vierzehn Jahren an, 31, 7.41. Für mißlungen
halte ich den Versuch des H. Verf., aus einzelnen Erweiterungen des
Textes in 30, 35 ft., die Wellhausen mit Recht zum größten Teil für
Glossen erklärt hat, eine parallele Geschichte für E zusammenzu-
setzen, die ähnlich wie J gelautet habe; durch 31,8ff. wird m.E.
ein solcher Bericht für E ausgeschlossen. Die Erklärung von 31, 10 ff.,
als ob der Engel den Jakob im Traume die Farbe der Böcke schauen
ließe, die in der demnächst eintretenden Begattungszeit springen
werden, damit er dementsprechend den Kontrakt mit Laban ab-
schließen könne — ist kaum möglich und wird durch 12° ausge-
schlossen: alle bespringenden Böcke sind gestreift etc., denn ich habe
die Ungerechtigkeit Labans gegen dich angesehen und deshalb
sollen jene Böcke springen und solche Junge geworfen werden nach
dem Kontrakt, den du mit Laban gemacht hast. Die Auffassung des
H. Verf. von der Beurteilung der Teraphim im A.T. im Allgemeinen
und in 31,19.31 ff. im Besonderen ist durchaus verkehrt. »Aus-
länder wie Laban haben — das weiß man — solche Bilder; auch
den Weiblein (Rahel und Michal) muß man dergl. wohl nachsehen;
aber einem israelitischen Mann — so meinen diese Sagen — steht
es nicht recht an<. Wozu steht denn Jud. 17f. im A.T., als um
uns eines Besseren zu belehren! »Von Polemik gegen die Ter. ist
also diese Erzählung ganz frei, aber sie ist voll von Spott über
einen solchen armseligen Gott: Die israelitische Religion hat sich
schon in alter Zeit über solchen Gott ... hoch erhaben gefühlt«.
Lauter Behauptungen, die mit den Thatsachen im Widerspruch
stehen. »Teraphimwitzgeschichten sind auch I Sam. 19, 13 ff. und
besonders Jud. 17f., wo der Teraphim gleichfalls gestohlen wird und
eine Szene ganz ähnlich der Gen. 31, 22ff. stattfindet<. In der Er-
Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 701
zählung Jud. 17 eine »Witzgeschichte< zu sehen, ist dem H. Verf.
vorbehalten geblieben. Er ist von der Antike weit entfernt, wenn
er meint, die Episode 31, 32 ff. enthalte »kräftigen Spaß über den
armen Hausgétzen<. Woher kommt ihm das Wissen: »schon der
Gedanke, daß man einen Gott stehlen kann, stimmt den Hebräer
lustig< ? Ebenso unbegründet ist die Auffassung der Worte Labans
31,43 als »jammernde Klage<. »Alles muß er ziehen lassen, die
Weiber, die Kinder, das Vieh obwohl doch alles ihm gehört«. Nein,
so ist das Wort nicht verstanden, Laban hat ja v. 26 ff. selbst das
Recht Jakobs anerkannt. In v. 43° ist natürlich die gewöhnliche
Erklärung beizubehalten. Die Gestalten Jakob und Laban tragen
durchaus persönliche Züge, an völkergeschichtliche Begebenheiten
erinnert nur die Bundschließung 31, 44 ff.
Im zweiten Teil der Jakob-Esaugeschichten, zu dem wir nun
geführt werden, tritt noch deutlicher als im ersten die Unmöglich-
keit hervor, in den Begegnungen der beiden Personen Verhältnisse
der betreffenden Völker zu sehen. Die Färbung der Erzählung ist
durchaus novellistisch. Daß einer, der sich den Haß des Stamms
oder der Familie zugezogen hat, als „„Uuas abziehen muß, um nach
einiger Zeit, wenn Gras über die Geschichte gewachsen ist, wieder
zurückzukehren, sind uralte Motive des Stammeslebens. Wie man
hervorgehoben hat, liegt die Stätte der Begegnung Jakobs mit Esau
gar nicht im edomitischen Gebiete. Ja, man begreift überhaupt
nicht, wenn Esau = das Volk Edom ist, warum Jakob nicht einfach
in »sein Land« zieht; denn um von Mesopotamien nach dem Land
Israel zu kommen braucht er ja Edoms Erlaubnis gar nicht! Die
ganze Geschichte erklärt sich nur daraus, daß nach dem Tode Isaaks
der erstgeborene Esau als das anerkannte Haupt der Familie gilt,
ohne dessen Erlaubnis Jakob nicht nach Hause zurückkehren darf.
Daß Esau daneben in Seir oder Edom wohnend erscheint, hat nichts
dagegen zu sagen. Man sieht, der Erzähler denkt gar nicht daran,
in der Begegnung der beiden Brüder und in ihrer Stellung zu
einander die Schicksale der beiden Völker zum Ausdruck zu bringen.
Der Segen freilich nimmt, wie oft derartige Stücke, eine Sonder-
stellung ein und geht, seiner Natur nach, auf die Zukunft. Die
ganze Situation, die, obwohl nicht besonders betont, doch deutlich
der Begegnung des Jakob mit Esau zu Grunde liegt, hat der H. Verf.
nicht erfaßt. Das rächt sich denn auch wieder in der Auffassung
und der Beurteilung des Benehmens des Jakob. So heißt es zu
32, 4—7: Jakob bemüht sich, so demütig wie möglich vor Esau auf-
zutreten in der Hoffnung, sein Bruder werde sich durch die vielen
Complimente und die von Ehrerbietung triefenden Reden gewinnen
702 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
lassen. Die Zuhörer lachen«. Die alten Zuhörer hatten ein bessres
Verständnis der Sache, denn sie wußten, daß so, wie Jakob zu Esau
redet, die Art ist, in der der Niedere zu dem Höheren reden soll.
Jakob gilt de jure als der Knecht des erstgeborenen Esau, der nach
dem Tode seines Vaters sein Herr ist. Ganz schief ist das Urteil
»diese Art, in der Not zur Demut seine Zuflucht zu nehmen, ent-
spricht sicherlich der Volksart der Erzähler und Hörer; sie ist frei-
lich nicht eben ritterlich<. Im Gegenteil werden die alten Zuhörer
in der Rede des Jakob nicht nur ein kluges, sondern auch ein feines
und höfliches Benehmen gesehen haben und seinen „os! bewundert
haben. An den Streich, den er seinem Bruder vor 20 Jahren ge
spielt hat, denkt er kaum noch, er nimmt als sicher an, daß er bei
Esau vergessen ist; deswegen hätte er auch schon früher nach
Hause ziehen können, 30, 25 ff.; vgl. besonders 27,44 f., eine Notiz,
die für die Auffassung der Geschichte schlechthin entscheidend ist.
Als er aber die Nachricht 32,7 von seinen Boten -vernimmt, über-
kommt ihn Angst und Schrecken. Daß ihm Esau entgegen zog, be-
unruhigt ihn nicht; denn das gehört zur Sitte, daß man dem Heim-
kehrenden entgegen geht. Aber daß er ihm mit einer so großen
Anzahl entgegen zieht, das macht ihn stutzig und bedenklich. Daß
er daraufhin seine Höflichkeit gegen seinen Bruder — übrigens nach-
dem er der guten Gesinnung Esaus gewiß war — vielleicht noch
steigerte, kann ihm niemand verargen. Die Ausdrücke Jakobs in
dem Zwiegespräche mit Esau 32,5 ff. gehen nirgends über das Maß
hinaus, das durch die Stellung Jakobs zu Esau bedingt ist. Wer in
ihnen eine pfiffige captatio benevolentiae sieht ist ebenso auf dem
Holzwege wie der, der sich über sie als »widrig« entriistet. Ganz
falsch ist die Bemerkung zu 33,3: »Die 7 Komplimente Jakobs sind
eine ganz überschwenglich respektvolle Ehrenbezeugung: wir sollen
lachen«. Die alte Sage habe Esau als einen gutmütigen Tölpel dar-
gestellt, der sich durch Jakobs schöne Reden und Geschenke ge-
winnen lasse. »Kine spätere Ueberlieferung aber, die das Schwank-
hafte der Sage nicht verstand, hat das Wiedersehen der Brüder
rührend gefunden (33,4) und hat Esaus dumme Gutmütigkeit als
Edelsinn verstanden<. Wenn der H. Verf. die Gemütsart der Alten
besser kännte, würde er das nicht geschrieben haben; die Helden
in den alten epischen Erzählungen der Araber sind wahrlich nicht
rührselig, aber das >»Weinen« fehlt nie, wenn »Brüder« nach langer
Zeit sich wiedersehen. — Die Aufrichtigkeit der Worte Jakobs v. 12ff.
in Zweifel zu ziehen, ist kein Grund vorhanden. >»Jetzt ist Esau
begütigt, nun kommt es darauf an, ihn mit guter Miene los zu wer-
den. Auch dies wird mit kräftigem Humor erzählt«. Der Grund,
Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 703
den Jakob angiebt, ist nicht nur »plausibel«, sondern zutreffend, vgl.
auch das arabische (3) In der Pnielgeschichte 32, 23—33 hat der
H. Verf., m. E. nicht mit Gliick, versucht, eine zu J parallele Er-
zählung in E herauszuschälen. Die Gründe für seine Annahme be-
ruhen z.T. auf Mißverständnissen, so ist z. B. die Trennung in v. 26
unmöglich, "spn1 in v. 26° ist ja die notwendige Folge zu ‘31 92;
ebenso ist es wenig glaublich, daß die Namensnennung ein Segen
sei und sich mit v. 30 stoße. Segnen heißt durchaus nicht, wie er
behauptet, >ein wirkendes Wort sprechen, wie es nur die Gottheit
sprechen kann< (S. 327); man >segnet« einen, wenn man von ihm
Abschied nimmt, das ist hier der Sinn des Wortes. Daß Gott den
Jakob und Jakob den Gott nach seinem Namen fragt, sind nicht etwa
Varianten (!), sondern gehört zusammen. Die Bemerkung auf S. 328:
»Es ist ein großartiger und sicherlich uralter Gedanke Israels, es
sei im Stande, nicht nur die ganze Welt mit Gottes Hilfe, sondern,
wo nötig, Gott selber zu bekämpfen und zu überwinden« ist ganz
utopisch.
Am Schluß der Josephsgeschichten, die der H. Verf., von den
Vermutungen über die. Entstehung dieser Geschichten S. 359 f. ab-
gesehen, im Großen und Ganzen in der herkömmlichen Weise kom-
mentiert, folgt ein Exkurs über den Segen Jakobs S. 429. Zu dem-
selben literarischen Genre rechnet der H. Verf. den Segen Mosis,
Segen und Fluch Bileams, Noahs und Isaaks. Alle diese Stücke
seien Beschreibungen der Gegenwart des Verfassers aus dem Munde
eines Urvaters, vaticinia ex eventu von Dichtern. Bekanntlich stammt
die Auffassung dieser Stücke — Gen. 49 und Deut. 33 — als »Se-
gen« von dem Erzähler, der diese Stücke in die Erzählung eingefügt
hat. Keine einzige Spur weist darauf hin, daß der, der diese Sprüche
über oder von einzelnen Stämmen gesammelt hat, sie als Segen aus
dem Munde des sterbenden Jakob gefaßt hat. Die Stücke ferner
im A.T., die ein klares Bild von dem Wesen des Segens geben —
Gen. 9. 27. 48 — zeigen deutlich, daß der Segen immer die ganz
spezifische Form des Wunsches trägt; mit der Weissagung hat der
Segen nichts gemein, unterscheidet sich vielmehr durch die Form von
ihr aufs deutlichste. Was nun Gen. 49 anbetrifft, so ist für jeden
Leser klar, daß hier nur der Spruch über Joseph und allenfalls über
Juda die eigentümliche Form des Segens zeigt; alle anderen Sprüche
sind — v. 10° und 18 ausgenommen — weder >Segen« noch Weis-
sagung, sondern einfache — an Lob oder Tadel anklingende —
Sprüche über gegenwärtige Verhältnisse und Zustände der Stämme.
Es ist schwer, diesen Thatbestand zu verkennen. Daß Gen. 49 der
Form nach gar keine Weissagung sein wolle, dies >überaus ober-
704 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
flächliche Urteil Holzingers< teile ich jedenfalls noch mit anderen.
Die Behauptung, es sei »aus diesem Segen allmählich ein selb-
ständiges literarisches Genre entstanden< ist für die alte Zeit
ganz unbeweisbar. Wenn der H. Verf. sich auf die Bileamsprüche
beruft, die von der Bileamsage schon fast ganz unabhängig seien, s0
gilt dies wohlgemerkt nur von Num. 24, das freilich die Form der
Weissagung hat, eben darum aber kein »Segen« ist. Dafür, daß
»dieser Stil in späterer Zeit von Dichtern aufgenommen und für
größere selbständige Gedichte verwandt worden ist«, giebt es im
A.T. kein Beispiel. Wenn der H. Verf. Jud. 5, 14 ff. für eine »Nach-
ahmung des Segenstiles< hält, so kann man sich vorstellen, daß ihm
das Deboralied >auch sonst in literaturgeschichtlicher Beziehung sehr
kompliziert< erscheint. »Was die Form der Weissagungen betrifft,
so ahmen diese Segen den Stil nach, in dem die Gottesmänner ihrer
Zeit zu sprechen pflegten; als Nachahmungen profetischer
Kunstform sind diese Segen für die Geschichte des profetischen
Stiles uns um so wertvoller, als sie das Aelteste sind, was wir aus
profetischer Literatur besitzene. Was der Segen mit den Profeten
und die Profeten mit den Weissagungen zu thun haben, ist mir un-
erfindlich. >Segnen« thut jeder Vater, ja jeder Mensch bei der Be-
grüßung und beim Abschied. Die Behauptung, der Segen sei eine
Nachahmung profetischer Kunstform ist lediglich aus den falschen
Begriffen vom Wesen des Segens und vom Wesen der Profeten
herausgesogen und ohne jeden thatsächlichen Anhalt.
Wir kommen zur Einzelexegese. In v.3 will der H. Verf. m. E.
ohne besonderen Grund maw lesen. In v. 4 schlägt er nbbr vor:
ich entweihte = verfluchte; kaum richtig ; vielleicht hat man einfach
5» zu streichen (und sıx°) vgl. Hieron. marınn>n v. 5 wird ohne
Gewähr für eine Art Waffe erklärt. Der H. Verf. schlägt vor den
Vers zu lesen ‘52 dam 55 d.h. Arglist (!) und Gewaltthat sind
ihre Gruben. Abgesehen von »51>, woran im Ernst nicht zu denken
ist, ist auch der Sinn unbefriedigend ; denn Arglist paßt wohl, aber
nicht onrı als Subjekt zu '>n, Gruben. LXX & alo&seng aurav la-
sen ‘noms, was aus ursprünglichem '=’na=n entstellt ist. In dem
Segen über Joseph ist v. 24 nach LXX zu ändern, also etwa ‘p prawn
und '* "sr721; v. 26 mean, das Vorhergehende ist Subjekt zu mm
vgl. Deut. 33,13—16; auch v. 25 haben LXX im Ganzen die rich-
tige Auffassung. Daß ‘nx 2 v. 26 bedeutet der Gekrönte (r:)
unter seinen Brüdern sollte der H. Verf. nicht leugnen ; seine Ueber-
setzung: der Geweihte unter seinen Brüdern, und Erklärung: der
als Naziräer auf eigne Hand Gottes Kriege führt, wird wohl nie-
Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt. 705
manden befriedigen. Ganz ungeheuerlich ist die Begründung, die er
seiner Auffassung auf S. 439 giebt. »Der Naziräer trägt geweihtes
Haar; daher hier die Verbindung von Nazir und >Scheitele: ein
deutliches Zeichen, daß hier die alte Bedeutung von >Nazir« ... an-
zunehmen ist«! Wenn aber Joseph der »Gekrönte sein Bruder« ist,
dann sind die Pfeilschützen, die ihn bedrängen, selbstverständlich
die Aramäer von Damaskus, und zweitens ist das >Lied< nicht eine
Konzeption, sondern eine Zusammenstellung, wegen v.8f. Zum
Schluß noch ein Wort über das Kreuz v. 10, ’31 "> 5». Daß diese
Worte Eintrag sind, ist für jeden philologisch Geschulten klar, vgl.
Wellhausen Kompos. 320f.; wenn der H. Verf. also behauptet:
»diese vorprophetische Eschatologie< ist hier bezeugt« (von ihm ge-
sperrt gedruckt), so bezeugt er nur, daß er seiner Ueberzeugung zu
Liebe vor nichts zurückschreckt. Bekanntlich ist der Sinn der Worte
dunkel, weil der Text verderbt ist. An dem Worte np" hat man
bis jetzt keinen Anstoß genommen, obwohl der Stamm im Hebräi-
schen auffällig und unbelegbar ist. Die Berufung auf das Ara-
bische ist in diesem Falle ganz unstatthaft. Vgl. meine Bemerkung
zu Prov. 30,17: »p" kommt als Wurzel weder im Hebräischen noch
im Syrischen vor, so daß die Zusammenstellung mit dem arabischen
sp. unberechtigt ist. ‘mp: ist Gen. 49,10 sicher verschrieben. ...
LXX werden mit nıpr für ‘p> im Rechte sein, vgl. bes. 23, 22%«.
LXX lesen an unsrer Stelle, was die Ausleger bis jetzt übersehen
haben, nıpn, was zweifellos wiederherzustellen ist; sd-w == bw, 15%
ist zu streichen. Also: bis der kommt, auf den die »Völker«e har-
ren, vgl. v. 18. —
Ich will gewiß nicht leugnen, daß die Arbeit des H. Verf. Neues
und auch Stichhaltiges bringt. Insbesondre stimme ich dem von
Herzen bei, was er im Vorwort sagt: »Aber alles dies, auch die
Literarkritik, darf für den Exegeten des A. T.s nur eine Vorarbeit
sein. Sein eigentliches und letztes Ziel bleibt die Erklärung des
Sinnes des A.T.s. Wir dürfen nicht nur gelehrte Notizen häufen,
sondern müssen durch alles dies hindurchdringen zu einem ... wah-
ren Verständnis ... des A. T.se.. Auch mir ist die kleinliche ein-
seitige Literarkritik, die alles andere um sich vergißt, von Herzen
leid, zumal sie meist mit stumpfen Messern schneidet. Aber als Kri-
terium ist sie doch unentbehrlich gegen die individuelle Willkür.
Ein festes wohltätiges Kriterium vermißt man nur zu oft bei den
Aufstellungen des H. Verf. Eigentümlich berührt das — besonders
in der Exegese der Vätersage öfter ausgesprochene — Bedauern der
Theologen (in genere), die nicht im Stande seien, die alten Ge-
Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9. 47
‚706 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
schichten recht zu würdigen. »Schade, daß die Theologen solche
Schönheiten so wenig beachten< (S. 194). Aber der H. Verf. gehört
ja doch selbst zu den Theologen.
Louisendorf. Frankenberg.
Beiser, J., Einleitung in das Neue Testament. Freiburg i. Br. (Herder)
1901. VIII u. 852 S. gr. 8°. Preis 12 Mk.
In 80 Paragraphen, denen S. 841—852 noch ein Verzeichnis
der erklärten (?) Stellen des N. Ts. und ein Namen- und Sachregister
beigegeben wird, erledigt der Verf. die herkömmlich in der »>Ein-
leitung in das N. T.< zu bewältigenden Aufgaben. Nach einigen all-
gemeinen Erörterungen bespricht er im I. Teil (S. 24—721) die
Entstehung der einzelnen neutestamentlichen Schriften; für Teil I
»Der neutestamentliche Kanon< braucht er nur 37 Seiten, von S. 760
bis 840 reicht ein Anhang, angeblich zum zweiten Teil — aber warum
blos zu diesem? — »die Apokryphen<, wo nach einem einleitenden
Paragraphen »Begriff und Entstehung« der Apokryphen, das litterar-
geschichtliche Material über die wichtigeren apokryphen Evangelien und
Apostelgeschichten sowie über die Petrusapokalypse dargeboten wird.
Eine Geschichte des Textes fehlt, und es ist wohl gut, daß sie der
Verf. uns erspart hat; was wir in Anm. 4 zu § 5 S. 22f. über die
Uebersetzungen des N. T. aus dem Griechischen erfahren, ist von
kaum glaublicher Dürftigkeit. Der Theologe, der durch eine Mono-
graphie über die Lesarten des codex D in der Apostelgeschichte die
Blaß’schen Forschungen interessant und vollständig ergänzt haben
soll (so Deutsche Lit.-Ztg. 1897 Nr. 39), vermerkt in einem Nachtrag
auf S. IV, daß in Joh. 18, 15 jetzt (!) als ursprüngliche Lesart &dos
padytys, nicht 6 &AAog padyric festgestellt sei und ändert auf Grund
dieser recht alten Neuigkeit seine Meinung von der Person jenes
uednmeis, S. 1 aber behauptet er, Jesus bezeichne Matth. 26, 28
beim Abendmahl seine Stiftung als den »neuen Bund«, während die
Unechtheit des xaıvjg Matth. 26 wohl eben so fest steht als die des
6 in Joh. 18.
Am wenigsten fordern den Widerspruch heraus die den Apo-
kryphen gewidmeten Partieen, da giebt der Verf. auch am Wenigsten
von dem Seinen; daß er S. 816 verfügt: »Sicher historisch ist, was
die (Petrus-) Akten über die Flucht Petri aus Rom, die Begegnung
mit dem Herrn und die Rückkehr nach Rom berichten«, auch für
die Mitteilung, Petrus sei mit dem Kopf nach unten ans Kreuz ge-
Belser, Einleitung in das Neue Testament. 707
schlagen worden, Glauben fordert, S. 837 die Ueberlieferung über
Parthien als Provinz des Thomas als wohl beglaubigt schätzt, ist
geringfügig gegen die in den voraufgehenden Abschnitten bethätigte
Traditionsgläubigkeit. S. 762 wagt sich ein leidlich unbefangenes
Urteil über die bona fides der Verfasser von Pseudepigraphen her-
vor, aber gleich mit einer mehr als charakteristischen Einschränkung:
»derartige Anschauungen, völlig abweichend von unserer heutigen
Auffassung, herrschten vielfach auch — nämlich wie bei Juden —
in den judenchristlichen Kreisen«. Haben sie etwa
in den katholischen nicht geherrscht? Ueber die sog. Geschichte
des Kanons muß man aus Höflichkeit schweigen: Gregor von Nazianz
soll die Apokalypse nicht in sein Verzeichnis kanonischer Schriften
aufgenommen, aber doch als heilige Schrift: verwendet haben S. 753,
Paulus bereits hat I. Tim. 5, 18 ein Herrnwort nach dem Evangelium
seines Schülers Lucas citirt und durch die Art der Einführung das
Evangelium als inspirirte kanonische Schrift bezeichnet S. 725 ff.
Von den Thesen des ersten Teils mögen einige wenige als Bei-
spiele dieser neuesten Art von Wissenschaft genannt werden. Der
Apostel Matthaeus hat im Jahre 41 (S. 31: »circa 40<), vor dem großen
Wendepunkt von 42, wo die Urapostel die äussere Mission in großem
Stil aufnahmen, sein Evangelium (nicht blos eine Sammlung von
Herrnworten) in hebräischer, nicht etwa aramäischer, Sprache nieder-
geschrieben zum Ersatz für seine demnächst beginnende Abwesenheit,
ums Jahr 60 ist die griechische Uebersetzung, die wir im Kanon
haben, entstanden: Johannes und Papias benutzten sie bereits, denn
in dem berühmten Wort nounvevoe 0° aör« — die Logien des Matth. —
as iv Övvardg Exaorog liegt implicite: das Dolmetschen hat aufgehört
(Aorist: Neunjvsvoe) »da jetzt die ganze Schrift in griechischer Ueber-
setzung jedem zugänglich ist«. Unter Benutzung des hebräischen
Matth. stellt aus den Predigten des Petrus in Rom 42/3, die er ver-
dolmetscht hatte, Marcus in Rom, der Einiges übrigens von Jesu
Thaten selber mit erlebt hat, sein Evangelium zusammen, legt
aber zunächst ohne das Werk zu vollenden — er brach i. J. 44 bei
Mc. 16,8 ab — die Feder aus der Hand. Als er sein Werk für
weitere Kreise publiciren wollte 63/4, fügte er den Anhang 16, 9—16
hinzu, teils an der Hand des inzwischen in Rom zum Gebrauch ge-
langten Lucasevangeliums, teils auf Grund eigener Nachforschungen
bei unmittelbaren Jüngern des Herrn, zu denen er zwischen 44 und
61 hinlänglich Möglichkeit und Gelegenheit gehabt hatte. Die
Exemplare unserer besten Handschriften, die jenen Anhang ent-
behren, ruhen auf Abschriften von dem noch nicht zu Ende geführten
Autographon; vielleicht hatte man solche ohne Wissen des Autors
47°
708 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
genommen! Unter den Gründen für die Zeitbestimmung figurirt
S.88 der: »Hätte Marcus in der Zeit 66—68 geschrieben, so wäre das
Griechische in seinem Buche ein eleganteres, gefeilteres, weniger semi-
tisch gefarbtes<. Denn schon a. 49 mußte Jakobus Alphäi Sohn, der
sogenannte Herrnbruder, Bischof von Jerusalem seinen in erster
Linie für palästinische Judenchristen bestimmten Brief in gutem
Griechisch abfassen, und vollends Paulus, als er a. 63 die durch den
Tod ihres Bischofs Jakobus in Gefahr des Abfalls gerathenen Juden-
christen Jerusalems und Palästinas aufmuntern wollte, that gut sich
zum Concipienten dieses Briefs (Hebr.) den vorzüglich in der Rhetorik
geschulten Apollos zu wählen. War doch seit 42 die Hellenisirung
der gleichwohl immer noch tempelfromm gebliebenen Christenheit des
h. Landes rapide fortgeschritten. Lucas benutzt für sein c. 61 verfaßtes
Evangelium den Mc., aber nicht minder den hebräischen Mt. und zugleich
dessen griechische Uebersetzung. Die Perikope von der Ehebrecherin
Joh. 7,53—8, 11 gehört zu dem echten Evangelium des Apostels,
der dieses a. 96, 1 Jahr nach der Apokalypse, mit einem eigen-
händigen Nachtrag 21, 1—23 und einer formellen Beglaubigung durch
einige Mitjünger 21, 24f. versehen, von Ephesus aus an die Kirchen-
gemeinden in Kleinasien versandte, nachdem er die drei älteren Evan-
gelien ausdrücklich als kanonisch anerkannt hatte. — Daß der in
Apoc. 2,8 angeredete &yyedog-Bischof von Smyrna der uns be-
kannte Polykarp war, sollte man nicht in Zweifel ziehen (S. 420).
S. 113 kommt B., dem an dem Maler-Arzt Lucas viel gelegen ist,
wenigstens über die Notiz des Theodor Lector >nicht so leicht weg, wo-
nach die Kaiserin Eudokia um 440 ein von Lucas gemaltes Marienbild
von Jerusalem nach Konstantinopel geschickt habe.< — Ein durch Jesus
von der Zollstätte weg zum Jünger berufener Zöllner heißt bei Mc. Levi
der Sohn des Alphäus, bei Lc. blos Levi, Mt. 9,9 dagegen Matthaeus
(sidev Üvdgmnov xadypevoy Enl td TeAmvıov, Mad Patov Aeyduevor).
Die Differenz hebt B. S. 24 spielend durch die flotte Uebersetzung
»Mensch, der am Zolltische saß und Matthäus heißt (sc. in der
christlichen Gemeinde)<. Ob Mt. 26,3 tod apyıegewms tod Asyouevov
Kaidéga auch zu übersetzen wäre: des Hohenpriesters, der Kaiphas
heiGt, sc. in der christlichen Gemeinde? Immerhin bleibt die Logik
kühn, die in Anm. 2 uns belehrt: Mt. 10,3 — nämlich im Apostel-
katalog Ma@@atog 6 reAmvng — weist zurück auf 9,9f., so daß hier
unzweifelhaft ausgesprochen ist: der Zöllner Levi ist gleich dem
Apostel Matthäus. — Für das Geschichtsbild Belsers führe ich als
typisch einen Satz von S. 611 an: »Der afrikanischen Kirche kam
allerdings der (Hebräer-) Brief gewiß von Rom aus zu, und die
römische Kirche wird ihn ohne Verfassernamen dahin geschickt haben,
\
Belser, Einleitung in das Neue Testament. 109
letzteren nicht absichtlich unterdrückend, sondern weil der Verf.
im Brief nicht angegeben war und darum die Gemeinde zu
Rom auch auswärtigen Kirchen Freiheit betreffs
der Auffassung des Ursprungs einräumte«!
Daß B. bei seinen Untersuchungen »nichts anderes als rein
wissenschaftliche Mittel zur Anwendung bringen< will (S. 2), ist un-
zweifelhaft, gelegentlich zeigt er ja auch kritische Regungen, wie
wenn er S. 44 die Unklarheit einer Vulgata-Stelle tadelt, S. 728,
allerdings in fast komischem Widerspruch zu dem kurz davor Aus-
geführten, bereit ist in I. Cor. 2,9 nach Resch ein Citat aus dem
hebräischen Matth. zu sehen, das die griechische Uebersetzung, unser
kanonischer Matthäus — ob inspirirt? — unterschlagen habe. Auch
die Freiheit, das Comma Johanneum für eine Interpolation zu halten,
will er mindestens für Andere gewahrt wissen, und beinahe bedenk-
lich erscheint mir sein Zugeständnis, daß Marcus aus Klugheit über
die Fragen der Leitung der Kirche, d. h. den Papat geschwiegen
habe, um jeden Anstoß bei römischen Lesern zu vermeiden, oder daß
bei Lucas »Berechnunge — mit dem Blick auf die römischen Be-
hörden — in Aufnahme des Stoffes und Darstellung walte S. 16 f.
Aber ein Historiker, der glaubt >ein endgültiges Urteile über die
NTlichen Schriften abgeben zu können (S. 3), dem die Anordnung von
27 einzeln zu besprechenden Büchern nach der Entstehungszeit (S. 7)
»die Anwendung der historischen Methode< bedeutet, der eine Aus-
sage des Euseb, dadurch daß jener sie mit einem Adyog xareysı stützt,
als eine von Anfang an in der Kirche herrschende (S. 15 vgl. S. 39f.)
garantirt findet, der in seinem Enthusiasmus für die Gleichberechti-
gung der — ja wenn nur Jemand sagen könnte, welcher! — mündlichen
Tradition mit den biblischen Büchern sich dahin versteigt, Gründe
zu suchen, warum Jesus für sich und bis auf einzelne, durch gött-
liche Inspiration festgestellte Ausnahmen auch für seine Jünger die
mündliche Belehrung dem schriftlichen Verkehr vorzog, der die in-
haltliche Insufficienz der Evangelienschriften nicht schroff genug be-
tonen kann, aber nur um Platz für eine ergänzende kirchliche Instanz
über der biblischen zu schaffen, nicht etwa um daraus die Pflicht zu
entnehmen, sich dem Inhalt biblischer Bücher skeptisch gegenüber zu
stellen, — ein solcher Historiker darf nicht erwarten, daß Andere,
die seine Voraussetzungen nicht teilen, seine Urteile besonders hoch
taxiren. Indeß auch innerhalb der katholischen Wissenschaft wird
diese Einleitung schwerlich Epoche machen. Die »Bedürfnisfrage« ver-
mag ich nicht zu beurteilen ; das »Etwas«, das, wie B. im Vorwort my-
steriös andeutet, er bei seinen letzten Vorgängern in Deutschland, Trenkle
1897 und Aloys Schäfer 1898 vermißt, und weil »in unsern Ver-
10 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
hältnissen« unentbehrlich nachholen möchte, habe ich nicht entdeckt,
Hat B. etwa den Ehrgeiz, ein katholisches Seitenstück zu unserem
Zahn zu liefern ? Mit ihm setzt er sich ungemein gern auseinander,
mit ihm teilt er auch die eigensinnige Art, in sehr verschiedenem
Maß Raum und Rede zu verteilen je nach dem eigenen Interesse
und nach der Gelegenheit zum Polemisiren; die Litteratur wird nach-
lässig genug und nichts weniger als vollständig verzeichnet, erst
recht nicht beurteilt; nirgends ein Versuch, durch geschichtlichen
Rückblick — wie jämmerlich ist das Stückchen Geschichte der Ein-
leitungswissenschaft S. 3—5! — den gegenwärtigen Stand der For-
schung zu erklären. Auch formell hat B. mit Zahn einige Fehler
gemein. Breit und steif bis zur Incorrectheit schreibt er, bei ihm
kommt hinzu die Vorliebe für eine Mischung von altfränkischem Ton
und pathetischer Plerophorie. Was bei ihm nicht alles denkwürdig
oder hochwichtig ist, ungereimt und völlig verfehlt, während über
Anderes vollendete Klarheit herrscht, oder doch B. es in aller Form
beweisen kann! An dieser Stelle hört die Aehnlichkeit mit Zahn
allerdings auf; dieses zum Lächeln reizende Reden von seinem langen,
mühevollen Ringen, von seinem Anerkennen auf Grund eigener sorg-
fältiger Prüfung, einem Untersuchen mit ausgezeichnetem Fleiß wird
man bei dem Erlanger Theologen so wenig vorfinden wie Belege für
ziemlich mangelhafte Erudition. Daß Luther auch den Hebräerbrief
»bemängelt« hat, scheint B. nicht zu wissen, daß wir jetzt in den
»tractatus Origenis« einen zweiten Zeugen für Barnabas als Verf.
des Hebräerbriefs besitzen, ist ihm entgangen, die Ausführungen
über die Sprachentwicklung im Hellenistischen S. 20 oder die über
die Unfähigkeit der aramäischen Sprache — im Unterschied von der
alten Sprache Kanaans! —, die neuen Ideen des Christentums voll-
ständig auszudrücken, sind mehr als veraltet, und ein gelehrter Excurs
wie der über öy& oaßßdrov S. 43 ff. ist überflüssig.
B., der auch durch eingestreute Hinweise auf seine Lebens-
erfahrungen, durch die zahlreichen pietätsvollen Aufblicke zu seinem
Lehrer Aberle, und die häufigen Selbstcitate seine Darstellung nicht
wirklich lebendig zu machen versteht, leidet an dem Misgeschick,
seine Verdienste und Gaben gerade an der falschen Stelle zu suchen;
was bedeutet es, wenn ein Stilist wie er, H. Holtzmann S. 717 also
abführt: Was das immer wiederholte &v in (II Ptr.) 1, 5—7 anlangt,
so klagt derjenige sich selbst an, welcher die Wiederholung tadelt
oder unschön findet; gerade dadurch (!) wird Kraft und Lebendigkeit
bewirkt.
Ich wüßte in dem dicken Buch kaum eine Ausführung zu nennen,
die neue Gesichtspunkte eröffnete oder die ernste Beachtung der
D. Martin Luthers Werke. 19. Bd. N11
Mitforscher zu verdienen schiene, höchstens auf S. 2 die bei einem
Andern als B. ironisch gemeinte Wendung, daß in der Einleitungs-
wissenschaft auch protestantische Forscher, welche in dieser Richtung
inkeiner Weise gebunden sind, häufig im Ganzen zu den-
selben Ergebnissen wie das Tridentinum kommen. Die Gebundenheit
ist bei Zahn wesentlich die gleiche wie bei Belser, wenn man trotz
solch eines fundamentalen Mangels sich um die Wisgenschaft ver-
dient machen will, muß man in höherem Maß als Ungebundene über
Gelehrsamkeit, Geist, Scharfsinn und Combinationsgabe verfügen:
diese Eigenschaften vermisse ich in der neuesten >Einleitung« in
einem bei dem Collegen eines F. X. Funk befremdlichen Maße.
Marburg, im Juli 1901. Ad. Jülicher.
D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesammtausgabe. 19. Bd. Mit Nach-
bildungen von 66 Holzschnitten und zweier Seiten einer Lutherhandschrift
Weimar, Hermann Böhlaus Nachfolger 1897. VIII u. 666 S. Preis 21 M.
Der vorliegende 19. Bd. der Lutherausgabe, der zugleich mit
Bd. 7 ausgegeben wurde und dessen Besprechung sich leider unge-
bührlich verzögert hat, ist von D. Walther in Rostock bearbeitet
und umfaßt 17 Schriften aus dem Jahre 1526. Er beginnt mit der
von Luther mit Vorwort und Nachwort versehenen Schrift: »Das
Papstum mit seinen Gliedern gemalet und geschrieben<. Ueber die
Herkunft wissen wir nur, daß nach Luthers Angabe 43, 24. ihm die
Schrift von auswärts »durch fromme Leute geschickt worden war«.
Wie der Herausgeber vermutet, wäre dies von Nürnberg aus, etwa
durch Osiander geschehen, »wohl mit der Anfrage, ob er unter den
jetzigen besonderen Verhältnissen die Veröffentlichung für zeitgemäß
halte< S. 2. Das schließt er aus den beiden das Jahr darauf er-
schienenen, der fraglichen Schrift »verwandten« Publikationen Osian-
ders >Eine wunderliche Weissagung von dem Babstumb« etc. und
»Sant Hildegardten Weissagung«, von denen die erstere erläuternde
Verse von Hans Sachs enthält, und dem weiteren Umstande, daß
Luthers Buch noch in demselben Jahre in »gebesserter und gemehr-
ter< Ausgabe (>jedenfalls auch, vielleicht nur«) in Nürnberg erschien,
und die hier neu hinzugefügten Bilder und Reime den früheren so
durchaus gleichartig sind, daß ein und dieselbe Quelle angenommen
712 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 9.
werden muß«. Auch, meint der Herausgeber, >liegt die Frage nahe,
ob vielleicht auch die Verse unserer Schrift von demselben Dichter
(Hans Sachs) herrühren«.
In dieser Form dürfte die Vermutung schwerlich richtig sein.
Ein Widerspruch scheint erstens darin zu liegen, daß der Heraus-
geber das eine Mal sagt, die in der gebesserten und gemehrten Aus-
gabe hinzugefügten Bilder und Reime sind der früheren durchaus
gleichartig, und weiter unten auf S. 2 wohl mit Recht annimmt, daß
die Bilder der Lutherschen Ausgabe von Kranach oder von einem
Meister der Kranachschen Schule herrühren, die Bilder der gebesser-
ten Ausgabe aber von Sebald (so doch wohl statt Sebastian zu
schreiben) Beham herrühren. Sind aber die Bilder der ersten Aus-
gabe Kranachscher Herkunft, dann kann man sich die Sache wohl
nicht anders denken, als daß lediglich die Verse Luther zukamen,
und dieser erst die Bilder veranlaßte: dies wird auch durch das Ver-
hältnis von Bildern und Text zu einander bestätigt. Der Heraus-
geber hat mit Recht die auffallende Thatsache bemerkt, daß die
Bilder nicht immer den dazu gehörenden Versen entsprechen (S. 41
Anm.) und verweist dafür auf Nr. 8. 16. 19. 22. Entgangen ist ihm,
oder er hat es wenigstens nicht erwähnt, daß ein Bild dreimal vor-
kommt Nr. 19. 55. 63 für den Johanniterorden, Ambrosianerherren,
Jacobsbrüder mit dem Schwert, ein anderes zweimal Nr. 6 u. Nr. 65,
»der Pfaffenstand<, »Spitalherrn<. Das dürfte nicht auf Nachlässig-
keit des Druckers oder Zeichners beruhen, sondern darauf, daß es
für diese Orden in Wittenberg oder Umgegend an jedem Vorbild
für die betreffenden Trachten fehlte, weshalb denn auch in der ver-
besserten Ausgabe, mit Ausnahme des Bildes des Benedictiners, der
die Bibel (?) oder das Meßbuch behielt, diese Mängel beseitigt wur-
den. Was nun ferner die Verwandtschaft mit den beiden Osiandri-
schen Publikationen anbelangt, zu welchen neuerdings zu vergl. Al-
fred Bauch, Barbara Harscherin, Hans Sachsens zweite Frau, Niirn-
berg 1896 S. 67 ff., so beruht sie doch nur eben darauf, daß sich
Osiander durch Luthers Schlußwort anregen ließ, auch seinerseits
die heftige Opposition wieder aufzunehmen (vgl. W. Kawerau, Hans
Sachs Schriften d. Verf. f. Ref. Gesch. Nr. 26 S. 71 ff.); und die
ziemlich glatten oder wenigstens klaren Verse des Hans Sachs in der
»Weissagung« scheinen mir sehr wenig Aehnlichkeit mit denen im
»Papsttum« zu haben, und wenn die Bemerkung Rosenbergs (Sebald
und Barthel Beham Leipzig 1875 S. 138), die ich nicht controllieren
kann, richtig ist, daß die Nürnberger Ausgabe des Papstums in den
Versen dialectische Veränderungen aufweisen, dann dürfte an die
Nürnberger Herkunft dessen, was Luther zukam, wohl nicht zu den-
D. Martin Luthers Werke. 19, Bd, 718
ken sein. Was die Erläuterungen zu den einzelnen Bildern betrifft,
so verkenne ich nicht die Schwierigkeit, da das rechte Maß zu fin-
den, aber ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken, daß auf glei-
chem Raum zur wirklichen Erklärung etwas mehr hätte geboten
werden können. — Eine ausgezeichnete Arbeit ist die Einleitung zur
‚Deutschen Messe«, in der mit Recht immer wieder hervorge-
hoben wird, was die Neuzeit nur allzu sehr vergessen hat, daß
Luther, wo er nur konnte, sich gegen alle Uniformität in Cultus-
dingen erklärte. Richtig ist ohne Zweifel die Annahme, daß das
Notenblatt mit Luthers Grundgedanken über das Musikalische einer
deutschen Messe, das in gutem Facsimile am Ende des Bandes wie-
dergegeben wird, nicht dem Briefe an Walther vom 21. Dez. 1527
(Enders 6, 152 ff.) beigegeben war, sondern auf die Verhandlungen
mit dem Sangmeister vor der Abfassung der deutschen Messe führt
(S. 49). Ebenso wird die Vermutung richtig sein, daß zwischen dem
Februar- und dem Junierlaß des Kurfürsten im Jahre 1526, die
beide die Einführung der Messe betreffen, eine gegen den Zwang
protestierende Auslassung Luthers vorliegen muß. Sehr dankens-
wert sind auch die dem Text vorangestellten allgemeinen Erläute-
rungen.
Mit dem Antwortschreiben >an die Christen zu Reutlingen< wer-
den wir in den Abendmahlsstreit geführt, wohin noch vier andere
Schriften dieses Bandes einschlagen. Seine Spezialstudien darüber
hat der Herausgeber, worauf er verweisen kann, in einem Aufsatz
»Reformirte Taktik im Sakramentsstreit der Reformationszeit<.
(Neue kirchl. Zeitschr. 1896 S. 794 ff. S. 917 ff.) niedergelegt, wo
die störende anachronistische Bezeichnung »Reformierte« für Schwei-
zer und ÖOberländer wohl nur der Bequemlichkeit halber gebraucht
ist. Daß die in manchen Kreisen sich findende Meinung von der
Milde der Schweizer und Oberländer gegenüber der übergroßen
Schroffheit Luthers eine völlig irrige ist, wenn man den Briefwechsel
zu Rate zieht, und die hier und da z.B. bei Gelegenheit des Mar-
burger Gesprächs ostentativ hervorgekehrte Versöhnlichkeit fast aus-
schließlich dem politischen Interesse entsprang, glaube ich schon
früher deutlich hervorgehoben zu haben. Jedenfalls hat aber W. Wal-
ther das Verdienst, in seiner Spezialuntersuchung, der ich freilich
nicht in allem beistimmen kann, in einer Reihe von Punkten das
richtige Urteil über die Taktik Zwinglis und der Oberländer schärfer
begründet zu haben, als dies in den Lutherbiographien bisher ge-
schehen war und geschehen konnte. So wird man, was für die Be-
urteilung sehr wesentlich, ihm zugeben müssen, daß Zwinglis Brief
an Alberus fingiert war, und daß er dem Alberus selbst nicht von
714 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
Zwingli geschickt worden war, was jetzt auch Stähelin, Zwingli II, 241
zugiebt. Gleichwohl kann mich die Einleitung zu dem Schreiben an
die Christen zu Reutlingen nicht ganz befriedigen. Es ist nur eine
Kleinigkeit, die ich aber erwähne, weil dergleichen leicht unbesehen
in andere Bücher übergeht, daß Walther S. 114 mitteilt, daß Zwingli
seine Abhandlung in »mehr als fiinfhundert< Abschriften im Ge-
heimen verbreiten ließ, während Zwingli, und dessen eigene Aussage
ist die einzige Quelle dafür, nur schreibt epistolam ... ad Rudlin-
gensem quendam esse mandatam ut Carolostadi libri prodüssent ac
deinde descriptam brevi plusquam quingentis fratribus, priusquam er-
euderelur, communicatam esse (Zwingli opp. III, 605), was Walther
N. kirchl. Ztsch. a. a. O. 8. 808 richtiger wiedergiebt, wenn er schreibt:
»Mehr als fünfhundert Brüder« wurden auf solche Weise mit seiner
Abendmahlslehre bekannt. Bedenklicher scheint mir, daß der Heraus-
geber die subjektiven Motive fiir Zwinglis Verfahren allzusehr in den
Vordergrund stellt. Wann der Brief (16. Nov. 1524) eigentlich ge-
schrieben ist, erfährt der Leser nicht, und auch für die endliche
Drucklegung im März 1525 giebt W. nur das subjektive Motiv an,
daß Zwingli gefunden, daß sein Vorgehen keinen Widerspruch fand,
er es also wagen konnte. Aber auch wenn Zwingli wirklich, wie
Walther wohl zu scharf pointierend darzulegen sucht, seit Jahren dar-
auf ausgegangen wäre, den Kampf gegen Luther vorzubereiten und
nur auf den günstigen Moment lauerte, so kann doch wohl kaum ein
Zweifel sein, daß, worauf ich schon Martin Luther II, 273 hinge-
wiesen, Luthers Verhandlungen mit den Straßburgern, das Erscheinen
von Luthers Schrift »Wider die himmlischen Propheten« und die da-
durch in den Gemeinden entstandene Erregung es waren, die ihn
veranlaßten, mit seiner Lehre jetzt offen hervorzutreten. Davon wird
in der Einleitung nichts mitgeteilt, vielleicht auch deshalb nicht,
weil der Herausgeber nicht wissen konnte, was der Herausgeber des
vorhergehenden, noch ausstehenden Bandes über diese Verhältnisse
sagen wird. Uebrigens könnte man auch daran zweifeln, ob Zwingli
wirklich den Brief selbst in Druck gegeben hat. Daß die sein eigen-
tümliches Verfahren aufdeckende Nachschrift (Zw. opp. III, 603)
stehen geblieben ist, spricht sicher mehr dagegen als dafür. Der
Brief an die Reutlinger wird gegenüberstehend nach dem in Stutt-
gart befindlichen Original und dem einzigen Druck, der außer ein
paar Lesefehlern nur sprachliche Varianten aufweist, wiedergegeben. —
Es folgt »sdie Epistel des Propheten Jesaia, so man in der
Christmesse lieset« (S. 126 ff.), eine Bearbeitung zweier Predigten, die
Luther am ersten und zweiten Weihnachtstage 1525 gehalten hat, von
denen uns noch lateinische Nachschriften in Jena und Hamburg er-
D. Martin Luthers Werke, 19. Bd. 718
halten sind. Ansprechend ist die Vermutung, daß Luther zur Heraus-
gabe dieser Schrift durch das Bestreben bewogen wurde, gegenüber
der Kunde von der in Ungarn und in Nürnberg auftauchenden Skepsis
die Gottheit Christi zu betonen. Auffallend ist die Anführung einer
so späten Uebersetzung wie der englischen vom Jahre 1578. Uebri-
gens dürfte chronologisch diese Schrift wohl hinter der folgenden
»der Prophet Jona ausgelegt<« zu stehen kommen, die, wie
der Herausgeber mit Recht S. 170 annimmt, spätestens im März er-
schienen ist, während Luthers Correspondenz mit Spalatin 19. Sept.
1526 Enders V, 393 über die Jesaiaspredigt, die schwerlich lange
nach dem Erscheinen zu setzen ist, es wahrscheinlich macht, daß
diese Predigt erst im Spätsommer herausgekommen ist. Vortreff-
liches bietet die Einleitung zu Jonas, namentlich sind die Mitteilun-
gen über die lateinischen Uebersetzungen sehr dankenswert. Freilich
wäre eine kleine Aufklärung, wer eigentlich Joh. Chelyus war, man-
chem Benutzer gewiß nicht unerwünscht, auch wird Johannes Tholtz
S. 169 wie eine allgemein bekannte Persönlichkeit eingeführt, was
er doch thatsächlich nicht ist, indem erst neuerdings die Arbeiten
von Cohrs (Mitth. d. Gesellschaft f. deutsche Erziehungs- u. Schul-
geschichte VII, 4) und F. Kropatscheck (Johannes Dölsch aus Feld-
kirch, Greifswald 1898) die Persönlichkeiten des Tholtz und Dölsch etc.
richtig von einander geschieden haben. Eine Monographie über Vin-
centius Obsopoeus besitzen wir ja leider noch nicht, doch wissen wir
über ihn doch etwas mehr als die dürftigen Notizen bei Enders V,
345 vermuten lassen, auf die hier verwiesen wird, aus dem gelehr-
ten und auf gründlichen archivalischen Studien beruhenden Ansbacher
Gymnasialprogramm von Ludwig Schiller, die Ansbacher gelehrten
Schulen unter Markgraf Georg von Brandenburg, 1875, welches eine
Fülle für die Gelehrtengeschichte wichtige Notizen enthält, worauf
ich die Fachgenossen bei dieser Gelegenheit aufmerksam mache.
Auf S. 175 Anm. ist infolge eines Druckfehlers von einem Reichs-
tage zu Speier 1521 die Rede, gemeint ist, wie das Citat aus Janssen,
der freilich in meinem Exemplar von dem Bischof Wilh. v. Honstein
nichts erwähnt, wohl der Reichstag von 1526. Interessant war mir
der Hinweis auf S. 221, daß die Stelle mit Luthers Auslassungen
über den Todtenschlaf in mehreren Exemplaren ausgerissen ist, was
man wohl dahin wird deuten müssen, daß man sie anstößig gefunden
hat, ob etwa, weil man darin ein Zusammenklingen mit der Lehre
einer Wiedertäufergruppe vom Seelenschlaf fand? Der Schrift sind
von philologischer Seite nicht wenige Bemerkungen vorangeschickt,
eine Erklärung aber darüber, was unter »Wilderüben«, was Luther
sehr merkwürdig als die deutsche Uebersetzung von vitis alba wieder-
716 Gott. gel. Anz. 1001. Nr. 9.
giebt, und was in Pommern unter Heylige wurtsel zu verstehen ist
(S. 243), wird vermißt. Was ich darüber in Erfahrung gebracht habe,
ist dies: Im Mittelalter wurde sowohl die zu den Cucurbitaceen ge
hörige Bryonia alba oder Bryonia dioica Jacq. als auch Clematis
vitalba, die bekannte Waldrebe, als vitis alba bezeichnet. Aber die
Bezeichnung >Wilde rüben< paßt nur auf Bryonia (Zaunriibe) mit
ihrer stark entwickelten, rübenförmigen Wurzel, und außerdem findet
sich dafür im Mecklenburgischen »Hillig Row<, wohl gleich »Heilige
Riibe«. Diese Pflanze wird es also gewesen sein, auf die Bugenhagen
Luther aufmerksam gemacht hat und die er an jener Stelle im Auge
hat. — Ein schweres Stück Arbeit scheint die Wiedergabe des Frag-
mentes von Luthers Schrift »Wider den Mainzischen Ratschlag« ge-
wesen zu sein, zu der der Herausgeber, welcher bereits in Ztsch. f.
Kirchengesch. 1897 Bd. XVIII, S. 242 wichtige Vorarbeiten dazu ge-
liefert hatte, eine sehr instructive Einleitung geschrieben hat S. 253 ff.
Ein angeblich noch 1823 vorhandener Druck scheint jetzt nicht mehr
vorhanden zu sein, man sah sich also auf die beiden in Dresden be-
findlichen, sehr flüchtig angefertigten Abschriften angewiesen. Da die
B genannte offenbar aus A abzuleiten ist, mußte A natürlich zu
Grunde gelegt werden, wie das schon Seidemann im ersten Abdruck
(Zeitschrift für hist. Theol. 1847, S. 663) freilich in der falschen
Meinung, daß sie von Luther herrühre, gethan hatte. Die Varianten
von B als einer Abschrift von einer Abschrift, müssen natürlich
für Feststellung dessen, was Luther wirklich geschrieben, da sie im
besten Falle vom Abschreiber nach eigenem Gutdünken vorgenom-
mene Verbesserungen wirklicher oder vermeintlicher Lesefehler bie-
ten, als ziemlich gleichgültig erscheinen, gleichwohl hat Herr Pietsch
ihnen eine solche Wichtigkeit beigelegt, daß um eine größere An-
zahl mitteilen zu können, als der Herausgeber für nötig hielt, wie
die Nachträge uns belehren, Bogen 17 und 18 teilweise wieder um-
brochen werden mußten. Ob die germanische Philologie dadurch
etwas gewinnt, mögen die Kenner entscheiden. Irgend welchen Wert
für die Feststellung des Textes kann ich auch dem Spalatinschen
Auszug (a), an dessen Echtheit zu zweifeln kein Grund vorliegen
wird, nicht beimessen. Daß trotz der dort sich findenden Ratten-
bischöfe S. 277,7 Rottenbischöfe zu lesen ist, wie 276, 23 vom Ab-
schreiber rath für rott gelesen worden ist, wird, meine ich, jedem,
der Luthers Sprache kennt, und nicht nach besonderen Wort-
formen sucht, sofort einleuchten. — Die darauf folgende kleine
Schrift »Antwort auf etliche Fragen, Klostergelübde be-
langend<, wird vom Herausgeber zum ersten Male richtig histo-
risch gewürdigt; auch darin wird man ihm beistimmen müssen,
D. Martin Luthers Werke. 19. Bd. 117
daß nach der Ueberschrift zu urteilen, Luther nicht der Herausgeber
ist. Die beiden folgenden Schriften »Der 112. Psalm Davids
gepredigt« und »>der Prophet Habakuk<«, wären chronologisch
richtiger in umgekehrter Reihenfolge zu geben gewesen, da Habakuk
schon beinah fertig gedruckt war, als die Predigt oder die Predigten
über Ps. 112, die der Druckschrift zu Grunde liegen, noch nicht ge-
halten waren. Wir kennen jetzt die sehr zusammengedrängte Nach-
schrift Rörers, die der Herausgeber über dem Text der Druckschrift
mitteilt, die zu sehr interessanten Vergleichen Veranlassung giebt
und mit den Notizen aus der Poachschen Sammlung eine genaue Da-
tierung ermöglicht. Mit Recht bezweifelt der Herausgeber, daß Luther
selbst die Predigten für den Druck zubereitete, ich würde dabei aber
weniger Wert darauf legen, daß Luther »wohl strenger unterschieden
haben würde zwischen dem, was dem mündlichen Kanzelvortrag und
dem, was gedruckter Rede erlaubt ist«, so zartfühlend war Luther
nicht, wohl aber lassen vielfach Sprache und Satzgefüge, wie die
ganze, etwas saloppe Art der Gedankenverbindung schwerlich an
Luther als Veranstalter des Druckes denken. Deshalb scheint mir
auch die nur auf den Druck sich gründende Vermutung Dr. Wal-
thers, daß Luther während der Predigt selbst, als er die ihm vorher
unbekannte Anwesenheit der fürstlichen Zuhörer wahrnahm, seinen
Gedanken eine andere Wendung gegeben habe, etwas gewagt.
Sprachlich verdient m. E. hervorgehoben zu werden für Luthers Auf-
fassung des Ausdruckes »Federlesen< die Stelle auf S. 326. Der
Nachschreiber notierte sich: da schnytz ich die wort dun et plumas
lego et veritatem infra scammum. Der Druck giebt dafür:
da schnitse ich die wort dunne, machs glimpffig, kan wol feder lesen,
und mit der warheit unter die bank. Hiernach nimmt Luther hier
das Bild von der Vorbereitung zum Schreiben (vgl. auch die Worte
»dünn schnitzen<) her und dürfte, wie mir scheinen will, was freilich
durch das plumas legere nicht genau wiedergegeben ist, hier an
die sorgfältige Auswahl der Schreibfeder zu denken sein. Darum ist
der Ausdruck hier wohl nicht wie Pietsch nach Wander und Grimm
angiebt = schmeicheln, sondern sich möglichst vorsichtig ausdrücken,
wie Luther selbst erklärt, es glimpflich machen, und ich würde es
nicht für unmöglich halten, daß, worüber freilich die Germanisten
urteilen müssen, die hier vorliegende Ableitung, von der ich nicht
weiß, ob sie auch sonst vorkommt — Grimm hat sie nicht —, die ur-
sprüngliche ist. Auch zu der von Pietsch im Anschluß an Dietz,
Wörterbuch vorgebrachten Erläuterung des Ausdrucks bunt in dem
Satze das man auch yhr dasu spottet und lachet mit spitsen und
bundien, hémschen worten S. 400 Anm. 2, wonach bunten etwa das-
718 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 9.
selbe wie geblümt, verblümt« als Gegensatz zu spitzen zu nehmen sei:
mit offenkundig und versteckt höhnischen Worten< möchte ich mir
in aller Bescheidenheit erlauben, ein Fragezeichen zu machen. Was
hindert daran, zur Erklärung von der vulgären Redensart »das ist
mir doch zu bunt«, das ist zu weitgehend, zu stark, auszugehen?
Dann komme ich aber gerade zu dem entgegengesetzten Sinne, das
bunte ist das deutliche, in die Augen fallende, gerade das Gegenteil
vom Verblümten. —
Sehr wenig wußten wir bisher über den kaum beachteten »Rat-
schlag wie in der christlichen Gemeynex etc. S. 436 ff,
hatten doch die früheren Herausgeber, auch Seidemann VI, 72 ff.
gar nicht beachtet, obwohl es Panzer schon notiert, daß er in
zwei Drucken aus dem Jahre 1526 vorhanden war, woraus erst En-
ders (EA.?, 26, 1 ff.), übrigens ohne ihn historisch zu würdigen, einen
Abdruck veranstaltete. Walther hat das Verdienst, zum ersten Mal
die historische Sachlage ins Auge gefaßt zu haben. Er laßt zwei
Möglichkeiten offen, daß der Ratschlag wirklich erst 1526 verfaßt
worden sei, dann aber vor dem Speierer Reichstage, oder aber, was
er für wahrscheinlicher ansieht, schon 1525, und bringt ihn dann in
Verbindung mit den Anfang Oct. 1525 angesichts des auf Martini
nach Augsburg ausgeschriebenen Reichstags zwischen Hessen und
Sachsen gepflogenen Verhandlungen. Das letztere halte ich für das
einzig richtige, denn daß der Ratschlag nicht erst 1526 verfaßt sein
kann, sondern vor Luthers Schrift »Von der Messe« ergiebt schon
441,3ff. Aber man kann die Veranlassung wohl noch genauer be-
stimmen. Walther verweist auf die Verhandlungen, welche »von
Donnerstag nach Michaelis 1525 an« (das ist Datum der Instruction
bei Rommel III, 10, die Verhandlungen selbst waren also später)
zwischen Kursachsen und Hessen stattfanden, und meint, daß Luther
damals für Spalatin seinen Ratschlag aufsetzte. Indessen scheint
mir ein Vergleich mit dem kaiserlichen Ausschreiben des Augsburger
Reichstages, das Mitte August an die Stände ausging (vgl. Frie-
densburg, Zur Vorgeschichte des Gotha- Torgauischen Bündnisses
der Evangelischen, Marburg 1884 S. 27f.), mit großer Wahrschein-
lichkeit zu ergeben, daß eben dieses den Anlaß gab, Luther zu
einem Gutachten aufzufordern. Dafür spricht namentlich der Ab-
schnitt über das Wormser Edict, auf welches Luther besonders ein-
geht, während er andere Fragen (vgl. S. 443, 22) beiseite läßt und sich
nur über die Notwendigkeit der Abschaffung der Messe ausführlich aus-
läßt (vgl. auch die Auslassungen über das Wormser Edict und die Cere-
monien in der Recapitulation der Verhandlungen in Dessau. Friedens-
burg 5. 113). Nun begreift sich leicht, daß dieses Gutachten mit seiner
D. Martin Luthers Werke. 19. Bd. 719
echt lutherschen Betonung gerade des Punktes, an dem Kaiser und
Reich den meisten Anstoß nehmen mußten, um so weniger zu amt-
licher Verwendung sich eignete, als eben um diese Zeit, im Schreiben
an Herzog Georg vom 15. Sept. 1525 Kurfürst Johann und der Land-
graf mit Emphase erklärten, »so haben wir der Lutherischen secten,
schriften odder worten nicht angehangen, auch Luterische Handlung
uns nicht angehet, anderst, denn so weit und ferne es sich mit dem
heiligen evangelio und worte gottis vergleicht etc.<, Friedensburg
S.115. Spalatin mag dann den Versuch gemacht haben, es diplo-
matischer zu gestalten. Man verzichtete darauf, beschloß vielmehr,
bei den Bündnisbestrebungen den Ansbacher Ratschlag über die
strittigen Meinungen in der Glaubenssache zu Grunde zu legen (Frie-
densburg S. 49 u. 60), der schon ein Jahr früher verfaßt, aber ge-
rade damals abgesehen von dem die Bilder betreffenden Punkte von
den Wittenberger Theologen gebilligt worden war (6. Sept. 1525.
De Wette 6, 57. Enders 5, 236, wobei bemerkt sein mag, daß der
Kurfürst nicht das Original, sondern eine Abschrift nach Ansbach
schickte, jetzt Ansb. Religionsacten T. I, S. 350 Kreisarch. in Nürn-
berg). Sind diese Vermutungen über die Entstehung richtig, dann
wird es auch sehr zweifelhaft, ob der Ratschlag 1526 (zu amtlichen
Zwecken) >bei der Vorbereitung auf den Speierer Reichstag nochmals
hervorgeholt und nunmehr auch gedruckt worden ist«e. Von Luther
freilich dürfte die Drucklegung schwerlich vorgenommen sein, und
unzweifelhaft ist mir, daß der Titel der Druckschrift sicher nicht
von Luther herrührt. —
Mit den nächsten Schriften kommen wir wieder in den Abend-
mahlsstreit, über den der kundige Herausgeber, wie schon bemerkt,
sehr gründliche Studien gemacht hat. So ist denn auch sogleich
seine Einleitung zur ersten Vorrede zum Schwäbischen
Syngramma« eine ganz vorzügliche Leistung, bei der namentlich
dankbar anerkannt werden muß, daß er durch reiche Heranziehung
der Gegenschriften die ganze Entstehung des litterarischen Streites
klargestellt hat. Ich freue mich, daß er meinen Aufstellungen über
die Chronologie hinsichtlich der Ausgabe von Luthers Vorrede
(Zeitschr. für Kirchengesch. XI, 472 f.) zustimmt, halte auch seine
Vermutung, daß wegen der Anklänge im Briefe vom 27. März (De
Wette 3, 98. Enders 5, 330) das Schriftstück in der gleichen Zeit ab-
gefaßt sein wird, für sehr ansprechend; dagegen könnte man mit
dem Herausgeber streiten, ob die mir persönlich sehr interessante,
ausführliche Darlegung über die Frage, ob die Schwaben von Luthers
Abendmahlslehre abwichen oder nicht, nicht über den Rahmen einer
historisch-kritischen Einleitung hinausgeht. In den trefflichen Er-
720 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
läuterungen kommt der Herausgeber auch auf den Pseudonym Con-
rad Ryss zu Ofen zu sprechen (S. 459 Anm.), wobei er es als nicht
genügend begründet erklärt, an Martin Cellarius zu denken. Da-
bei liegt aber eine Verwechselung vor, die Enders 3, 329 und 5, 330
verschuldet hat, denn nicht um diesen handelt es sieh, sondern um
den zwinglianischen Heißsporn Michael Keller oder Cellarius von
Augsburg (Näheres über ibn neuerdings Fr. Roth, Zur Lebensge-
schichte des Meisters Michael Keller in meinen Beiträgen zur bayr.
Kirchengesch. V, 149 ff.). Walther möchte lieber an den (späteren)
Wiedertäufer Johannes Landsperger denken, der im Jahre 1527 die-
selbe Lehre wie Ryss vortrug. Das führt aber noch mehr zu der
Annahme, daß der pseudonyme Autor in derselben Stadt gelebt hat,
nämlich Augsburg. Dahin führen auch in erster Linie die Drucke
(vgl. Weller Nr. 3447—3450, vgl. auch Zwingli opp. VII, 450 f.).
Inzwischen hat nun auch, was Walther noch nicht wissen konnte.
Georg Finsli in Zwingliana, Mitteilungen zur Gesch. Zwinglis und der
Reformation Nr. 2, S. 21 gezeigt, daß bereits Ludwig Lavater in seiner
Historia de origine et progressu controversiae sacramentariae etc.
Tiguri 1563 fol. 6°, den Verf. jener gegen Bugenbergen gerichteten
Schrift in Michael Keller sieht, wodurch die Tradition doch eine
große Stärkung erfährt. — Es folgen Schreiben an Johann Her-
wagen, Sermon vom Sakrament, Zweite Vorrede zum schwäbischen
Syngramma, deren Bevorwortungen das gleiche Lob verdienen wie
die früheren, wenn auch die sehr temperamentvolle Beurteilung des
Vorgehens der Schweizer und Oberlander schwerlich allseitige Zu-
stimmung finden wird. Recht hat Walther, um dieses herauszuheben, dal
objectiv in der Schrift des Leo Judae (Leopoldi) S. 464 eine Heraus-
forderung Luthers lag, aber die subjective Absicht war schwerlich
eine andere als zu zeigen, daß er wie Erasmus, wenn sie nicht mit
früheren Auslassungen in Widerspruch geraten wollten, gar nicht
anders vom Abendmahl denken könnten als Zwingli etc., und etwa
anders lautende Aussagen eben in diesem Sinne, weil sie allein
schriftgemäß wären, gedeutet werden müßten. Und Luther faßte es
keineswegs so auf, >als wären sie wirklich noch nicht völlig sich klar
über seine Meinung<, sondern als einen schnöden Versuch, ohne
Rücksichtnahme auf seine klaren Auslassungen seine Rechtgläubig-
keit zu verdächtigen. Quid fiet nobis mortuis, cum talia contingant
viventibus. Quis tam non suspectos habeat omnium Patrum libros<
(S. 471, 29£.).
Ganz besonderes Interesse verdient bei allen Lutherforschern
die Einleitung zum »Sermon von dem Sakrament des Leibes
und Blutes Christi wider die Schwarmgeister< 8. 474f.. Seit ich in
D. Martin Luthers Werke. 19. Bd. 791
Ztschr. f. Kirchengesch. XI, 472 ff. darüber gehandelt habe und be-
dauerte, daß die von Poach verzeichneten Predigtnachschriften, die
offenbar jenem Sermon zu Grunde liegen mußten, verloren gegangen
seien, hat man inzwischen die Rorersche Niederschrift in Jena und
eine andere in Hamburg aufgefunden, die nunmehr das Redactions-
verfahren genau verfolgen lassen. Meiner Annahme, daß der Sermon
vom 17. Oct. 1526 in einem Briefe Capitos zuerst erwähnt wird,
stimmt der Herausgeber zu; bestätigt auch die Beobachtung, daß
Luther den Sermon nie erwähnt, und hält gleichfalls die Annahme,
daß die Schrift, wie sie vorliegt, nicht von Luther verfaßt sein
könne, für richtig, hält es aber doch für möglich, daß Luther von
dem Druck gewußt habe, glaubt sogar von einer andern Stelle, daß
die oben genannte Schrift Leo Judaes, »die auch treue Anhänger
zu einer MiGdeutung des Schweigens Luthers verleiten konnte< die
Drucklegung veranlaßt habe. »Ihnen sollten diese Predigten be-
zeugen, daß er auch seine Gemeinde vor den Schwarmgeistern ernst
zu warnen für Pflicht halte<, und erklärt dann den Umstand, daß
Luther, der schwerlich den Titel >wider die Schwarmgeister« ge-
wählt haben dürfte, sie nicht mit aufzählt, daraus, daß er sie eben
nicht als eine gegen die Schwarmgeister gerichtete ansah. Das
Alles scheint mir sehr künstlich. Ich würde in dem Falle vorziehen
zu sagen, daß wir über Veranlassung und Herausgeber leider bisher
nichts wissen. — Sehr dankenswert und ein neues Zeugnis davon, wie
Walther den ganzen Stoff beherrscht, sind die darauf folgenden No-
tizen über den Eindruck, den die Schrift machte, und die Gegen-
schriften. Zu den Mitteilungen über Johann Landsperger, über des-
sen Persönlichkeit wir auch an dieser Stelle nichts erfahren — über
ihn bisher am besten Veesenmeyer in Stäudlins kirchenhistorischem
Archiv 1823 Hft. 14, S.45 — möchte ich noch hinzufügen, daß die
Vorrede zur Supplication Landspergers vom 22. April 1527 datiert
ist. Ferner daß, wie ich immer vermutete, Landsperger wirklich
aus Augspurg stammt und zwar aus dem dortigen Carmeliterkloster
(Jahresb. d. hist. Ver. f. Schwaben I, 231). Einer meiner Schüler, Herr
Katechet Martin in München, wird demnächst eine Monographie
über ihn veröffentlichen und wird den Beweis dafür erbringen, daß
der Wiedertäufer Landsperger und der gleichnamige Landshuter Hof-
kaplan, die man bisher immer zusammenwarf, zwei verschiedene
Personen sind. — Wie den Lutherforschern bekannt ist, hat dieser .
Sermon später noch eine Geschichte gehabt, indem er zu denjenigen
Schriften aus dem Abendmahlsstreit gehört, die in der Wittenberger
Ausgabe Bd. II mit teilweise erheblichen Abänderungen abgedruckt
wurden, was zu einer litterarischen Fehde mit den Gnesiolutheranern
Gots. gel, Ans. 1901. Nr. 9. 48
722 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
führte, die den Herausgebern Fälschung vorwarfen. Walther hat
sich darauf beschränkt S. 481 zu bemerken: »Hier sind manche
Aenderungen im calvinistischen Sinne an dem ursprünglichen Texte
vorgenommen, vgl. Zeitschr. f. Protestantismus u. Kirche Bd. 19.
S. 46<, wo sich aber lediglich die Notiz findet, daß viele Stellen ge-
ändert seien. Inzwischen hat sich, was W. noch nicht vorlag, Joh.
Haussleiter zu dieser Frage geäußert in der Neuen kirchl. Zeitschr. IX
(1898) S. 831 ff. u. X (1899) S. 455 ff. Indem ich mir vorbehalte,
bei Gelegenheit der Besprechung der Schrift »daß diese Worte, das
ist mein Leib etc.<, die hauptsächlich dabei in Betracht kommt, auf
diese Frage zurückzukommen, kann ich doch nicht umhin zu be-
merken, daß ich bei dem kirchenhistorischen Interesse an der Text-
gestaltung der Wittenberger Ausgabe einen Hinweis auf die einzel-
nen Textveränderungen erwartet habe und es bedaure, daß man, um
sich darüber zu orientieren, wieder zur Erl. A. Bd. 29, S. 328 ff.
greifen muß. — Es folgen die »Zweite Vorrede zum Schwäbischen
Syngrammac, »Das Taufbüchlein aufs Neue zugerichtet«, und »Vier
tröstliche Psalmen an die Königin zu Ungarn< S. 542ff. Bei der
Entstehungsgeschichte der Letzteren wird die Frage der Stellung der
Königin Maria zum Evangelium nur gestreift. Ich habe darüber,
was dem Herausgeber entgangen ist, gehandelt in meiner Abhand-
lung: Markgraf Georg und das Glaubenslied der Königin Maria von
Ungarn in meinen Beiträgen zur bayrischen Kirchengeschichte
U. Bd. (1896) S. 39 ff., vgl. S. 142. Ergänzend möchte ich noch
hinzufügen, daß Planitz bereits am 15. Oktober dem Kurfürsten von
Sachsen berichtet: es seint zeitung anher komen, das die konnigin zu
Ungernn sehr gut evangelisch worden sey, und mit dem konig der-
halben szovill gehandelt, das man de Lutherischen weiter nicht vor-
folget und nunmalls das ewangelium frei in Ungernn gepredigt werde.
Welchs mir nicht ungeleublich, dan ich weiss , das ir der hoemeister
von Preussen von hinnen vil Lutherisch Bucher auf ir begere suge-
schigkt. Hans v. d. Planitz Berichte etc. ed. H. Virck Leipz. 1899
S. 556). Hiernach könnte die Anregung zu Luthers Schrift von
Preußen ausgegangen sein. Ferner möchte ich in Erinnerung bringen,
daß Paul III. noch 1539 beim Kaiser über diese Schwester klagte,
quae clandestine faclioni Lutheranae faueat eamque efferat (Rainaldus
ad annum 1539 no. 14). Zu der trefllichen Einleitung zu der Schrift:
‚Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein kénnen< S. 616 ff.) be-
merke ich nur, daß der Ritter Assa von Kram, auf dessen Bitte
Luther diese Schrift schrieb und der ihn auch über manche Sitten
und Bräuche der Kriegsleute belehrt haben wird, von Luther noch
einmal im Jahre 1534 in der Auslegung des 101. Psalms (E. A. 39, 322,
Mayr, Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum italienischen Landesth. 728
vgl. auch über ihn Uhlhorn, Urban Rhegius S. 166) als Quelle für
eine Aeußerung angeführt wird, übrigens schon 1528 (De Wette II,
402) in Chur in der Schweiz starb.
Mit dieser Schrift schließt der 19. Bd., den ich nicht aus der
Hand legen kann, ohne dem Bedauern Ausdruck zu geben, daß der
so überaus umsichtige und kundige Herausgeber, der wie wenige zur
Fortführung des großen Werkes geeignet wäre, leider, wie man hört,
aus den schon mehr erörterten Gründen aus der Zahl der Mit-
arbeiter ausgeschieden ist.
Erlangen, 16. Febr. 1901. D. Theodor Kolde.
Mayr, M., Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum italie-
nischen Landestheile. Eine geschichtlich - staatsrechtliche Studie. Inns-
bruck 1901. 82 SS.
Die vorliegende Schrift vereinigt zu einem kleinen Hefte eine
Reihe von Artikeln, die der Verfasser in den »Neuen Tiroler Stimmen«
veröffentlicht hatte. Da sie auf dem Titel als eine geschichtlich-
staatsrechtliche Studie bezeichnet wird, muß man annehmen,
daß der Verf. gerade darauf ein besonderes Gewicht legt, und man
muß dies um so mehr, als ihr Inhalt mehr vermuthen ließe, daß sie
als politische Schrift gedacht sei. Wenigstens spitzt sie sich in ihrem
Schlußkapitel zu einer Apologie derjenigen politischen Richtung zu,
welche in dem bekannten offenen Brief des Ministerpräsidenten von Kör-
ber an den Abgeordneten Baron Malfatti vom 2. Oct. 1900 ihren
schärfsten Ausdruck gefunden hat’).
Diese Beziehung zu den modernen politischen Fragen tritt aber
auch schon in den einleitenden Betrachtungen zu Tage, und wer
näher zusieht, findet sie durch das ganze Büchlein zerstreut bald
versteckter, bald deutlicher hervortreten.
Würde die Schrift auch äußerlich als eine politische Schrift sich
geben, dann könnte man darüber im Zweifel sein, ob der Verf.
seine, vielleicht mehr journalistisch gedachte Publication streng wis-
senschaftlicher Kritik unterstellt sehen wolle. Aber Titel und
Schluß”) der Schrift zwingen wohl zu der Annahme‘, daß dem Verf.
die Absicht vorschwebte, eine geschichtliche Grundlage für die Lö-
sung der politischen Fragen der Gegenwart zu geben. Wer aber
1) Vgl. 8. 77, 79.
2) Vgl. 8. 81.
48 *
724 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
derlei will, wer die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Forschungen
nicht nur einfach hinstellt, sondern die Autorität der Wissenschaft
in den actuellen politischen Fragen der Gegenwart für oder wider
in die Wagschale legt, der muß auch allen Anforderungen, welche die
Wissenschaft an ihre Jünger stellt, gerecht werden und muß wissen-
schaftliche Kritik sich gefallen lassen, mag die Publication wo immer
und in was immer für einer Form erscheinen.
Es ist selbstverständlich, daß ich im folgenden keine Kritik
üben will an der Politik dieser oder jener Richtung sondern ledig-
lich an der Arbeit Michael Mayr’s, wie andererseits nicht der Werth
oder Unwerth der vorliegenden Publication, sondern allgemeinere
methodische Probleme mich veranlassen, Stellung zu nehmen. Wenn
in jüngster Zeit in juristischen und historischen Kreisen die Tendenz
zu Tage tritt, den Ereignissen der letzten Vergangenheit mehr Auf-
merksamkeit zuzuwenden, um den Zusammenhang zwischen einst und
jetzt zu ergründen und aus der Geschichte die Lehren zu entnehmen,
die sie vielleicht in so manchem Falle auch für die Politik der
Gegenwart abwerfen kann, so muß wohl mit allem Nachdruck her-
vorgehoben werden, daß die größte Sorgfalt und Genauigkeit, das
tiefste Eindringen in den Gang und Zusammenhang der Ereignisse und
möglichst aller Momente die für die Gestaltung der Einzelheiten
maßgebend sind, sowie eine sorgsame Beurtheilung jedes einschlägigen
Details aus dem Geiste und in dem Lichte seiner Zeit hiefür die
unerläßliche Voraussetzung sind. Und wo diese Basis gewonnen ist,
wird erst recht noch die weitestgehende Vorsicht am Platze sein.
In nicht allzu vielen Fällen giebt der Rückblick auf die Geschichte
die bestimmte und concrete Antwort auf die Fragen, welche die Zu-
kunft stellt; in weitaus den meisten Fällen sind es nur allgemeine
Lehren, die wir aus der Geschichte ziehen können, und die dem
Politiker, der die Constellation der Gegenwart erfaßt, Winke geben,
wie er die Zukunft gestalten soll, und was er für die Zukunft mit
Aussicht auf Erfolg anstreben kann.
Die nothwendige Gründlichkeit in den Fundamenten und die er-
forderliche Sorgfalt in den Schlußfolgerungen fehlt m. E. in der
Studie Mayr’s; gehen wir im Folgenden auf ihre Besprechung ein,
so wird sie uns oft in vielen Einzelheiten wie im Ganzen ein Beispiel
sein, wie man es nicht machen darf.
Zur Characteristik der Studie sei noch bemerkt, daß sie neben
vereinzelten neuen Angaben, die sie bietet, im allgemeinen nicht auf
selbstständiger Forschung beruht, sondern — mehr als man aus der
Schrift unmittelbar zu ersehen vermag — auf der Literatur, ins-
besondere der Geschichte Tirols von Egger und der viel eingehen-
Mayr, Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum italienischen Landesth. 728
deren und gründlicheren Arbeit von H. J. Bidermann, die Italiäner
im tirolischen Provinzialverbande, Innsbruck 1874. Bidermann ist
in ganz besonders weitem Umfange verwertet und auch seine legis-
lativ-politischen Vorschläge, eine Kreisverfassung zu schaffen, scheinen
Mayr sehr sympathisch zu sein. Die Arbeit von Durig (Innsbruck
1864) scheint der Verfasser befremdlicher Weise nicht benützt zu haben.
Auf die zahlreichen Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten, die
dem Autor bei seiner eklektischen Arbeit unterlaufen sind, weiter
einzugehen, fehlt mir nach den oben angegebenen Gesichtspunkten
der Anlaß.
Der 1. Abschnitt »Ueberblick« wendet sich gegen den Namen
Trentino und zeigt in allgemeiner Uebersicht ganz richtig was
ja längst bekannt ist, daß ein Herrschaftsgebiet Trient, ein politisch
mehr oder weniger selbstständiges Gebiet, welches sich genau mit
dem decken würde, was der heutige Sprachgebrauch mit dem Namen
Trentino bezeichnet, nie existiert hat. Nur ist von Mayr vielleicht
doch zu wenig auf das Gebiet der alten Grafschaft Trient Rück-
sicht genommen, deren Grenzen dem heutigen Wälschtirol mehr
entsprechen. Auch Napoleon >war es nicht in den Sinn gekommen,
in Südtirol nach nationalen Gesichtspunkten zu organisieren, wo es
seit vielen Jahrhunderten und auch damals galt in erster Linie die
geographisch-ethnographische Lage und strategische Verhältnisse zu
berücksichtigen«.
Wie es mit dieser geographischen und insbesondere der strate-
gischen Motivierung der Tiroler Grenzen steht, vermag ich nicht zu
beurtheilen. Dem Laien in militärischen Angelegenheiten drängt sich
freilich an so manchen Punkten der Tirolischen Grenzen die Ver-
muthung auf, daß strategisch eine andere Grenzführung hüben und
drüben bequemer sein müßte, und oft bekommt man sogar einen ge-
waltigen Eindruck von der Macht der Geschichte, die Grenzen auf-
stellt, dauernd respectiert und mit großer Gewalt aufrecht erhält
auch dort, wo sie nicht durch die Gunst der Terrainverhältnisse ge-
halten werden. Da dieses militärisch-strategische Moment, auf
welches Mayr S. 66 wieder zurückkommt, in seiner ganzen Argu-
mentation doch eine gewisse Rolle spielt, wäre es nicht unerwünscht
gewesen neben der Behauptung auch etwas von einer Begründung
zu finden. Der oben genannte Hinweis auf Napoleon’s Politik wäre
wohl dahin zu ergänzen, daß er allerdings die Grenzen seines De-
partemento dell’ alto Adige ins deutsche Sprachgebiet hineinrückte,
aber dort eben zu italienisieren beabsichtigte.
Im übrigen seien Mayr die Bedenken, die er gegen den Aus-
druck Trentino hegt, zugegeben ; aber folgt daraus, was M. an die
728 Gut. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
Spitze stellt (8. 4), daß jeder, der die geographischen und ge-
schichtlichen Verhältnisse kennt, den Ausdruck Trentino im seiner
modernen Bedeutung als >ganzlich verfehlt< ansehen muß? Muß
jeder geographische Name in der Vergangenheit begründet sein?
Sind nie solche Namen als Ausdruck politischer Hoffnungen und
Aspirationen in die Sprache eingeführt worden? Ist er nicht be-
zeichnend für jenes Gebiet, dessen Bewohner wenigstens im ihrer
Mehrheit nicht nach der Landeshauptstadt Innsbruck, sondern eben
nach dem wälschen Trento gravitieren? Schon daß der Name einmal
eingeführt, trotz aller historischer, geographischer und staatsrecht-
licher Anfechtung sich fest und dauernd bewahrt, hätte den Verf. zu
größerer Vorsicht mahnen sollen.
Von Einzelheiten dieses Abschnittes berührt eigenthümlich der
aus älteren Werken kritiklos übernommene Satz (S. 8), welcher
die Stellung der Bischöfe von Trient und Brixen zu Ende des
14. Jahrhunderts mit der eines »>Statthalters des Grafen von
Tirol< vergleicht. Derlei sollte doch in einer staatsrechtlichen Studie
heute zu tage nicht mehr geboten werden!
Der II. Abschnitt behandelt »die geschichtlichen Verhältnisse
bis zur Begründung des Fürstenthums Trient im Jahre 1027«, die
wechselnden Geschicke seit der Römerzeit herauf, wonach Süden und
Norden des heutigen Gebietes von Tirol bald der gleichen Herrschaft
unterstand, bald wieder unter verschiedenen Herren sich befand.
Die bekannte Verleihung der Grafschaftsrechte an die »Landes-
bischöfe« 1) von Trient und Brixen, die Konrad U. 1027 verfügte,
bildet den Uebergang zu dem III. Abschnitte: Die Entstehung der
Grafschaft Tirol und die Unterordung Trients unter dieselbe bis zum
Jahre 1363 — im wesentlichen ein Resumé der allgemein bekannten
Entstehung der Landeshoheit in Tirol bis zur Erwerbung der Hoheits-
rechte durch Rudolf IV. für das Haus Habsburg, wobei die Trienter
Verhältnisse naturgemäß in den Vordergrund gestellt sind. Der
folgende IV. Abschnitt über >»die staatsrechtlichen Beziehungen
zwischen Tirol und Trient von 1363—1803« schildert dann auf Grund
der Darlegungen von Egger und Bidermann und unter Verwertung
der jüngsten, von M. im Gegensatz zu den beiden andern hier auch
citierten Schrift von Hirn über den Kanzler Bienner, die weitere
1) Der Ausdruck »Landesbischöfe« den M. hier (S. 14) gebraucht, mag viel-
leicht in späterer Zeit seine Berechtigung haben, wenn auch gerade in Tirol die
Zugehörigkeit zum Reiche immer wieder betont wurde; für das elfte Jahrhundert
ist er aber gänzlich verfehlt. Auch zeugt es von einer befremdlichen Unkennt-
nis der italienischen Verhältnisse, wenn auf der Seite vorher kühn behauptet wird,
das Königreich Italien beschränkte sein Gebiet stets nur auf Oberitalien.
Mayr, Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum italienischen Landesth. 727
Entwickelung bis zum Jahre 1803. Die vorliegende Uebersicht zeigt
uns neuerlich, wie durch das Zusammenwirken mannigfacher Faktoren
die Österreichische Herrschaft in Trient begründet und gefestigt
worden ist, bis schließlich die völlige Vereinigung Trients mit Tirol
erfolgte. Auch daß dies nicht ohne mehr oder weniger heftigen
Widerstand der betheiligten Kreise vor sich gieng, daß vielfach
separatistische Gelüste der Bischöfe wie der Trienter Bevölkerungs-
kreise auftauchen, ist dabei hinlänglich markiert. Demgegenüber
klingt der Schlußsatz des IV. Abschnitts bei M. Mayr ganz ver-
söhnend und friedlich aus: Ein mehrhundertjähriger Entwickelungs-
proceß habe 1803 sein naturgemäßes Ende gefunden. Die Bewohner
jener Bezirke waren zufrieden mit der Lösung der Dinge und die
Stadt Trient erklärte in einer officiellen Dankadresse: »es habe ihr
nach so vielen Kriegserlebnissen kein besseres Schicksal zu Theil
werden können, als mit der österreichischen Monarchie vereinigt zu
werden«. Eine aufrichtige Geschichtsschreibung dürfte freilich dem-
gegenüber nicht verschweigen, daß damit mit nichten die Stimmung
aller Kreise gekennzeichnet ist. Die Volkspartei, der Adel und das
Domcapitel waren anderer Meinung. M. erwähnt nur jene Momente,
die in dem Sinne sprechen, der ihm eben willkommen ist; und wenn
er wirklich den wahren Sachverhalt nicht kannte, so ließ er jeden-
falls die Vorsicht bei Seite, die wohl jeder Laie gebrauchen würde,
der aus einer officiellen Kundgebung für so kritische Zeiten einen
Rückschluß auf die Stimmung weiterer Kreise ziehen wollte.
Der V. Abschnitt handelt von den übrigen Theilen Welschtirols
und den mittelbaren Gebieten Trients. Es ist im wesentlichen ein
Auszug aus Bidermann, dessen Mayr hier zu Eingang des Capitels
durch einen allgemeinen Verweis namentlich gedenkt; hätte er es
bei jeder einzelnen Stelle thun wollen, so wäre der Druck mit An-
merkungen überlastet worden. Die ganzen Detailzusammenstellungen
z.B. auf S.47 u. 48 sind ein wörtlicher, zum Theil gekürzter Auszug
aus Bidermann; auch das übrige ist großentheils ihm entnommen. Für
Fleims ist auf einiges aus den Arbeiten von Sartori verwiesen.
Der VI. Abschnitt bespricht unter der Ueberschrift: > Verfassung
und ständische Vertretung< diese Verhältnisse bis zum Beginn des
19. Jahrhunderts. Er spricht zunächst von den Tiroler Landes-
ordnungen und Statuten und zeigt, wie die früheren zahlreichen
localen Rechte im Laufe der Zeit einem einheitlichen Rechte ge-
wichen sind. Sodann wird von dem Landtage gehandelt. Wie
Bidermann längst schon viel deutlicher gezeigt hat, wird festgestellt,
daß auch aus den wälschen Gebieten der Landtag jederzeit beschickt
worden ist, und daß es eine eigene ständische Vertretung für Süd-
728 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
tirol niemals gegeben hat, daß sie auch erst in jüngster Zeit, etws
seit einem halben Jahrhunderte verlangt werde. Sieht man genauer
zu, so findet man freilich, daß die Trennungsgelüste schon ins Jahr 1790
zurückreichen, wo die Confinanten eine gerechtere Vertretung auf
dem Landtage oder die Abtrennung von Tirol verlangten, und die
Tiroler Stände mehr für das letztere als für das erstere sich erwärm-
ten (Bidermann S. 180f.). Damit käme dann freilich die von Mayr
(S. 72) m. E. nicht ganz tendenzlos vorgebrachte Behauptung, die
Losreißungsbestrebung, die >zur wälschen Frage sich entwickelte«,
sei sein Kind der Revolution von 1848< in ein anderes Licht. —
Dann wird auf die Einheitlichkeit der militärischen Einrichtungen und
der auf der Zuzugsordnung fußenden Besteuerungsordnung hingewiesen
und andererseits hervorgehoben, daß es Zeiten gab, in welchen »der Adel
und die Abgeordneten der sogenannten Weinviertel des wohlhaben-
den deutschen Südtirols mehr und mehr die Oberherrschaft erlangt«,
aber »nicht selten den Riicksichten der deutschen Etschländer
das Wohl und die Ehre des ganzen Landes nachgesetzt< wurde
(S. 64). In manchen wälschen Gebieten nahm man diese Zurück-
setzung im Landtage ruhig hin und erachtete sich dafür auch aller
Steuerverpflichtung. überhoben, weil vorwiegend diesen Gebieten die
ständige Grenzhut zufalle. »Die deutsch-tirolischen Weinviertel
scheinen diesen Zustand stillschweigend gebilligt zu haben, weil er
ihr Uebergewicht im Landtage sicher stellte< (S. 65 und 66). Ganz
kurz wird am Schlusse dieses Abschnittes noch hervorgehoben, daß
seit dem Bestande der Grafschaft Tirol eine Zweitheilung der ad-
ministrativen und richterlichen Verwaltung nach mancher Richtung
geboten erschien. »Diese Zweitheilung in der administrativen und
richterlichen Verwaltung des einheitlichen Landes hatten die Inter-
essengegensätze zwischen Süd und Nord empfohlen< (S. 67). Und
ebenso begegnen wir einer Theilung der landständischen Ausschüsse in
die »beiden ständischen Activitäten zu Innsbruck und zu Bozen< (S. 59).
Das Schlußcapitel handelt von Wälschtirol und der Landesver-
tretung im 19. Jahrhundert. Da berührt es zunächst eigenthümlich,
wenn eine Studie, die sich als geschichtlich-staatsrechtlich bezeichnet,
für die Zeit von 1815—1866 immer wieder von einem »Deutschen
Reiche« spricht, das zufälliger Weise gerade damals weder ge-
schichtlich noch staatsrechtlich existiert hat. Dann folgen die äußern
Etappen der südtiroler Frage in kurzen Umrissen: 1848 das Ver-
langen der Vereinigung des Trentino mit dem damals österreichischen
lombardisch-venezianischen Königreiche, die Ereignisse der Jahre
1859—1866, die mehrfach auftauchenden Bestrebungen der Vereini-
gung Trients mit dem Königreiche Italien u, s. w. die politischen
Mayr, Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum italienischen Landesth. 729
Ereignisse bis auf den heutigen Tag. Dabei ist die politische An-
sicht des Verfassers, die wälsche Frage sei auch heute noch... ,
»weniger eine interne tirolische Angelegenheit als vielmehr eine
Frage der äußern Politik, mag sie dem Tagespolitiker als solche
heute auch noch so verschleiert erscheinen< (S. 72). Das »Travailler
pour le roi d’Italie< bleibt auch fernerhin unausgesprochener Wunsch
und Losung gewisser politischer Kreise« (S. 73).
Mehr als dieses politische Bekenntnis, das sich natürlich meiner
Kritik völlig entzieht, interessieren uns die historischen Thesen, die
M. Mayr am Schlusse seiner Abhandlung ausspricht.
So (1.) S. 66. Anm. 1. »Der Verfolg der Geschichte lehrt, daß
die südlichen Bezirke zu allen Zeiten der Steuerkraft ermangelten . .
Nach dem Gange der geschichtlichen Entwickelung zu urtheilen, er-
scheint eine ökonomische Selbstständigkeit und Unabhängigkeit des
italienischen Südtirols für noch lange Zeit unmöglich, wenn die
Bedürfnisse der materiellen und geistigen Cultur in einem annähernd
gleichen Maße wie im 19. Jahrhundert befriedigt werden sollen«.
Oder (2.) die Erklärung S. 79 mit dem Briefe des Minister-
präsidenten vom 2. 10. 1900 >und insbesondere mit der im Jahr 1896
erfolgten Auflösung der Statthaltereiabtheilung in Trient hat die Re-
gierung eineim Widerspruche mit dergeschichtlichen
Entwickelung stehende, gegen die bisher festgehaltenen
Grundlagen des Staates verstoßende Schwäche in politisch - admini-
strativer Beziehung gut gemacht«.
Und endlich die Schlußausführungen S. 80ff. mit den Thesen:
(3) >In der langen geschichtlichen Entwickelung der politischen Be-
ziehungen zwischen Deutsch- und Wälschtirol stellt sich der letzte,
nunmehr halbhundertjährige Kampf, welcher bloß durch einen
traurigen Misbrauch des edlen nationalen Bewußtseins herauf-
beschworen wurde, als eine kurze Episode dar, die an Bedeutung in
keiner Weise< früheren Kämpfen »an die Seite gestellt werden kann«.
(4.) »Die geschichtliche Entwickelung der staatsrechtlichen Ver-
hältnisse Tirols kann geradezu als ein höchst einfaches Musterbeispiel
dafür geltene, daß die Geschichte die große Lehrmeisterin in politi-
schen Dingen sei.
In welchem Zusammenhang die Einzelausführungen mit diesen
Thesen über die geschichtliche Entwickelung im ganzen steht, ist
bei der Knappheit der Darstellung begreiflicher Weise nicht im
einzelnen angegeben. Man muß aber annehmen, daß die histori-
schen Darlegungen, welche die vorliegende geschichtlich-staatsrecht-
liche Studie bietet, auch die geschichtliche Begründung dieser allge-
meinen historischen Urtheile enthalten sollen, und so ist die Frage
780 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
gewiß gerechtfertigt und nahegelegt, in wieweit die geschichtliche
Darstellung jene Begriindung auch wirklich bietet.
(1) Um das einfachste zunächst zu erledigen, beginne ich mit
der ersten der obigen Thesen. Daß Südtirol seine Trennung von den
übrigen Landestheilen heutzutage ökonomisch nicht vertragen könnte,
wird vielfach von berufenster und wohlmeinendster Seite aufs be-
stimmteste und vielleicht mit gutem Grunde behauptet. Man kann
auch glauben, daß M. Mayr irgendwoher weiß, daß es auch früher
so war, und daß es »nach dem Gange der geschichtlichen Entwicklung
zu urtheilen< für die nächste Zukunft oder für lange Zeit so bleiben
werde. Aber in dem Büchlein finden wir nichts als die These, sie
steht und fällt mit dem Vertrauen, das man der Autorität ihres Ver-
fassers entgegenbringt, wir finden nicht eine Zeile der Begründung
in der ganzen Schrift; denn das einzige, was etwa als Versuch einer
Begründung gedeutet werden könnte, die S. 65 erwähnte Thatsache,
»daß die Confinanten nicht zahlten und das Hochstift Trient im
Zahlen äußerst lässig war< besagt nichts. Kann doch das Nichtzahlen
nicht bloß im Nichtkönnen, sondern ebenso gut auch im Nichtwollen
seinen Grund haben. Der Hinweis darauf vermag also höchstens
den Schein einer historischen Begründung zu geben.
(2.) Auch die zweite Behauptung findet in den historischen Aus-
führungen ihre Begründung nicht. Im Widerspruche mit der ge
schichtlichen Entwickelung und den bisher festgehaltenen Grund-
lagen des Staates, soll die Errichtung der Statthaltereiabtheilung in
Trient und der Kreis von politischen Aspirationen gestanden haben,
welche im letzten Jahr seitens der Regierung abgelehnt worden sind.
Freilich einen Schein einer geschichtlichen Begründung enthält die
Mayr’sche Studie auch hier. Er gelangt dazu auf dem Wege, dab
er jede autonomistische Regung der Gegenwart mit der Losreißung
des Trentino vom Reiche schlechthin identificiert, jede Unterstützung
der Autonomie als eine bewußte oder unbewußte Förderung einer
hoch- und landesverrätherischen Bewegung betrachtet. Von diesem
Standpunkte aus, den ja manche theilen, muß man die Bewegung
zunächst politisch verwerfen, man kann — rein äußerlich genommen
— vielleicht behaupten, sie stehe im Widerspruche zu der geschicht-
lichen Entwickelüng, richtiger gesagt zu dem geschichtlich Gewor-
denen und heute Bestehenden. Sieht man näher zu, dam
muß man sich sagen, daß für die Beurtheilung des Problems von
diesem Standpunkte aus der Gang der vorhergehenden geschicht-
lichen Entwickelung ganz gleichgiltig ist. Wenn man in den Auto
nomiebestrebungen Landesverrath sieht oder wittert, so ist ihre
energische Ablehnung naturnothwendige Folge der Grundauffassungen
Mayr, Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum italienischen Landesth. 781
über die Selbsterhaltung des modernen Staates. Ganz gleichgiltig,
wie die territoriale Ausgestaltung sich gebildet hat, wenn sie nur
einmal besteht, muß sie mit allen Kräften geschützt und erhalten
werden — sie müßte mit dem Aufgebot aller Macht erhalten werden
selbst dann, wenn z. B. unter andern Umständen, etwa nach einem
unmotivirt begonnenen und kühn gelungenen Eroberungszuge die
innere geschichtliche Entwickelung für eine andere Gestaltung spräche.
Geschichtliche Begründung braucht’s da sehr wenig oder gar keine,
darum hat auch Mayr sich so bald zufrieden geben können.
Aber selbst wenn er Recht hat mit seinem politischen Argwohn,
den viele theilen, während andere ihn als unbegründet ablehnen, ist
zu beklagen, daß er seine politische Ansicht für so unbedingt sicher
begründet und über jeden Zweifel erhaben betrachtete. Hätte er
es nur als möglich angenommen, daß die modernen Bestrebungen
nicht mehr wollen, als im Rahmen des bestehenden Staats-
rechts eine neue, den Betheiligten mehr zusagende, wie viele be-
haupten, auch zweckmäßigere Organisation ins Leben zu rufen, so hätte
er jedenfalls tiefere Forschungen zur Begründung seiner Thesen an-
stellen müssen. Den geschichtlichen Beweis dafür, daß die s. Z. ge-
währte Errichtung einer Statthaltereiabtheilung in Trient und so manche
der vom Landtagscomité in Aussicht genommenen Zugeständnisse im
Widerspruch mit der geschichtlichen Entwickelung stehen, hätte M.
doch erst dann erbracht, wenn er das Problem der internen Organisa-
tion im Rahmen der bestehenden staatlichen Rechtsordnung einer sorg-
fältigen Untersuchung unterzogen hätte und dann zu einem negativen
- Ergebnisse gelangt wäre. Statt all dem führt uns Mayr’s Zu-
sammenstellung nichts anderes vor als die Thatsache, daß das ganze
heutige Tirol staatsrechtlich zu einer Einheit sich zusammenschloß,
und daß eine innere Gliederung, gerade so wie sie jetzt verlangt
wird, in früheren Zeiten nicht bestand. »Zielbewufte Bemühungen
von Jahrhunderten<, so schreibt M. als Ergebnis seiner geschicht-
lichen Ausführungen S. 66, »hatten die durch die Natur selbst vor-
gezeichnete Abrundung Tirols und eine den natürlichen Verhältnissen
entsprechende militärisch haltbare Grenze geschaffen. In logischer
Folgerichtigkeit war daraus auch eine staatlich durchaus einheitliche
Provinz entstanden<. Hier erreicht seine geschichtliche Darstellung
der Unificierung Tirols wohl den Höhepunkt und an dieser Stelle
muß Mayr zugeben, daß strotzdem«, wie er sich in eigenthüm-
licher Weise ausdrückt, »die natürliche Bodengestaltung und die da-
von bedingten culturellen Verhältnisse eine Zweitheilung der ad-
ministrativen und richterlichen Verwaltung nach mancher Richtung«
gebot. Als Grenze giebt er zunächst den Brenner an, als die natür-
182 Gött. gel. Anz 1901. Nr. 9..
liche Wasserscheide und deshalb meint er wohl auch, könne em
selbständiges Trentino »wie die Geschichte klar beweist«, nicht vor
Bozen sondern erst am Brenner Halt machen (S. 81); für den Wir-
kungskreis des Landeshauptmannes macht Mayr fürs 15. Jh. eine süd-
licher gelegene Grenzlinie wahrscheinlich, für das adelige Hofrecht von
Bozen sei sie gewiß (S. 67). Die Grenzlinien für die beiden ständischen
Activitäten, deren Existenz er wohl angibt, hat er nicht gezeichnet.
In dem großen Complex von Fragen, die hier und in dem ständischen
Probleme sich beisammen finden, wäre m. E. der Punkt gelegen, in der
die historische Forschung hätte einsetzen müssen, um die geschicht-
liche Grundlage des heutigen Autonomieprojectes zu bieten. Ein-
gehend hätten die Motive und Gründe für die jeweilige Stellung-
nahme der Stände, die culturellen Verhältnisse und Bedürfnisse unter-
‚sucht werden müssen, welche eine Gliederung der Verwaltung in
diesem oder jenem Sinne oder wieder Aenderungen des Bestehenden
verursachten. Und vielleicht hätte sich dann zeigen lassen, welche
Veränderungen in den culturellen und wirthschaftlichen Bedürfnissen
das 19. Jahrhundert ins Land gebracht, das mit der starken Be-
tonung der Nationalitäten und dem Verlangen nach nationaler Ab-
grenzung hier Segen und Fortschritt spendend, dort Kampf und Un-
heil bringend ganz Europa auf andere Grundlagen gestellt hat.
Aber dafür wären freilich mühevolle, auf den Quellen fußende Stu-
dien erforderlich gewesen, die dann der Geschichtsforschung zweifel-
los Gewinn gebracht hätten. Vielleicht wäre es auch gelungen, zu
politisch beachtenswerthen Ergebnissen vorzuschreiten, wenn diese
historische Untersuchung es vermocht hätte die Fäden aufzuweisen,
welche die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpfen, und das
Gebiet abzugrenzen, auf welchem eine historische Continuität sich
wahren läßt.
Zu welchem Ergebnisse sie im Einzelnen gelangt wären, läßt
sich natürlich nicht a priori bestimmen; aber daß sie bis zu Ende
durchgeführt sein müßten, ehe der Geschichtsforscher sagen darf,
diese oder jene neuere Detailmaßregel stehe im Einklang oder im
Widerspruch mit der geschichtlichen Entwickelung, ist für den ge
wissenhaften Historiker außer Zweifel. Bei Mayr findet sich nicht
der leiseste Versuch einer derartigen Forschung, nur die These
Man darf wohl sagen, daß M. die ganze geschichtliche Begründung
schuldig geblieben ist‘).
1) Auch der S. 79 hingestellte Satz, wonach mit der Errichtung einer Stat:
haltereiabtheilung in Trient »die Regierung selbst wenigstens indirect den Be
stand des gegen die Staats- und Landesinteressen verstoßenden nationalen Trer
tino anerkannte ... hätte, findet in der Schrift Mayrs keine Begründung.
Mayr, Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum itatienischen Landesth. 738
(3.) Das gleiche gilt auch von der dritten der oben herausgegriffe-
nen 'Ihesen; daß der gegenwärtige halbhundertjährige Kampf um die
Autonomie in der langen geschichtlichen Entwickelung eine kurze
Episode sei, die an Bedeutung älteren Kämpfen nicht an die Seite
gestellt werden kann. Hier wissen wir vor allem nicht, und das
kann diesmal auch Mayr nicht wissen, wie lange der Kampf noch
währt, welche Formen und welchen Umfang er noch annimmt und
zu welchen Ergebnissen er hinführt. Was bei M. diese These be-
gründet, ist einerseits die ja unbestreitbare Thatsache, daß es in
Tirol Kämpfe gegeben, die länger als ein halbes Jahrhundert währ-
ten, und andererseits daß er, Mayr, glaubt, der Kampf um die Auto-
nomie werde nicht mehr lange dauern. Auch dann, wenn er mit
dieser Ansicht recht behielte — es wäre zu wünschen —, liegt darin
eine historische Begründung seiner These nicht. —
So führt die Kritik der Mayrschen Studie zu dem Ergebnisse,
daß darin eine Reihe von geschichtlichen Thatsachen mit größerer
oder geringerer Sorgfalt zusammengestellt ist, und sich daran ge-
schichtliche Urtheile über die Gegenwart und ihre politischen Be-
wegungen anreihen. Aber der Connex zwischen beiden, den jeder-
mann erwarten muß, besteht nicht. Die Thatsachen, die aufgeführt
werden, enthalten nicht die geschichtliche Begründung der Thesen,
von denen man vermeinen möchte und der Fernerstehende wohl an-
nehmen muß, sie seien aus jenen abgeleitet; das historische
Thatsachenmaterialist nur Staffage für Thesen, die
anderwärts ihre Begründung haben. Selbst wenn sie im
Innern des Autors eine geschichtliche Begründung finden, — was
bei einzelnen möglich ist, wie bei 1, bei andern wenig wahrscheinlich
oder unmöglich, wie bei 2 oder 3 — kann gegen einderartiges
Vorgehen nicht entschieden genug Einspruch erhoben
werden.
(4) Es erübrigt noch mit wenigen Worten der 4. der obigen Aeuße-
rungen Mayrs zu gedenken. Wenn er meint, die staatsrechtliche
Entwickelung Tirols gebe ein Musterbeispiel dafür, daß die Geschichte
die Lehrmeisterin in politischen Dingen sei, so war es wohl kein
allzu glücklicher Griff, daß er dies gerade für die nationale Frage
der Gegenwart zeigen wollte. Das nationale Problem, wie es das
letzte Jahrhundert und die Gegenwart beherrscht, hat in der Ge-
schichte kein Analogon. Will man fiir politische Fragen, die von
ihm beherrscht sind, in der Geschichte einen Anhaltspunkt finden,
dann wird doppelt und dreifach Vorsicht und Sorgfalt am Platze
sein. In manchen, vielleicht in gar vielen Dingen wird bei aller
Mühe die Geschichte uns keine Antwort geben. Für andere wird
734 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
ja Adolf Exners Wort zutreffen, daß die Geschichte uns lehrt, »>aus
welchen Kräften eine heutige politische Thatsache entsprungen,
welche Natur und Macht ihr daher eigen ist, und welcher Verlauf
von ihr zu gewärtigen ist«. Dann mag die Geschichte als große
Lehrmeisterin in politischen Dingen sich auch hier bewähren. Aber
dafür benöthigten wir unter allen Umständen und gerade hier wohl
noch mehr als anderwärts — um Mayrs Worte zu gebrauchen —
‚jenes tiefere Maß politischer Bildung, welches nur die gründliche
Kenntnis der eigenen Staatsgeschichte zu vermitteln vermag<, jenes
genaue Beherrschen der großen Zusammenhänge wie der Einzel-
heiten und das Eingehen auf alle Seiten der entscheidenden ge-
schichtlichen Probleme, — lauter Dinge, die wir gerade in Mayrs Studie
so vielfach schmerzlich vermissen.
Wien, September 1901. Schwind.
Meyer, Leo, Handbuch der Griechischen Etymologie. Zweiter Band.
Wörter mit dem Anlaut ı, a, &, 0:1; v, av, ev, ov; x (auch £), = (auch ¥), r.
Leipzig, Verlag von S. Hirzel. 1901. 859 Seiten in GroBoctav.
Wie Herr 8. Hirzel bestimmt in Aussicht gestellt hatte, ist im
dankenswerthester Weise der Druck unseres Handbuchs sehr rasch
fortgeschritten. Während der erste Band im Anfang des März aus
gegeben worden, ist ihm nun — im September — schon der zweite
Band nachgefolgt. Der erste umfaßt die Wörter mit dem Anlaut a,
&, 0, 7, @, im zweiten werden die vocalisch anlautenden Wörter zum
Abschluß gebracht, es werden nämlich noch die mit dem Anlaut ,
a, &, of und die mit dem Anlaut v, av, ev, ov zusammengestellt
und ihnen schließen sich noch von consonantisch anlautenden die ver-
hältnismäßig vielen mit dem Anlaut x (auch § = xo), x (auch y = 26)
und z an. Der dritte Band wird die Wörter mit anlautenden 7, f
und 6, welchen letzteren die mit anlautendem & sich unmittelbar an-
schließen, und die mit y, $ und 9 anlautenden bringen, während
der vierte und letzte Band die Wörter mit anlautendem Zischlaut,
darnach die mit den Nasalen v und u anlautenden und zuletzt die
mit e und A anlautendem enthalten wird.
Die gewählte Buchstabenfolge, die vielleicht für manchen Be
nutzer des Handbuchs einige Unbequemlichkeiten haben wird, doch
der Ordnung des buntzusammengeworfenen gewöhnlichen griechische
Meyer , Handbuch der Griechischen Etymologie. Zweiter Band. 735
Alphabets weit vorzuziehen sein dürfte, ist auch für das Innere der
Wörter maßgebend gewesen. Dabei ist aber noch zu bemerken, daß
bei den Wörtern mit anlautender einfacher Consonanz zunächst nicht
der nachbarliche Vocal, sondern der je folgende Consonant berück-
sichtigt worden ist, wonach also zum Beispiel wéreofar »fliegen«
(Seite 500) und auch zardéeoda: »fliegen« (Seite 506) früher ihre
Stelle gefunden haben, als wéyy »Falle, Schlinge« (Seite 525) und
teyog- »Dach«, »Zimmerc, >»Haus<« (Seite 750) früher als rayv-g
»schnell< (Seite 753), oder zum Beispiel xdopo-¢ »Ordnung«, »Schmuck«,
»Weltordnung, Welt« (Seite 293) früher als xavayıi »Geräusch,
Klang« (Seite 306).
Von den inlautenden Consonantenverbindungen sind jedesmal
zuerst die consonantischen Verdoppelungen aufgeführt und darnach
erst die übrigen, also zum Beispiel x«vv« »Rohr« (Seite 307) früher
als x&yxavo-s »trocken« (Seite 308), oder zum Beispiel xdAA:-, »schön«
(Seite 422) früher als xaAzıd- »Krug« (423) oder rdggoo-¢ » Helfer,
Beistand< (Seite 788) früher als r&pßos-, »Schrecknißl, Schrecken<
(Seite 789) oder xéxxagu-¢ »Kapper«, »Kappernstrauch« (Seite 245)
früher als xanv6d-s »Rauch« (Seite 245).
Anlautende Consonantenverbindungen sind den Wörtern ange-
schlossen, in denen die hier verbundenen Consonanten noch durch
zwischenstehenden Vocal getrennt sind. So reiht sich xr- (xrdeosdeı
‚erwerben«) an xvrrago-¢ »Wölbung, Höhlung« (Seite 261), xo- = E-
(£av- »Wolle kratzen, Wolle bearbeiten<) an xaücrı-s »weibliches
Glied« (Seite 298), xv- (xvap- »Wolle aufkratzen, zerren< (Seite 327)
an xadvo-¢ »Loos« (Seite 326), xu- (xuEAedgo-v »Balken<) an xuußn
»Kahn«, »Becher« (Seite 349), xg- (xp&- »mischen<) an xovevio-s,
ein in Sümpfen lebendes Thier (Seite 387), xd- (xAdecy »zerbrechen«)
an xovAvßdreıa, Name einer Pflanze (Seite 447); — ferner ar-
(xrox- »ängstlich niederducken, sich ängstigen«) an zürivn »Korb-
flasche« (Seite 509), z6- = Y- (yaxdd-, »Tropfen, Getröpfel«) an
ove »Fuß« (Seite 552), wv- (mvesıv »wehen, hauchen, athmen<) an
avvddveohe: »erfahren, erforschen< (Seite 585), xp- (xed > verkaufen«
Seite 629) an zxatdgo-¢ >»gering, wenig< (Seite 628), mA- (xAdx-
»Fläche« Seite 689) an avdn »Thor« (Seite 688), endlich ru- (rur-
»schneiden«) an revpdeoiae »bereiten« (Seite 786), re- (cea »durch-
bohren«) an taveo-¢ >Stier« (Seite 803), rA- (TAn- >aushalten, er-
tragen<) an rvAAo-g »Behältniß, Kiste« (Seite 858).
Es mag hier sonst noch angeführt sein, was zum Theil auch
schon in der Besprechung des ersten Bandes unseres Handbuchs (in
diesen Anzeigen von Seite 325 bis 329) ausgesprochen worden ist,
daß jedem griechischen Wort, das seine besondere Stelle gefunden,
736 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
Belegstellen — wo das Bedürfnis sich geltend gemacht, auch in
größerer Anzahl — angefügt worden sind, da sie meist viel besser,
als alle etwaigen Umschreibungen die besonderen Nüancirungen eines
Wortes ins Licht stellen. Auf die möglichst genaue Wiedergabe
der Bedeutung aller aufgeführten Wörter, darf betont werden, ist
immer ein besonderes Gewicht gelegt, da nur so ein wirklich ge-
sichertes Eindringen in die Geschichte der Wörter, die bei aller
etymologischen Wortforschung doch allezeit die Hauptsache bleibt,
möglich ist. Keineswegs aber soll damit gesagt sein, daß die Form
der Wörter irgendwie vernachlässigt werden dürfe. Viel weniger
allerdings legen wir dabei Gewicht auf die neuerdings so beliebten
sogenannten lautphysiologischen Betrachtungen. Bei aller Form-
abwägung ist immer das Hauptgewicht auf Analogien, auf Anführung
ähnlicher Bildungen gelegt, da in solchen auch alle lebendige Sprache
immer ihren Haupthalt findet.
In Bezug auf das besondere Gewicht, das überall auf die Be-
deutung der Wörter gelegt wird, mag noch einmal dem Gedanken
Ausdruck gegeben werden, daß im Grunde eigentlich als nothwendig
sich herausstellt, den einzelnen Wörtern, sei es den Namen von Thie-
ren oder von Pflanzen oder von sonstigen in die Augen fallenden
Gegenständen, bildliche Darstellungen hinzuzufügen. Wie will man die
Etymologie der Wörter der angegebenen Art zu vermitteln versuchen
wollen, wo man keine vollständig klare Anschaung von ihnen hat?
Die Anführung von Belegstellen aus der lebendigen Litteratur
ist übrigens außer für die Haupt- oder sogenannten Stichwörter auch
als Regel genommen für die Wörter, die als deutlich nächstver-
wandte sogleich zu seinen Haupt- und Stichwörtern gestellt und
nicht als selbstständige Artikel aufgeführt sind. In Bezug auf sie
ist übrigens kein festeres Gesetz aufgestellt, sondern es ist mehr
der Bequemlichkeit Raum gegeben.
Wie übrigens für alle griechischen Wörter, so ist die Anführung
von mehr oder weniger Belegstellen auch für die lateinischen Wör-
ter zur Regel gemacht, so wie ferner für die gothischen und auch
die altindischen. Die letzteren sind so gut wie ausschließlich dem
Rigvédas entnommen. Die einzelnen Wörter sind dabei in ihrer ety-
mologischen Form gegeben ohne Rücksichtnahme auf die sogenannte
Sandhis, bei der jeder Wortschluß durch den Anlaut des je folgen-
den Wortes beeinflußt wird, von der man schwerlich glauben kann,
daß sie in alter wirklich lebendiger Sprache die allgemeine Regel
gebildet habe. Was an einzelnen altindischen Belegstellen sonst
noch hie und da angeführt wird, ist einfach dem vortrefllichen Böhtlingk-
Rothschen Wörterbuch entnommen.
Meyer, Handbuch der Griechischen Etymologie. Zweiter Band. 737
Die lateinischen Belegstellen sind mit Vorliebe den alten Drama-
tikern, dem Ennius, Lucrez, mehrfach auch den Bruchstiicken des
Zwolftafelgesetzes entnommen, das, von ganz geringen inschriftlichen
Resten vielleicht abgesehen, im Allgemeinen doch als ältestes latei-
nisches Sprachdenkmal zu gelten hat. Bedenklich ist dabei aller-
dings die ungenaue Ueberlieferung der meisten Wortformen, höchst
wichtig aber doch immer der Wortschatz an und für sich, wie wenn
zum Beispiel das Wort hostis im Zwölftafelgesetz noch in der Be-
deutung »der Fremde« gebraucht wird. Was die Anführung der
Nominalgrundformen anbetrifft, so mag noch bemerkt sein, daß die-
jenigen auf o einfach mit Zufügung des nominativischen s (domino-s)
oder des ungeschlechtigen Kennzeichens (övo-m), also in vorclassi-
scher Form aufgestellt werden, um die Unbequemlichkeit von Aus-
drucksweisen wie dominus, Grundform domino-, und ähnlichen zu ver-
meiden.
Was die zur Vergleichung hier angezogenen Wörter des Kelti-
schen, des Littauischen und Slavischen, des Albanesischen, des Alt-
persischen und Armenischen anbetrifft, so sind sie fast ausschließlich
bekannten Hand- und Wörterbüchern entnommen. Eine noch an-
führenswerthe Ausnahme davon macht aber das Armenische, in des-
sen Gebiet mir längere Zeit vergönnt war mit einem jüngeren ar-
menischen Freunde, Herrn Parsadan Ter-Mowssessjanz, zu arbeiten,
der mehrere Jahre in Dorpat studiert und als tüchtiger Philologe
sich hervorgethan, dort auch den akademischen Preis für eine werth-
volle philologische Arbeit gewonnen hat. In diesem Verkehr war
mir von besonderem Werth, in neuerer Zeit aus besonderen Winkeln
ans Licht geholte kleinere epische Gedichte kennen zu lernen, da
sonst die Behauptung aufgestellt zu werden pflegt, daß die armeni-
sche Litteratur vollständig der Poesie entbehre. Sie sei vielmehr in
sehr reichem Maafe vorhanden gewesen, versichert Parsadan, durch
die Geistlichkeit aber so gut wie vollständig vernichtet.
Was die Wiedergabe der armenischen Schrift durch lateinische
Schriftzeichen anbetrifit, so schließt sich unsere Art im Wesentlichen
an Ewald, bei dem ich vor Jahren eine sehr werthvolle Vorlesung
über Armenisch gehört. Sie bleibt immer ansprechender, als eine
mit griechischen Schriftzeichen und sonstigen Unbequemlichkeiten
durchsetzte Schrift, die fast eben so schwierig zu erlernen ist, als
die Armenische Schrift selbst. Auch für das Littauische und Alba-
nesische sind ein paar kleine Neuerungen eingeführt, die einem Je-
den, der die betreffenden Sprachen kennt, sehr leicht verständlich sein
werden, für diejenigen aber, die sie nicht beherrschen, der richtigen
Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 9. 49
738 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
Aussprache, die mit Schriftzeichen vollständig genau wieder zu
geben doch nie gelingen kann, doch immerhin recht nahe kommen.
Leo Meyer.
König, E., Hebräisch und Semitisch. Prolegomena und Grundlinien einer
Geschichte der semitischen Sprachen nebst einem Exkurs über die vorjosuani-
sche Sprache Israels und die Pentateuchquelle PC. Berlin, Reuther u. Reichard
1901. VII 128 S. Preis 4 Mk.
Ewald sagt am Schluß seiner Abhandlung über die geschicht-
liche Folge der semitischen Sprachen (1871), man solle doch einmal
mit der Vorstellung, das Arabische sei die älteste semitische Sprache,
Ernst zu machen und sie durch Alles zu erweisen versuchen: vom
Aramäischen ganz abgesehen, würde man nicht einmal bis zum
Aethiopischen, noch weniger bis zum Hebräischen herabsteigen, ja
nicht einmal die zwei im Arabischen selbst über einander liegenden
Sprachschichten verstehen können. Diesen von Ewald geforderten
Versuch will König unternehmen. Er hofft, »gezeigt zu haben, daß
nicht nur das Verhältnis des Altarabischen zum Neuarabischen, son-
dern auch das Verhältnis des Altarabischen zum Aethiopischen und
zu den anderen alten Ausprägungen des Semitischen als Erscheinun-
gen erwiesen worden sind, die in der historisch beglaubigten Sprach-
entwicklung ihre Parallelen haben und wohl zu verstehen sind«.
Mit Verhältnis wirder Prioritätsverhältnis meinen, wenn
er überhaupt etwas sagen will.
Er beginnt im ersten Kapitel mit vorbereitenden Erörterungen
über den Ursprung der Sprache, wobei er sich mit Plato Philo
Haeckel Wundt und Anderen auseinandersetzt. Die Sprache sei
dem Menschen weder offenbart oder anerschaffen, noch von ihm aus-
gedacht; sie sei vielmehr eine unbewußte Gesamtwirkung seiner
spezifisch körperlich-geistigen Beanlagung. »Dieses Urtheil habe ich
auch schon in meinen früheren Veröffentlichungen abgegeben<. Die
schwierigste Frage betreffe aber die Verbindung zwischen den zu
bezeichnenden Erscheinungen und den Bezeichnungen, die Brücke,
die von den wahrgenommenen Phänomenen zu den entsprechenden
sprachlichen Aeußerungen führte. Der eine Pfeiler dieser Brücke
sei die Aehnlichkeit von Lauten, die einerseits von einer wahrge-
nommenen Größe ausgingen und andererseits dem Sprachorgan des
Menschen entschlüpften: Kuckuk und Uhu. Ein zweiter Pfeiler sei
König, Hebräisch und Semitisch. 789
eine gewisse Korrespondenz zwischen der Beschaffenheit einer Klasse
körperlich-geistiger Zustände und zwischen der Tiefe und Höhe der
Eigentöne von Vokalen: die Empfindung des Druckes entspreche dem
Vokal vu, daher die Wahl desselben zum Ausdruck des Passivum.
Ein dritter Pfeiler sei der Parallelismus zwischen der Stärke einer
Thätigkeit oder Empfindung und dem Grade der Anspannung der
Sprechmuskeln : gagg abhauen, gass abscheeren. Noch weitere solche
Pfeiler zählt König auf; er meint, daß seine Sätze, die vor der
Lektüre von Wundts Völkerpsychologie niedergeschrieben seien, den
Werdegang der Sprache besser beleuchten könnten, als was jener
gesagt habe.
Die geistleibliche Errungenschaft, als welche die Sprache des
Menschen sich demnach darstelle, habe aber ohne dessen explicites
Bewußtsein und jedenfalls ohne seine reflectierte Absicht das Licht
der Welt erblickt und viele Stadien ihrer Existenz durchschritten.
Die unbewußte (organische oder sprunglose) Sprachbildung bestehe
ja jetzt noch in dem Weiterschreiten der Volksdialekte, bei den
Menschen, die der grammatischen Theorie entbehren. Aber wenn
dies auch feststehe, so gebe es doch noch manche unerledigte Fra-
gen. Am interessantesten erscheine die folgende: schreitet eine
Sprache von Vollklang und Reinheit der Laute zu Dürftigkeit und
Trübung, von Reichthum an organischen Formen zu idealer Gleich-
giltigkeit dagegen weiter, oder bewegt sie sich in umgekehrter Rich-
tung? Ein Vorurtheil zu gunsten der ersten Annahme sucht König
zu erwecken durch eine kurze Vergleichung der historisch feststehen-
den Entwicklungsstufen einiger indogermanischer Sprachen. Es er-
gebe sich dabei, daß die Veränderungen der Sprache keiner positi-
ven, sondern nur einer negativen Thätigkeit des Denkens entsprungen
seien, nämlich der Neigung des Sprachapparats, einen weniger mühe-
vollen Gebrauch der sprachlichen Ausdrucksmittel herbeizuführen !).
Diese Grundtendenz der Entwicklung soll nun im zweiten Ka-
pitel für das Semitische nachgewiesen werden, zunächst bei verschie-
denen Phasen eines und desselben Dialekts, deren historische Auf-
einanderfolge fest steht. Zu dem Zweck werden Alt- und Neuara-
bisch, Geez und Tigre, Alt- und Neusyrisch, Phönicisch und Punisch,
Alt- und Neuhebräisch mit einander verglichen, immer mit demselben
Ergebnis. Damit sind wir vorbereitet für das Hauptproblem: was
lehrt der gefundene Gesichtspunkt (»der negativen Thätigkeit des
1) Ich brauche wohl kaum ausdrücklich zu sagen, daß ich hier überall in der
Sprache Königs, nicht in meiner eigenen, referiere.
49*
740 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
sprachlichen Denkens«) für das gegenseitige Verhältnis der älteren
semitischen Sprachen, welches sich nicht durch literarische Zeng-
nisse, sondern nur durch innere Gründe ermitteln läßt? König
kommt nach einer kurzgefaßten Charakteristik der fünf semitischen
Hauptsprachen zu dem Schluß, daß nach Laut- und Formenbestand
das Arabische als die relativ unversehrteste Ausprägung des älteren
Semitisch zu gelten habe. >Ich meine, auf einem neuen Unter-
suchungsgange zu einer haltbaren Basis für das Urtheil vorgedrungen
zu sein, daß die altarabische Sprache noch verhältnismäßig die mei-
sten von den Charakterzügen reflektiert, die dem semitischen Idiom
seine Eigenart gegenüber anderen Haupttypen der Menschensprache
verliehen. Infolge dessen bekenne ich mich jetzt noch ruhiger als
schon früher zu der Ansicht, daß das Altarabische den ursprüng-
lichen Typus des Semitischen noch relativ vollständiger bewahrt hat,
als speziell das Althebräische«. Diese Ansicht, fährt er fort, sei
zwar im Wesentlichen richtig von einer ziemlichen Reihe von Sprach-
forschern ausgesprochen worden. Aber immer ohne methodisch durch-
geführte Begründung, und mit nicht wenigen Uebertreibungen und
Inkonsequenzen. Dies Urtheil sucht er in einem geschichtlichen Ueber-
blick zu begründen, worin Schultens und Schröder, Hupfeld, Dietrich
und Olshausen, Bötticher, Stade und Nöldeke vorgeführt werden,
Nöldeke natürlich als Altmeister.
Durch die Bemerkung, der geschichtliche Streifblick auf den
Stand der Frage habe zugleich gezeigt, daß die Einzelbestimmung
der historischen Stellung, die das Arabische innerhalb der semiti-
schen Sprachen einnimmt, noch keineswegs abgeschlossen sei, wird
der Uebergang zum dritten Kapitel gemacht, welches die Aufschrift
führt: Negative Untersuchungen über die Geschichte des semitischen
Sprachstammes und die sprachgeschichtliche Stellung des Hebräi-
schen. Darin wird das bisher gewonnene allgemeine Resultat zwar
etwas limitiert, aber doch zugleich gegenüber anderen Anschauungen
behauptet. Die Frage, ob das Altarabische gradezu den ursemiti-
schen Typus darstelle, wird aufgeworfen. Als Beitrag zu ihrer
Beantwortung folgt zunächst eine Discussion darüber, ob das 4
in der Endung dm und in der Form gaftäl durchaus lang sei wie
im Arabischen, oder auch kurz sein könne, wie angeblich bisweilen
im Hebräischen. König entscheidet sich dafür, daß Länge und Kürze
in diesem Falle gleich berechtigt neben einander stehen. Er erkennt
an, daß es gleich ursprüngliche Parallelbildungen im Arabischen und
im Hebräischen gebe, und nicht allein das, sondern auch, daß das
Arabische in einigen Punkten gegenüber dieser oder jener Schwester-
König, Hebräisch und Semitisch. 741
sprache secundär sei. Im Ganzen hält er aber seine Hauptthese
aufrecht. Er tritt der Meinung Hommels entgegen, daß das Assyrisch-
Babylonische dem Ursemitischen am nächsten stehe, indem er zu-
gleich beanstandet, daß jener dem Assyrisch-Babylonischen das Syro-
phoeniko-arabische als eine Einheit gegenüberstellt und behauptet,
die Israeliten hätten bis auf Josua einen rein arabischen Dialekt ge-
sprochen. Zum Schluß widerlegt er diejenigen, die den Ausgangs-
punkt der Entwicklung des Semitischen im Hebräischen oder im Ara-
mäischen suchen, namentlich J. D. Michaelis und Ewald, aber auch
Vollers, Lagarde und Georg Hoffmann.
Dies der Inhalt des Buches. Man kann dem Verfasser allerlei
anstreichen, z. B. daß er die Aussprache dant für älter als bent erklärt,
daß er kutub von einem Singular Akafab ableitet, daß er das 7 in
win für den Artikel hält, trotz aram. haw und aram. arab. had'na,
hadha. Man kann dagegen, daß die Grundtendenz der Sprachent-
wicklung »negativ« sei, nicht bloß principielle Einwendungen erheben,
sondern auch faktisch constatieren, daß der scharfen Krystallisation
ein mehr rudimentärer Zustand vorausgegangen ist, aus dem noch Reste
(z.B. in der Bildung der Zahlwörter) in die spätere Zeit hineinragen.
Indessen in der Sonderbarkeit seiner Behauptungen liegt die Schwäche
Königs nicht; er rennt nicht mit dem Kopf durch die Wand, sondern
lieber durch offene Thüren. Was er uns auftischt, ist eine breite
Bettelsuppe. Seine Philosophie und seine Methode läuft auf ein
weitschweifiges Gerede hinaus, er bewegt sich in unerträglichen Tau-
tologien, dabei steht er in seiner Art sich auszudrücken mit der Logik
und der deutschen Muttersprache auf gleich gespanntem Fuße. Seine
Originalität besteht darin, daß er mit Nachdruck und innerer
Befriedigung, im Tone überlegenen Sachverständnisses, Trivialitäten
als seine Entdeckungen vorträgt. Auf die Sachen, um die es sich
eigentlich handelt, geht er nur eklektisch und desultorisch ein; hie
und da, bei passender und unpassender Gelegenheit, bringt er diese
oder jene Kleinigkeit zur Sprache. In der Widerlegung von An-
sichten, die keine Widerlegung verdienen, ist er groß, während er
an den wichtigsten Dingen vorbeigeht. Bei der Conjugation der
schwachen Verba ist im Arabischen das triliterale Schema des star-
ken Verbs viel consequenter durchgeführt als im Hebräischen , ist
das ein Zeichen größerer Ursprünglichkeit oder nicht? Wenn eine
Frage für die vergleichende Grammatik der semitischen Sprache
wichtig ist, so ist es diese: König berührt sie gar nicht. Aehnlich
wichtige Fragen beim Nomen sind das Verhältnis des arabischen
Genitivs zum allgemeinsemitischen Status constructus und das des
742 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
arabischen Akkusativs zum hebräischen He locale: König übergeht
sie mit Stillschweigen, die Ursprünglichkeit der arabischen Casus-
bildung ist ihm ein feststehendes Dogma. Was ist aber daran ge-
legen, daß er seine dogmatischen Vota abgibt und uns methodolo-
gische Lichter aufsteckt ?
Göttingen, 3. Oktober 1900. Wellhausen.
Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich. Jahrgang III’. Stadimayr, Joh,
Hymnen. 1. Theil, herausgegeben von Joh. Evang. Habert. VII u. 39. fi 2
= M. 3,50.
Jahrgang V!, Isaac, MHeinr., Choralis Constantinus, liber 1, heraus-
gegeben von E. Bezency und W. Rabl, XVIIu. 268; fl 12 = M. 20.
Jahrgang VI!, Hand! (Gallus) Jacob, Opus musicum, 1. Theil, heraus-
gegeben von E. Bezency und J. Mantuani; XXXII u. 183; fl. 10,80
= M. 18.
Jahrgang VII, Sechs Trienter Codices, Geistliche und weltliche
Compositionen des XV. Jahrhunderts, 1. Auswahl, bearbeitet von G. Adler
und O. Koller, XXXV und 298, K. 30 = M. 285.
Jahrgang VIII, Hammerschmidt, Andreas, Dialogi oder Gespräche
einer gläubigen Seele mit Gott; 1. Theil, bearbeitet von A. W. Schmidt,
XVII u 166; K. 18 = M. 15.
Bei der Besprechung der in der Ueberschrift genannten Publi-
cationen will ich mich nicht an die Folge der Jahrgänge, sondern
an die zeitliche Folge der in ihnen enthaltenen Werke anschließen
und somit den siebenten Band an die Spitze stellen.
Es handelt sich in diesem um die zumeist erstmalige Ver-
öffentlichung von etwa 80 mehrstimmigen Vocalcompositionen aus der
ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, also aus einer Periode, von deren
Producten bisher nur ganz vereinzelte Proben bekannt waren. Diese
Werke sind sechs Sammelbänden entnommen, die ursprünglich dem
Trienter Domcapitel gehörten und 1891 auf Betreiben des um die
Geschichte der Musik so hochverdienten F. A. Haberl von der öster-
reichischen Regierung zum Zweck der Bearbeitung angekauft worden
sind. Nach den Untersuchungen der Herausgeber, der Herren Guido
Adler und Oswald Koller, zerfällt die in den Codices zusammenge-
faßte große Sammlung von nahezu 1600 Nummern in drei Gruppen.
Die Werke der ersten Gruppe sind zwischen 1420 und 1440 ent-
standen und von einem sonst nicht bekannten Puntschucher um 1440
Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich. 748
in Oberitalien niedergeschrieben ; die Werke der zweiten Gruppe
sind zwischen 1444 und 1465 von einem Johann Wiser (vermuthlich
Mitglied der bischöflichen Capelle in Trient) gesammelt und nieder-
geschrieben, diejenigen der dritten Gruppe zwischen 1460 und 1480
von einem unbekannten Schreiber.
Was die Art der in den sechs Codices enthaltenen Compositionen
anbetrifit, so ist sie äußerst mannigfaltig. Eine große Rolle spielen
begreiflicher Weise lateinische liturgische Stücke, darunter voll-
ständige Messen. Daneben findet sich aber eine bedeutende Zahl
freier kirchlicher und auch weltlicher Compositionen über Texte in
lateinischer, italienischer, französischer, deutscher Sprache. Drei-
stimmigkeit und Vierstimmigkeit überwiegt. Die Mitwirkung von
Instrumenten ist im allgemeinen ausgeschlossen.
Die Componisten der fraglichen Stücke gehören Italien, Frank-
reich, Deutschland, England und den Niederlanden an. Neben be-
rühmten Namen, Häuptern einer weitverbreiteten Schule, wie ins-
besondere Dufay von Cambrai, finden sich sonst nicht bekannte, die
vielleicht Localgrößen angehörten. In jedem Falle ist es erstaun-
lich, daß es zu einer Zeit, wo der Verkehr von Land zu Land wahr-
lich nicht leicht war, überhaupt möglich gewesen ist, ein Sammel-
werk von solchem Umfang und solcher Mannigfaltigkeit herzustellen.
Der vorliegende Band beginnt mit einer ausführlichen histori-
schen Einleitung der Bearbeiter, die von neun Facsimile-Repro-
ductionen verschiedener characteristischer Blätter beschlossen wird.
Dieser folgt ein thematischer Catalog der sämmtlichen 1585 Com-
positionen der sechs Trienter Codices und der Abdruck von circa
80 vollständigen Werken. Den Schluß bildet ein Revisionsbericht,
in dem namentlich auch über andere Vorlagen für die gedruckten
Compositonen berichtet wird.
Die Musikstücke selbst, auf die sich natürlich das Interesse in
erster Linie richtet, sind sorgsam in Partitur gesetzt, mit Text-
eintheilung und genauer Textunterlegung (die im Original ganz un-
vollständig ist) versehen. Für den Forscher ist somit trefflich vor-
gearbeitet; weniger dagegen für den practischen Musiker. Ins-
besondere wird die Beibehaltung ungewöhnlicher Schlüssel Manche,
die den Band voll Interesse zur Hand genommen haben, unange-
nehm berührt haben. Auch wer sich mit Partituren im alten Sopran-,
Alt-, Tenorschlüssel recht gut abzufinden weiß, ‚wird sich durch die
nicht selten vorkommenden C-Schlüssel auf der zweiten und fünften,
F-Schlüssel auf der zweiten, dritten, fünften Linie zumeist empfind-
lich belästigt fühlen, um so mehr, als ein verständiger Grund für
744 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
deren Beibehaltung nicht ersichtlich ist. Nachdem durch die Dar-
stellung in Partitur, mit Textstrichen, mit neuer Textunterlage das
ursprüngliche Bild, das die Facsimile erkennen lassen, radical ge
ändert ist, trägt die Beibehaltung der ungewöhnlichen Schlüssel
zur Erhaltung des Urbildes verschwindend wenig bei. Aber es
wirkt ermüdend und verstimmend, für kleine Sätzchen von einigen
Zeilen sich immer wieder an neue Schlüsselcombinationen gewöhnen
zu müssen, und wenn man so eine Dufay’sche Hymne — Discant
C-Schlüssel auf der zweiten, Contra und Tenor C-Schlüssel auf der
fünften Zeile — durchgespielt hat, so empfindet man das Verfahren
als eine unfreundliche und unnöthige Erschwerung des Studiums.
Und ein wirkliches Studium verlangen diese Stücke, wenn man
ihnen gerecht werden will. Selbst wenn man den sehr sachgemäßen
Rath der Herausgeber befolgt, »die Werke nicht so sehr in verticaler,
als in horizontaler Richtung zu lesen und zu hören«, die Harmonie
also mehr als ein zufälliges Ergebnis der Stimmführung, deren
Gang aber als das Maßgebende aufzufassen , selbst wenn man
sich zunächst an die von den Herausgebern als relativ eingänglich
empfohlenen Stücke hält und die spröderen (wie z.B. die Fuga du-
orum temporum von Dufay, die mit einem steifen Kanon über zwei
oder drei immer wiederholten Basistönen an der Grenze des Er-
träglichen liegt) bei Seite läßt, wird man nicht selten anfangs nur
einen abstoßenden Eindruck empfangen ; namentlich sind die oft
hölzernen und monotonen Schritte der Basisstimmen schwer zu ver-
winden. Aber bei näherer Beschäftigung erwacht in den starren
Gebilden doch ein eigentümliches Leben, und man wünscht wohl das
eine oder das andere einmal in stimmungsvoller Umgebung, in einer
dämmerigen Kirche Brunellesco’s, gesungen zu hören.
Die vorliegenden Werke übrigens mit der bildenden Kunst
des Quatrocento direct in Parallele zu stellen, wie die Herausgeber
thun, ist wohl nicht ganz zulässig. Die Tonkunst jener Zeit rang
doch noch schwer um die Elemente der Technik, die von den bilden-
den Künsten schon vorher nahezu voll in Besitz genommen war.
Der Unterschied zwischen dem Quatrocento und dem Cinquecento
ist in den bildenden Künsten, wie mir scheint, ganz wesentlich ein
solcher des Schönheitsideales, das in der Tonkunst mit kleinen
Wandelungen sich auf lange Zeit hin merklich unverändert er-
halten hat. —
Es ist ein erheblicher Schritt vorwärts, den gegenüber den
Compositionen der Trienter Codices der Choralis Constantinus von
Heinrich Isaac bezeichnet, obgleich seine Abfassung nur etwa
Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich. 745
40 Jahre nach derjenigen der letzten Werke der Codices fallt. In
dieser Zeit hatte die Technik der Stimmfiihrung, dank insbesondere
den Leistungen der Niederländer, bedeutende Fortschritte gemacht,
die Harmonie war nicht mehr nur ein zufälliges Ergebnis der Fort-
schreitung der Stimmen, es beginnt ihre bewußte Empfindung.
Ueber H. Isaac’s Leben ist wenig bekannt. Neuerdings aufge-
fundene Documente machen wahrscheinlich, daß er um 1450 in
Flandern geboren wurde, daß sein ursprünglicher Name Ugon =
Huyghens gewesen ist, und daß er diesen während seines ersten
Aufenthaltes in Italien aus unbekannten Gründen mit Isaac ver-
tauscht hat. Jedenfalls steht seine Anwesenheit in Florenz am Hofe
des Lorenzo Magnifico um 1480 fest, wohin er als Lehrer der Kinder
des Fürsten aus Flandern berufen worden war. Später erhielt er
die Kapellmeisterstelle an der Kirche S. Giovanni, dann am Dom, und
blieb, mit einer durch einen Aufenthalt in Rom verursachten Unter-
brechung, in Florenz bis gegen 1494, wo der Sturz der Medici ihn
forttrieb. Etwa um 1495 trat er als Hofcomponist in den Dienst
des Kaisers Maximilian des Ersten, war aber durch sein Amt so
wenig an den Hof des Kaisers gebunden, daß er nachmals mehr in
Italien, als in Deutschland gelebt zu haben scheint. Seine letzten
Lebensjahre bis zu seinem 1516 oder 1517 erfolgten Tode dürfte er
gänzlich in Florenz verbracht haben.
Nach alledem ist die Beziehung Isaac’s zu Oesterreich keine
so nahe, wie man nach der Aufnahme eines seiner Werke in die
Denkmäler vermuthen möchte; auch stammen die Vorlagen für die
Herausgabe desselben mit Ausnahme einzelner Partien des 3. Thei-
les durchweg aus dem Auslande.
Das größte und wahrscheinlich letzte Chorwerk Isaac’s, der
»Choralis Constantinus<«, den die Denkmäler zum ersten Mal in
Partitur gesetzt den Freunden der Musikgeschichte darbringen, ent-
hält liturgische Compositionen für die kirchlichen Festtage. Sein
Name ist mit Sicherheit noch nicht erklärt. Die Deutungsversuche
gehen entweder dahin, daß das Werk auf Bestellung des Domcapitels
in Constanz gearbeitet wäre, oder aber daß es die in Constanz ge-
bräuchlichen Choralmelodien benutzt hätte; vielleicht kam beides
zusammen.
Der erste Theil, den der fünfte Jahrgang der Denkmäler ent-
hält, umfaßt Werke für diejenigen Sonntage des Kirchenjahres,
welche nicht mit hohen Festtagen zusammenfallen. Die meisten be-
stehen aus Introitus, Graduale, Communio, deren jedes durch eine
im Discant notierte Intonation eröffnet wird; in den für die Sonn-
746 Gött. gel. Anz. 1%1. Nr. 9.
tage von Septuagesimae bis Pfingsten bestimmten ist vor der Com-
munio ein aus kürzeren Sätzen bestehender Tractus eingeschoben.
Die Choralmelodie, oder ein kurzes ihr entnommenes Motiv, wird
meist in freien Imitationen von allen Stimmen durchgeführt, mit-
unter verharrt der Cantus firmus aber dauernd im Sopran, während
die anderen Stimmen begleiten; hier treten bisweilen ganz homo-
phone Partien auf.
Bezüglich der Ausgabe gilt Alles, was oben zu den Publicationen
aus den Trienter Codices gesagt ist. Auch hier hat der Bearbeiter
die Unterlegung des Textes, sowie die Tacteintheilung selbstständig
ausgeführt, auch hier sind trotz dieser tiefgreifenden Aenderungen
alte unbequeme Schlüssel — überdies nicht selten innerhalb desselben
Stückes wechselnd — beibehalten. Da die bei weitem größte Zahl der
Stücke für Discant, Alt, Tenor, Baß geschrieben ist, entsteht da-
durch eine recht grundlose Belästigung des Lesers.
Was endlich die Compositionen selber angeht, so ist natürlich
die Unbekanntschaft mit den schwer zugänglichen alten Kirchen-
chorälen ein beträchtliches Hindernis für den Genuß. Der Cantus
firmus tritt nur selten so abgerundet und nachdrücklich hervor,
daß er sich beim Hören ohne Weiteres als das alles Belebende und
Leitende darstellt. Gegenüber den Compositionen der Trienter Codices
fällt die viel flüssigere Führung der Stimmen, insbesondere der
Bässe auf. Freilich ist die Anzahl der benutzten Schritte und
Rhythmen, wie auch der harmonischen Wendungen noch immer gering;
die große Zahl der nebeneinander gestellten Compositionen enthält
im Grunde ziemlich wenig Abwechselung. Unwillkürlich drängt sich
immer wieder die Frage auf, ob die Componisten und die Hörer
jener Zeit es überhaupt verlangten, speciellen Stimmungen in
den Tönen Ausdruck zu verleihen. Zugegeben, daß in verschiedenen
Perioden Gleiches mit ganz verschiedenen Mitteln ausgedrückt
wurde, daß die Unterscheidung des Charakters der Moll- und Dur-
geschlechter rein conventionell ist, so bleibt doch immer auffallend,
daß z. B. bei Isaac die Satzweise der contrastirendsten Texte sich
kaum merklich unterscheidet. Es scheint vor allen Dingen auf den
Eindruck einer allgemeinen Feierlichkeit hingearbeitet worden zu
sein, die sich durch die Zusammenwirkung des starren Ernstes der
kirchlichen Motive mit dem Klangreiz einer schönen Stimmführung
am besten erreichen ließ. Daß man dabei nicht allzu lüstern nach
wechselnden Effecten war, zeigt der unendlich oft wiederholte
Quartenvorhalt bei Cadenzen, der ja seinen süßen Reiz noch Jahr-
hunderte lang bewährte und selbst noch bei Händel stereotyp ist.
Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich. 747
War der Schritt von den Trienter Codices zu dem Choralis
Constantinus ein ganz bedeutender, so bleibt er doch hinter dem
Fortschritt, der von letzterem zum Opus musicum von Gallus führt,
ganz erheblich zurück. War bei Isaac noch Vieles recht steif und
kalt, so finden wir hier geschmeidige Melodik und Modulation mit
warmem Wohlklang in einer Weise verbunden, daßes kaum noch des
geschulten historischen Sinnes bedarf, um an den Schöpfungen Freude
zu finden. Dazu kommt eine Sicherheit des polyphonen Tonsatzes
und eine Freude am dichtesten Stimmengewebe, von der bei Isaac
noch keine Spur zu finden ist. Freilich liegen zwischen dem Choralis
Constantinus und dem Opus musicum mindestens 70 Jahre, und zwar
Jahre starker Bewegung, sowohl rein musikalischer als insbesondere
religiöser ; der Erfolg der Reformation regte auf katholischer Seite
die reichen dort vorbandenen Kräfte zu energischer Thätigkeit an,
und Einer derer, die ihre Kunst begeistert in den Dienst der be-
drohten Kirche stellten und dafür von ihr äußere und innere An-
regung und Förderung erfuhren, war Gallus.
Ueber das Leben des hochbedeutenden Meisters theilt der eine
der Herausgeber des Opus musicum, Dr. Josef Mantuani, in einer
überaus anziehenden Vorrede die Resultate seiner Forschungen mit.
Nach diesen ist Gallus im Jahre 1550 in Krain geboren; es wird
wahrscheinlich gemacht, daß sein Geburtsort der Markt Reifniz und
sein ursprünglicher Name Petelin (Hahn) gewesen ist, der zunächst
in Gallus, und dann (für den jugendlichen Musiker in scherzhaftem
Diminutiv) in Handl oder Händl umgewandelt wurde. Gallus er-
hielt seinen Elementarunterricht, auch in der Musik, in einer katho-
lischen Anstalt seiner Heimat, wahrscheinlich im Stifte Sittich,
machte vermuthlich weitere Studien in einer der venetianisch be-
einflußten Städte Fiume oder Triest und kam dann mit Empfehlungen
des Sitticher Abtes nach Niederösterreich, und zwar über einige
Zwischenstationen als Mitglied des Knabensingechores an die Kaiser-
liche Hofkapelle nach Wien, wo er 1574 nachweisbar ist. Von 1575
bis 1579 scheint er in Niederösterreich, Mähren, Böhmen und
Schlesien herumgezogen zu sein, um Studien bei verschiedenen
Musikern und Capellen zu machen; zwei längere Aufenthalte in
Breslau und Prag sind sichergestellt. Um 1580 war er Musiklehrer
in dem Kloster Zabrdovice in Mähren und gewann das lebhafte In-
teresse der dortigen Aebte Caspar und Pawlowsky für seine Bestre-
bungen. Als letzterer zum Bischof von Olmiitz ernannt wurde,
nahm er Gallus als Capellmeister mit sich. Durch diese seine Stel-
lung erhielt Gallus die Anregung zur Schaffung eines allen liturgi-
748 Gace. gol. Age IM. ¥r. 3.
schen Anforderungen geniigenden Motettenwerkes. in dem er ältere
eigene Compositionen mit neugeschaffenen verband: 36 entstand sem
(pas musicam.
Nach Fertigstellung des ersten Theiles hielt es den Meister
nicht länger m Olmütz: er strebte sach emer Stadt m der er de
Druck seines Werkes vornehmen und überwachen kosunte, und er
erbat und erhielt demgemäß Eade 1525 die Entlassung ams seiner
Stellung am Olmützer Bischofssitze. Von da ab lebte er m Prag
kaum beschäftigt durch eine Stelle an einer kleinen dortigen Kirche,
mit allen Kräften der Fortführung und Vollendung seines großen
Werkes zugewandt. Der erste Theil des Opus musicum erschien im
November 1536 und enthält Gesänge fur die Zeit vom 1. Advents-
sonntag bis zur Charwoche : der zweite erschien im Marz 1557 und
umfaßt Chöre für die Charwoche und die Zeit bis Pfingsten: der
dritte im Herbst 1547 ausgegebene Theil deckt den Rest des Kirches-
jahres. Nach einer Pause, in der er eine Sammlung vierstimmiger
Madrigale veröffentlichte, fügte er noch einen vierten Theil für die
Heiligenfeste hinzu, welcher im Januar 1591 erschien. Die Kosten
des Druckes wurden, wie es scheint, zum größten Theile von hohen
Klerikern getragen.
Von diesem großartig angelegten Werke, das angeregt zu haben
zu den Ehrentiteln der katholischen Kirche auf künstlerischem Ge-
biete gehört, bringt der vorliegende VI. Band der »Denkmäler« die
Hälfte des ersten Theiles, 64 Compositionen für die Advents- und
die Weihnachtszeit umfassend. Von den Adventsgesängen sind sechs
achtstimmig, sieben sechsstimmig, sieben fünfstimmig, sechs vier-
stimmig. Von den Weihnachtsgesängen ist je einer sechzehnstimmig
und neunstimmig ; je zwei sind zwölfstimmig und zehnstimmig, je
acht sind achtstimmig, sechsstimmig und vierstimmig, sieben fünf
stimmig; die für sieben und acht Stimmen bestimmten sind im
Wesentlichen durchaus doppelchörig erfunden. Die Stimmenverthei-
lung ist meist die gewöhnliche; außerordentliche Combinationen sind
selten (No. 65 »Dicunt infantes Domino laudes« scheint z. B. für
vier Kinderstimmen gedacht zu sein); demgemäß sind die unbe
quemen Schlüssel auch seltener — sie hätten, ohne das Bild merk-
lich zu ändern, ganz beseitigt werden können.
Die Durchsicht der Compositionen ist außerordentlich lohnend;
es handelt sich in der That hier bereits um eine hohe Blüthe der
Kunst. Immer noch sind zwar die Motive knapp und einfach, meist
auf den elementarsten diatonischen Intervallen beruhend ; die polv-
phone Arbeit beschränkt sich auf engste Führungen, die selbst die
Denkmäler der Toukunst in Oesterreich, 749
kurzen Themen kaum voll heraustreten läßt, aber Alles quillt natür-
lich und leicht heraus; nach der harmonischen, wie der rhythmischen
Seite ist reiche Abwechselung vorhanden. Auf ganz modern an-
muthende harmonische Wendungen, insbesondere auch auf gewisse,
sehr merkwürdige enharmonische Wagnisse macht der Herausgeber
des Notentextes Emil Bezecny mit Recht aufmerksam. Einzelne
Stücke beruhen auf kirchlichen Melodien, die Mehrzahl der Themen
ist aber frei erfunden.
Die Persönlichkeit des Meisters, der eine angesehene Stellung
aufgab, um alle Kraft auf das Schaffen verwenden zu können, hat
etwas außerordentlich Anziehendes; man hat den Eindruck einer
Begabung, die unwiderstehlich nach Bethätigung drängt.
Gallus starb am 18. Juli 1591, nur einundvierzigjährig. Er
zählt unzweifelhaft zu den bedeutendsten deutschen und speciell
österreichischen Componisten; seine Werke bilden einen Hauptschmuck
der »Denkmäler.ce —
Handelte es sich bei den Werken von Gallus um Großthaten
im Reiche der Kunst, so stellen die vierstimmigen Hymnen des nur
wenig jüngeren Stadlmayr respectable Leistungen eines kenntnil-
reichen und geschickten Musikers dar, die nur selten tiefer ergreifen,
die aber wegen ihrer knappen Form und ihrer würdigen Haltung sich
dem Gebrauch im Gottesdienst noch in der Gegenwart sehr empfehlen.
Die 34 kleinen Sätzchen, welche das erste Heft des dritten Jahrganges
der »Denkmäler« füllen, sind durchaus über katholische Choräle ge-
arbeitet, meist so, daß die Melodie im Discant vollständig erscheint,
und die tiefen Stimmen imitirend oder präludirend Motive derselben
aufnehmen; einige Stücke bringen den Choral einfach harmonisiert,
eines benutzt ihn als Baß. Gerade die letzteren zeichnen sich durch
eine ausgeprägte Stimmung aus; unter den ersteren wirkt manches
bei aller Beherrschung der Form etwas kühl: solide, gute, gelegent-
lich etwas trockne Capellmeistermusik. Sehr frappieren einige krasse
Härten in der sechsten Hymne Tact 10 u. f.; sollten hier nicht Feh-
ler vorliegen ?
Johann Stadlmayr ist um 1560 in Freising geboren. Ueber sein
Leben liegen wenig sichere Nachrichten vor. 1603 ist er am Hofe
des Fürst-Erzbischofs, 1607 am Hofe des Erzherzogs Maximilian
nachweisbar. Er starb 1648 in hohem Alter in Innsbruck. Daß
ihm hiernach in den Denkmälern der Tonkunst für Oesterreich ein
Plätzchen gebührt, wird man gewiß zugeben.
Bezüglich des braven und liebenswürdigen Andreas Hammer-
schmidt, der mit dem 1. Theile seiner Dialoge die eine Hälfte des
760 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
VIII. Jahrganges füllt, kann man sich nicht ganz in dem Sinne
äußern; er hat mit Oesterreich außerordentlich wenig zu thun ge
habt. Zwar ist er (um 1612) in Brüx in Böhmen geboren, verließ
aber 1626 mit seinem protestantischen, übrigens aus Sachsen einge-
wanderten Vater, der der gewaltsamen Katholisierung der Gegen-
reformation Widerstand leistete, Vaterstadt und Vaterland auf Nim-
merwiedersehen. Daß Hammerschmidt unter diesen Umständen
einen Platz in den Denkmälern erhalten hat, ist ebenso wunderbar,
wie daß in dieser »mit der Unterstützung des K. K. Ministeriums
für Cultus und Unterricht< herausgegebenen Sammlung eine kurze
nüchterne actenmäßige Geschichte der Gegenreformation in Brix
Aufnahme finden konnte, die u.a. erzählt, wie die protestantischen
Bürger um 1625 durch Einquartierungen derart >bedrängt wurden,
daß zu Weihnachten beiläufig 1000 Personen zur katholischen Kirche
übertratene. Von wie viel Schändlichkeit berichten diese wenigen
Worte.
Um 1629 finden wir Hammerschmidt in Freiberg in Sachsen,
1632 bereits als Organist in Schloß Weesenstein im Dienste des
sächsischen Oberst von Bünau; 1634 wiederum in Freiberg als Or-
ganist zu St. Petri. In diesen Stellungen hat er seine ersten Com-
positionen publiciert. 1639 siedelte er als Organist an der Johannis-
kirche nach Zittau in Sachsen über, welche Stadt er bis zu seinem
1675 erfolgten Tode für längere Zeit nicht mehr verlassen hat.
Hammerschmidt gehört zu den fruchtbarsten und beliebtesten
Componisten der protestantischen Kirche; er war kein Bahnbrecher,
aber ein reiches und anmuthiges Talent, das mit seiner Tonsprache
den Anforderungen seiner Zeit gerade entgegenkam. Die in dem
vorliegenden Band veröffentlichten »Dialoge oder Gespräche zwischen
Gott und einer gläubigen Seele« machen wohl begreiflich, daß seine
Musik in vielen Häusern heimisch wurde. Es handelt sich durchaus
um Sologesänge für zwei bis vier Stimmen, stets nur von Continuo
(Cembalo oder Orgel) und einem Baßinstrument begleitet, das mit-
unter als Trombone bezeichnet, aber nicht immer obligat ist; m
Sinfonien, die gelegentlich als Zwischenspiele wiederholt werden,
vervollständigen zwei Violinen den Tonkörper. Die aufgewendeten
Mittel sind also so klein, daß die Compositionen als Hausmusik gel-
ten können. Vielleicht um einer solchen Benutzung wiederum ent-
gegen zu kommen, ist der bezifferte Baß von dem Herausgeber Dr.
A. W. Schmidt recht sorgfältig (mit einigen Freiheiten) vierstimmig
ausgesetzt. Beginnt man mit der Durchsicht, so berührt die me
lodische Declamation sehr angenehm, eine Reihe sinniger Züge er-
Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich. 751
regen das Interesse. So wirkt es z.B. schön und ausdrucksvoll,
wenn in dem siebenten Dialog für zwei Soprane und Baß »Ach wie
gar nichts sind alle Menschen< der Baß im Weitergang immer wie-
der melancholisch das den Eingangsworten zugetheilte Thema auf-
nimmt, während die Oberstimmen ihm andere Motive verbinden. Im
XI. und XII. Dialog sind die, chromatischen Figuren von sehr innigem
Ausdruck, in mehreren ist der Wechsel von vier- und dreitheiligem
Tacte von schöner Wirkung.
Aber im Ganzen betrachtet geben doch die Dialoge den Ein-
druck einer beträchtlichen Monotonie und fallen gegen die ver-
wandten gleichzeitigen Werke H. Schützens erheblich ab, obgleich
z.B. auch in diesen stereotype Vorhalte recht ermüden. Hammer-
schmidt ist kein formkräftiges Talent; gewisse Wendungen wieder-
holen sich immerwährend, so die Terzengänge der beiden Soprane
(oder beiden Violinen), die kurzen canonischen Imitationen derselben
beiden Stimmen im Einklang, ferner das oftmalige litaneiartige Wie-
derholen derselben Phrase, das in zahlreichen Dialogen vorkommt.
Daneben ist auch seine Erfindungskraft nur eine mäßige, sowohl
nach Seite der Melodik als Harmonik, und die vielen vollen Caden-
zen zerhacken manche Stücke in kurze Sätzchen. Aber aus der
Umgebung zahlreicher ähnlicher herausgenommen wirken einzelne
dieser Compositionen warm und eindringlich.
Es ist ein reicher Strauß verschiedenartigster Blumen, den die
»Denkmäler« in ihren letzten Jahrgängen dargeboten haben. Wir
sehen mit regem Interesse der Fortsetzung entgegen.
Göttingen, im September 1901. W. Voigt.
Briefe und Aktenstlicke zur Geschichte Preussens unter Friedrich Wilhelm III,
vorzugsweise aus dem Nachlaß von F. A. Stägemann. Herausgegeben von
Franz Kühl. Zweiter Band. Leipzig, Duncker und Humblot. 19001), LVI
u. 426 Seiten.
Die ausführliche Einleitung des zweiten Bandes bringt allerlei
Mitteilungen über die unmittelbar nach dem Befreiungskrieg in
Preußen beabsichtigte Einführung einer reichsständischen Verfassung,
ferner hübsche biographische Notizen über einen Teil der Brief-
schreiber, z. B. über Gruner und Benzenberg.
1) Ueber den ersten Band s. Heft 1.
752 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 9.
Unter den zweihundert Briefen und Aufsätzen aus der Zeit von
1815 bis 1820 finden sich neben unwichtigen und gleichgültigen
auch manche interessante, von denen ich die des späteren Erzbischofs
Grafen Spiegel und des Oberpräsidenten Vincke über die ultramon-
tanen Bestrebungen, sowie ein Promemoria Alexander Dohnas über
die Regulierung der bäuerlichen Verhältnisse hervorheben möchte.
Auch einige Briefe Schöns z. B. über den Handelsverkehr mit Polen
sind wertvoll; einige aber zeigen nur seine schlechte Laune, sie sind
voll von scharfen, oft geradezu bissigen Bemerkungen, die nicht im-
mer zutreffen. So schreibt er z.B. über Maaßens berühmten Ent-
wurf zum Zollgesetz von 1818: »Maaßen thut mir leid. Er soll
ehrlich sein und Hausverstand haben, aber die Verrücktheit , ohne
eminenten Kopf, ohne alle Sach- und Land- und Menschenkenntnis
und ohne alle Bildung, mir nichts, dir nichts ein Steuersystemchen
zu machen, wird ihm das Gute nehmen, das er hat<. Weshalb der
Herausgeber eine solche Entgleisung durch den Druck noch beson-
ders hervorgehoben hat, ist nicht recht einzusehen.
In einer Anmerkung zu einem Briefe Gruners führt der Heraus-
geber eine von mir vor einigen Jahren im Korrespondenzblatt der
Geschichts- und Altertumsvereine (Band 42, Seite 65) gegebene Mit-
teilung an, die sich mit der sogenannten Dotation Steins, d.h. der
Kapitalsabfindung für seine Pension beschäftigt. Er sagt: »ob diese
Kapitalsabfindung jemals bezahlt wurde, ist zweifelhafte. Zur Aus-
zahlung war sie eigentlich auch nicht bestimmt, sondern zur Ver-
rechnung beim Erwerb einer Domäne oder eines geistlichen Gutes.
Als Stein nach dem Befreiungskriege seine Besitzung Birnbaum ge-
gen das wertvollere Kappenberg vertauschte, ist, wie Pertz (Steins
Leben, Band 5, S. 276) berichtet, diese Summe mit eingerechnet
worden.
Berlin. Paul Goldschmidt.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen.
Oktober 1901. Nr. 10.
Weinel, H., Die Wirkungen des Geistes und der Geister im nach
apostolischen Zeitalter. Freiburg, Mohr 1899. XII 2348. M. 5.—
Dem Verfasser, der uns in diesem Buch sein Erstlingswerk vor-
“ legt, ist auf den ersten Wurf eine Leistung gelungen, die eine blei-
bende Anregung und dauernde Befruchtung der neutestamentlichen
Wissenschaft bedeutet. Denn wie auch das Urteil über die großen
Grundfragen, die Weinel anregt, sich entscheiden mag, jedenfalls ent-
hält das Buch so viel Anschauungsmaterial, so viele neue und gute
Beobachtungen im einzelnen, das alles so wohl geordnet, daß nie-
mand es lesen wird, ohne eine wesentliche Bereicherung seiner An-
schauung vom neutestamentlichen und nachapostolischen Zeitalter da-
von zu tragen.
W. fußt in seiner Arbeit, wie er selbst ausdrücklich hervorhebt,
auf dem vor nun gut zwölf Jahren in erster Auflage erschienenen
Werke Gunkels über die Wirkungen des heiligen Geistes. Gunkel
hat seinerseits in der vor Jahresfrist erschienenen zweiten Auflage dieses
Buches das Werk Weinels als legitime Fortsetzung seiner Forschun-
gen anerkannt.
Gunkels Werk bedeutete seiner Zeit für den, der etwa gewohnt
war, die Arbeiten von Holsten über Geist und Fleisch bei Paulus
als grundlegend anzusehen, eine völlige Ueberraschung. Es öffnete
sich eine neue Welt.
Hatte man sich mit Holsten in seinen philosophisch theologi-
schen Distinktionen abgemüht den »Begriff« des Geistes bei Paulus
zu erfassen und das Verhältnis der paulinischen zur jüdischen und
hellenischen Spekulation zu verstehen, so zeigte Gunkel, daß es sich
auf diesem ganzen Gebiet nicht um Vorstellungen und Begriffe, son-
dern in erster Linie um lebendige religiöse Erfahrung handle. Hatte
man sich mit Holsten um die gegensätzlichen Begriffe xvsüu« und
oée— bemüht, so stellte Gunkel die Wirkungen des »Geistes« mit
den Wirkungen, die man im neutestamentlichen Zeitalter den Dä-
monen zuschrieb, zusammen und wies nach, daß es sich in beiden
Gott, gel. Anz. 1901. Nr. 10, 50
754 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
Fallen um eine besondre Klasse psychischer Vorgänge und Ereig-
nisse handle, deren Erkennungsmerkmal nicht etwa die sittliche
Güte und Brauchbarkeit, sondern in erster Linie das Wunder-
bare, Außergewöhnliche und Uebermächtige sei.
Thatsächlich, vielleicht ohne daß diese Zusammenhänge dem
Forscher selbst bei der ersten Ausgabe des Werkes ganz klar wa-
ren, vollzog sich hier an diesem Punkt der Geschichtschreibung der
christlichen Frömmigkeit derselbe Umschwung, der sich seit Jahr-
zehnten auf dem Gesammtgebiet der Religionswissenschaft vollzogen
hat. Man ist überall zu der Auffassung gekommen, daß es — will
man eine lebendige Auffassung der Religionen erreichen — nicht
genug gethan ist, die Vorstellungen und Begriffe, die Mythen, Dog-
men und Theologumena zu registrieren und zusammenzufügen, da
hier die Religion meistens bereits in ihrer Erstarrung vorliegt, dab
es vielmehr darauf ankomme, in Kult und Sitte, und in den Spuren in-
dividuellen persönlichen Lebens und primitiver Erfahrung eine reinere
und adäquate Anschauung des ursprünglichen Lebens zu finden.
Weinel stellt sich von vornherein auf den Boden der Anschau-
ungen Gunkels.
>Was im Vorwort im Anschluß an Gunkel als das Rechte be-
hauptet werden mußte, hat sich jetzt bestätigt. Es handelt sich,
wenn die Urkirche vom Geist und von den Geistern redet, stets um
Anschauung auf Grund wirklicher und häufig gemachter Erfahrungen.
Eine Untersuchung über den heiligen Geist darf also nicht von der
Lehre oder den Lehren über den Geist "ausgehen, sondern muß die
Erlebnisse zum Ausgangspunkt nehmen«.
Und die zweite Gunkelsche Hauptthese, die Parallelisierung der
Wirkungen des Geistes und der Dämonen bringt W. schon im Titel
und dadurch, daß er seine Darstellung mit dem Abschnitt »der
Kampf der bösen Geister gegen die Christen< beginnt, zum Ausdruck.
Doch schreitet Weinel nun auf dem von Gunkel betretenen
Wege um ein gutes Stück vorwärts. Er dehnt die Untersuchung
auf diesem Gebiet über das nachapostolische Zeitalter bis zur Zeit
des Irenaeus aus. Während Gunkel mehr bei der allgemeinen
Frage: Was sind Geisteswirkungen, stehen blieb, dringt W. im ein-
zelnen vor, ordnet das Chaos durcheinander wirbelnder Erscheinun-
gen, analysiert und zergliedert sie mit großer psychologischer Fein-
heit und mit den Mitteln der modernen wissenschaftlichen Erkennt-
nis des menschlichen Seelenlebens und seiner außerordentlichen und
krankhaften Erscheinungen. Während Gunkel die Parallelen, welche
die gesamte Religionsgeschichte zu den in Frage stehenden Er-
scheinungen bietet, kaum beachtete, den Geisteserfahrungen des
Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 755
Spätjudentums einer nicht stichhaltenden Theorie folgend unter-
schätzte, die das Christentum in seinen Anfängen umgebende reli-
giöse Welt außer Acht ließ, hat W. viel weiter gegriffen. Er hat
eingesehen, daß es sich hier nicht um eine besondre Erscheinung
des ersten Christentums handle, sondern um Erscheinungen, die an
vielen Punkten der Geschichte der menschlichen Frömmigkeit in
überraschend gleichförmiger Weise wiederkehren. Und er verwendet
alle möglichen, auch recht entlegenen Berichte von »Inspirierten«
und Geistesträgern — namentlich auch uns zeitlich näherliegende
Zeugnisse: die Mémoires d’Antoine Courts, Kerners Seherin von
Prevorst, die Beobachtungen eines Du Prel und vieles andere, um
oft durch überraschende Parallelen Licht in die Ueberlieferung jener
seltsamen Vorgänge zu bringen und einen sicheren Maßstab für die
Scheidung des Echten und des Unechten zu gewinnen.
So erhalten wir bei Weinel ein farbenreiches und allerdings
sehr fremdartig berührendes Gemälde des Christentums in seinen
ersten beiden Jahrhunderten. Unmittelbar drängt sich die An-
schauung auf, als sei die christliche Kirche in ihren weit über das
apostolische Zeitalter hinüberreichenden Anfängen doch wesentlich
eine Schaar von mehr oder minder »Inspirierten< gewesen, als bil-
deten die wilden und wirren Erscheinungen ekstatischer Erregtheit
und eines exaltierten halbgestörten Seelenlebens das hervorragende
Charakteristikum dieser Zeit, als hätten die Christen der ersten Ge-
neration hier die Quelle ihrer Kraft und ihrer Ueberzeugungsstirke
gefunden. Diesen Gesamteindruck, den W.s Buch hervorruft und
auch hervorrufen soll, hebt auch die ermäßigende und gleichsam be-
schwichtigende Ausführung, die W. selbst in dem Abschnitt »der
Kern des Beweises< bringt, nicht auf. In diesem Abschnitt, dem W.
das Herrenwort: »Freuet euch nicht, daß euch die Geister unterthan
sind, freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel geschrieben
sind<, als Motto voranstellt, hebt W. freilich selbst hervor, daß die
Gewißheit und Zuversicht der ältesten Christenheit nicht auf den
einzelnen wunderbaren und außerordentlichen Beweisen der Kraft des
Geistes beruht hätten, sondern in letztem Grunde doch auf dem
stillen und mehr gleichmäßigen Bewußtsein der Wiedergeburt und
des Besitzes des Geistes im allgemeinen, auf der Offenbarung
des Geistes in dem ganzen Christenleben, der Größe der Sittlichkeit,
der Bruderliebe, dem Mut der Blutzeugen. — Aber man kann sich
kaum dem Eindruck verschließen, daß diese Ausführung im Rahmen
der Gesamtdarstellung eigentümlich deplaciert dasteht. So hat es
auch ein Recensent des Weinelschen Buches mit Recht empfunden,
der im übrigen ganz auf Seiten der Auffassung Weinels steht. Es
50*
156 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
scheint fast, als wenn stark divergierende Einflüsse auf W. in der
Beurteilung des Christentums eingewirkt haben und er nicht imstande
war, diese ganz auszugleichen. Auch bei der Darstellung der Einzel-
wirkungen des Geistes zeigt sich ein gewisses Schwanken in der
Beurteilung. W. geht jedesmal in den einzelnen Abschnitten
von den anomalen, außerordentlichen und singulären Erschei-
nungen des Geistes und der Geister aus und leitet von da aus
allmählich zu den ruhigeren, gleichmäßigeren, das gesammte Christen-
leben beherrschenden Wirkungen des Geistes über. Unwillkürlich
entsteht so in dem Leser das Urteil, daß jene letzteren Wirkungen
die weniger intensiven und realen, die weniger wertvollen Wirkungen
des Geistes auf den Durchschnittsmenschen repräsentieren. Wenn
man dann W. wiederholt versichern hört, daß hier erst das Höchste
und Beste vorliege, so fehlt diesen Versicherungen der Glaube. Man
ist geneigt, hier eher ein sich vordrängendes Werturteil des Verfassers,
als eine wirkliche Erhebung des geschichtlichen Thatbestandes zu sehen.
So außerordentlich anregend und belebend die Untersuchungen
Gunkels und Weinels für eine lebendigere Erfassung des Gesamnt-
charakters des Urchristentums gewesen sind, so wesentliche Förde-
rungen wir ihnen verdanken, so vieles gute und richtige neue in
ihnen enthalten ist, so scheint mir doch auch namentlich in der
Arbeit Weinels eine starke Ueberspannung bis zu einem gewissen
Grade richtiger und wertvoller Gedanken vorzuliegen. Und es
dient vielleicht zur Klärung und Förderung, wenn ich meine prin-
cipiellen Bedenken, die sich mir, einem ursprünglich unbedingten An-
hänger derselben Anschauung, in immer steigender Weise aufgedrängt
haben, darlege.
Ich meine, daß schon der Fundamentalsatz Gunkels und Weinels,
daß man in der Beurteilung der urchristlichen Verhältnisse und
Stimmungen nicht von der Lehre oder den Lehren über den Geist
ausgehen dürfe, sondern die Erlebnisse zum Ausgangspunkt nehmen
müsse, nicht so unbedingt richtig ist, wie dies auf den ersten An-
blick erscheinen möchte. Es wäre richtig, wenn es wirklich so
stände, daß im jungen Christentum die »Geistwirkungen< als etwas
absolut, oder doch verhältnißmäßig neues zum ersten Male aufgetaucht
wären. Dann wäre die These »erst die Erfahrung und dann die
Theorie« unmittelbar richtig. Nun ist das aber nicht der Fall. Wir
haben es vielmehr mit einem sehr komplicierten Gebiet des religiösen
Erfahrungs- und Vorstellungslebens zu thun, auf welchem sich die
verschiedensten Einflüsse kreuzen, und das eine bereits ebenfalls
komplicierte Vorgeschichte hat.
Zunächst hat beides, die Erfahrung des Geistes und die Vor-
Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 757
stellungen und Theorien darüber seine Vorgeschichte im zeit-
genössischen Judenthum. Es war, wie Gunkel selbst in der
Vorrede zur zweiten Auflage seines Buches bemerkt, ein Irrtum,
den er bei der Abfassung der ersten Auflage noch teilte,
daß im Spätjudentum die Erfahrungen der Geister ganz, oder
so gut wie ganz zurückgetreten seien. Im Gegenteil, es müssen
auch im Spätjudentum jene ekstatischen Erscheinungen ziemlich
häufig gewesen sein. Man hat bei der Beurteilung der Sachlage
sich zu sehr auf einzelne Urteile, z.B. die des sadducäisch gestimm-
ten ersten Makkabäerbuches verlassen. Je mehr man aber in die
Quellen hineinschaut, desto mehr Spuren pneumatischer Erfahrungen
entdeckt man auch hier. Die essenischen Kreise scheinen hier von
besonderem Einfluß gewesen zu sein. In erster Linie lebte die Gabe
der Prophetie weiter, aber auch alle möglichen andern pneumatischen
Erfahrungen: die Vision, die Entrückung von einem Ort zum an-
dern, die visionäre Erhebung in die himmlischen Welten, das Doppel-
gängerthum, das Gedankenlesen, vielleicht auch das Zungenreden,
alle diese Dinge lassen sich auch im Spätjudentum nachweisen. Was
die Massenhaftigkeit der Erscheinungen anbetrifit, so scheinen nament-.
lich die letzten Zeiten des jüdischen Staates voll ekstatischer Er-
regung gewesen zu sein, wie dies kaum anders zu erwarten ist. Die
Aufgabe einer Fortsetzung der Arbeit Gunkels hätte vor allem auch
darin bestehen müssen, den Boden, auf dem das Christentum ent-
stand, genau nach den Spuren der Geistwirkungen und der Lehre
vom Geist abzusuchen. Vor allem mußte auch hinsichtlich der Per-
son des Paulus einmal die nicht uninteressante Frage gestellt wer-
den, wie weit das visionär-ekstatische Element in seiner Persönlich-
keit aus seiner jüdischen Vergangenheit stammt, und wie weit es ın
ihm durch specifisch christliche Erfahrungen gefördert sei.
Die Frage erscheint nicht aussichtslos. Es läßt sich z.B. unter
anderem außerordentlich wahrscheinlich machen, daß jenes Entrückt-
werden in den dritten Himmel und das Paradies, von dem Paulus so
geheimnisvoll II Kor. 12, erzählt, eine Form der Vision war, wie sie
gerade in rabbinischen Kreisen häufig geübt wurde, daß Paulus also
mindestens die Form seines Erlebnisses seiner rabbinischen Ver-
gangenheit verdankte!). — Ueberhaupt wäre es nicht uninteressant
zu untersuchen, inwieweit das Judentum mit seinen Formen der
Geisteserfahrungen auf das Christentum eingewirkt habe. Der noch
wesentlichere Endzweck einer derartigen Untersuchung bliebe freilich
immer der m. E. mögliche Nachweis, daß jene ekstatischen Erschei-
1) Vgl. meinen Aufsatz über »die Himmelsreise der Seele.« Archiv f. Reli-
gionswissensch. IV 143 ff.
758 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
nungen zum Teil bereits im Judentum ihre Heimat hatten, daß
vielleicht im jungen Christentum jene Erfahrungen specifischer Geistes-
wirkung gar nicht so viel massenhafter aufgetreten sind als dort.
Diese Ergänzung der Gunkelschen Arbeit bleibt auch nach ihrer
Weiterführung durch Weinel ein dringendes Bedürfnis.
Aber an diesem Punkt ist nun Weinel doch das zuzugeben, daß
ein unbedingt neues schon in der ersten Gemeinde der Jünger Jesu
thatsächlich eingetreten ist. Es entsteht, wie es scheint, mit den
ersten Anfängen der Gemeinde der Jünger Jesu die bemerkenswerte
Ueberzeugung, daß der Geist Gottes in der Gemeinde Jesu wohne,
daß jeder Jünger Jesu den Geist besitze. Wenn wir nun aber
genauer zusehen, so ist schon dieser Satz: die Jünger Jesu besitzen
den Geist, bereits kein einfacher Erfahrungssatz mehr Er
konnte das in einer sich ständig ausbreitenden Missionsgemeinde, die
fortwährend neue Anhänger gewann, gar nicht sein. Es ist ein re
ligiöses Postulat, ein Glaubenssatz, der zum Teil auf den Erfahrun-
gen eines starken Enthusiasmus der ersten Zeiten beruht, in denen
die Jünger Jesu, die einfachen Fischer von Galilaea, vor den vor-
nehmen Herren in Jerusalem Zeugnis für die Messianität Jesu ab-
zulegen begannen, — zum Teil aber auch auf einer eschatologischen
Theorie: man lebte der Meinung, daß die letzten Zeiten hereinge-
brochen seien, daß schon die Zeichen der Endzeit sich erfüllten.
Gott sendet seinen Geist, der Geist ist der Verheißungsgeist, ein
Teil jenes glänzenden messianischen Erbes, das nun den Gläubigen
geschenkt werden sollte, das Angeld (e@xagzy%) und Unterpfand (ap-
eaBov) der messianischen Herrlichkeit. Und noch weiter greift die
religiöse Theorie. Wenn jeder Jünger Jesu den Geist hatte, so
mußte er ihn natürlich in einem Moment bekommen haben. Dieser
Moment kann kein anderer als die Taufe sein. Und so entsteht ein
zweiter Glaubenssatz — wie es scheint ebenfalls in allerersten Zei-
ten: die Taufe bringt den Geist, die Taufe der Jünger Jesu
ist ein Taufen mit heiligem Geist, während die Johannestaufe nur
»Wassertaufe« ist. In einem Abschnitt seines Werkes schildert uns
W. sehr wirkungskräftig die ungeheure Bedeutung, welche die Taufe
im ersten Christenleben hatte, und sucht durch diese Schilderung
deutlich zu machen, wie der Glaube, daß man bei der Taufe den
Geist empfange, auf dem Wege der Erfahrung entstanden sei.
Es ist nicht zu leugnen, daß thatsächlich mancher werdende Christ
der damaligen Zeit von der Taufhandlung derart innerlich er-
griffen wurde, daß diese Ergriffenheit sich in Zeichen des Geistes
auslöste. Aber man kann kaum glauben, daß dies immer geschehen
sei, oder daß es auch nur die Regel war. Dennoch steht der Satz:
Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 750
»Die Taufe bringt den Geist« für die erste Christenheit fest. Denn
er ist nicht aus der religiösen Erfahrung allein abstrahiert und ge-
wonnen. Er ist ein Satz des Glaubens, welcher der augenschein-
lichen Erfahrung in jedem einzelnen Fall nicht bedarf, ja schließlich
dieser überhaupt entrathen kann. Er hat gleichsam seine Existenz
in sich und gewinnt eine weit stärkere Stütze an der Theorie
von der sakramentalen Bedeutung der Taufe, die bereits Paulus vor-
aussetzt, als an einer immerhin nicht ganz zweifelsfreien Erfahrung
Und daß hier die Theorie bald mächtiger wird als die Erfahrung,
zeigt am deutlichsten das Beispiel des Paulus an diesem Punkt.
Seiner Erfahrung nach beruht das neue Leben in ihm
auf seinem persönlichen, wunderbaren Erlebnis vor Damaskus,
während die Taufe für ihn nur eine hinzukommende Bedeutung hat.
Dennoch gründet er das neue Leben der Christen, wenn er dogma-
tisch redet, vor allem auf die Taufe und das durch das Sakrament
der Taufe an dem Gläubigen gewirkte Wunder. Auch neue »That-
sachen< und »Erfahrungen« erzeugt von den ersten Generationen
der Christenheit an die Theorie. Ist z. B. in einem Fall in der
Apostelgeschichte geschildert, wie der heilige Geist selbst dem Paulus
die Reiseroute für seine Mission vorzeichnet, so hat der Redactor der
Apostelgeschichte, der ihren »abendländischen Text« schuf,
bereits ein System daraus gemacht, und läßt an einer ganzen Reihe
von Stellen den Geist dem Apostel seine Reisepläne eingeben.
So erhalten wir den durch diese verschiedenen Ueberlegungen
verstärkten Eindruck : es handelt sich im jungen Christentum nicht
um absolut neue und eigenartige Erfahrungen vom Geist, jedenfalls
nicht um diese allein. Als das eigentlich neue und ausschlaggebende
ist von Anfang an ein mit der urchristlichen Eschatologie zu-
sammenhängendes ,religidses Postulat hinzugekommen, jene Ueber-
zeugung, daß jeder Gläubige den Geist besitze. — Und weiter hat
nun dieser Glaubenssatz in bemerkenswerter Weise rückwärts ge-
wirkt auf die Auffassung vom Geiste selbst und dessen Wirkungen.
Denn dieser Glaube mußte ja von vornherein in eine starke Span-
nung geraten mit der alten Vorstellung, daß die Kraft des Geistes
nur in den außerordentlichen und ekstatischen Erscheinungen des
menschlichen Gemüts- und Willenlebens zum Ausdruck komme.
Was jedermann haben und erleben soll, kann nicht mehr das wunder-
bare und außergewöhnliche schlechthin sein. Je mehr sich der Kreis
der Gläubigen erweitert, desto unmöglicher wird das. Es ist m. E.
durchaus sicher, daß schon die erste Generation der Jünger Jesu in
Palästina nicht eine Schaar von Ekstatikern, Visionären und Wunder-
thätern war. Im Gegenteil, die Propheten und Wunderthater aus
760 Gott. gel. Ans. 1001. Nr. 10.
der ältesten Zeit sind uns mit Namen überliefert, sie bilden auchin
der ersten christlichen Zeit die Ausnahme und nicht die Reged.
Mächtig wird hier auch das Lebensbild Jesu nachgewirkt haben
Denn zwar ist jenes pneumatische, visionär-ekstatische Element auch
in Jesu Person vorhanden, aber doch viel weniger stark und
hervortretend als z. B. in den Gestalten der alten Propheten und
wieder in der Gestalt des Paulus. Jesus hat seine Jünger selbst
darauf hingewiesen, daß es etwas viel höheres gäbe, als Geisteraus-
treiben. — Wenn nun doch in der ersten Christenheit bereits die
feste Ueberzeugung herrschte, daß jeder Gläubige den Geist habe,
und daß wer den Geist nicht habe, auch nicht zu Christus gehöre,
so muß eben von den ersten Anfängen an hier eine Umwandelung
der Vorstellungen vom Geist und der Erfahrung seiner Wirkungen
begonnen haben. Soll der Geist im Leben jedes einzelnen Gläubigen
wirksam werden, so muß man seine Wirkungsphäre erweitern und
seine Wirkungen da schauen, wo man sie bisher nicht sah. Ausge-
sprochen ist diese neue Anschauung allerdings erst für uns erkennbar
und deutlich von Paulus. Für Paulus sind nicht nur Zungenreden,
Prophetie, geheimnisvolle Offenbarung, Wunderthaten und Kranken-
heilungen, sondern Freude, Friede, Liebe, Gerechtigkeit und Geduld,
genug das gesammte neue Leben der Christen, Wirkungen des
Geistes. Gunkel sah hier die That, den absolut neuen und origi-
nalen Gedanken des Paulus; Weinel macht bereits ein Fragezeichen
bei dieser These und bemüht sich, die Verbindungslinien nach rück-
wärts zu ziehen. Ich glaube, er hätte sie noch stärker ziehen dürfen.
Man sieht wenigstens den Aeußerungen des Paulus über den Geist
es kaum an, daß er absolut neue Anschauungen vorzutragen sich be-
wut gewesen ist.
Jedenfalls, ob Paulus den Schritt gethan hat, oder ob er
vor ihm vollzogen ist — was sich hier vollzieht, ist eine neue
Wendung in der Auffassung vom Geist, eine ueraßaaıs Eis HALO yévos.
Man kann ja zwischen der alten und der neuen Anschauung vom Geist
Brücken schlagen und darauf hinweisen, daß eben die Christen ihr
gesammtes Leben als etwas absolut neues und wunderbares, als ein
Wunderwerk Gottes empfanden und betrachteten, als ein Wunder,
wie Zungenreden, Dämonenaustreibungen, Krankenheilungen ihnen
Wunder waren. Und doch bleibt die Kluft. Man sucht nun die
Wirkungen des Geistes nicht mehr im außerordentlichen, momen-
tanen, übermenschlichen, sondern im gewöhnlichen, alltäglichen und
gleichmäßigen, im rein-menschlichen. Es thut eine andere Welt
sich auf, ein neues Leben sprengt die Hülle. Und was bisher als
Kern erschien, wird Hülle und Schale, die man bald wertlos weg-
Weinel, Die Wirkungen des Geister u. d. Geistes im nachapostol. Zeitalter. 761
werfen wird. Ein ganz ähnlicher Proceß wie hier liegt übrigens in
der Geschichte der griechischen Frömmigkeit vor. Die Art, wie
Plato in seiner Philosophie die ekstatische Religion der Orphiker
und ihre Eschatologie vergeistigte und adelte, wie bei ihm aus der
Sela povia, der ekstatischen Raserei jener Winkelkulte, der alles
irdische übersteigende Enthusiasmus des die himmlische Heimat
suchenden Philosophen ward, — ist der hier skizzierten Entwicke-
lung durchaus analog. So interessant es nun ist, auch in Plato und
der von ihm ausgehenden Frömmigkeit die Spuren jener ekstatischen
Frömmigkeit wieder zu entdecken, ebenso sehr und noch mehr wird
der Historiker vor allem doch das neue, die ungeheure Vergeisti-
gung der überkommenen Stimmung darstellen müssen.
Und wenn wir es noch einmal überlegen: Was waren die pri-
mären Faktoren bei dieser Entwickelung ? — so sehen wir religiöse
Ueberzeugung und Theorie und lebendige Erfahrung in einander
greifen. Eine in den Anfängen gesteigerte Erfahrung wunderbarer
Wirkungen des Geistes ruft das Postulat hervor: die Jünger Jesu
haben den Geist. Dies Postulat zwingt zur Korrektur der Anschau-
ung vom Geist und seinen Wirkungen. Man beginnt diese da zu
sehen, wo man sie bisher nicht sah. Die Erfahrung der Gläubigen
kommt der neuen Anschauung entgegen: das gesammte Christen-
leben wird zum Wunderwerk Gottes. Aber zugleich verleiht auch
jener neue große Gedanke, daß man die einfachsten und alltäglich-
sten Vorgänge des Christenlebens, alle Freude, die es täglich brachte,
allen Mut und alle Siegeszuversicht, alle Liebe als direkte Wir-
kungen des Gottes-Geistes an der Seele des einzelnen anzusehen
habe, dem Leben selbst neue Begeisterung, der Erfahrung neue
Flügel. —
Eine neue Frage, die weder von Gunkel noch von Weinel in
Angriff genommen ist, eröffnet sich von hier aus. Sollte nicht auch
diese neue Anschauung vom Geist als einer gleichmäßig wirkenden,
das Leben stetig erfüllenden Kraft im Judentum vorgebildet sein?
Zwar im palästinensischen Judentum finden sich, soweit ich sehe,
hier nicht in dem Maaße Berührungspunkte, wie im hellenistischen
Judentum. Hier drängt sich m. E. die Parallele zwischen der
Gestalt der sopl« (yoy nveüun ooplas Sap. Sal 1,8), wie diese
ausgebildet in der Sapientia vorliegt, und der des &yıov nveüu« bei
Paulus auf. Auch hier haben wir, wenn wir nach den Wirkungen
der oogéa fragen, dasselbe Ineinander des außergewöhnlich-
ekstatischen und des gleichmäßig-alltäglichen. Die Weisheit giebt
Gewalt über die Geister (Dämonenaustreiben) 7, 20, sie lehrt die Ge-
danken der Menschen (Gedankenlesen), die magischen Kräfte der
162 Gott. gel, Ans. 1901. Nr. 10,
Wurzeln (Heilungen), sie begabt Freunde Gottes und Propheten 7, 27,
auf der anderen Seite sind ihre Früchte Erkenntnis 7,17ff und
sittliche Güte 7,30. Und wie bei Paulus das &yıov zveüue beinahe
Person, eine Hypostase neben Vater und Sohn geworden ist, 80
tritt in der Sapientia und ‘den verwandten Schriften des Judentums
— vor allem Philo wäre hier heranzuziehen — die Weisheit als
eine göttliche Hypostase neben Gott! Auch kann es als gesichert
gelten, daß Paulus die Sapientia kannte und diese für ihn von
großem Einfluß war. Ebenso interessant wäre es, auf die Unter-
schiede in den Gestalten der oopie und des &yıov nveüux zu achten,
auf den intellektuellen Grundcharakter dort, auf die ethische Haltung
hier, die mehr immanente Auffassung in der Sapientia, die transcen-
dente bei Paulus. Und auch von{hier würde sichtbar werden, wie
kompliciert schon die Vorgeschichte der Anschauung und der Lehre
vom Geist und seinen Wirkungen war, und wie wenig man das Recht
dazu hat, bei der Darstellung dieses Gebiets innerhalb des Christen-
tums gleichsam ab ovo zu beginnen. Es ist kein Vorteil der von
Gunkel und Weinel befolgten Forschungsmethode, daß sie die Zu-
sammenhänge nach dieser Richtung ganz vernachlässigt.
Weiter hat man sich dann, und damit gelangen wir erst auf das
eigentliche Gebiet Weinels, zu vergegenwärtigen, daß das Evange-
lium auf heidnischen Boden übertritt und sich nun innerhalb einer
Welt entwickelt, die ebenfalls gerade zu jener Zeit erfüllt war von
religiösen Vorstellungen und Erfahrungen ähnlicher ekstatischer Art.
Es wurde oben rühmend hervorgehoben, wie Weinel seine Unter-
suchung von vornherein in einen großen religionsgeschichtlichen Zu-
sammenhang hergestellt hat. Es hätte aber nach dieser Richtung
noch mehr geschehen können. W. belehrt uns über den Geist und
die Geister in den verschiedensten Zeiten, aber gerade die Religion
des römischen Weltreiches in der Kaiserzeit hat er gar nicht oder
doch fast gar nicht nach dieser Richtung hin einer Untersuchung
unterzogen.
Nur nach zwei Richtungen hin hat Weinel hier gearbeitet.
In dem ersten sehr schönen Abschnitt seines Werkes legt er
dar, wie das Christentum das es umgebende Heidentum, mit dem
es im Kampfe lag, als Werk der Dämonen ansah, wie für die
Christen der ersten Zeit das ganze Heidentum von Wirkungen der
bösen Geister durchzogen war. Ferner zieht er in seiner Darstellung
der Geisteswirkungen den hier sich oft noch enger mit der heidni-
schen Religiösität berührenden Gnosticismus heran. — Aber auf die
heidnische Religiosität der damaligen Jahrhunderte selbst hat er
seine Untersuchung nicht oder doch nur gelegentlich ausge
Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol, Zeitalter. 768
dehnt. Stoff und Material böte sich genug. Das gesammte Wunder-
und Orakelwesen der Zeit, der Kult des Asklepius, des Serapis und
der übrigen Heilsgötter mit seinen Goeten und Thaumaturgen,
seinen xdroyoı (Besessenen), den Inkubationen, Wallfahrten und
tausend Mittelchen, — die ausgedehnte Zauberlitteratur der Zeit,
das Mysterienwesen, von dem wir ja leider nur wenig wissen, die
wilden orphisch-bakchischen Kulte, vor allem auch die Mithrasreligion
mit ihrer Pflege der Ekstase und der Verzückung und anderes, —
Schriftsteller wie Plutarch und jene krausen und bunten Mystiker
des zweiten Jahrhunderts Apulejus, Aristides, Maximus, — Wunder-
thäter wie Apollonius von Tyana und noch andere mehr — hätten
herangezogen werden müssen.
Es scheint fast, als wenn ich hier unbillige Anforderungen stelle.
Aber ich meine, daß gerade, wenn die Arbeit W’s. sich nach dieser
Richtung hin gewandt hätte, sein Urteil und seine Darstellung wesent-
lich anders ausgefallen wäre.
Zunächst was die einzelnen Erscheinungen betrifft, so hätte ja
W. zu den von ihnen registrierten Erscheinungen hier oft die aller-
nächsten Parallelen finden können. Er hätte dann z. B. darüber
genaueren Bericht und Rechenschaft geben können, was die xatadeo-
wol (Justin Dialog 85) seien. Vor allem hätte er besser erkannt,
wie tief die gnostischen Sekten mit ihren géArea und yaeırıoıa
ihren dyoyına, deren Beschaffenheit sich ebenfalls aus den Zauber-
texten ergiebt, und éxaoda/, mit ihren daduovss ndpedpoı und
Övsıponoumot in der religiösen Welt des umgebenden Heidentums
und in der Zauberpraxis der damaligen Zeit stecken.
Was aber das wesentlichste ist, von hier aus hätte W. erst die
richtigen Größenmaßstäbe für die von ihm behandelten Erscheinungen
gewonnen.
Denn wie sich die Meinung als eine Täuschung ergab, daß im
Spätjudentum die Geistwirkungen und Erfahrungen vom Geist auf-
gehört, und das Christentum hier mit etwas neuem eingesetzt hätte,
— so sind auch, wenn man das Christentum mit der umgebenden
Welt vergleicht, ebenfalls jene ekstatischen Wirkungen des »Geistes«
keineswegs etwas dem Christentum eigentümliches, oder auch in ihm
besonders stark hervortretendes. Vielmehr bewegt sich die ganze
absterbende Frömmigkeit des Hellenentums bis zu ihrer letzten
Konzentration im Neuplatonismus in eben dieser Richtung. Wunder
und Orakel, Heilungen, ein atavistischer Geister- und Gespenster-
glaube, Visionen, Ekstase, wilde Verzückungen, — das sind die
Charakteristika der dekadenten Religion des Hellenentums. Hier,
und fügen wir hinzu in der Schätzung des Sakramentalen in der
764 Gott. gel. Ans, 1901. Nr. 10.
Beligion liegt gerade das verbindende Band zwischen der Frömmig-
keit des Christentums und der es umgebenden Welt des römischen
Kaisertums.
So ist es denn kein Wunder, wenn von dem ersten Uebertritt
des Evangeliums auf hellenischen Boden gerade jenes »pneumatischec
Element mächtig verstärkt wurde, wenn das farbenreichste und
fesselndste Bild eines enthusiastischen vom Geist getragenen Gemeinde-
lebens uns in der Gemeinde von Korinth geboten wird. So etwas,
wie jene I. Kor. 12—14 geschilderten Geistesgaben, wollte und suchte
man gerade im Westen bei jeder neuen von dem Osten kommenden
Religion, auch beim Evangelium. Hier läge nun für den Forscher
die Aufgabe vor, die Frage zu stellen, wie weit hier an diesem
Punkt die dekadente griechisch-römische Religiosität auf die Ent-
wickelung des Christentums zurückgewirkt hat, in wie fern sie jenes
pneumatisch-enthusiastische Element gesteigert hat, welche Formen
jener pneumatischen Lebensäußerungen der Religion etwa auf heid-
nischem Boden gewachsen zu sein scheinen. Auf alle diese Fragen
ist Weine] nicht eingegangen. Ueberzeugend ließe sich namentlich
der Nachweis führen, daß gerade in den an der Peripherie des
Christenthums liegenden Gebilden der montanistischen und gnosti-
schen Sekten die pneumatischen Erscheinungen massenhafter, breiter,
bunter und verwirrender auftreten. Und das wird man auf keinea
andern Grund zurückführen dürfen, als auf die nähere und intimere
Berührung dieser außenstehenden Kreise des Christentums mit der
umgebenden Welt der hellenisch-römischen Religion. Von dorther
erfolgte das Einströmen dieser Elemente, wie sich dies in einer
ganzen Reihe von Einzelheiten, auf die bereits oben hingewiesen
wurde, auch noch bestimmt erweisen läßt.
Noch lohnender und instruktiver aber wäre weiter für den Re
ligionshistoriker der Nachweis, wie jene >pneumatischen« Erschei-
nungen innerhalb des genuinen Christentums von Anfang an nicht
im entferntesten den Reichtum, die Mannigfaltigkeit, die Wildhet
und Kräftigkeit aufweisen wie in der umgebenden heidnischen Welt.
Greifen wir nur einige wenige Punkte heraus: z. B.: Kranken
heilungen und Exorcismen. Was für einer Fülle von phantastischen
Erscheinungen begegnen wir, wie schon oben angedeutet wurde, auf
diesem Gebiet im hellenisch-römischen Heidentum, wie vielem heißen
Glauben und Aberglauben, wie vielen Wunderkuren und Wunder-
thaten. Man kann geradezu sagen, daß der Glaube der damaligen
heidnischen Welt im Heilungs- und Wunderglauben aufging. Wie
einfach und reduciert sind auf diesem Gebiet die pneumatischen
Formen im Christentum : Heilen im Namen Jesu, Damonenanstreibea |
Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 765
im Namen Jesu — das ist so ziemlich alles, was wir hier finden.
Und das Heilen im Namen Jesu kann so leicht vergeistigt
und in einfaches Gebet verwandelt werden, und aus dem Dämonen-
austreiben wird die kirchliche Sitte des Exorcismus. Die Apologeten
berufen sich viel mehr und öfter auf die in der Vergangenheit ge-
schehenen Wunder und Weissagungen zum Beweis der Wahrheit
ihrer Religion, als auf die noch in ihren Tagen und vor ihren Augen
sich ereignenden Wunder. Weiter: nehmen wir das Zungenreden
der ersten Christen, das übrigens doch recht bald verschwunden zn
sein scheint. Es ist äußerlich betrachtet doch nur ein schwaches
Gegenstück der ekstatischen Erregungen, wie sie uns in den diony-
sianischen Kulten und im Kult der kleinasiatischen Magna Mater
und des Zeus Sabazios begegnen. Die ganze »magische« Kunst, das
Geisterrufen, die Hypnose, die Erscheinungen der Suggestion und
Autosuggestion und manches andere, — W. hat interessante Beispiele
dafür auch innerhalb des Christentums nachgewiesen, aber immer
nur innerhalb der speciell vom Heidentum berührten gnostischen
Sekten. Die visionären Erfahrungen der Entrückung durch Himmel
und Hölle finden wir in den Mysterienvereinen der Mithrasreligion,
bei den Rabbinen des ersten und zweiten Jahrhunderts, deshalb
auch bei Paulus, und in der halb christlich, halb jüdischen apokryphen
Litteratur zum System ausgebildet, innerhalb des späteren genuinen
Christentums sind kaum Spuren und Andeutungen vorhanden. —
Weinel hat es namentlich unter Heranziehung der gnostischen Sekten
zustande gebracht, ein farbenreiches Bild jener pneumatischen Er-
‚scheinungen des Christentums der ersten Jahrhunderte zu zeichnen ;
und es kann gar nicht geleugnet werden, daß viele Durchschnitts-
christen der Zeit den Halt ihres Glaubens in jenen Außendingen
wirklich gefunden haben. Aber mit nicht allzu großer Mühe ließe
sich ein viel reicheres nnd bewegteres Bild aus dem religiösen Leben
des Heidentums gegenüberstellen, und das wird W. am wenigsten
leugnen, auch hier neben mancherlei Betrug und phantastischer
Spiegelfechterei auch ehrlicher, wenn auch mißleiteter Glaube nach-
weisen. Ein solcher durchgeführter Vergleich würde endlich auch
für die Gesammtbeurteilung der vorliegenden Erscheinungen von
großem Werte sein. Man würde deutlicher sehen: die in Betracht
kommenden religiösen Aeußerungen sind doch hüben wie drüben
Krankheitserscheinungen und Verzerrungen, im besten Falle Außen-
dinge und Hüllen echten religiösen Lebens. — Es sind hier wie dort
gleichsam Fiebererscheinungen der Religion. Sie sind dort das
Hauptcharakteristikum eines dekadenten absterbenden Lebens, dessen
erlöschende Flamme noch einmal auflodert. Sie sind hier in der
766 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
jungen aufstrebenden christlichen Religion krankhafte Ueberreizt-
heiten der bis zum äußersten angespannten Kraft, — teilweise
auch Rückeinflüsse der dekadenten Religion auf die neu aufstrebende.
Und der Unterschied ist zwischen dem neuen Leben des auf-
strebenden Evangeliums und der in das Grab sinkenden Religion des
Hellenismus, daß in diesem jene Hüllen, Außendinge und Krankheits-
erscheinungen die Religion selbst geworden sind, während für das
Christentum dieselben Erscheinungen nur die Hüllen sind, unter
denen sich ein neues Leben von eigenartiger Kraft entwickelt.
Unter diesem Aspekt wäre die Geschichte des Geistes in dem
Christentum der römisch - griechischen Kulturwelt zu schreiben.
Es müßte geschildert werden, wie gerade dem pneumatischen
Element in der jungen christlichen Religion reichliche Nahrung in
der umgebenden Welt des Hellenismus geboten wurde, wie infolge
dessen dieses zunächst in den heidenchristlichen Gemeinden eine
mächtige Stärkung erhielt, wie an diesem Punkte gerade der neue
Glaube in der alten Welt voll dekadenter Stimmung gern aufge-
nommen wurde, wie wiederum an diesem Punkte das heidnische re-
ligiöse Leben mit seinen Formen das Christentum bestimmt hat —
wie dann auf der andern Seite schon mit Paulus und seinem be
sonnenen praktischen Verhalten gleichsam ein Gesundungsproceß be-
ginnt, wie sich allmälich der Gedanke durchsetzte, daß der Geist Gottes
nicht in den außergewöhnlichen und wunderbaren, sondern in den
gleichbleibenden Erscheinungen des Christentums walte, wie infolge
dessen die Ueberzeugung, daß man den Geist habe, blieb, auch ak
jene äußeren ekstatischen Offenbarungsformen aufhörten, bis endlich
allerdings die werdende Kirche mit ihren Institutionen, ihren Bischöfen,
Verfassung, Bekenntnis jene Unmittelbarkeit der frommen Stimmung
vertrieben und getödtet hat.
Das heißt, die Geschichte des >Geistes< im ersten Christentum
hätte etwa unter den Gesichtspunkten geschrieben werden müssen,
die W. selbst in dem bereits mehrfach angezogenen Abschnitt
über den >Kern des Beweises< andeutet. Aber freilich ist W.
dieser Auffassung nicht treu geblieben. Sein Hauptinteresse ging
darauf, zu zeigen, wie mächtig doch die ekstatische enthusiastische
Stimmung auch im nachapostolischen Zeitalter bis zum Ende des
zweiten Jahrhunderts gewesen sei. Er entwickelt den größten Scharf-
sinn, um überall die Spuren jener pneumatischen Lebensäußerungen
nachzuweisen und bringt hier sehr viel neues und bemerkenswerte
bei. Er sucht durch jene erwähnten Parallelen, die er reichlich bei-
bringt, nachzuweisen, wie real und konkret jene Aeußerungen des
pneumatischen Lebens zu fassen seien. Aber dabei kommt die
Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 767
Hauptsache nicht zu ihrem Recht : jene fundamental neue Auffassung
vom Wirken des göttlichen Geistes in den ruhenden und gleich-
mäßigen Erscheinungen des Christenlebens.
Und in jenem Bestreben, den Reichtum der pneumatischen
Lebensäußerungen in der ersten Christenheit nachzuweisen, ist W.
nun unseres Erachtens vielfach zu weit gegangen. Ein besonderes
Beispiel unter vielen scheint mir .die Behandlung des Hermas zu
sein. Ich vermag wenigstens durchaus nicht die Ueberzeugung zu
gewinnen, daß dieser trockene, philiströse und beschränkte Verfasser
des »Hirten« ein Pneumatiker gewesen sein soll. Die neueren
Untersuchungen scheinen mir überdies die litterarische Abhängigkeit
des Hermas im weitesten Maaße festgestellt zu haben. Ganz unbe-
sehen scheint H. eine Unmenge fremden und zwar jüdischen Materials
einfach übernommen und christlich umgestempelt zu haben. Mit
diesem Nachweis fällt aber die Annahme pneumatischer Erlebnisse
des Hermas so ziemlich dahin. Es ist bei ihm m. E. alles Nach-
ahmung, alles litterarische Manier. Es hilft nichts, daß W. an einer
Reihe von Stellen die psychologische Wahrheit und damit die Realität
der Visionen des Hermas durch Parallelen zu erweisen sucht, der-
artiges kann auch nachgeahmt und übernommen sein.
Und so wäre noch an manchen anderen Punkten eine schärfere
Kritik der Ueberlieferung geboten gewesen. — Was Weinel S. 42ff
im allgemeinen zum Beweise seiner These von der Massenhaftigkeit und
Kräftigkeit der Geistwirkungen im nachapostolischen Christentum
beibringt, schlägt meistens nicht durch, weil die angezogenen Aeuße-
rungen vielfach gerade in der Richtung der neuen (paulinischen)
Auffassung vom Geiste liegen. Wenn W. seine Darstellung nicht
nach sachlichen Gesichtspunkten gruppiert hätte, sondern einer zeit-
lichen Ordnung gefolgt wäre, wenn er die Geistäußerungen der aller-
ersten apostolischen Zeit ausgeschieden hätte, wenn er die Frömmig-
keit des genuinen Christentums für sich behandelt und nicht überall
gleich die gnostischen Sekten mit herangezogen hätte, wenn er end-
lich manchen Zeugnissen kritischer gegenüber verfahren wäre, — so
wäre das Bild, das er gezeichnet, ganz bedeutend ärmlicher ausge-
fallen ; und es hätte sich, glaube ich, der entgegengesetzte Eindruck
aufgedrängt, nämlich dieser, daß Gemeindezustände, wie sie der
erste Korintherbrief zeigt, überraschend schnell in der Entwickelung
der Christenheit zurückgetreten und zurückgedämmt sind. Das von
W. bekämpfte Urteil Weizsäckers scheint mir im großen und ganzen
doch eher das richtige zu treffen, als Weinels Darstellung.
Das ist allerdings Weinel zuzugestehen, daß sich unter gewissen
Umständen und bei gewissen Klassen von Gläubigen auch noch in
968 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
späterer Zeit specifisch pneumatische Erscheinungen nachweisen
lassen. Vor allem in den Verfolgungszeiten begegnen wir ihnen; die
Pneumatiker der späteren Zeit sind in erster Linie die Märtyrer.
Bestimmte Partieen der Apokalypse, der Kriegserklärung des jungen
Christentums an das römische Cäsarentum, sind thatsächlich in hoch-
gespannter ekstatischer Erregung geschrieben. Ignatius ist, wenn
man seinem Rhetoren-Pathos auch etwas mißtrauischer sich gegen-
überstellt als W., dennoch sicherlich Ekstatiker, vielleicht auch
Polykarp, sicher die gallischen Konfessoren, Perpetua u. s. f£ Wir
sagten oben, daß die speciellen Geisteswirkungen als religiöse Fieber-
erscheinungen anzusehen seien. Das bestätigt sich auch hier. Wie
über den Soldaten vor und in der Schlacht eine fieberhafte Erregung
kommt, die ihn fortreißt und über sich hinaushebt, so stellten sich
auch in jenem großen wilden Kampf, im Kerker, auf der Folter, in
der Arena, wenn ein Unterliegen in Schande hier drohte, wenn die
Krone des ewigen Lebens dort winkte, jene gewaltsamen ekstatischen
Erregungen ganz von selbst ein. Und nicht nur die Märtyrer,
sondern auch ihre ganze Umgebung wurden in den Zeiten der Not
und Verfolgung von dem >Geist< der alten Zeit ergriffen.
Ich fasse zusammen. Es ist schade, daß W., trotzdem er
die Grenzen seiner Untersuchung so weit gesteckt hat, doch
in ihr die nächstliegenden Gebiete nicht abgesucht hat, und
weder das Judentum noch den Hellenismus der römischen Kaiser-
zeit näher berücksichtigt hat. Er hätte dann notwendig zu
einer andern Wertung und Gruppierung des vorzüglichen von ihm
gesammelten Materials kommen müssen. Es wäre dann vielleicht
noch besser in der Darstellung zum Ausdruck gebracht, wie das
wesentliche und charakteristische im jungen Christentum nicht etwa
die specifischen pneumatischen Erfahrungen, sondern eine neue An-
schauung — zwar keine >Lehre«, aber doch eine religiöse Ueber-
zeugung — vom Wirken des Gottesgeistes im Menschenleben war.
Er hätte sich nicht so sehr bemüht, nachzuweisen, wie häufig jene pneu-
matischen Erfahrungen noch weithin im nachapostolischen Zeitalter ge-
wesen seien, — sondern vielmehr den Schwerpunkt seiner Ausführung
auf den Nachweis gelegt, wie es kam, daß die Grundüberzeugung, daß
man den Geist besitze, im Christentum lebendig blieb, während das
ekstatisch-enthusiastische Element in der jungen Religion sehr bald
zurückgedrängt wurde. Er hätte auch vielleicht das die Unter-
suchung hemmende und störende Schema: erst die Erfahrung und
dann die Lehre, doch wenigstens teilweise durchbrochen.
Ich gehe zu der Besprechung einer Reihe von Einzeilheiten
über, Im ersten Teil seiner Abhandlung schildert W. um den Hinter-
Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 769
grund für seine Darstellungen der Geisteswirkungen zu gewinnen,
die Art, wie das Christentum das Heidentum und den Kampf, den
das Heidentum gegen jenes führte, direkt als Wirkung der Dämonen
betrachtete. — In dem Gottesdienst der Heidenwelt, in der feind-
seligen Stellung, welche diese zum Christentum einnimmt, in der
Irrlehre, namentlich der Gnosis, in allen Versuchungen, die von dort
ausströmen, wittert der Gläubige dämonische Kräfte. Mit starker
Phantasie zeichnet W. (vgl. S. 24) die Stimmung der Christen, die
sich auf Schritt und Tritt von Dämonen umlagert fühlen. Trotz aller
Bewunderung des hier bewiesenen Geschickes einer fesselnden Ge-
samtdarstellung, muß doch auch hier eine gewisse Einseitigkeit der
Darstellung hervorgehoben werden. Ich glaube, daß W. den Auf-
klärungscharakter, den das junge Christentum vielfach doch
auch zeigt, bei dieser Schilderung sehr stark übersehen hat. Das
Christentum fühlte sich im Vergleich mit dem Heidentum doch
nicht nur im Besitz der größeren Kraft, sondern auch der helleren
und klareren Erkenntnis. In der Gemeinde zu Korinth zeigte sich,
trotzdem sie den niederen Schichten der Bevölkerung angehörte,
sofort der volle Radicalismus der Aufklärung xdvres yrücıv fyopev.
Auf der andern Seite ist der heidnische nationale und lokale Götter-
glaube stark unterhöhlt. Das augusteische Zeitalter und die folgen-
den Decennien waren ein Zeitalter der Aufklärung unter den Ge-
bildeten gewesen. In zwei bis drei Menschenaltern pflegt der Ra-
dicalismus in die Massen hinabzusteigen. Die Erneuerung des reli-
giösen Sinnes in der hellenischen und römischen Gesellschaft im
zweiten nachchristlichen Jahrhundert scheint wesentlich nur die
oberen Schichten der Bevölkerung ergriffen zu haben. Man muß
mit der Möglichkeit rechnen, daß im Zeitalter der Apologeten für
weite Kreise der Bevölkerung der Dienst der Götter stark an Re-
alität verloren hatte. Auch für die Apologeten ist das Christentum
doch in erster Linie Erkenntnis und Aufklärung, sie sehen auf den
Aberglauben des Heidentums mit Stolz herunter, sie fühlen sich da-
bei im Bunde mit den besten Vertretern der griechischen Weisheit.
Allerdings sind gewichtige Ausnahmen vorhanden. Es wäre inter-
essant dem genauer nachzugehen. Leider ist eine wirklich eindrin-
gende Untersuchung der Apologeten hinsichtlich ihrer religiösen
Stellung zum Heidentum noch nicht geschrieben. Ich kann hier nur
einzelne Vermutungen aussprechen. z. B. scheint gerade das, was
wir im Glauben der damaligen Zeit als das niedrigste ansehen
möchten, der weit verbreitete Geister- und Gespensterglaube, die
Magie, die Totenbeschwörungen und alle mit diesen Dingen zusam-
menhängenden Erscheinungen, auch für die Christen, gebildete:
Gott. gel. Ans, 1901. Nr, 10, ' 5]
770 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
und ungebildete, eine Realität gewesen zu sein; sie empfandea
hier mit Grauen die Werke des Teufels und seiner Dämonen. Be
stimmte, damals beliebte Mysterienkulte werden denselben Eindruck
auf sie gemacht haben. Auch sonst — so namentlich in den He-
lungswundern des Asklepioskultes, im Orakelwesen etc. — mußte man
Thatsachen zugeben, denen gegenüber man sich gerne mit der Er-
klärung half, daß hier Dämonen ihr Spiel trieben. Aber der alltäg-
liche heidnische Kult, der die Christen auf Schritt und Tritt umgab,
war für viele Christen kaum eine Realität. Sie konnten darüber
lachen und spotten, Euhemeros hatte in den christlichen Apologeten
seine getreuesten Anhänger. — Weinel selbst macht eine Reihe von
Stellen namhaft, in denen die heidnischen Götter als nichtige Wesen
behandelt werden. Er macht demgegenüber geltend, daß hier nur
überkommene alttestamentliche Urteile weiterwirken. Aber ist denn
nicht auch die Theorie, daß in dem heidnischen Gottesdienst Dä-
monen ihr Spiel treiben, und die Götter der Heiden selbst Dämo-
nen seien, eine seit langem ausgebildete und fertige Theorie, welche
die Christen nur zu übernehmen brauchten ? Schon von Xenokrates
dem Schüler Platos vorgetragen, in der mittleren Stoa weiter ausge-
bildet, in unserer Zeit von einem Schriftsteller wie Plutarch ver-
treten, hat diese Theorie weithin das gebildete Hellenentum be-
herrscht. Von dorther hat das Judentum die Lehre übernommen und
sie mit der Sage vom Engelfall (Genesis 6) kombiniert. Die Theorie,
daß der Götzendienst ein Werk der Dämonen sei, ist bereits im
Henochbuch (c. 19) angedeutet, in den Jubiläen bestimmt ausge
sprochen. Wenn nun das Christentum unter dem Vorgang des
Paulus diese Theorie übernahm und überall das Heidentum für Dä-
monenwerk erklärt, so liegt auch hier schwerlich hinter der Theorie
überall die Erfahrung. Ich kann mich schwer davon überzeugen,
daß jeder Christ, wie Weinel meint, hinter jedem Eingang eine
Hauses mit seinen Laren und Penaten, hinter jeder Tempelsäule,
in jeder Tempelhalle und in jeder Marmorstatue Dämonen gesehea
hätte, die auf ihn lauerten, ihn anstarrten und ihm nachstellten.
Das sind starke Uebertreibungen. Vieles von dem, was Weinel ia
dem Abschnitt ausführt, ist richtig und beherzigenswert. Aber &
fehlt die Nüance.
Der Macht der Dämonen, »der Geister<, stellt nun nach Weind
der Gläubige die Macht des Geistes gegenüber. Das ist richtig, nur
daß wir eben noch dieses hinzufügen möchten, daß der Gläubige dem
Aberglauben des Heidentums auch die bessere Erkenntnis, die sichere
Wahrheit, den Glauben an den einen lebendigen Gott gegenüber
stellte, |
Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 771
Immer von neuem betont W. dabei, daß formell zwischen den
Wirkungen des Geistes und der Geister kein Unterschied sei, daß
ihre Wirkungssphäre und Wirkungsart zunächst dieselben seien, und
daß erst nachträglich nach bestimmten, von außen herangebrachten
Indicien jene Wirkungen den bösen Geistern und diese dem guten
Geist zugesprochen werden. Das ist bis zu einem gewissen Grade
richtig, und doch wieder nicht ganz richtig. Wir stellen die Gegen-
frage: Hat nicht auch hier des öftern von vornherein die »Vor-
stellung« vom Geist und seinem Wesen die Erfahrung beherrscht ?
Wenn die Christen (und schon die Juden) den Glauben hatten an
das eine &yıov znvsüun des großen allmächtigen Gottes, konnte man
da alle jene Wirkungen, die man den Geistern zuschrieb, auch
eventuell dem Geiste zusprechen? »Gott ist nicht ein Gott der Un-
ordnung, sondern des Friedens<, mit diesem Satz kritisiert be-
reits Paulus die Geistwirkungen. Die Vorstellung vom Geist diri-
giert die Erfahrung und ihre Beurtheilung. Wenn das Christen-
tum auch innerhalb der hellenischen Welt, wie wir oben gesehen
haben, eine Menge von Erscheinungen ekstatischen Schwarmwesens,
die ringsum in der umgebenden Welt sich nachweisen lassen, ab-
lehnt und nicht als Wirkung des Geistes anerkannte, wenn hier
eine gewaltige Reduktion in dieser Richtung stattfand, so geschah
das, weil von vornherein der Geist Gottes für den Christen etwas
auch der Art nach himmelweit verschiedenes von den Geistern des
Heidentums war. Auch hier hat die Vorstellung und der Glaube die
Erfahrung beherrscht.
In der Darstellung der Wirkungen des Geistes ordnet W. den
gesammten Stoff nach psycho-physiologischem Schema; in zwei Haupt-
teilen behandelt er zuerst die Erscheinungen auf dem motorischen,
dann die auf dem sensorischen Gebiet des leiblich-geistigen Lebens,
und bespricht so nach einander geistgewirktes Sprechen, Schreiben,
Heilen, Wunderthun etc., dann geistgewirktes Hören, Sehen, Ver-
nehmen, Erkennen, Geisteswirkungen auf dem Gebiet des Geschmackes,
des Geruches, des Tastsinnes. — Auch in dieser Einteilung zeigt W.,
daß bei ihm sich das Interesse des Psychologen und Psychiaters
eigentlich mit dem des Historikers kreuzt. Für die Zwecke der
wissenschaftlichen Erforschung eigentümlicher Seelenvorgänge ist
dies Schema natürlich außerordentlich geeignet. Aber es ließe sich doch
fragen, ob nicht für die geschichtliche Würdigung dieser Vorgänge
innerhalb der Entwickelung des Christentums andere Schemata ge-
eigneter wären. Empfehlenswerter wäre z. B. meines Erachtens ein
an I. Cor. 14 sich anlehnendes Schema nach dem Gesichtspunkt des
Zweckes der Geistesgaben. Voranzustellen wären etwa die Geistes-
51*
172 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
gaben, die sich auf den Nutzen der Gemeinschaft beziehen, sei es
unter dem Gesichtspunkt der Hülfeleistung (Heilungen, Exorcismen,
sonstige Wunder, dıaxoviaı etc.), sei es unter dem der Offenbarung
(Zukunftsweissagung, &Asyyuös, Enthüllung himmlischer Geheimnisse).
Dann könnten die Gaben fulgen, die namentlich individuellen Wert
haben und nur nebenbei den Zweck der oixodoun haben, dann die
Gaben, die ausschließlich den Werth individueller Erfahrungen haben.
Die Art, wie sich das Christentum zu diesen einzelnen Arten von
Geistesgaben stellte, wäre dann wieder außerordentlich charakte-
ristisch. Doch mag zugegeben werden, daß das Schema Weinels
für Vollständigkeit und Uebersichtlichkeit Garantie bietet.
Bei der Darstellung des geistgewirkten Sprechens beginnt W.
mit der auf diesem Gebiet außerordentlichsten Erscheinung des Zun-
genredens. Bestimmt wird Weizsäckers Versuch, das Zungenreden
als eine absichtliche Einführung eines fremden religiösen Gebrauchs
in die christlichen Gemeinden aufzufassen, abgewiesen. An eine
absichtliche Mache ist freilich nicht zu denken, aber immerhin bliebe
doch zu überlegen, ob hier nicht eine halb unbewußte Anlehnung
an Vorgänge hellenischen Mysterienwesens stattgefunden habe, ob
nicht wenigstens die Beliebtheit dieser Gabe in der korinthischen
Gemeinde sich aus dem nicht ganz zum Bewußtsein kommenden
Streben erklärt, ähnliches in der neuen Gemeinde zu haben, wie
in den heidnischen Mysterien. — Auch Weinel kann sich dem Ein-
druck nicht entziehen, daß diese Gabe des Zungenredens sehr
rasch in der Kirche verschwunden ist. Ich möchte das noch stär-
ker betont haben. Daß der Verfasser der Acta noch eine deut-
liche Vorstellung davon gehabt habe, ist doch zum mindesten nicht
sicher. Dasselbe gilt von den Aeußerungen des Irenaeus. Jene
Zungenredner, die Celsus (Orig. c. Cels. VII, 9) beobachtet hat,
hingen mit dem Christentum wohl nur ganz lose, oder gar nicht zu-
sammen. Sicher aber sind die Zauberformeln in den koptisch-gno-
stischen Schriften, wie in der Pistis Sophia nicht Zungenreden. Eine
schöne Schilderung der Zungenrede aber findet sich in einer von
Weinel übersehenen Stelle des Testamentum Job 48—507) (James
Apocrypha Anecdota Text. a. Studies V 135). Hier beginnen die
drei Töchter Hiobs, nachdem sie den Zaubergürtel vom Vater em-
pfangen haben, mit Zungen zu reden. Die Schilderung ist überaus
anschaulich : xal dveAußsv KAAnY xagdiav pyxete td tis pis peovely,
anspdeykaro dt ti dyyskınjj duadéxtm Upvov dvazludacı vo eG
1) So weit ich mich erinnere, machte mich H. Gunkel vor längerer Zeit auf
diese wichtige Stelle im Gespräch aufmerksam.
Weinel, Die Wirkungen des Geistes u, d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 778
xara thy Ayyelınıv buvoloylav. Die zweite Tochter redet in der
Sprache der deyat, die dritte in der der Cherubin. Von hier fällt
auch rückwärts ein Licht auf 1. Cor. 13,2. »Und wenn ich mit
Zungen von Menschen und von Engeln redete,< — Zungensprache
ist Engelsprache. Hier an dieser einzigen Stelle haben wir auch
Angaben über den Inhalt der Zungensprache. Die zweite Tochter
preist in der Zungensprache rod tyndod téxov rd xofnua. »Daher
wenn einer das Werk der Himmel erkennen will, kann er es finden
in den Hymnen der Kasia«. Die dritte preist toy deondrnv tay desta
(dostal sind Engelmächte, resp. die Hypostasen Gottes). »Wer die
väterliche Herrlichkeit erfassen will, findet es aufgezeichnet in den
Gebeten der Amalthea«. —. Von hier aus wird es klar, daß Paulus
auch I. Cor. 2,13 vom Zungenreden spricht. »Dieses (d. h. die Ge-
heimnisse der himmlischen Welt, den Inhalt der oogie) reden wir
nicht in Worten von Menschenweisheit gelehrt, sondern in solchen,
die der Geist gelehrt hat, indem wir pneumatisches mit pneumati-
schem zusammenbringen. — Zungenrede ist Engelsprache, in der
man die Geheimnisse der himmlischen Welt offenbart !).
Nun verfolgt Weinel das geistgewirkte Sprechen durch alle
Stadien hindurch bis zur begeisterten Rede. Sehr viel feine einzelne
Beobachtungen sind hier gemacht. Doch scheint mir W. des öftern
Geistwirkungen da zu sehen, wo keine vorliegen. Daß gerade die
Hymnen des neuen Testaments, namentlich die in der Apocalypse
(1. Tim. 3, 16), direct geistgewirkt sein sollen, scheint mir durch
nichts angedeutet. Direct bestreiten möchte ich dies bei Apok. 18
und ähnlichen Stücken. Dagegen stimme ich zu, wenn W. Act. 13, 2,
Apk. 2,7 etc. namentlich 14, 13, 22,17 u.s. w. solche pneumatischen
Worte findet, und verweise namentlich auf die schönen Ausführungen
über Ignatius ad Rom. 7s.
Geistgewirkte Schriftstellerei. — Daß hinter der Erzählung Her-
mas Visio II, I, 1, wirkliche pneumatische Erfahrung ruht, glaube
ich kaum. Von einem wirklich in der Verzückung gesehenen
Schreiben bringt W. kein Beispiel. Ich erinnere daran, daß einem
solchen Vorgang die Schlußvision des IV. Esra am nächsten kommt;
hier haben wir ein geistgewirktes Dictat der 94 heiligen Bücher.
Eine ganz merkwürdige Stelle bietet wieder Testamentum Hiob 48
xal tovg Buvove ovo dnspdeykaro slacsy Tb nveüun Ev oroAfj ti
éaurijs éyxeyooayuévovs. Sonst findet sich nur nachträgliches Auf-
1) Auch die ekstatischen Seufzer und Gebete. die nach Rö. 8,26 der Geist
den Gläubigen eingiebt, haben nach dem Zusammenhang die Geheimnisse der jen-
seitigen Welt zum Inhalt.
174 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
schreiben geistgewirkter Visionen (Apok. Johannes, Hermas, Petrus-
apok. etc.).
In dem Abschnitt über Heilungen und Wunder hätte schärfer
wie bereits gesagt, die Reduction hervorgehoben werden können, die
hier gerade das Christentum gegenüber der ungeheuren Fülle von
Praktiken aller Art vorgenommen hat. Das officielle Christentum
kennt eigentlich nur eine Art der Praxis, die Bedrohung der (die
Krankheit erzeugenden) Dämonen durch den Namen Jesus. — Um
gerecht zu sein, muß man allerdings wohl auch anerkennen, daß das
genuine Judentum sich bereits im großen und ganzen auf das Aus-
treiben der Dämonen im Namen des Gottes »Abraams, Isaaks und
Jacobs« beschränkt hatte (Justin Dialog 85). Wo in den Zauber-
papyri specifisch jüdische Stücke vorkommen, ist ihr Inhalt fast
immer einfacher Exorcismus. — Auf die Vorstellungen, die hinsicht-
lich des Gebrauches des »övou«« sich finden, hat Weinel sich nicht
genauer eingelassen. Hier ließe sich noch vieles nachtragen. Die
eigentümliche Bedeutung der elkesaitischen Beschwörungsformel (121)
ist kaum gestreift.
Geistgewirktes Hören. An die Spitze stellt W. eine Reihe sehr
interessanter Erscheinungen, nämlich die des geistgewirkten Hörens
unaussprechlicher geheimnisvoller Worte. Die uns am meisten inter-
essierende Stelle ist II. Cor. 12, 3f, verwandt ist Tertullians Bericht
de exhort. cast. 10 (cf. Hermas Vis. I,3,3). Mit diesen Erschei-
nungen sind dann die schönen Beobachtungen zusammenzufassen,
die Weinel pag. 201 ff über die Erscheinung der ekstatischen Ent-
rückung zusammengestellt hat. Beide Erscheinungen fallen gewöhn-
lich zusammen. In der ekstatischen Entrückung schaut man unsag-
bare Geheimnisse, oder hört unaussprechliche Worte. Ganz deutlich
schildert uns auch Tertullian an der genannten Stelle einen ähn-
lichen, obenein durch ein mechanisches Mittel erzwungenen Vorgang:
et visiones vident et ponentes faciem deorsum etiam voces
audiunt manifestas. Wir stehen hier vor ungemein weitverbreiteten
Erscheinungen und wichtigen religionsgeschichtlichen Zusammen-
hängen, die ich hier nur kurz andeuten kann. Ekstatische Ent-
rückung in die himmlische (oder auch die unterirdische) Welt zum
Zweck der Erwerbung geheimer Kenntnis der unzugänglichen Welten
ist Kern dieser Erscheinungen. Es scheint, als wenn diese Ekstase
hauptsächlich und zuerst auf dem Boden der persischen Religion ge-
pflegt ist’), wie sie sich denn noch heutzutage bei den muhameda-
nischen Persern (den Suffiten) findet. Jedenfalls spielt diese Art der
1) Vergl. zum folgenden ebenfalls meinen Artikel über die Himmelsreise der
Seele.
Weinel, Die Wirkungen des Geistes u. d. Geister im nachapostol. Zeitalter. 775
Ekstase eine Hauptrolle in den Mithrasmysterien. In dem großen
Pariser Zaubercodex findet sich ein mithräisches Stück, das mit den
von jWeinel beigebrachten Beispielen in engster Beziehung steht.
Hier fährt ein Mithraspriester mit Hülfe mannigfacher Zauber-
praktiken und endloser Zauberformel durch die Himmel, tritt vor
den hohen Gott Mithras, empfängt in geheimnisvoller Sprache von
ihm Offenbarungen und bekommt die Zusicherung, daß er sämmt-
liche geoffenbarten Worte genau behalten solle. Die Parallele ist
offenkundig. Es läßt sich weiter nachweisen, daß unter den Rabbinen
etwa zu Paulus Zeit diese Kunst der Ekstase bekannt war. Unter
Namensnennung wird es in der späteren Ueberlieferung berichtet,
daß vier Rabbinen (Ende des ersten, Anfang des zweiten Jahr-
hunderts) bei Lebzeiten >ins Paradies<« gegangen seien. Die Auffahrt
ins Paradies ist freilich bald im Rabbinismus eine gefährliche und
verbotene Kunst geworden. Es giebt aber trotzdem in der spät
rabbinischen Litteratur Anweisungen in dieser Kunst der Ekstase,
die an das erinnern, was Tertullian in dem oben citierten Satz an-
deutet. Auch sonst ließe sich im einzelnen nachweisen, daß die Art
der Ekstase, von der Paulus II. Cor. 12 berichtet, in ihrer Form
bis ins einzelne durch traditionelle Vorstellungen bedingt ist. In
diesen 'Zusammenhang gehören übrigens alle .die Erzählungen von
Entrückungen in die Himmel, wie sie im Slavischen Henochbuch, im
Testamentum Levi, in der Ascensio Jesaiae, in der griechisch-slavi-
schen Apoc. Baruch, der Apoc. Abrahams, der (spätjüdischen) Him-
melfahrt des Moses, im persischen Ardai-Viraf-Näme, in Lucians
Nekyomantie u.s.f. vorliegen.
Ein Ueberblick über diese sehr weit verbreiteten Erscheinun-
gen ist ungemein wichtig und lehrreich. Er zeigt uns ganz deut-
lich, daß in diesen und ähnlichen Erlebnissen gar keine Specifica
des Christentums vorliegen, sondern vielmehr Erscheinungen, die
ihre Wurzeln in einem sich zersetzenden Religionsboden haben, in
dem Boden des großen vorchristlichen religiösen Synkretismus. —
Es wird im Rahmen einer Recension leider unmöglich sein,
auch nur annähernd auf die Fülle des von Weinel gebotenen Stoffes
einzugehen. Zu dem vorzüglichen Abschnitt über das Gedanken-
lesen bemerke ich, daß auch, wie schon angedeutet, die Sap. Salomos
das Gedankenlesen als Frucht der Zogéa kennt (7,27). Zu dem
interessanten Wort des Johannesevangeliums 16, 8f. liegt im Testa-
ment Juda c. 20 eine merkwürdige Parallele vor.
In der Erörterung über die pneumatischen Erfahrungen auf dem
Gebiet des Geruchssinnes macht W. auf die weit verbreiteten Wen-
dungen: Geruch des Lebens, Geruch der Unsterblichkeit aufmerksam.
776 Gest. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
Durch Gunkel (198 Anm.) ist W. bereits auf die Parallelen Aethiop.
Henoch 24f, Slavischer Hen. 8, 3 aufmerksam geworden. Ich wes
darauf hin, daß in der persischen Religion außerordentlich häufig,
— z. B. auch in den Schilderungen vom Aufstieg der Seele zum
Himmel — vom Wohlgeruch der überirdischen Welt und vom
Gestank der finstern Welt Angra-Mainius die Rede ist. — Mit dea
von Weinel zusammengestellten Vorstellungen, die sich noch ver-
mehren ließen, hängt dann auch, wie es scheint, der Ritus des Oel
sakramentes zusammen !).
Ein letzter Abschnitt in W’s. Buch behandelt die Veranlassungea
und Mittel pneumatischer Zustände. Hier spricht W. naturgemäß
von den Sakramenten. Natürlich konnte W. hier nicht das ganze
Material beibringen. Eine Geschichte der sakramentalen Vorstellun-
gen im Christentum des ersten Jahrhunderts, die gnostischen, man-
daeischen, manichäischen Sekten eingerechnet — und der es um-
gebenden Religionen wäre ein großes und wertvolles Unternehmen
der vergleichenden Religionsgeschichte. In den pneumatischen Er-
scheinungen und im Glauben an Sakramente und ihre Wirkungen
hängt die junge christliche Religion am allerengsten mit der um-
gebenden religiösen Welt zusammen. Hier hat es den stärksten
Tribut an die Außenwelt bezahlt. Hier wie dort hat die vergle-
chende Religionsgeschichte ihr eigentliches Feld. Und ein schöner
Beginn der Arbeit ist mit Weinels Werk gethan.
Was zum Schluß die Quellen anbetrifft, die W. bei seiner Arbeit
benutzt, so sind diese fast vollständig benutzt und ausgeschöpft.
Nur möchte ich fragen, weshalb W. einen Schriftenkreis gar nicht
benutzt hat, dessen Quellen doch sicher in das zweite Jahrhundert
hineinfallen, nämlich die Pseudoklementinen. So manches Ihter-
essante wäre hier über Visionen, Dämonenaustreiben, Fasten, Wir-
kung der Sakramente zu lernen gewesen. M. E. werden diese
Schriften, die ich zu den wichtigsten Quellen des religiösen Lebens
des zweiten Jahrhunderts zählen möchte, seit langer Zeit über Ge-
bühr vernachlässigt.
Hoffentlich schenkt uns W. bald die geplante Fortsetzung seines
Werkes. Es wäre immerhin möglich, daß er dort manches, was von
uns in diesem ersten Teil vermißt wurde, nachholte. Wie viel wir
auch immer an principiellen Bedenken gegen Weinels Ausführung
einzuwenden hatten, so scheiden wir doch von dem Buch mit dem
lebhaften Bewußtsein, daß die Kenntnis des christlichen Lebens der
ersten Zeit hier eine ganz wesentliche Bereicherung erfahren hat.
1) s. Himmelsreise der Seele 1389. Anm.
Göttingen, Juli 1901. Bousset.
Origenes Werke. 8. Bd, Herausgegeben von Klostermann. 777
Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte heraus-
gegeben von der Kirchenväter-Commission der Kgl. Pr. Akademie der Wissen-
schaften. Origenes Werke. 3. Bd. (Jeremiahomilien, Klageliederkommentar,
Erklärung der Samuel- und Königsbücher) herausgegeben von E.Klostermann.
L und 351 S. Leipzig, Hinrichs 1901. Preis 12,50, geb. 15 Mk.
Origenes’ Schrift gegen Celsus ist uns in dem einen Vaticanus,
die Schrift über das Gebet in dem einen Cantabrigiensis, sein Jo-
hanneskommentar in dem einen Monacensis erhalten, die Jeremia-
homilien verdanken wir dem einen Scorialensis & — III — 19 (11.
12. Jabrh.)*). Daß eine ängstlich konservative Haltung, wie sie
einem aus einer Reihe von Zeugen rekonstruierten Archetypon gegen-
über oft geboten ist, einer einzelnen jüngeren Handschrift gegenüber
sehr übel angebracht sein kann, ist eine bekannte, wenn auch öfter
vergessene Thatsache. Wie in der Schrift gegen Celsus die Philokalia,
so giebt auch in unserem Falle die indirekte Ueberlieferung schon
einen äußeren Maßstab für die richtige Schätzung der direkten.
22 Homilien zu Jeremias sind uns erhalten, davon 12 im griechi-
schen Text und in der Uebersetzung des Hieronymus (H), 8 nur in
S, 2 nur in H. Die griechische Vorlage des H., die sich bei der
Freiheit des Uebersetzers nur zum Teil wiedergewinnen läßt, ist
von vielen größeren und kleineren Lücken und Korruptelen in S
frei. Zu H., der mit großer Umsicht und Vorsicht, auch unter
Heranziehung neuen hslichen Materiales ausgenutzt ist, kommt dann
noch die fragmentarische Tradition in den Prophetencatenen ?) (= C),
denen wir auch die S. 199—232 edierten (zum Teil neuen) Frag-
mente aus den verlorenen Homilien und die aus dem Kommentare
zu dem @oijvou (S. 235—278) verdanken. Die Catenen gehen über-
wiegend mit H zusammen. — Für die Homilie über I Kön. 28, 3—25
ist auf Grund des Monac. 331 und der Streitschrift des Eustathios
eine Textgestalt gewonnen, die im ganzen abschließend sein wird.
1) = 8. Da sich eine im Auftrag der Akademie gefertigte Kollation als
wenig zuverlässig erwies, wurde der ganze Text photographiert, so daß wir nun
eine bis auf den Buchstaben getreue Wiedergabe erhalten (8. XXXV). Als eine
Abschrift ist Vaticanus 623 für die Homilie des Clemens bereits von Stählin und
Barnard, jetzt auch für Origenes von Klostermann erwiesen worden. Wegen
ihrer Konjekturen tritt sie öfter im Apparate auf.
2) Die Grundsätze, die Kl. für die Benutzung der Hss. zuerst im Archiv I 8
aufgestellt hat, sind durch die neueren Forschungen Faulhabers und Lietzmanns
bestätigt worden. Für die Hss. kann ich auf Lietzmann GGA. 1900 S. 926. 927
verweisen,
778 Gott. gel. Anz. 1901. Mr. 10.
Den Schluß des Bandes bilden 22 Origenesfragmente aus der Catene
zu den vier Königsbüchern, für die drei Hss. benutzt sind.
Die Vorrede giebt über die hsliche Tradition und über die
Ausgaben alle nötige Auskunft. der Apparat ist knapp und sehr über-
sichtlich, trotz der großen Summe von Sammel- und Denkarbeit, die
geleistet ist. Der Stellennachweis geht, wo es nötig ist, auf die
direkte Tradition der Bibelstellen und das Material der Hexapla ein
und giebt durch Parallelen aus Philo'), Origenes und den von ihm
abhängigen Autoren reiche Anregung zu tiefer dringender Forschung.
Vor allem aber ist die Emendation sehr energisch in Angriff ge-
nommen, auch durch Blass, Diels, Koetschau und Lietzmann geför-
dert worden. Mit besonderer Freude begrüße ich das Kreuz, mit
dem jetzt oft schwerere Korruptelen bezeichnet sind’). Kurz Kl.s
gründliche Arbeit beweist, daß die strengen Forderungen, die man
an jeden Editor stellen soll, auch bei Kirchenschriftstellern durchaus
erfüllbar sind, und wenn ich mich in den Grundsätzen mit ihm einig
weiß, bleiben nur im einzelnen Differenzen, zum Teil unerhebliche.
14,20 fora yao Expepibousva ax’ Euov ta gavda wird mit Unrecht
ia’ vermutet. Nicht daß durch ihn (das &xe:£oüv geschieht wesent-
lich von Gott), sondern daß aus seinem Innern das Böse verbannt
ist, darauf kommt es an, vgl. 15,19 det riyv olxodounv rijg xaxlas
xoeravaladijvar &xd tis Yyurüs judy. — 16,23 ef cw ovy &georoy
(oft in LXX und N.T.) xegi nuäs ist passender als der Superlativ
&pıorov (so C)?). — Zu 23,20 deov zudevdiva ... of dé ov wb-
vov obx &xaudevdnoav wird im Anhange bemerkt: »deov verlangt
hier und sonst einen Nachsatz, der nicht immer da ist; oder sollte
es auch = déov Eoriv (vgl. S. 123, 4) sein können?« deov ori, dann
auch einfaches d&ov statt der gehört freilich zu den beliebten peri-
phrastischen Mitteln der xoıwr (s. meinen Index zu Aristeas S. 180
185), und so ist Ödov 26, 10. 27,24 gebraucht. Aber an unserer
Stelle fehlt der Nachsatz zum absoluten Part. ebenso wenig wie
23, 30 déov adriy émoreépey, 7] dé... Kl. scheint übersehen zu
1) Zu 8,32ff. vgl. Philo De opif. $ 134 ff. Leg. alleg. I $ 31 ff., zu 122,25
vgl. Philo De congr. erud. gr. § 162 ff, zu 218,20ff. Leg. alleg. II § 102 (vgl.
Ryle 8. 164), zu 279 die bei Ryle 8. 258. 259 angeführten Philostellen. Ich er
innere daran, daß Ryles »Philo and holy scripture« für die Auffindung der Pa-
rallelen gute Dienste thun kann. — KI. verspricht S. XI? eine Studie über den
Jeremiatext des Or., »der sich in auffallender Weise mit der als lucianisch be-
trachteten Handschriftengruppe berührt«.
2) Der Leser thut gut, die im Anhange gegebenen wertvollen Nachträge
8. 348351 einzutragen, die ich im Folgenden zugleich berücksichtige.
8) 119,4 scheint mir die Lesart von C sprachlich bedenklich, auch 149, 6
bleibe ich bei 8. Dagegen folge ich 35, 28. 41, 19 der Lesart von C.
Origenes Werke. 8. Bd. Herausgegeben von Klostermann. 779
haben, daß nach diesem d&ov sich oft im Nachsatz das die Antithese
verschärfende ö% findet (Brinkmann, Rh. M. LVI S. 75, Orig. I 97, 4)');
es fehlt 28, 9. 12. 107,8. 226, 11.19. — 41,15 ist asorlav als Ob-
jekt zu Fegansdvov (ueprvpöv ? Kl.) gedacht. Man darf schwören,
um ein starkes Mißtrauen zu heilen, zu beseitigen. — 50,3 zxdvra
yao tk nag aurdv moe(rm ist ohne jeden Grund advr@ geschrie-
ben und der kausale Gebrauch von wzagdé mit Akkus., den ich GGA.
1899 S. 289 besprochen habe, verkannt. Ich füge den dort vorge-
führten Beispielen jetzt 154, 2. 4 und Epiktet II 2,20 z6 ye wag’ av-
r6v hinzu. Ebenso ist 49, 33 rd EM adrd ovverédcoey ein dem Origenes
sehr geläufiger Gebrauch von éx¢ vorkommt, wenn statt dessen im
Anhange wag’ vorgeschlagen wird; vgl. 160,7 +d xegt tov én ool
peddov, 64,21 Öcov Enlıi éxvrdy bxodrpa und ähnlich 52, 3. 107, 10
117, 21. 124,7. 157, 31. 165, 17. 237, 8. — 94,13 xal rodro td apdo-
nun xoAy Ev huty gory, drt ply yao ndvv dldyms Eraıpowevorg
.. «, 6c d3 ist im Anhange das epexegetische yég, das ja an und
für sich ganz entbehrlich, aber (s. meinen Index zu Comm. Arist. III 1
S. 183) gar nicht selten ist, verkannt. — 132, 22 un dpoguds tes Aau-
Bavéro dv obx Hxovee scheint mir verständlich: Nehme niemand den
Vergleich, den ich hypothetisch gebraucht habe, zum Anlaß, mir
Theorieen zuzuschreiben, die ich gar nicht ausgesprochen habe.
H. kann man hier offenbar nicht trauen. — 153,24 ist das feine
daR % (67,17. 166, 33), das natürlich nach z/ ebenso gut wie nach
ovdéy stehen kann, von Koetschau im Anhange verkannt worden. —
173,28 &av yap did cov Bedv xal roy Aoyov odbtod Bléx@ ti eig
aurdv »wenn ich eine Einsicht in es (das Bibelwort) habe«, ähnlich
180,6 xl oxon&v ebyoum sbplaxsıv ti elg tov téxov dAndeg. Also
scheint Lietzmanns Vorschlag im Anhange unnötig. — Zu den Wen-
dungen 174, 24 todpa xal eino, 293, 15 roAurcn?) xal ela, die im
Anhange gegen Aenderungen, die Subordination herstellen wollen,
in Schutz genommen werden, vergleiche ich noch 61,32 ueAAsı ve
éxitoApay 6 Adyog xal Adyev (182,20, Orig. I 52, 25. 87,12). —
188, 8 Sedov xdyw torodtog yEvoyaı müßte gut griechisch heißen
&pedov yeveodaı. Wie nun ein dpedov yevolunv psychologisch ebenso
verständlich wäre wie Sedov röynv efyov bei Epiktet II 21,1, so
dürfen wir nach andern Stellen, die eine Verwechselung des Optativs
und Konjunktivs (Radermacher, Rh.M. 1901 S. 208) verraten (39, 13
side xal Husis Akyausv, 21 side sEopodoynowmpsPa, 142,26 dvonras
1) II 84, 25. 144,7. 189,9. Auch odrog 83 77,8 im Nachsatze des Vergleiches
kann richtig sein (so oft bei Alex. Aphr.).
2) Das fa durfte wenigstens nicht in den Text gesetzt werden.
780 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
vielleicht richtige Konjektur, aber s. 284, 24), dem Origenes des
Konjunktiv zutrauen. Nicht besser wird das Griechisch durch das
von Kl. im Anhange gebilligte ysvrjoouns (vgl. Gal. 5, 12). Auch für
190, 2 ri wot xal rodyuacıv, verweise ich auf die Beispiele m
Schenkls Index zu Epiktet S. 689.
Eine Frage von fundamentaler Bedeutung wird S. X. XXI
nur berührt. Die Thatsache, daß uns viele antike Reden, profane
und christliche, durch tachygraphische Nachschriften erhalten sind,
ist in neuerer Zeit oft besprochen worden, besonders gründlich voa
v. Arnim‘), der daraus die wichtigsten Konsequenzen für die Ge-
schichte des dionischen Schrifttums gezogen und mehrere Doublettea
als verschiedene Nachschriften eines öfter gehaltenen Vortrages erklärt
hat. Nun bezeugt uns Eusebius H. e: VI 36, 1: date ra eksfxovrd
pac Eryn tov Qoryévny yevdusvov, ire ON) uspioınv Fdn ovddckdpe-
vov & tis waxoais nagacxevitc Ev rag Earl rob xorvod Aeyoutves
wurd diadebeco tayvyodporg*) peradaBely Enırokpar, ob xedregdr
mots tovro yeveodaı cvyxeywonxdra. Die Worte &re — FEcw verstehe
ich so, daß Or. sich solche Uebung angeeignet habe, daß er später
seine Predigten nicht vorher auszuarbeiten brauchte. Jedenfalls sind
hier trachygraphische Nachschriften bezeugt °). Nun fallen nach Kls
Nachweis S. X. XLV, Archiv S. 6 die Jeremiahomilien und wohl
auch die Homilie über die &yyaoroluvdos nach 244, also in die von
Eus. bezeichnete Periode*). Sind sie solche Nachschriften, und läßt
sich das beweisen? Ich glaube es zu können. Nach der Einleitung
der Homilie über die &yyaorpluvdos war der Predigt die Vorlesung
1) Leben und Werke des Dio von Prusa 8. 173ff.; vgl. Schenkl, Ambros
Opera 1 2 8. II; Norden, Antike Kunstprosa S. 536'. Ein neues Beispiel bieten
die von Morin entdeckten Predigten des Hieronymus, wie die von Morin Berw
d’histoire et de litt. religieuses I 1896 S. 424—426 besprochenen Stellen beweisen.
— Für die Probleme, die uns solche durch Nachschrift erhaltene Vorträge (Fret-
dentbal, Der Platoniker Albinos S. 303, Busse, Comm. in Arist. XVIII 1 S. VIIf,
IV 1 S. XXXV, Skowronski, De auctoris Heerentt et Olympiodori Alexandr
scholis, Breslau 1884, 8. 44 ff., Consbruch, Zur Ueberl. von Hephaestions byzsse-
6ıov Halle 1901 S. 41) stellen, sind methodisch sehr lehrreich die einschneidenden
Folgerungen von Fr. Marx für Aristoteles’ Rhetorik, Berichte der sächs. Ges. der
Wiss. 1900, der 8. 272! einige Beispiele der Anwendung der Kurzschrift anführt.
2) Vgl. VI 23, 2.
8) Dieselbe Thatsache bezeugt auch Pamphilus’ Apologie (Mignes P. Gr.
XVII 545 C) und für die Josuahomilien Rufin (P. Gr. XII 825).
4) Aus den einzelnen S. IX. X angeführten Beziehungen läßt sich die Chro-
nologie der Homilienwerke nicht ganz sicher bestimmen. Nach 8. 89, 25 folgte
auf Propheten-Vorlesung und Predigt Vorlesung aus einem andern Buche (in die
sem Falle Numeri) und im Anschlusse daran Predigt. Es können also mehrere
Homilienreihen gleichzeitig neben einander gelaufen sein.
Origenes Werke. 8. Bd. Herausgegeben von Klostermann. 781
von 4 Perikopen I Kön. 25—28 vorausgegangen. Da sich der Text
in seinem ganzen Umfange nur in mehreren Gottesdiensten exege-
tisch behandeln lasse, sagt Or. — man sieht, wie die Alluren der
Sophisten in der Kirche fortleben —: 6 tf wore Bovdetar 6 éxioxo-
KOS AQotEvdtw TÜV recodewmyv, iva xegl rodto doyodnPapev. ta xeEol
Tis Eyyaoıgıuvdov, pyoty, Ebsrabeodn (283, 21 ff.). Mag man in den
letzten Worten eine Bemerkung des Tachygraphen über den Zwischen-
ruf des Bischofs oder eine Wiederholung dieses Zwischenrufes durch
Or. sehen, jedenfalls hat der Bischof ihm das Thema, als er schon
auf der Kanzel stand, gestellt‘), die Rede ist im wesentlichen im-
provisiert, also tachygraphisch aufgezeichnet ?). Nicht ganz so sicher
ist ein anderer Fall. In der 2. Jeremiashomilie 19,9 heißt es: dua
tovro 6 ’Inooöüg Banritsı (Tdya viv ebolann toy Adyov) Ev nvevuarı
&ylo xal vgl (Luk. 3,16). Die Parenthese scheint sich am natür-
lichsten zu erklären, wenn Or. die Bibel (codices der Bibel gab es
ja sicher) vor sich hat und nach der Stelle sucht. Er will wohl auf
den Wortlaut der in den Zusammenhang passenden Stelle Lukas 3, 17
eingehen und scheint die Stelle nicht gefunden zu haben. Aber
auch wenn man etwa im Sinne der S. 779 angeführten Stellen ver-
stehen wollte »vielleicht finde ich jetzt die Erklärung«, auch so
macht die Stelle jedenfalls den Eindruck momentaner Improvisation.
Denselben Eindruck rufen Stellen hervor wie 130,2: Er kann auf
die Erklärung des einzelnen nicht eingehen tod yedvov Exelyovrog,
151,7 «lta, éav dof, xard Adkıv Ebstaomuev’) (vgl. 22,6. 34, 29.
57,28. 89, 21 ff. 170,7. 173,5. 179, 30 ff.), und man thäte dem Or.
gewiß Unrecht, wenn man meinte, daß er diesen Eindruck künstlich
affektiert hätte.
Die Konsequenz, die sich aus dieser Erkenntnis ergiebt, will ich
mit Arnims Worten (S. 174) wiedergeben, weil gerade die gleich-
artigen Beobachtungen auf verschiedenen Gebieten einander zu stützen
geeignet sind. >Dank der Kunst der notarii wird den Augenblicks-
eingebungen des Redners ein litterarisches Halbleben verschafft. Sie
1) Der Bischof ist wohl auch 184, 22 raör« dé por feyevy 6 wagadodg pos
zöv r6row (als Thema) gemeint.
2) Darin kann uns natürlich das éédmxev (S. XLV) des Eustathius nicht
irre machen; denn die Rede lag längst als Buch vor.
3) Es ist zu bedenken, daß sicher zwei, vielleicht mebrere Predigten, auf
einander folgten, s. S. 780%. Wahrscheinlich müssen wir die durch die aquitani-
sche Pilgerin und Hieronymus für Bethlehem bezeugte Sitte, daß mehrere Pres-
byter und zuletzt der Bischof hinter einander predigten (Morin a.a.0O. 411 fi.),
schon in der Zeit des Or, für Caesarea voraussetzen. Darum die verschiedene
Länge der Homilien,
782 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
werden dadurch nicht wirkliche Litteraturwerke; die Nachschriften
dienen nur zur Erinnerung an den mündlichen Vortrag. Wann und
wie die Homilien zu Adyoı &xdsdouevor geworden sind, entzieht sich
unserer genaueren Kenntnis. Selbstverständlich sind sie sofort durch
die tachygraphischen Nachschriften verbreitet worden. Eine eigent-
liche Buchausgabe') dieser Homilien (wie der Briefe, Eus. VI 36, 3)
ist vermuthlich nach dem Tode des Or., schwerlich von ihm selbst
veranstaltet worden. Denn es ist sehr charakteristisch, daß die Be-
ziehungen nicht nur unserer Homilien, sondern auch der verschiede-
nen Homilienwerke auf einander ?) in Form von Hinweisen nicht auf
das schriftlich niedergelegte, sondern auf das von dem gleichen
Hörerkreise gehörte lebendige Wort gefaßt sind. Die Sammlung,
die nach dem Tode des Or. veranstaltet wurde, wird sich aus sehr
verschiedenen Quellen zusammengesetzt haben. Eine Doublette?) ist
wohl so zu erklären, daß entweder mehrere Nachschriften verschie-
dener Predigten über das gleiche Thema, oder tachygraphische Nach-
schrift und Koncept des Or. neben einander gestellt wurden.
Die Erkenntnis, daß die tachygraphisch nachgeschriebenen Pre-
digten des Or. nicht im strengen Sinne Litteraturwerke sind, ist
auch von großer Bedeutung für die Beurteilung der Sprache und
des Stiles‘). Wenn Norden S. 549 meint »Ein Redner war Origenes
so wenig wie Aristarch, Varro, Philo, Hieronymus«, so möchte ich
dies Urteil einschränken. Or. hatte alle Anlagen zum bedeutenden
Redner, aber sie waren gebunden durch die gegebene Predigtform.
Die streng exegetische Form der Predigt macht jede künstlerische
Komposition im Großen unmöglich. Ebenso hemmend und lästig ist
der Zwang, die besten und höchsten Gedanken nicht aus dem eige-
nen Innern frei zu entwickeln°), sondern als schriftgemäß zu er-
1) Ich zweifle nicht, daß auf diese eine Quelle unsere gesamte Tradition
zurückgeht, und sehe keinen Grund zu der Vermutung (S. XXIII), daß sich
manche Differenzen zwischen H und S aus der Benutzung von zwei Stenogrammen
erklären.
2) S. IX. X und S. 11, 11. 41,25. 89, 25. 110, 23.
8) So XIV und XV, genauer 125, 11—126,26 ~ 119,5—120, 25, 126, 27—
127, 10 ~ 110, 18—111, 4, 127, 11—128, 24 ~ 111, 5—112, 18, 129, 1—16 ~
107, 23—109, 15.
4) Die Bibelcitate sind natürlich auch unter diesem Gesichtspunkte zu be
erachten.
5) Man fühlt es oft, wie schwer sein freier und enthusiastischer Geist an
der kirchlichen Gebundenbeit zu tragen hatte. Ich setze eine Stelle hierher, zum
Nutzen unserer Kirchenbehörden in deutscher Uebersetzung (S. 62,2): »Denn die
göttliche Thorheit ist weiser als die Menschen. Hätte ich von der göttlichen
Thorheit geredet, wie batten meine Verleumder mich beschuldigt, wie hätten sie
Origenes Werke. 8. Bd. Herausgegeben von Klostermann. 788
weisen, meist durch das Mittel allegorischer Auslegung. Or. hat end-
lich auf das Niveau volkstiimlicher Sprache nicht herabsteigen wollen
und können, aber gelegentliche Anpassung an dieselbe und vor allem
die bestandige Durchsetzung mit Bibelworten fiihrt eine Mischung
der Sprache herbei, die einen einheitlichen kunstgemäßen Stil nicht
aufkommen läßt. Die Rücksicht auf das Publikum und die Ge-
schichte der Litteraturgattung, welcher die christliche Predigt ange-
hört — und gerade in Origenes’ Predigten zeigt sich der Einfluß
der Diatribe in dem starken dialogischen Element und in der Vor-
liebe für Satzlösung, wie auch oft in den Gedanken (94, 16. 81, 25 ff.
149, 15.16) —, erklärt die Thatsache, daß das sprachliche Niveau
der Predigten des Or. beträchtlich tiefer liegt nicht nur als das der
Schrift gegen Celsus, sondern auch als das der Kommentare. Aber
ich zweifle nicht, daß Or. eifrig gefeilt hätte, wenn er je eine Buch-
ausgabe dieser Homilien besorgt hätte.
Ich stelle kurz einige Erscheinungen zusammen, die mir für die
xovvy im Gegensatz zur atticistischen Schulsprache charakteristisch
scheinen'): Wortschatz: ßaosiv, Bäoıs, Bovvds (27, 6 fehlt
im Index), td EAsog, xaralıumdvev, orectaouata xal xgoovs, ovy-
zonodea. statt zyorjota:r, éexididdvae éavrdyv, tduxdg. Bildungen wie
“Eimuarındg und denynuatixds, wegelopcriov, Onuctiov, ioyvoonorety
Copatonosty, koyidev 44,20 und öfter mpiavery »kommen«, die zwei
lateinischen Lehnwörter xogierov (vgl. Klostermann im Hermes 1901
S. 156) und das durch Konjektur hergestellte Asyıov. — Aus der
Flexion sind beachtenswert #sE 119, 11. 159,32. dgewv 99, 14. 134, 2.
135, 19. — Zvı 45,11, Aunv 175,8. — éxoeorSaueva 14, 19 geguamocs
19, 3 (aber Epgıbouevovg 26, 12), vevorixeroay 15, 1 redvrixeı 73, 16,7en-
Ajoato 75,2. — oft epdgeon, olxreiojon 93, 16 olxreıgeon 92,8 ja
oixteıgoüvra 91, 24 olxrergery 92, 24°), weıväg 112, 20, dedotm 92,3
deeraı 56, 17°), tpavey 85,7 xaddeng 43, 12, alodavdnoeraı 49,17
ovvauo<dn>Hivaı 173, 33, xaredydnyv 151, 1.2, sehr oft Nudprnoe,
ðav 137,14 eetharo 145,11, ldeadeı 92,1, werdBa 50, 18 dvdße
mich gescholten! Wie wäre ich, obgleich sie Tausende meiner Gedanken als
richtig anerkennen müssen, wegen dieses einen vermeintlich unrechten Wortes
verklagt worden, daß ich von göttlicher Thorheit redete! Nun aber erkühnte
sich Paulus, der weise Mann und Inhaber apostolischer Gewalt... .«.
1) Was durch die nächsten biblischen Vorlagen gegeben ist, lasse ich aus
dem Spiel, ebenso die z.T. stark überarbeiteten Fragmente. Stellen führe ich
2. T. nicht an, wo der Index sie bietet oder der Beispiele viele sind.
2) Ueber Accentuation wage ich nicht zu entscheiden.
8) Trotz der bald folgenden zweimaligen deir«ı muß man in solchen Dingen
bei der Art der Ueberlieferung natürlich ganz konservativ sein,
784 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
76, 21. 133, 26 xareBeéro 169,8, Formen von éo@ sehr häufig als
Präsens, oldauev 6,6. 22,12. 25, 24. 40,35. 68,4 (aber louev 34,
18. 20) oidas 122, 24. 135, 18 ofdacw 58,20, schwache Konjugation
der Verba auf u: dvedrixausv 32, 27 Ednaav 75, 9 dure ete.
40, 32. 41, 5 ff. avolysıs 113, 12 devxvdav 141,13 ngo&dwxav 156, 17.
— Notiert sei noch adverbiales réAcov 113,18 (vgl. Radermacher,
Fleckeis. Jahrb. 1895 S. 243), rayéwgo = rdya 25,14, wely als Präp.
mit Gen. 7, 3. 35,29 (Radermacher, Philol. N. F. XIH S. 166), zapd
beim Komparativ statt # 62,33. 81,5. 89,18. 92,15. 133, 3, Ver-
wirrung der Ortsrichtungen öxov = Öönoı 136,9 Exel 82,27 rapijva
eis BaBvAdva 172, 27, konsekutives iva 14,13. 60.4. 78, 20. 82,9.
160, 4. 289, 22, häufig ög gay etc. (statt &v) und bloßer Konjunktiv
statt Konjunktiv mit &v z. B. nach xelv und uwézer, prädikative Stel-
lung das Reflexivum 3,1?) 25,1. 32,18. 39,10. 52,11. 97, 7.9.
189, 24. 193, 14, Beziehung von £avröv etc. nicht nur auf die 2.
Person 24,8. 152, 11, sondern auch auf die 1. Person 35, 18. 40,31.
101,19, Gebrauch des Relativums statt Interrogativum, eine völlige
Vermischung des Perfekts mit Aorist, die Konjekturen wie die zu
92, 30. 156, 10 vorgebrachten unsicher erscheinen läßt; man lese
z. B. 131, 19 ff. wenoinxev ... eboev... Endiedev . . . NEROINKE
oder 11,15. 52, 26 ff. 157,1. 2. 171,19. 192,14. Die schwindende
Kraft des Perfekts verrät sich auch in Stellen wie wed¢g rods acxed-
tyra eoynxdtas Ev ij wy 17,2 fvina edv oroydonrar weQuecnaxtvat
dv Onoevtiv xal te veocoia mepevyevar, téte Hal adros aplxtara
143, 14. — Sehr ausgiebig verwendet Or. die periphrastischen Mit-
tel der xovv7, so eivaı mit Part. statt des einfachen Tempus, ra rs
aneıAng etc. (s. meinen Aristeas S. 203). Zu den von Radermacher
Rh. M. 1901 S. 207 gesammelten Beispielen füge ich r& xard tov;
t6rovs tovtovs 34, 29. Vulgar erscheint auch &&sAdelv dv Biov
137, 28. 288,1 (Gen. 227,22). Sehr beliebt sind die uns aus dem
Latein geläufigen Wortstellungen wie wegi ob Asiuuaros, di’ 5 xd-
Avupe, die in gleicher Fülle mir sonst nur aus Alex. Aphrod. be-
kannt sind. Der Plural nach Neutrum Plur. steht (ausnahmsweise)
14,4. 25,19. 26,9 (über 4,14 s. unten).
Ich weiß sehr wohl, daß sich manche dieser Erscheinungen auch
gelegentlich in ausgearbeiteten Schriften des Or. finden. Aber ich
darf versichern, daß was ich in ihnen an solchen Charakteristiken
der xoıvı) auf gleichem Umfange gefunden habe, einen kleinen Pro-
1) Aber das von Blass zu 171,25 vermutete wagadıdaccı wäre ganz singulär
bei Or.
2) Die Konjektur im Anhange ist also unnötig.
Origenes Werke. 3. Bd. Herausgegeben von Klostermann. 785
centsatz im Verhältnis zur Häufung solcher Vulgarismen in den Ho-
milien bildet. Die Indices der neuen Kirchenvaterausgabe gehen ja,
mit Ausnahme des Radermacherschen zu Henoch, auf sprachgeschicht-
liche Gesichtspunkte kaum ein’); es wäre wohl wünschenswert, daß
für Schriften mit vulgärer Färbung eine Ausnahme gemacht werde
und etwa, damit eine richtige Auswahl getroffen werde (subjektiv
wird sie ja immer sein), ein Philologe mit der Zusammenstellung des
sprachgeschichtlich Interessanten betraut werde. Ein Anhang von
wenigen Seiten würde dafür genügen. Wie wichtig eine scharfe Ein-
sicht in den sprachlichen Charakter der Homilien für die Textkritik
im einzelnen ist, meine ich an Beispielen gezeigt zu haben. Müssen
wir in den für den Sinn indifferenten Sprachformen die Tradition
vorsichtig konservieren, in der Einsicht, daß wir über die Hand des
Tachygraphen nicht hinauskommen können, aber auch in der zu-
versichtlichen Voraussetzung, daß er seines Amtes treu gewaltet hat
und daß Or. wirklich sich beträchtlich der Volkssprache angenähert
hat, so stellen die tiefer greifenden Korruptelen, da zu den sonstigen
Fehlerquellen noch die Möglichkeit einer Entstellung schon der Ur-
schrift durch Hörfehler hinzukommt, der Kritik eine eigenartige Auf-
gabe, deren Lösung sich die Divination nur wird annähern können.
Ich gebe im folgenden einige Besserungsversuche: 4, 14 otzm
tavta Evapyüs moog tov owrijga AdEat Av (st. Ödksınv) dvapeps-
oda. 23,3 ula... Baoıklein. 27,24 déov (= det) obv Tues Ao-
yiteotar, Ott éxnentaxaoy Exetvor tdv evioyiOyv ..., ndom nAEov
Nueis cpagtdvres Eynaraleıpdnodusde. Das argumentum a minore
ad maius wird gebildet 78,16 mit ed... ndoo nAcov, mit el... ado@
uüilov 223,21. 252,29. An unserer Stelle ist örı sinnlos; möglich
wäre öre, aber wahrscheinlicher ist Or, &... ‚ndom nitov. Da
scheint freilich örı ganz überflüssig, aber es dient öfter zur allge-
meinen Bezeichnung der Abhängigkeit, deren besondere Art dann
charakterisiert wird. Genau dieselbe Fügung findet sich 28, 13 Ao-
yloaodaı Su, El ..., nom nAeov und 85,8. — 34,18 lowev <uiv>
entsprechend dem folgenden fopev de. 35,9 odroı. 38,13 <> avrr.
38, 30 Emideig. 41,6 aörd „od“ (im Sinne von adrd udvov). 43, 28
elolv d& xal &AAoı Adyoı naga tov Adyov roy tijg dAndelas, Naga tov
Adyov tov rüg exxAnotas. megutéuvovta td Fon nal iv xagdlay Bs
te elneiv cmpgovitovory of YıAodopoüvres. Adyoı bedarf durchaus
einer Bestimmung; denn die Adyoı, die die wahre, und die, die eine
falsche wegıroun lehren, stehen in Antithese. Also Adyou ... wege-
1) Für Wortschatz, soweit er bemerkenswert ist, und Begriffswelt habe ich
Kl.s Index zuverlässig gefunden. Ich vermisse éez#@ey und éyxarale(xay, Warum
ovyzeächnı angesetzt wird, weiß ich nicht.
@stt. gel. Anz. 1901. Nr. 10. 52
786 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
teuvovres ta Hon xal chy xagdtav. Das Nächste (orte elxety ist
sicher korrupt) ist etwa zu gestalten: os, p&p einelv, ompeorvitovory.
44,17 fa d& xalt (statt xard) 1d dnAovoregov nagedecypa Asydi.
46,6 verbinde ich ovvrgußYv peyddny tev éxayopévav xaxa@v und
beginne mit 5¢ <oty> &av einen neuen Satz. 47,1 entspräche 2zg0
Beazéov (wie dia Boazemv, z.B. Orig. I 55,2) dem üblichen Sprach-
gebrauche. 47,10 oürwg (st. ovrog) wie bei Amos. 51,5 paxdguios.
52,7 ist vielleicht «¢ u zu streichen. 53,9 äg ovx. 64,6 eldéva
xo} Ste, ov (statt otc) wddcore Eorıv SvacPat, meds Exacroy Exıör-
uta gorly tod Adyov. tt ydg pot Spedos, sl ...; 76,9 ws zepl
(st. doxegel) Eupdyou tis yüs xal evradda diaddyerar 6 xeogyrns.
83, 22 aurd? 88,31 <ndros> moods. 90,13 Ei st. dad. 93,8. 10
usraßeAslv und psraBadet? 94,1 xal Enel (st. éxl) tev Asyoutvov
&v tate yoapats & uEv Eorıv dnogentétega xal wrvotixotega, & dt
avrédev yorcıua Toig voovor'), xegl piv TÜV drroppnTorsgmv .. .,
epl O& tev avtddev yonoiuwmy ... 94,20 npoxailovnevnv ? 95,1
zd meDavoyv dé xegl Tod?) éxatgeoPar, Otav two ématontar .... xal
addy &Adoc éxatonree (st. éwatgetat). 106,10 xal el Bovdera’ ws
enayysliaodaı (st. orsiAaodeı, implere H) thy careexiy wie
148,25. 110, 4 &® &AAwy bestätigt, wie ich nachträglich sehe,
durch H. 113,2 & det] die ist vielleicht der passende Gegensatz
zu Ext tovtarv Tüv duxaernotwmy. 120, 6 ff. ist, wie im Anhange be-
merkt, stark zerrüttet. Z.6 etwa Zorıv (deity nach H (s. z.B. 67,9
und Orig. I 76,19). xarsyvaodn 6 xarayvmodeis hat erst Z. 10
seine Stelle. xaefdusvoc ist im Anhange richtig auf Z. 9 gerückt,
Z. 13 vermute ich 7) roy ovpyngpoy yevdusvov [of] aa ra (st. xal)
ddınias. 121,2 fore st. éwel? 124,11 Toürov Enidegera toy voww
nach 133,20. 126, 24 éAgpyeuy st. Agyerv, eine häufige Verwechse-
lung. 127,2 fxm? vgl. 31,19. — 127,7 gow st. gory. 127, 29 ist
im Anhange noch nicht ganz ins Reine gebracht. Es ist zu inter-
pungieren: sverjoouey Ste dveudpdopoi tives Eouev, dv doa, 6Alyov
Erı Eyovteg Ev adrolg „wenn überhaupt, nur wenig (Frucht) in uns
habend“. Das limitirende & &ga habe ich GGA. 1899 S. 290 be-
sprochen und füge jetzt 290, 7 hinzu. 133, 14 wecdBa? 151,13 éxdv
d& wera roy évectata aldwa <elg tov wéddovta aldve> Fixmuev?
165,18 etwa ov« dusAög. 178,34 wadtord vgl. 8,4. 174,11 xeude-
yoyö, iva <un> 175,8 éxgdrer st. Egei. 189,10 7 <dud> roy Adyov.
254.26 un éxl xddov dpedy yetodar adtaey h xaxia st. zyoqodat
(£oyeodaı im Anhange), vgl. Koetschaus Index unter yvars.
1) Bei Klost. neuer Satz.
2) Vielleicht hier und Z. 12 zeel rd.
Origenes Werke. 8. Bd. Herausgegeben von Klostermann. 787
Nur wenige störende Druckfehler sind mir aufgefallen. S. 10
ist im Apparat die Zahl 14, S. 26 die Zahl 9, S. 31 die Zahl 26,
S. 291 die Zahl 12 ausgefallen. 33,3 fehlt die Klammer. 59, 8
fehlen die Anfiihrungsstriche. Im Anhange ist 210, 11 statt 210, 21
gedruckt. — Endlich noch einige praktische Vorschläge mit Rück-
sicht auf künftige Bände! Der Ruhm prosodischer Aenderungen wie
avrod st. adrod, orev St. zolav scheint mir nicht so groß, daß
nicht die Entdecker auf die Ehre ihrer Nennung verzichten könnten.
Die Raumverschwendung S. 145. 146 mißbillige ich. Die vom Autor
citierten und die vom Editor verglichenen Autoren dürfen nicht in
einem Register vereinigt werden (S. 316), oder sie müssen differen-
ziert werden, etwa durch griechischen Druck bei wirklichen Citaten.
Im ganzen kann ich nur freudig anerkennen, daß Kl. als Editor,
abgesehen davon, daß er die Frage der tachygraphischen Nachschrift
etwas zu leicht genommen hat, mit ebenso viel Einsicht seine Grund-
sätze sich gebildet hat, wie er sie mit Energie durchgeführt hat.
Den festen Grund hat er gelegt, und nur im einzelnen wird das
Verständnis fortschreiten können, je mehr an der Hand der ge-
sicherten Texte die liebevolle Versenkung uns den Menschen und
seine Lebensarbeit bis in die feinsten Züge lebendig werden läßt.
Ich rate jedem ab, die erste Bekanntschaft mit Or. in diesen Ho-
milien zu suchen. Aber wer den Or. kennt und liebt, der wird
diese einzigen authentischen Dokumente seiner Predigtthätigkeit
nicht nur als geschichtliche Quellen werten — und wie interessant
ist es zu beobachten, in welchem Maße er die Allegorieen und Ety-
mologieen, die Textvarianten und die griechische Weisheit vor
seine Gemeinde bringt! —, er wird auch gern öfter seine Seele in
ihren feinsten individuellen Regungen und wechselnden Stimmungen
belauschen und mit Wehmut in den Konflikten, die er andeutet, sich
das tragische Schicksal vorbereiten sehen, daß die Kirche einen ihrer
größten Geister nicht verstanden und verleugnet hat.
Berlin, 11. April 1901. Paul Wendland.
Weber, H., Lehrbuch der Algebra. Zweite Auflage. Bd.I. (XVI u. 704 S.)
1898, Bd. II (XVI u. 856 S.) 1899. Braunschweig, Vieweg u. Sohn.
Der eminente Aufschwung, den die Algebra im 19. Jahrhundert
durch das Eingreifen der Gruppentheorie einerseits, der Zahlen-
theorie andrerseits genommen hat, und der nunmehr an einem Ruhe-
52 *
788 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
punkt angelangt ist, ließ das Bedürfnis nach einer zusamınenfassen-
den, in sich abgeschlossenen Darstellung derselben nach ihrem jetzi-
gen Stande fühlbar werden. So ist das Erscheinen von Webers
Algebra wohl von allen, nicht nur den jüngeren Mathematikern mit
Freude begrüßt worden. Daß der ersten sobald eine zweite Auflage
folgen mußte, beweist wie empfindlich die Lücke in der mathemati-
schen Litteratur war, die hiermit ausgefüllt wurde.
Der umfangreiche auf zwei starke Bände verteilte Stoff ist über-
sichtlich und zweckmäßig gegliedert, und die Darstellung durch
Ableitung aller zur Verwendung kommenden Hilfsmittel aus der
allgemeinen Arithmetik, der Functionentheorie, der Theorie der In-
tegrale u. s. w. von andern Lehrbüchern möglichst unabhängig ge-
macht; hierdurch wird die Brauchbarkeit des Buches, besonders für
den Studierenden nicht unwesentlich erhöht.
Die Einleitung ist bestimmt, den modernen Ansprüchen an eine
strenge Fixierung der Grundbegriffe gerecht zu werden. Auf den
ersten Seiten begegnen wir dem Euklidischen Algorithmus, mit dem
die Grundlage der Theorie der ganzen Zahlen gewonnen wird. Die-
jenige der rationalen und irrationalen Zahlen wird auf die Lehre von
den Verhältnissen gegründet, nachdem zuvor die Cantorschen Be-
griffe einer Menge, insbesondere einer geordneten, einer discreten,
einer dichten Menge eingeführt sind; die Stetigkeit wird durch das
Dedekindsche Schnitt-Axiom, die Meßbarkeit durch das Archimedi-
sche Axiom definiert. Auf die Existenz meßbarer, nicht stetiger,
und (nach Cantor) stetiger, nicht meßbarer Mengen wird zwar hin-
gewiesen, im Uebrigen aber auf die Frage der Abhängigkeit oder
Unabhängigkeit der arithmetischen Axiome von einander nicht näher
eingegangen '). Zur Definition der Irrationalzahlen werden auch die
Cantorschen Zahlenreihen herangezogen und auf die Dedexindschen
Schnitte zurückgeführt. Schließlich werden die negativen Zahlen und
die Null durch die Gleichungen <+0 = x, z+(-z) = 0 undähn-
lich die complexen Zahlen und die Operationen mit ihnen definiert.
Im ersten Buch werden nunmehr die Grundlagen: die rationalen
Functionen, die Determinanten, und, nachdem der Wurzel-Existenz-
Beweis (im Wesentlichen nach Cauchy) geführt ist, die symmetrischen
Functionen behandelt. Der hier erwähnte Baursche Satz, daß die
Ordnung der letzten nicht verschwindenden Determinante |s,,,| die
Anzahl der verschiedenen Wurzeln einer Gleichung angiebt, ist wohl
als Corollar des Sturmschen geläufig ?), wenn auch vielleicht nirgends
1) Vgl. hierzu namentlich O. Hölder, Die Axiome der Quantität und die
Lehre vom Maaß. Leipz. Ber., Math.-phys. Cl. 1901 p. 1.
2) S. etwa: Hattendorff, Die Sturmschen Functionen § 2. — Die von Baur
Weber, Lehrbuch der Algebra. Zweite Auflage. 789
gerade in dieser Form ausgesprochen worden. Einen ähnlichen Satz
für zwei ganze Functionen f(z) = II(x—x,) und g(x) kann man an
ihre Resultante anknüpfen, wenn man sie in der auch sonst be-
9(&,)
f"(@,)
wendet, wie sie in der Sylvesterschen Verallgemeinerung des Sturm-
schen Satzes auftritt. Die Tschirnhausen-Transformation wird allge-
mein erörtert und auf die Gleichungen dritten, vierten und fünften
Grades angewandt; für die Hauptgleichung fünften Grades wird ins-
besondere außer der Bring-Jerrardschen auch die, im Bereiche der
alternierenden Functionen rational erreichbare Brioschi - Kleinsche
Normalform mit einem Parameter hergeleitet. Die bei der Tschirn-
hausen-Transformation auftretende Bézoutiante macht die Einführung
der quadratischen Formen und linearen Transformationen erforderlich.
Für das Trägheitsgesetz der quadratischen Formen >}a,z,x, wird
der bekannte indirekte Beweis gegeben. Dem gegenüber sei der
direkte Beweis angedeutet, der aus der Anwendung des Cartesischen
Satzes auf die Gleichung |a,+6,4| = 0 folgt: durch continuier-
liche Aenderung der Coéfficienten einer Gleichung mit stets reellen
Wurzeln ändert sich nämlich die Anzahl der Zeichenwechsel und
Folgen nur, wenn das constante Glied der Gleichung durch Null
hindurchgeht. — Nach Erklärung der In- und Covarianten wird für
die cubische Form ein volles Formensystem, für die biquadratische
ein volles Invariantensystem aufgestellt.
Das zweite Buch ist der numerischen Existenz der Wurzeln ge-
widmet. Die bekannten Realitätscriterien für die cubische und
biquadratische Gleichung werden hergeleitet, deren letztere sich wohl
zuerst, bei Waring finden. Das allgemeine Problem wird durch den
Sturmschen Satz gelöst und dieser speciell auf die Kugelfunctionen
und auf die Säcular-Gleichung f = |a,+6,2| = 0 angewandt.
t,
= y p24 M
achtenswerten Form CI (z) = |a%"| Ew = |s,,,| an-
Der Satz von der Wurzelrealität dieser Gleichung ist in zweifacher
Hinsicht zu erweitern: einmal braucht man, nach Hermite, a, und
a,, nicht als gleich, sondern nur als conjugiert complex vorauszu-
setzen, ferner ist zu zeigen, daß die +1 reellen Wurzeln der
Gleichung durch die m reellen Nullstellen jeder der Hauptsubdeter-
minanten getrennt werden. Die Richtigkeit dieses allgemeineren
Satzes folgt sofort durch den Schluß von » auf n+1, wenn man
an seinen Satz geknipfte Bestimmung des Grades der Vielfachheit jeder Wurzel
ist falsch, da sie auf dem Satze beruht, daß mehrere positive ganze Zahlen
schon durch Summe und Produkt bestimmt seien; dessen Uurichtigkeit ist z. B,
aus den beiden Zahlengruppen (8, 6, 3, 1, 1,) und (9, 4, 4, 1, 1,) zu ersehen.
790 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 10.
bedenkt, daß bei einer Nullstelle von a = 'a,+d,xr. die bilineare
1,k= 1,2..,"
Form
ff
—-f= > 0a,,0a,, 0,0, = Ds a Fy Boe in
1
a Di Ma Oe 2 a,, @,,
zerfällt, also dort das Vorzeichen von a,, hat.
Daß die speciellen Sturmschen Functionen
ı,k = 0, 1,..h
8, = [84.1 | A= 0, et)
nicht mehr als höchstens 5 Zeichenwechsel aufweisen können, kann
man nicht nur für den Fall der cubischen, sondern auch für den der
biquadratischen Gleichung ax‘+4b27*.. = o aus einer Relation,
nämlich aus:
(3a’d-Iabe + 66°)? (8g34+S3) = —483+ 36583-4878,
erkennen. ;
Durch die Kroneckersche Charakteristikentheorie, deren Anfänge
sich übrigens schon bei Sturm selbst finden, werden diese Betrach-
tungen, sowohl was die Anzahl der Variablen, als was die Art der
Funktionen anbetrifft, in eine höhere Sphäre gerückt. Im Falle al-
gebraischer Functionen gelingt es auch bei mehreren Variablen die
Hermite-Sylvesterschen synthetisch gebildeten Ausdrücke der Sturm-
schen Functionen in analoger Weise herzustellen ; dagegen ist die Er-
zeugung solcher Functionen durch eine Verallgemeinerung des Sturm-
schen Verfahrens bisher vergeblich gesucht worden.
Der Satz von Hurwitz über Gleichungen, deren Wurzeln nur
negative reelle Teile haben, ist dahin zu verallgemeinern, daß durch
die Anzahl der Zeichenfolgen und Wechsel der Reihe:
G, G_, G
aml * =a
" G,’''’ G_’ G — “sa
a—{
1,G
die Anzahlen der Wurzeln links und rechts der imaginären Achse
angegeben werden. Der Beweis folgt einfach aus folgenden Beob-
achtungen: wenn das letzte Glied a, = (— 1)"I1%: also eine
reelle Wurzel das Zeichen ändert, so tritt ein Wechsel (oder eine Folge)
n n—I1)
in die Reihe ein; wenn G_, = (-1) ° II (, + 2,), also ein con-
<
Weber, Lehrbuch der Algebra. Zweite Auflage. 791
jugirt complexes Paar, etwa x, , und z,, das Zeichen wechselt, so
ist sgn = = sgn(— 1)"" a4, 2,..2%,_, = sgna,, also treten zwei
a—3
Wechsel (oder Folgen) in die Reihe ein; wenn irgend ein andres
Cr Crt _ . e ve .
G = |G-ı %-,--| sein Zeichen wechselt, so ändert sich wegen der
3
Relation G, 9 _ (2) = G,.,G,,, die Anzahl der Wechsel
OC: 0c,
und Folgen nicht. Natiirlich giebt es einen allgemeineren Satz, der
die Anzahl der Wurzeln in einem zur imaginären Axe parallelen
Streifen zu ermitteln gestattet.
Des Weiteren folgen die unvollkommenen Sätze zur Wurzel-
abgrenzung, inbesondere der Satz von Des Cartes, der fälschlich auch
mit Harriots Namen verknüpft zu werden pflegt; bei Harriot findet sich
nicht eine Spur eines solchen oder ähnlichen Satzes.
Die Bernouillische Näherungsauflösung, die übrigens mit dem
Eulerschen Recursionsverfahren eng zusammenhängt, kann man
auch in Form einer Art periodischer Kettenbruchentwicklung dar-
stellen: für eine quadratische Gleichung 2 —-ax+b = 0 ist näm-
lich s,,,—as.+bs,_, = 0, also x = lim Sats — a, wie
0 8, a—--:
bekannt; für eine cubische Gleichung 2°—az’*+bx—c = 0 wird
die Entwicklung durch die zwei Gleichungen
SH ab: re
5. a 6: rein
Sen gt_ pe » Set age Saat
u a—b (ad+9:77 tac:
repräsentiert, u. 8. W.
Bei den Kettenbrüchen 1 _ Ne+1,6 diirfte die
Gass +1 1 Na, 6
e +=
B
Kroneckersche Zusammenfassung der zwischen den Teilnennern und
Nennern der Näherungsbrüche bestehenden Gleichungen in die eine
N, Na —™; Nat Nu N, = 0 nicht fehlen.
Die Theorie der Gaußschen quadratischen Formen, sonst der
Zahlentheorie angehörig, fügt sich hier, im Gewande der Theorie der
quadratischen Irrationalzahlen, passend dem Rahmen der Algebra
792 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
ein. Die Theorie der Einheitswurzeln und der quadratischen Reste
beschließt das zweite Buch.
Das dritte eröffnet die Algebra im engeren Sinne des Worte:
die Theorie der algebraischen GroGen. Hier werden zunächit die
grundlegenden Begriffe des Körpers, der Reducibilitat. der Adjunction,
einer Permutationsgruppe, speciell einer transitiven, intransitiven,
primitiven, imprimitiven, der Galois’schen Gruppe u. s. w. in ihrer
Bedeutung für die Theorie der algebraischen Gleichungen erörtert.
Nur Gleichungen mit metacyklischer (= auflösbarer) Gruppe er-
weisen sich als auflösbar. Die Abelschen, speciell die cvklischen,
Winkel- und Kreisteilungsgleichungen und die metacyklischen Glei-
chungen fünften Grades werden aufgelöst, die Wurzeln metacvkli-
scher Gleichungen höheren Grades nach Kronecker dargestellt. Die
Nichtauflösbarkeit allgemeiner Gleichungen höheren als vierten Grades
ergiebt sich aus der Einfachheit der alternierenden Gruppe von
mehr als vier Größen. Die Unvermeidbarkeit des irreduciblen Falles
bei Abelschen Gleichungen ungraden Grades wird nach Hölder be-
wiesen.
Der zweite Band ist außer der algebraischen Zahlentheorie
wesentlich dem gruppentheoretischen Teile der Algebra gewidmet.
Um in der zweiten Auflage für die insbesondere durch Frobenius
und Hilbert geschaffenen Bereicherungen dieser Gebiete Platz zu
gewinnen, mußte die Theorie der quadratischen Körper unterdrückt
werden ; hoffentlich erscheint sie in der geplanten Fortsetzung des
Werkes wieder.
Im ersten Buche dieses Bandes wird zunächst durch Darlegung
der abstracten Gruppentheorie die Grundlage für die darauf folgen-
den Anwendungen gewonnen. Bei der Forderung des associativen
Gesetzes für die Zusammensetzung der Elemente einer Gruppe sollte
man doch darauf hinweisen, daß auch »nicht-associative<c Gruppen
logisch möglich sind und wirklich existieren. So bilden die
Cayleyschen Octaven eine continuirliche, ihre 16 Einheiten +1,
tie, tia 1g, fiw (a<Pß; a,B = 1,2,3), die den Relationen
1,+1 = ia if + 16 ia = (ie 2B) ty + ie (ip ty) = 0 genügen, eine end-
liche Gruppe dieser Art.
Die von einem Normalteiler geforderten Eigenschaften werden
verständlicher, wenn man die Theorie der Zusammensetzung der der
Zerlegung vorausschickt. Soll man nämlich für die Elemente einer
Gruppe Systeme von je gleichviel Elementen so einsetzen, dab
zwischen den Systemen dieselben Relationen wie zwischen den ur-
sprünglichen Elementen bestehen, so ergiebt sich von selbst, daß das
Weber, Lehrbuch der Algebra, Zweite Auflage. 798
für das Einheitselement eingesetzte System eine Gruppe sein muß,
und daß deren Elemente mit allen übrigen commutativ sind.
Die Bezeichnung »>Teiler« müßte eigentlich für Normalteiler re-
serviert bleiben, da nur diesen die Eigenschaft zukommt, die Gruppe
wirklich so zu teilen, daß das Resultat der Teilung wieder als Gruppe
existiert.
Eine eingehende Behandlung wird den Abel’schen Gruppen uud
deren Anwendung auf den Kreisteilungskörper zu Teil. Die Her-
stellung einer Basis einer Abelschen Gruppe würde einfacher auf
dem von Kronecker eingeschlagenen Wege erfolgen. Für die Con-
stitution der Gruppen ist Dedekinds Commutatorgruppe von Be-
deutung; sie ist in allen Normalteilern, deren Factorgruppe com-
mutativ ist, als Normalteiler enthalten. Die fundamentale Fro-
benius’sche Einteilung der Elemente einer Gruppe in Classen wird
zum Beweise der Sylow’schen Sätze verwendet, auf denen der Nach-
weis der Auflösbarkeit der Gruppen von den Ordnungen p»«, pqr--,
u. a. wesentlich beruht. Schließlich wird der berühmte Bertrand-
sche Satz von den Permutationsgruppen einfach bewiesen und dann
zu den linearen Gruppen übergegangen. Das schwierige Haupt-
problem der Theorie der linearen Gruppen, nämlich die Auffindung
der zu einer gegebenen Gruppe holoedrisch isomorphen Substitutions-
gruppe geringster Dimension, erhält seine Lösung auf Grund der
Zerlegung der Frobenius’schen Gruppendeterminante in ihre irre-
duciblen Faktoren. In der Theorie der Invarianten einer Substitu-
tionsgruppe steht der Hilbert’sche Satz, auf dem die Endlichkeit
der Invarianten - Systeme beruht, sowie Klein’s Formenproblem
und Erweiterung des algebraischen Grundproblems im Mittel-
punkte der Behandlung. Bei den Polyedergruppen wäre eine Be-
handlung auch der 4 Polyedergruppen, die im vierdimensionalen
Raume, und der 2, die im Raum von n >4 Dimensionen existieren,
zu wünschen ; zumal jede endliche Gruppe einem Teiler einer dieser
Gruppen isomorph ist. Die Isomorphie der Icosaedergruppe mit der
alternierenden Gruppe 5ten Grades ergiebt sich am einfachsten, wenn
man den Kanten des Icosaeders die Ziffern 01234 so beilegt, daß
je 2 zusammenstoßende Kanten verschiedene, und in jedem Seiten-
dreieck jede Kante und die mittelste von der gegenüberliegenden
Ecke ausgehende Kante gleiche Bezeichnung erhalten ; den Drehungen
des Icosaeders entsprechen dann Jie graden Vertauschungen der
Ziffern der Kanten einer Ecke. Bei den binären Substitutionsgruppen
im Congruenzkörper ist hervorzuheben, daß man nicht alle ein-
fachen Gruppen so erhält; z. B. ist. die alternierende 7ten Grades
nicht darunter enthalten.
794 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
Die Gruppentheorie wird zunächst angewandt auf die meta-
cyklischen Gleichungen von Primzahlpotenzgrad, auf die die anderen
zurückkommen; insbesondere auf die vom achten Grade und auf die
allgemeineren »Tripelgleichungen« dieses Grades. Für die allge-
meinen Gleichungen achten Grades wird der Wimannsche Satz be-
wiesen, daß sie nicht auf Formenprobleme weniger als 7ter Dimen-
sion zurückzuführen sind. Als geometrische Anwendung folgt der
Nachweis, daß die Gleichung der Wendepunkte einer allgemeinen
Curve dritter Ordnung eine auflösbare Tripelgleichung neunten Gra-
des ist. Zur Ermittlung der Configuration und Gruppe der 28 Dop-
peltangenten einer allgemeinen Curve vierter Ordnung werden die
63 Steinerschen Complexe, die Frobeniusschen syzygetischen und azy-
getischen Tripel, Quadrupel, Complex-Paare und -Tripel und na-
mentlich die 288 Aronholdschen Siebenersysteme eingeführt, von de-
ren jedem die übrigen 21 Doppeltangenten und im Allgemeinen die
Curve selbst rational abhängen. Daraus ergiebt sich schließlich die
Constitution der Gruppe, die sich als einfach und vom Grade 288 - 7!
erweist. Endlich wird gezeigt, daß in Bezug auf die Realität der
28 Doppeltangenten nur vier Fälle möglich sind und diese vier Fälle
auch wirklich eintreten.
Bei den Gleichungen fünften Grades kommt es auf die Auf-
findung von Resolventen mit einem Parameter an, die aber nur bei
Hinzunahme accessorischer Irrationalitäten existieren. Als Resol-
venten ergeben sich die der Icosaédergleichung. Setzt man
ter, teten ter _
(01234) = Eten, ten, ten, ten *s
so erleidet 2 bei den geraden Vertauschungen der x die Icosaeder-
substitutionen
a,2 +B,
h = 1,.., 60),
a+ 6. ( , 60)
denn es ist
6 (01234) = (12340), (01234) (04321) = —1,
(01234) + (02143) __
N 007777 0077 I 1.
1— (01234) (02143) — *** ?
wozu allerdings das Verschwinden der Seminvariante
3 > (x, — 2, = 2 > x)'—5>) LX,
notwendig ist. Daß man aber einzeln S\z, = 0 und ?!x,x, = 0
annimmt, ist nicht erforderlich, sondern bringt nur rechnerische Ver-
einfachungen mit sich. s genügt einer Gleichung 60sten Grades
Weber, Lehrbuch der Algebra. Zweite Auflage. 795
me+By |
rrF+9,
nierende Function der x; und x ist eine im Bereich der alternieren-
den Functionen rationale Function von z, wie aus dem Galoisschen
Fundamentalsatze hervorgeht. Von andern Resolventen der Icosaeder-
gleichung werden die (Jacobischen) vom 6ten Grade hervorgehoben,
auf denen die Auflösung der Gleichungen 5ten Grades durch ellip-
tische Functionen beruht.
Von den linearen ternären Substitutionsgruppen wird nur die
kleinste, vom Grade 168, behandelt. Für sie wird ein volles In-
variantensystem aufgestellt. Unter den Resolventen des Formen-
Problems der Gruppe finden sich solche vom 7ten Grade, die mit
dessen Hilfe ihre Lösung erhalten. Diese speciellen Gleichungen
7ten Grades werden nach Klein durch Adjunction einer accessori-
schen biquadratischen Irrationalität durch elliptische Functionen
lösbar.
In die Theorie der algebraischen Zahlen führt Weber den Be-
griff des »Functionals< ein. Man kann den größten gemeinsamen
Teiler der ganzen algebraischen Zahlen a und Bf mit Hilfe von Un-
bestimmten als «r+ßy darstellen. Dadurch wird es nötig von vorn-
herein rationale Functionen von Unbestimmten einzuführen, bei de-
nen es nur auf die Coefficienten ankommt. Von diesen Functionalen,
einer Weiterbildung des Kroneckerschen Begriffs der »Formen< gilt
auch das Kroneckersche Wort (Festschrift p. 47): »Damit erscheinen
dann in der That die Divisoren der ganzen algebraischen Größen in
einfacher, übersichtlicher, naturgemäßer Gestalt, in welcher für den
speciellen Fall der gewöhnlichen Zahlen, d.h. für den Fall R = 1,
alle sowohl bei der Kummerschen Begriffsbestimmung der idealen
Zahlen als auch bei der Dedekindschen Definition der »Ideale< be-
nutzten abstracten Eigenschaften an einem concreten algebraischen
Gebilde vereinigt sind«. In dem durch Einführung der Functionale,
die sich zu den Dedekindschen Idealen in eindeutige Beziehung setzen
lassen, erweiterten algebraischen Körper gelten die Zerlegungssätze,
ferner der Fermatsche Satz u.s.w. analog wie im Körper der gan-
zen Zahlen. Insbesondere wird die Henselsche Zerlegung einer na-
türlichen Primzahl p in Primfunctionale ausgeführt, und, nach Dede-
kind, gezeigt, daß nur die in der Körperdiscriminante enthaltenen
Primzahlen quadratische Faktoren haben. Aequivalente Functionale
werden definiert, in Classen zusammengefaßt und die Endlichkeit der
Classenanzahl bewiesen.
In der Theorie eines Körpers X im Verhältnis zu seinen Tei-
lern ist der Hilbertsche Trägheitskörper eines Primideals p von 2
mit einem Parameter, denn es ist z. B. 1 ( eine alter-
796 Gott. gel. Anz. 1%1. Nr. 10.
wichtig; er enthält ein vollständiges Svstem von modulo p ines-
gruenten Zahlen von 2. Ferner ist er relaiiv cvklisch und @ relativ
metacyklisch in Bezug auf den Hilbertschen Zerlegungskörper. Auf
Grund dieser und der Sätze über Verzweizungskörper und -Gruppen
gelingt die Zerlegung des relativen Grundidleals und der relativen
Discriminante.
Für das Folgende werden einige Hilfssätze über die Punktgitter
und die Minkowskischen Strahldistanzen herangezogen. Aus den
Sätzen über eine obere Grenze für Summe und Produkt von Linear-
formen ganzzahliger Variabeln, wird nach Minkowski die Existenz
der Körperdiscriminante erschlossen.
Nachdem die Theorie der Einheiten, insbesondere der Funda-
mentalsysteme von solchen, ferner die reducierten Zahlen behandelt
sind, wird die Anzahl der durch ein Ideal a teilbaren Hauptideale im
Verhältniß zu ihrer absoluten Norm durch eine Volumbestimmung
asymptotisch abgeschätzt. Daraus ergeben sich durch Benutzung der
Dirichletschen Reihen für die Classenanzahl die Ausdrücke
1 l 1
— — = — lim (s—] so =
9 hur N(a)’ 9 mf MN] 1— iN (p)
in denen g eine gewisse numerische Constante ist. Aus der früher
bewiesenen Endlichkeit dieser Anzahl ergiebt sich als specielle An-
wendung eine Gradbestimmung für den Kreisteilungskörper, also ein
Beweis für dessen Unzerlegbarkeit, und ferner ein Beweis des Dirich-
letschen Satzes von den unendlich vielen Primzahlen in einer primi-
tiven arithmetischen Reihe.
Die gewonnenen Resultate werden nunmehr auf den Kreisteilungs-
körper angewandt. Als Krönung des Ganzen ergiebt sich, nach einer
langen Reihe interessanter Betrachtungen, der große Satz: Alle
Abelschen Körper sind Kreisteilungskörper, den Kronecker ausge-
sprochen, aber erst Weber und dann Hilbert bewiesen haben. Der
hier gegebene Webersche Beweis beruht in letzter Instanz auf einer
genauen Discussion der beiden Classenzahlfactoren für einen Kreis-
teilungskörper, dessen Grad eine Potenz von 2 ist.
Die Theorie der algebraischen Zahlen erhält ihre notwendige
Ergänzung in dem Nachweis der Existenz nichtalgebraischer Zahlen.
Der classische und weittragende Cantorsche Beweis für die Existenz
trausscendenter Zahlen liefert übrigens ebenso leicht den allgemeine-
ren Satz, daß eine solche Basis algebraisch unabhängiger transscen-
enter Zahlen, von denen alle anderen algebraisch abhängen, nicht
endlich und sogar nicht abzählbar ist. Aber daneben verdient doch
auch die Livuvillesche Erzeugung transscendenter Zahlen Beachtung,
Weber, Lehrbuch der Algebra. Zweite Auflage. 797
da sie auf dem ersten wirklichen Transcendenz-Kriterium be-
ruht,” wenn auch dieses Kriterium, daß für eine algebraische Zahl
(a,a,..) = I + J von der nten Ordnung schließlich im-
a, —
a+:
n-17 —— . . . .
mer Vases kleiner als der Nenner von (a,,a,,..,a,) ist, bei seiner
Anwendung auf gegebene Kettenbrüche etwa auf
1 e—e"
1-— = (1,1,1,2,1,1, 4,1, 1,6, ..), Dr = (1,3,5,-,),
e—1
oo = O46.)
u. dgl. versagt, so daß die Transcendenz von e auf anderem Wege
erschlossen werden mußte. Für den die Transcendenz von e und
x umfassenden Lindemannschen Satz wird der Gordansche Beweis
entwickelt.
Das Werk, dessen reicher Inhalt im Vorstehenden zu skizzieren
versucht ist, zeichnet sich durch eine ungemein klare, leicht faßliche
Darstellung aus, wie sie den schwierigeren Partieen der Algebra bis-
her nicht zu Teil geworden ist.
Königsberg Pr., April 1901. K. Th. Vahlen.
Festsehrift zu Goethes 150. Geburtstagsfeier dargebracht vom Freien Deut-
schen Hochstift. Frankfurt a. M., Knauer, 1899. XV und 300 S. 8.
Etwas verspätet gelangt hier die Goethe-Spende des Freien
Deutschen Hochstifts zur Anzeige. Aber dafür, daß es noch nicht
zu spät ist, hat die Festschrift selbst durch ihren inneren Wert ge-
sorgt. Mit dem größeren Teile wenigstens ihres Inhalts überdauert
sie den besonderen Anlaß, der sie ins Leben gerufen hat.
Es ist nicht leicht, zu einer Feier, wie sie der 28. August 1899
sah, eine stil- und charaktervolle Festschrift zustande zu bringen.
Mit der bloßen Zusammenfassung mehrerer Aufsätze ist es nicht ge-
than. Der Leser darf erwarten, daß ihm etwas Bleibendes geboten
werde, das des Gefeierten würdig ist. Er darf auch wünschen, daß
dies in festlicher Form geschehe. Er wird dankbar Einzelheiten und
selbst Kleinigkeiten hinnehmen, wenn nur der Spender es versteht,
das Einzelne zur allgemeinen Weihe zu rufen.
Da sei denn gleich vorausgeschickt: Festlich im Aeußeren gibt
798 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
sich die Frankfurter Geburtstagsgabe allerdings. Vornehm im Ma-
terial und Druck, geschmackvoll in der Ausstattung unter ver-
ständiger Anlehnung an Formen des Rococo, dabei im Vortrag ge-
legentlich liebenswürdig altmodisch und umständlich, so liegt das
Buch vor uns.
Gleich das Votivbild, das Otto Donner - von Richter nach
einer 55 Jahre älteren Skizze von Moritz von Schwind ausgeführt
hat, wirkt anheimelnd. Unsre moderne Kunst hätte leicht etwas
Ungoethisches in die bildliche Verherrlichung des Meisters hinein-
tragen können. Hier bei dem woltemperierten Gemälde Schwinds
ist diese Gefahr ausgeschlossen. Es repräsentiert die maßvolle und
doch so warmfühlige Weise, in der die romantische Jugend dem
greisen Dichter noch bei semen Lebzeiten ihre Liebe zu erkennen
gab. Btwas von Bettinas Art lebt in den klaren Zügen des an-
spielungsreichen Bildes, von dem die Reproduction übrigens doch nur
eine schwache Vorstellung gibt. Man muß das Donnersche Original
im Frankfurter Goethemuseum betrachten.
Die sieben Aufsätze sodann, die den stattlichen Band füllen,
zerlegen sich in zwei sehr ungleiche Gruppen. Von diesen wird die
kleinere dadurch gekennzeichnet, daß die hierher gehörigen Leistun-
gen in gar keiner Beziehung zu dem 150. Geburtstag Goethes stehen.
Da ist zunächst Robert Herings Studie »Zum Erdgeist in
Goethes Fauste. Ich muß gestehen, daß ich mich seiner Darlegung
durchaus nicht anschließen kann. Der Erdgeist soll lediglich >»die
schreckliche Seite, die in dem Weltgetriebe eine so wichtige Rolle
spielt, verkörpern« und Goethe die Anregung dazu in Straßburg aus
der Lektüre von Holbachs Systeme de la nature gewonnen haben.
Um die Frage nach der Herkunft und Berechtigung des Bösen in
der Welt soll sich überhaupt die ganze Urfaust-Dichtung crystalli-
siert haben. Zum Beweis verwertet H. auch Klingers »Fauste. Und
weiter wird ihm der Erdgeist zum »Protest der im jungen Goethe
tief wurzelnden theistischen Grundanlage seines Wesens im Gegen-
satze zu pantheistischen Gebilden, als deren frühesten eines das
Zeichen des Makrokosmos belegt ist«.
. Ebenso weit ab von der Frankfurter Goethefeier liegt der Auf-
satz Veit Valentins über Goethes Beziehungen zu Wilhelm v. Diede.
Mit übergroßer Ausführlichkeit wird der Verkehr des Dichters mit
dem adelsstolzen, herzlich unbedeutenden Edelmann beschrieben. Im
Wesentlichen handelt es sich immer wieder um ein paar Denkmäler,
mit denen der Reichsfreiherr den Park bei seinem Schlosse Ziegen-
berg schmücken will. Wol stellt sich dabei eine kleine Correctur
(30,7) zu der Weimarer Ausgabe der Briefe und eine andre (33,15)
Festschrift zu Goethe's 150. Geburtstagsfeier. 799
zu Harnacks Buch über die Römische Künstlercolonie ein; wol ver-
mag V. (S. 34) zu erweisen, daß Goethe in der »Italienischen Reise«
das Concert bei dem Senator Rezzonico (Febr. 1788), wo Frau von
Diede gespielt haben soll, erfunden hat; wol ist der Vf. sogar im
Stande, sechs Briefe Goethes zum erstenmal mitzuteilen. Aber der
Inhalt dieser Schreiben, um derentwillen offenbar der ganze Artikel
abgefaßt ist, rechtfertigt nicht eine Ausdehnung von 47 Seiten.
Vollends am Schluß die Combinationen über einen etwaigen Zusam-
menhang zwischen dem Park von Ziegenberg, den Goethe kaum ge-
sehen hat, und dem Schauplatz der »Wahlverwandtschaften< sind
ganz ohne Gewinn. Und doch, trotz aller Einwände: es war recht,
diesen so wenig monumentalen Artikel an die Spitze der Sammlung
zu rücken, nicht um seines bescheidenen Inhalts, sondern um seines
Verfassers willen. Gehdrte doch viel treue Sorge des inzwischen
Heimgegangenen jahrelang dem Hochstift und dem Frankfurter
Goethekult. —
Die größere Gruppe der Beiträge zur Festschrift zeigt einen be-
rechtigten, für diesen Zweck sogar notwendigen Lokalpatriotismus :
das Freie deutsche Hochstift will zeigen, wie sehr Goethe ein Frank-
furter, »4 hiesiger< war, wie tief er im Heimathboden wurzelte. Hat
auch nicht Jeder gerade viel Neues zu sagen, so giebt doch die
Freude und der Stolz über den herrlichen Landsmann dem Vortrag
jene Wärme, ohne die keine Festschrift bestehen sollte.
Heinrich Pallmann berichtet über die Familien Goethe und
Bethmann mit kleinen Correcturen der früheren Untersuchungen
über das gleiche Thema. In dem ersten Teil seines Aufsatzes fesselt
vor Allem (S. 54) der Brief des Kaufmannes Balth. Friedr. Rummel
über den Eindruck, den der »Werther« in Leipzig gemacht hatte.
Der zweite Teil belohnt den Leser, wenn er Geduld hat, durch eine
neue, wesentlich von der bisherigen Tradition abweichende Geschichte
der Verhandlungen, die 1819 bis 1826 um das erste geplante Goethe-
Denkmal in Frankfurt geführt wurden. Hier wird vor Allem klar,
daß die Seele des ganzen Unternehmens Simon Moritz von Beth-
mann gewesen ist, der hochherzig genug entschlossen war, das Denk-
mal in letzter Stunde auf eigne Kosten errichten zu lassen. Sein
Tod erst, und nicht etwa Goethes Einspruch, brachte die Angelegen-
heit zum Scheitern.
Liebenswürdig sodann und kundig, dabei stellenweise durch ge-
hobenen Ton dem festlichen Anlaß Rechnung tragend, unterrichtet
uns Elisabeth Mentzel, die unermüdliche Erforscherin der Frank-
furter Bühnengeschichte, über den jungen Goethe und das Frankfurter
Theater. Freilich, da das Material leider nur lückenhaft erhalten
800 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
ist. muß sich die Verfasserin oft mit bloßen Vermutungen begnügen,
und an ungezählten Stellen heißt es »vielleicht«, »wahrscheinlich«.
»es läßt sich voraussetzen<, >es ist anzunehmen«, u. s. w. Die vor-
sichtige Zurückhaltung, die in solchen Wendungen liegt, hätte Frau
Mentzel nur noch öfter üben und nicht gar zu viele Beziehungen
suchen sollen. Daß beispielsweise der »Kaufmann von London< noch
auf die »Mitschuldigen« entscheidend gewirkt habe, ist kaum zu
glauben. Andres wieder ist sehr beifallswürdig, u. A. die Discussion
über die Frankfurter Premiere von »Erwin und Elmire<; auch die
Annahme, daß die Texte der Frankfurter Marionettenaufführungen
vom Doctor Faust dem des Ulmer Puppenspiels nahe gestanden und
sicherlich den Prolog in der Hölle enthalten hätten. Es steckt viel
Forscherfleiß in dem Aufsatz; nur mit den Eigennamen erlaubt sich
Frau M. allzugroße Freiheiten: Weiße in Leipzig hieß Christian
Felix; Ekhof (160,7) schrieb sich mit einem k; die >Iris< (175, 28)
hat Joh. Georg Jacobi herausgegeben ; und einen Friedrich oder eine
Friederike Gottsched (137,9) dürfte niemand kennen.
Knapp und überzeugend trägt Alexander Freiherr von Bernus
seine Sache vor, indem er in Wort und Bild auf wenigen Seiten
dem Leser die beiden Junckerschen Blumenstücke nachweist, von
denen Goethe in »Dichtung und Wahrheit« berichtet.
Ausführlicher wieder, aber nicht umständlicher, als es die Sache
verlangt, läßt sich R. Jung über Friedrich Georg Goethe, des
Dichters Großvater, aus. Zwar sind es nur äußere Lebensereignisse,
die man jetzt noch festlegen kann; die tieferen charakterbildenden
Faktoren bleiben uns unbekannt. Aber selbst aus diesen scheinbar
gleichgültigen Zahlenreihen, Steuereinschätzungen, An- und Ver-
käufen u. s. w. resultiert doch das anschauliche Bild eines Mannes,
der mit eigner Kraft sich aus dem Handwerkerstand emporgearbeitet,
an Geist und Energie dabei seinen Söhnen sich überlegen zeigt.
Auch der Humor treibt sein Spiel; denn aus kostbaren Schneider-
rechnungen ergiebt sich, daß die ersten Beziehungen zwischen den
Familien Goethe und Textor darin bestanden haben, daß der Grof-
vater des Dichters von Vaters Seite den Urgroßvater mütterlicher-
seits vor Gericht verklagte.
Bunt, etwas quodlibetartig nimmt sich endlich der Beitrag von
O. Heuer »Goethe und seine Vaterstadt« aus. Allerlei Zufalls-
material mußte in die Darstellung verarbeitet werden; da waren
kühne Sprünge und gewagte Uebergänge nicht zu vermeiden. Um
nur einen Begriff von dem Reichtum neuen Inhalts zu geben, so
wird S. 256f. ein Brief J. C. Goethes vom 11. Jan. 1755 an einen
Frankfurter Arzt mitgeteilt, in dem die Rede ist von dem schwach-
Festschrift zu Goethe’s 150. Geburtstag. 801
sinnigen jungen Clauer, dessen Vormund der Herr Rat war. S. 258
erhalten wir die Reproduction eines Blattes aus dem Vorschriften-
heft, das der Schreibmeister Thym 1760 für J. W. Goethe angefertigt hat
und das jetzt auf der Leipziger Universitatsbibliothek (Hirzelsche
Sammlung) aufbewahrt wird. S. 265ff. weist H. nach, daß die
Familie Goethe dem Patriciat im damaligen Sinne, d. h. also den
Familien des städtischen Adels, nicht angehörte, wol aber dem im
Range unmittelbar folgenden angesehenen Bürgertum. (NB! zu
271,28: »Fritzisch« war doch nicht der Herr Rat, sondern der junge
Wolfgang gesinnt). S. 272ff. erhalten wir Bericht über zwei für
den Grafen Thoranc bestimmte religiöse Gemälde von Seekatz, an
denen mutmaßlich der junge Goethe ideellen Anteil gehabt hat und
deren Skizzen (Haman und Esther, das Salomonische Urteil) trefflich
reproduciert sind. Interessant ist dann besonders das Jugendporträt
des Dichters (S. 278), das nach H’s. Vermutung für Charitas
Meixner in Worms gemalt ist. Die Beziehungen Goethes zu der
Familie Stock werden S. 282ff. durch ungedruckte Briefe und
Stammbuchblätter neu bestätigt. Und endlich erörtert H. klar und
entscheidend die Frage, warum Goethe in seinen Alterstagen aus
dem Verbande der Frankfurter Bürgerschaft ausgeschieden sei. Es
unterliegt danach keinem Zweifel, daß den Rat der Stadt die oft
erhobenen Vorwürfe nicht treffen, sondern daß der Dichter selbst
die alten Fäden zerschnitten hat. Er wollte nicht, daß die uneheliche
Geburt und spätere Legitimierung seines Sohnes August noch ein-
mal öffentlich erörtert werde und verzichtete auf sein vaterstädtisches
Bürgerrecht. Später freilich, bei der Verhandlung um die Verleihung
eines Ehrenbürgerbriefes, hat sich der Magistrat nicht so einwand-
frei benommen. |
Es war gut, daß alle diese Verwickelungen, und ebenso die alten
Denkmalsprojekte in der Festschrift des Freien Deutschen Hochstifts
noch einmal aktenmäßig zur Darstellung kamen. Jetzt ruht kein
Dunkel und kein unangemessener Tadel mehr auf den Beziehungen
Frankfurts zu seinem größten Sohne; und was vielleicht eine frühere
Generation kleinlichen Sinnes versehen hat, ist gut gemacht durch
die glänzende Apotheose am 28. August 1899.
Leipzig, 20. März 1901. Albert Köster.
Gott, gel. Ans. 1901. Nr. 10. 53
802 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
Le livre des avares par Abou Othman Amr ibn Bahr al-Djahiz. Texte
arabe, publié d’aprés le manuscrit unique de Constantinople parG. van Vloten.
Leyde, Brill. 1900. XXII, 290 8. 8.
Mit dem Kitäb al buchalä des basrischen Gelehrten und Lite-
rators Gähiz (st. 255/869), einem in mehrfacher Hinsicht interessanten
und eigenartigen Buch, eröffnet van Vloten eine Ausgabe der von
ihm uns erhaltenen Werke, nachdem sich ein erstes, das (ebenfalls
von ihm herausgegebene) Kitäb al mahäsin, als unecht erwiesen hat.
Unser Buch ist, wie auf dem Titel vermerkt wird, nur in einer
einzigen Hs. bekannt (Koprülü 1359); und fast so singulär ist der
Inhalt. Zwar weiß man, daß noch andere muslimische Gelehrte, wie
Asma’i, Madäini, Ibn Chatib, das nämliche Thema behandelt, oder
wenigstens Material darüber gesammelt haben '); aber davon ist, wie
es scheint, einzig das mit dem unsrigen gleichnamige des zuletzt Ge-
nannten erhalten, das im Brit. Museum liegt und über dessen genaueren
Inhalt noch nichts bekannt ist. Der Geiz, von dem Gähiz handelt,
ist nicht im Gegensatz zu dem altarabischen Begriff der Freigebig-
keit zu verstehen; diese Tugend wußte der Verfasser, gleich manchen
anderen Aufgeklärten seiner Zeit, bekanntlich nicht höher zu schätzen,
als die altarabischen Ideale überhaupt ; sondern die »Geizigen< sind
eine Klasse von Leuten, die sich im ‘Jräq, besonders in Bagra, mit
der untergehenden Omajjidendynastie zu bilden begann, und im
3. Jht. d. H. unter den ‘Abb4siden offenbar zahlreich war: sie ver-
trat die Reaktion des gebildeten Mittelstandes gegen die finanzielle
Mißwirtschaft, und deren Resultate, die durch Unterschlagungen
und Umtriebe auf Kosten der Steuerzahler entstandene Plutokratie
unter den Statthaltern und in der höhern Beamtenwelt. Zu diesem
Kreise hat Gähiz, wie es scheint, in seinem höhern Lebensalter ge-
hört, kannte sich jedenfalls darin gut aus. Was er über Gesinnungs-
genossen früherer Generationen berichtet, verdankt er den Samm-
lungen des Agmai, Madäini und Abü ‘Ubaida; indeß sind dies, nach
seiner Angabe (p. 161, 15ff.), nur einige zwanzig Anekdoten. Alles
Uebrige hat er entweder selbst gesammelt, oder er hat es aus dem
Munde seiner Freunde und Bekannten. Er entwirft damit ein in-
struktives Bild von jenem Kreise, allerdings in Einzeldarstellungen,
und unterrichtet uns so über Dinge, von denen unsere historischen
Quellen natürlich ganz schweigen.
In der Einleitung, in der der Verf. den Leser durch allerlei
Fragen für sein Thema zu interessieren sucht, charakterisiert er. die
»Geizigen« fast noch besser, als es der Hauptteil des Buches zu tun
vermag. Das Buch kann keine bloße Unterhaltungslektüre sein, denn
1) 8. Preface p. I. Dazu vgl. Goldziher, Muhammed. Studien I 161, Anm. 7.
Le livre des avares par Abou Othman Amr ibn Bahr al-Djahiz. 808
die Leute, von denen es handelt, leben einem ernstlichen Princip,
das sie zu begründen und zu verteidigen wissen. Es ist doch
wissenswert (p. 1), was sie veranlaßt, sich von den herkömmlichen
Begriffen zu emancipieren und »den Geiz Rechtlichkeit zu nennen
und die Filzigkeit in Ordnung zu finden, die Freigebigkeit für Ver-
schwendung zu halten und Uneigennützigkeit für Unverstand<, ohne
sich um den Ruf und den Tadel der Leute zu kümmern (p. 2). Sie
befleißigen sich im Privatleben der Mäßigkeit, sie vermeiden den Luxus
in ihren Wohnungen, schwärmen aber für ihn bei Andern. Sie sind
auf gute Geschäfte versessen, meiden die Ausgaben und halten ihre
Vermögen ängstlich beisammen. Es sind Gebildete und Gelehrte, die
den Geiz mit den subtilsten Argumenten zu rechtfertigen vermögen,
und das Naheliegende, seine Verwerflichkeit, zu übersehen scheinen.
Wie hat diese Kurzsichtigkeit neben der hohen Intelligenz Platz?
Manchmal müssen sie den Widerspruch wol selbst zugeben, aber dann
tünchen und flicken sie am unrechten Orte. Soweit es noch lebende
Zeitgenossen betrifft, müssen ihre Namen öfter durch ein N. N. er-
setzt werden; dies bedeutet zwar einen Nachteil für das Buch (p.8),
aber die Anonymität ist da geboten, teils im eigenen Interesse des
Verfassers, teils um die Betreffenden nicht in Mißkredit zu bringen.
Auf die hier skizzierte Vorrede folgt, als erstes Stück des eigent-
lichen Buches, die Risäle des bekannten Schu'dbiten Sahl b. Härün,
Sekretärs des Chalifen Ma man, in einer z. Th. etwas ursprünglicheren
Recension, als wie sie uns von Ibn ‘Abd Rabbih in seinem ‘Iqd über-
liefert ist. Sodann 2) Anekdoten über »Geizige« unter den Chorä-
säniern. 3) Ueber die »Moscheeleute<, d. h. eine Vereinigung von
Männern, die in der großen Moschee von Bagra zusammenzukommen
pflegten. 4) Zubaida b. Humaid. 5) Ahmed b. Chalef. 6) Chälid
b. Jazid. 7) Hizämi. 8) Harithi. 9) alKindi. 19. Muhammed b. Abi
Muammal. 11) Asad b. Gani. 12) al Thauri. 13) Tammäm b. Ga far.
14) Ibn al ‘Aqadi. 15) Abu 1 Said al Madäini. 16) al Asmai.
17) Die von den oben angefiihrten Gelehrten tibernommenen Anekdoten.
18) Der Brief gegen den Geiz von Abu 1 ‘As ‘Abd al Wahhäb al
Thagafi, und seine Widerlegung durch Ibn al Thauam; die Echtheit
beider unterliegt Zweifeln (Préface p. V)). Endlich 19) Fortsetzung
der Erzählungen. — Man sieht, das Hauptkontingent stellen die Ge-
lehrten, z. Th. ausgesprochene Schwübiten; die Philosophie wird
durch al Kindi vertreten. Uebrigens sind uns Einige der eben Ge-
nannten sonst ganz oder fast unbekannt — van Vloten hat über
Solche in der Einleitung eine Notizen zusammengestellt —, und dies
gilt auch von vielen Andern, die Gähiz in den häufigen Digressionen
beiläufig erwähnt und die z. Th. einer viel älteren Zeit angehören.
53 *
804 | Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
In einer längern Appendix (p. 232—272) kommt der Verf. endlich,
etwas unvermittelt, trotz Verwandtheit des Stoffes mit dem des
Hauptteils, auf das Beduinenleben zu sprechen, mit seiner un-
freiwilligen Sparsamkeit und Not, auf allerlei beliebte und unbeliebte
Gerichte, Notspeisen u. dgl.; auch auf das Menschenfressen (d.h.
das in den alten Gedichten tatsächlich nur metaphorisch gemeinte
Auffressen der Schutzgenossen) und andere Betätigungen des Be-
duinenhungers, wofür er aber keine Gewähr leisten kann (p. 240, 4.
243, 16); schließlich noch auf gewisse Gebräuche bei der Gastlichkeit.
Manche Partieen dieses Anhangs tragen lediglich philologisches Ge-
präge. Sachlich bietet er nicht viel Neues, auch da nicht, wo es
erwünscht wäre, wie bei einigen Benennungen von Notspeisen. Da-
für sind manche Verse aus alten Gedichten eingestreut als Belege
für die sprachlichen Erörterungen.
Die Handschrift, auf die der Herausgeber angewiesen war, ist
im Allgemeinen nicht schlecht, aber im Einzelnen doch sehr der
Nachbesserung bedürftig. Die diakritischen Punkte fehlen mit Vor-
liebe an kritischen Stellen. Flüchtigkeiten des Schreibers, wie Aus-
lassung einzelner oder gar mehrerer Worte (z. B. 183, 6. 174, 3.
227,12f. 14.) sind nicht selten; desgleichen gedankenlose Umstellung
von Wörtern (p. 2,2 — s.u. —; 44,14). Daß der Text doch leid-
lich lesbar ist, wenn auch allerdings noch an mancher, in den An-
merkungen unangefochten gebliebener Stelle, fragwürdig, haben
wir nächst dem Herausgeber seinem Lehrer, Prof. de Goeje, zu
danken, der die Correktur gelesen und zahlreiche Verbesserungen
und Erläuterungen beigesteuert hat. Paralleltexte aus andern Schrif-
ten des Gähiz, sowie dem ‘Iqd, aus Baihaqi u.s.w. sind ziemlich
reichlich herangezogen worden, könnten aber immerhin noch ver-
mehrt werden. Auffällig ist die Inconsequenz in der Verificierung
der zahlreichen eingestreuten sprichwörtlichen Redensarten ; man muß
oft fast glauben, der Herausg. habe sie nicht als solche erkannt, so
unwahrscheinlich dies an Stellen wie 148, 18 (erklärt 149, 3; vgl. aber
J. Qutaiba, Adab ed. Qairo 21, 21f., 118, 18 ff.); 174, 11 ff.; 180, 17f.
(vgl. Muzhir I 236,15); 202, 12f.16; 17 I> ‚söt oe: 8. außer
Maidäni ed. Freyt. II 902 oben auch Mu’ammarüin 12, 22) u.s. w.
scheint, wo die Art der Einführung deutlich genug ist. Und auch
wo eine solche fehlt und der Verf. derartige Redensarten zu rheto-
rischem Schmuck verwendet, wären leicht Nachweise zu liefern. Nur
einige Beispiele zum Beleg. 33,9 Jul ond! df ooASS eye Maid. (Freyt.)
I 498; III? 432 oben; Muzhir I 236,10; J. alSikkit, Alfäz 59, 8 ff.
50,11 sa} Sot! ul Maid. 1 346, No. 18, Murassa 2.611, J. Qu-
Le livre des avares par Abou Othman Amr ibn Bahr al-Djahiz. 805
taiba, Adab 21, 4, ‘Ujfin 32,12, J. alSikkit a.a.O. 526,1.3; Laqit in
Muchtärät 7,1 etc. Dazu vgl. p. 82, 14 unserer Schrift und Maid. I 345,
No. 14. Pag.77, 2 wäre auf Maid. II 342 Lo? 1,535 (ni 1,5K zu verweisen;
vgl. III! 136, No. 825 und den Vers in Hamäsa 315,19. Zu p. 108, 1
3731 well: Maid. 11670, Hariri’s Durra (Thorbecke) 168, 12 ff., u.s. w.
Pag. 163, 6 und 204, 6: esvst „oO! yy: Maid. II 707 unten (Muzhir
I 236, 3). Zu 180,17 vgl. Muzhir I 236,15: stell zu Bt U ast,
224,5 Jb Aid USGI! sul up (Maid. I 464; Il 667.) wird oft
citiert, z. B. Muzhir I 236, 8, Mu'ammardn 12, 10, Hariri’s Maq.? 361, 8.
Pag. 233, 4: die Worte wWJ i Sie > u sind ebenfalls sprichwört-
lich geworden, vgl. Maid. 1217, Abü Zaid, Nawädir 188 oben, u.s. w.
Ganz bekannt ist die Redensart „e,e Ass ‚ae 3 Maid. II 482, Ham.
255, Tabari I 3410, 7 Hariri Maq.? 100, 6. Die Mehrzahl lassen wir
hier unerörtert. — Von andern Verweisen erlaube ich mir folgende
hinzuzufügen: Zu 13 oben vgl. außer der ‘Iqd-stelle auch Bajän I
163,5f. Zu 19,1ff.: “Iqd (Ausgabe 1302) III 316 g. u., etwas abwei-
chend; 26,5 ff. ebenda 329, 19 ff. Pag. 40, 20: der Vers ebenda 330, mit
wu statt <5,!. 81,15£.: I. alSikkit 255,3 = 617,12. 111,3—5:
‘Igd III 317. In dem Verse des A’s& Bähila 128, 19 ist die Lesart
der Hs. Jt wenigstens von Abd Zaid 76,4 und Hibatallah, Much-
tärät 11,3 bezeugt; übrigens schwankt die Ueberlieferung hier in
der Versfolge. Zu 177,6f.: Bajän I 111, mit geringen Abweichun-
gen; ebenda finden sich noch zwei weitere Verse des Gedichts. Zu
der Redensart 183, 20 vgl. Bajän 113,19, sowie Abd Zaid 95, 2 ff.
Der Vers p. 185,3f. lautet so auch bei Maid. I 399, in Hariri’s
Maq.? 458, 18 u.s.w., aber etwas anders Maid. II 493. Pag. 234, 3f.:
Durra 169f. Zu dem Verse 235, 12f. und seinem Verfasser: J. Hi-
Sim 612,17, J. alSikkit a.a.O. 614,7. 12; vgl. auch das Sprichwort
Maid. I 483, No. 34. Zu 245,18f.: Bajän I 206, 21 ff. Von dem
suis ist auch ebenda 123, 14 ff. die Rede.
Schließlich erlaube ich mir noch einige Vorschläge zur Textver-
besserung. Gleich in der Vorrede ist nicht Alles in Ordnung. 1,6 ist für
B39 ZU lesen s;.=: >geht über dasselbe hinaus<. Ebenda Z. 15
19,5,5., Hs. 053,59: 1. 12,50, >(weshalb sie sich dem Beistehn wider-
setzten) und es durch zu Grunde gehn lassen ersetzten< d.h.
»statt dessen zu Grunde gehn liefen<. Das Te&did der Hs. ist also
richtig, die Emendation im Uebrigen nicht sehr gewagt, denn die
Hs. mul, aus gewissen Conjecturen v. Vlotens zu schließen, oft sehr
undeutlich geschrieben sein. P. 2,2 f.: u» Je wJs,: Gedankenlosig-
806 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 10.
keit des Schreibers; 1. spl> Je sey: >(weshalb sie die mäßige Le-
bensweise gegen Wolleben ins Feld führten) und Lebensbitterkeit
gegen Lebenssüße«. Ebenda Z. 7 ist statt IJAaä, zweifellos tl... zu
lesen, wie vor- und nachher. Wenn die Hs. nicht so hat, so hat
der Verf. doch dies gemeint. 5,2f. ist „„a> »bewahren< als IL
Stamm zu lesen, s. Dozy i.v. 14,10 ‚zul las! yyasa: ob der Vo-
cal so in der Hs. steht, weiß ich nicht; man könnte an das »beu-
gende« Schicksal denken (vgl. Goldziher, Mu'ammarfn 84, 3. 98, 4 v. u.;
J. alSikkit 156,8) und lesen whist (II. Stamm intensiv oder iterativ).
82,3 §,J! ist wol verlesen oder verschrieben; man darf gewiß AI,
herstellen, vgl. J. Qutaiba, Adab (Qairo 1300) 61; J. alSikkit 617, 11,
Maidäni II 838, No. 106; übrigens zum ganzen Passus Hariris Maq.’
Schol. 179, 8 ff. 131,16 .,sdui, Hs. ist}; dazu p. XV »I’bomme
au grand menton? manque aux dictionn«. Wer der Aba Jagüb ist,
weiß ich nicht. Es ist aber wol möglich, daß sein Epitheton jüdi-
schen Ursprungs ist; das Wort stimmt genau zu 327 (syr. is]!
»bartig<. Dann dürfte auch das d berechtigt sein. 158, 13f.
ROVER A: Das 3 hat v. V. aus „s der Hs. hergestellt, aber ich
kann dem keinen Sinn abgewinnen. Ks ist & zu lesen (»weshalb soll
ich nicht mit der Sprache heraus ?«), was eigentlich gar keine Aen-
derung ist, da J und J in Hss. ja oft genug ganz gleich aussehen.
Ebenda Z. 16 wird „gia,s als II. Stamm zu lesen sein, synon. mit
IV. In dem Sprichwort 174,13 braucht man ceed nicht durch yon
zu ersetzen (wie Tab. 1,1512, 5, J. HiS&m 726,8 u. s. w. steht); der IV.
Stamm ist gut belegt und für unsere Stelle direct in Maid. I 609,
No. 25, Schol. In dem Verse 200, 20 f. ist bei der überlieferten Lesart
zu bleiben und nur ein Wörtchen zu ergänzen: Ja wt x) us pals
1,81; vgl. Hariri, Maq.? 662, Schol. 260,17 lese ich „5 SLo (mit (Yo)
»entgegensein, widerstreben<, und vorher „ste (U. Stamm).
Von kleineren Versehen, die übrigens bei dem im Ganzen sehr
correcten Druck nicht häufig sind, seien berichtigt: 61, 3 Mist!
mit 7 st. c 77,101. sum» (wie ja richtig p. 137). 213, 16 ist
die Qoränstelle anzugeben (76, 9). 226, 16 (sowie im Index i. v.)
„st mit w. 232,9 wird für den folgenden Vers auf Täg al ‘ards
verwiesen, während doch bald darauf, p. 235, der selbe Vers mit
Angabe des Dichters, Tarafa, wiederkehrt (Ahlw. 5, 46). 238, 3
Le livre des avares par Abou Othman Amr ibn Bahr al-Djahiz. 807
St3ö:L wid. 241,17 ist der Vers nicht in Ordnung. 162, 5
führt der Verweis b), p. 243, 7 der zweite Verweis e) irre. —
Falsche Citate sind nicht ganz selten: 199, Note b) lies Bajan I
st. U; p. XU 8 1. 12 st. 10; XIV 19 1. 14 st. 4; XV1 91.5
st. 4; XIX 4 v.u. l. 688 st. 788; XXI 15 1. 4 st. 14. — Im In-
dex der gr fehlt bei Umajja b. AbisSalt die Stelle 253 ult. 277
unter of; 1. IP st. If. Die Sagäliba (278, 2 des Index) kommen auch
249, 18 vor. Unter pgpiss! (mail! Aus cyt ze lies v statt 4. 281
oben ist und (Unterabteilung des Stammes Asad) nachzutragen :
foi, 16, und auf derselben Seite (gS: 14, 10. p. 284: ada
[? (ge cy] wird in der Einleitung mit p. VII mit gf. cy? a!
combiniert ; überdies 1. Pfr st. Pfr.
Die Ausgabe ist Th. Nöldeke gewidmet.
Göttingen, 2. Mai 1901. Friedrich Schulthess.
Deutsche Reichstagsakten. Zehnter Band, erste Hälfte. Deutsche Reichs-
tagsakten unter Kaiser Sigmund. Vierte Abteilung, erste Hälfte.
1431—1432. Herausgegeben von Hermann Herre. Gotha, F. A. Perthes 1900,
Il und 514 S.
Deutsche Reichstagsakten. Eifter Band. Deutsche Reichstagsakten
unter Kaiser Sigmund. Fünfte Abteilung. 1433—1435. Herausgegeben
von Gustav Beckmann. Gotha, F. A. Perthes 1898. LII und 646 S.
Nach langem Stocken ist neuerdings die Publikation der »Deut-
schen Reichstagsakten« wieder in erfreulichen Fluß gekommen. Ein
ganzer und ein halber Band liegen seit Ende des letzten Jahres vor,
ebensoviel soll in kürzester Zeit veröffentlicht und damit die Regie-
rungszeit Sigmunds abgeschlossen werden. Ueber die äußeren Um-
stände, die an dieser Verzögerung schuld sind, berichtet das Vorwort
zum 11. Bande in aller Ausfithrlichkeit. Man muß gestehen, seit
Weizsäcker von der unmittelbaren Mitarbeit an dem Unternehmen
zurücktrat, das eigentlich er geschaffen hatte, hat kein glücklicher Stern
über den »Reichstagsakten« gewaltet. Gegenüber solchem Misgeschick
wäre es undankbar, wollten wir der Verstimmung, die sich der Fachge-
nossen, vor allem der auf diesem und verwandten Gebieten arbeitenden,
im Laufe der langen Wartezeit wol bemächtigen konnte, jetzt, da wir
das Gewünschte endlich in Händen halten, noch nachträglich Aus-
808 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
druck geben. Um so undankbarer wäre dies, als das Gebotene auch
den alten Spruch wahr macht: was lange währt, wird gut. Mi
großem Fleiße haben die beiden Herausgeber sich ihrer Aufgabe ge-
widmet, ein immenses Material an Abschriften und Notizen aus Ar-
chiven und Bibliotheken des In- und Auslandes zusammengetragen und
eine kaum weniger umfangreiche gedruckte Literatur sorgfältig ver-
wertet. Ihre Forschungen dürften an Umfang alles, was für die
früheren Bände aufgewendet worden, nach jeder Richtung über-
treffen. Auch an der Genauigkeit und Gründlichkeit ihrer Ermitte-
lungen wird sich jeder erfreuen, der in die Lage kommt — und das
werden voraussichtlich nicht wenige sein — ihre Arbeit zu benutzen.
Fast möchte es sogar scheinen, als ob in Bezug auf Genauigkeit und
Gründlichkeit bisweilen des Guten etwas zu viel gethan wäre. Dab
an den bewährten Grundsätzen für die formale Behandlung des
Stofles in der Hauptsache nichts geändert werden durfte, versteht
sich von selbst. Immerhin kann man sich des Eindrucks nicht er-
wehren, daß die Beschaffenheit der Ueberlieferung gegen die Mitte
des 15. Jahrhunderts einige Einschränkungen der bisher befolgten
Editionsmethode nötig machen dürfte. Denn am Ende muß einem
doch die aufgewandte Zeit und Mühe leid thun, wenn man beispiels-
weise für ein Aktenstück von nur 6 Zeilen (Bd. 11 Nr. 178) nicht
weniger als 7 Handschriften collationiert und 3 weitere citiert findet.
Und wenn anderswo (Bd. 11 Nr. 294) einem Abdruck das Original
zu Grunde gelegt werden kann, so fragt man sich wol, wozu außer-
dem noch 6 Abschriften notiert werden, zumal da diese Zahl bei der
starken Verbreitung des betreffenden Aktenstückes sich auch beliebig
vermehren ließe. Da wäre wol der Herausgeber an erster Stelle be-
fugt, die unnützen Reiser der handschriftlichen Ueberlieferung tüch-
tig unter die Heckenscheere zu nehmen. Nicht notwendig ist es
auch, sich bei der Beschreibung einer unvollständigen Copie aufzu-
halten, die bei der Herstellung des Textes mit Recht ganz bei Seite
bleibt (Bd. 10 S. 452 Z. 16ff.). Eine Akribie von dieser Art er-
schwert dem Herausgeber seine Arbeit, ohne dem Benutzer die sei-
nige zu erleichtern.
Ueber den inhaltlichen Ertrag der Publikation ist es schwer,
mit wenig Worten Rechenschaft zu geben. Irre ich nicht, so be-
steht er weniger in der Aufdeckung von wesentlich Neuem, obwol es
auch daran nicht fehlt. So war der Reichstag zu Basel 1433/4 bis-
her so gut wie unbekannt — freilich auch nicht eben sehr bedeut-
sam —, während auf die Beziehungen des Kaisers zu Venedig ein
neues Licht fällt und sein Aufenthalt in Italien i. J. 1432 eine will-
kommene Aufhellung erfährt. Soll auf Einzelheiten hingewiesen wer-
Deutsche Reichstagsakten. X. 1. XI. 809
den, so wäre vor allem der prachtvolle Brief des Enea Silvio Picco-
lonini an die Stadt Siena zu nennen (Bd. 11 Nr. 55a), der sich
überraschender Weise in einer Londoner Handschrift gefunden hat
und die interessantesten, aber auch der Kritik bedürfenden Nach-
richten über die Vorgänge im Concil und die Haltung des Kaisers
während der kritischen Zeit im October und November 1433 ent-
hält. Wichtiger aber als dergleichen Einzelheiten scheint mir zu
sein, daß es dem emsigen und umsichtigen Sammelfleiße der Heraus-
geber gelungen ist, für die Geschichte der kaiserlichen und Reichs-
politik in den behandelten Jahren ein zuverlässiges und nach allen
Seiten breit angelegtes Fundament zu schaffen, wie es bisher noch
jeder, der auf diesem Gebiete arbeiten wollte, empfindlich vermißt
hat. Freilich ist der Rahmen, den man von früher her an den
»Reichstagsakten« gewohnt war, dabei vielfach ausgedehnt, mitunter
sogar geradezu gesprengt worden. Um Reichstage, Kurfürstentage
u.8.w. ließ sich ein großer, ja der größere und bei weitem wert-
vollere Teil des Materials nicht wol gruppieren, wie das in den
früheren Bänden Grundsatz war. Weder der Romzug, noch die An-
gelegenheit des Concils haben auf den spärlichen »Tagen« dieser
Zeit eine mehr als blos nebensächliche Rolle gespielt, und doch ging
es nicht an, sie aus diesem Grunde zu vernachlässigen oder gar ganz
auszuschließen. Man stand da vor einem Dilemma: eine grund-
legende Quellensammlung für die deutsche Reichsgeschichte sollten
die »Reichstagsakten< werden, und sie konnten es für die Zeit von
1431 ff. nicht sein, wenn sie »Reichstagsakten« im strengen Sinne
des Wortes bleiben wollten, weil nun einmal nichts daran zu ändern
ist, daß die Reichstage und ihre Akten in den letzten Jahren von
Sigmunds Regierung nur von untergeordneter Bedeutung sind. Die
Herausgeber haben sich nun dafür entschieden, nicht nur den Ge-
sichtspunkt der Wichtigkeit vorwalten zu lassen und demgemäß eine
Menge Dinge aufzunehmen, die streng genommen nicht in die »Reichs-
tagsakten« gehören, sondern auch äußerlich, wo es nötig war, von
dem altgewohnten Schema abzugehen. So enthält der 11. Band
einen Abschnitt über die Entwicklung der Kirchenfrage, einen andern
über des Kaisers Verhandlungen mit Venedig, die sich in keiner Weise
an Reichstage anlehnen, und im ganzen 10. Bande, der den Romzug
behandelt, kommt gar nur ausnahmsweise ein »Tag«, und zwar ein
bloßer Städtetag vor. Dieses Verfahren, das die beiden Bände nicht
wenig aus der Reihe der übrigen heraustreten läßt, wird vielleicht
nicht einstimmige Billigung finden. Wenn es aber gestattet ist eine
subjektive Ansicht zu äußern — und ich glaube hierin nicht nur
‘einem persönlichen Interesse zu folgen — so, scheint mir, kann man
810 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
den Herausgebern nur danken, daß sie das Schema hinter der Materie
zurücktreten ließen und lieber zu viel, als zu wenig gaben. Gleich-
wol kommt es mir vor, als hätte sich, auch im Interesse thunlichster
Beförderung der Arbeit, an manchen Stellen eine knappere Fassung
empfohlen. Dies gilt namentlich vom 10. Bande. Ich habe mich
nicht überzeugen können, daß es gerade in den »Reichstagsakten<
notwendig war, auf die Vorgeschichte des Romzuges, der 1431 an-
getreten wurde, ausführlich bis ins Jahr 1412 zurückzugreifen, oder
sich so tief auf die Anfänge des Basler Concils, seine Auflösung und
die von ihm geführte Correspondenz einzulassen, wie das u. a. Bd. 10,
S. 145 ff., 188 und 258 geschieht. Der Herausgeber scheint da von dem
Wunsche, nur ja keine seiner mühevoll erbeuteten Notizen umkommen
zu lassen, zu weit von seinem Ziele abgeleitet worden zu sein. Auch
der Abdruck von Bruchstücken aus der Concilsgeschichte des Johann
von Segovia, dem wir im 12. Bande an zahlreichen Stellen begeg-
nen, scheint mir weder durch den Charakter der Publikation gefor-
dert, noch durch Gründe der Zweckmäßigkeit gerechtfertigt. Die
bisher vorhandene Ausgabe ist ja freilich das Gegenteil einer leicht
benutzbaren; da aber die Collationierungen der »Reichstagsakten« so
gut wie keine Aenderung des Textes ergeben, so hätte ein Hinweis
auf die betreffenden Stellen wol allen Anforderungen genügt. Un-
bedingt der Aufnahme unwürdig ist Nr. 85 im 11. Bande. Eine
Rede, die der humanistische Annalist Blondus nach antiken Mustern
dem kaiserlichen Gesandten in den Mund legt, nimmt sich inmitten
von »Reichstagsakten« doch zu sonderbar aus, selbst wenn man ihren
Inhalt als glaubwürdig hinnehmen dürfte, wie der Herausgeber thut,
der aber nicht beachtet, daß der erste und wichtigste Punkt, den
der Gesandte nach Blondus dem Papste so warm ans Herz gelegt
haben soll, die Anerkennung des Concils, bereits erledigt war, als
die Gesandtschaft in Rom eintraf.
Von den einleitenden Abhandlungen, die, wie gewöhnlich, einen
ziemlich breiten Raum einnehmen, verdienen die von Dr. Beckmann
im 11. Bande gebotenen besonderen Beifall. Sie sind sehr gut ge-
schrieben und bieten in knapper und klarer Form die denkbar beste
Orientierung über den Stoff, lassen namentlich die recht verwickel-
ten Beziehungen des Kaisers zum Concil von Basel in -anschaulich-
ster Weise hervortreten. Daß man mit dem Gesagten bisweilen
nicht ganz einverstanden sein kann, thut dem Werte der Leistung
keinen Schaden. So hege ich z.B. einigen Zweifel, ob die Gefahr
einer Absetzung des Papstes im Sommer und Herbst 1433 wirklich
so nahe gewesen ist, wie Beckmann den von ihm reproducierten
italienischen Berichten glaubt. Daß dergleichen befürchtet wurde,
Deutsche Reichstagsakten. X. 1. XI. 811
beweist noch nicht, daß die leitenden Persönlichkeiten in Basel im
Ernste darauf hingearbeitet haben. Es läßt sich vielmehr denken,
daß die Gefahr, namentlich von Seiten der Cardinäle, absichtlich
übertrieben wurde, um den Papst gefügig zu machen. Ausschlag-
gebend dürfte damals, wie so oft, die Politik des französischen Hofes
gewesen sein; diese aber schlug eben damals zu Gunsten des Pap-
stes um (s. Bd. 11 S. 82 Z. 27ff.). Auch zu der apologetisch ge-
haltenen Bemerkung über den Eindruck von Sigmunds Auftreten in
Italien (Bd. 11 S. 7) möchte ich mir eine Einschränkung erlauben.
Das absprechende Urteil, das die meisten Neueren fällen, und das
Lamprecht in übertriebenster Fassung, weil mit geringster Sach-
kenntnis, wiederholt, geht freilich zu weit. Aber gegenüber den
ehrenvollen Empfängen und Festlichkeiten, die dem Kaiser an vielen
Orten zu teil wurden, darf man doch nicht vergessen, wie wenig
respectvoll die Eingeweihten über ihn. dachten und gelegentlich auch
sprachen. Die spöttischen Aeußerungen eines Lorenzo Valla wiegen
hier doch wol mindestens ebenso schwer, wie die ehrenden Beiwörter
städtischer Chronisten. Dem tadelnden Urteil über die angeblichen
Competenzüberschreitungen des Concils gegenüber Kaiser und Reich
(Bd. 11 S. 372f.) kann ich nicht beistimmen. Nach kanonischem
Rechte war die Synode verpflichtet, die Klagen des Klerus von Bam-
berg und des Erzbischofs von Besancon vor ihrem Forum anzunehmen,
und in dem Streit um die sächsische Kurwürde war sie dazu wenig-
stens berechtigt. Man darf eben nicht vergessen, daß das kanonische
Recht, so fremd uns das heute auch erscheinen mag, einmal gelten-
des Recht gewesen ist, und daß ein allgemeines Concil sich vor allem
daran gebunden erachten mußte. Mir scheint auch, Sigmund habe
diese Beschwerden mehr als Vorwände benutzt, um seinen Groll ge-
gen die Versammlung zu äußern, der in Wirklichkeit auf ganz andere
Beweggründe zurückging.
Nicht minder reich an einzelnen Ergebnissen, als die Einleitungen
des elften, sind die entsprechenden Abschnitte im zehnten Bande,
und an Sorgfalt der Durcharbeitung übertreffen sie jene womöglich.
Vielleicht hat der Herausgeber hier bisweilen des Guten etwas zu
viel gethan. Man darf auch in einer kritischen Einleitung nicht »alles
sagen« wollen, soll dem Leser nicht Interesse und Ueberblick ver-
loren gehen. Eine Akribie, die darauf ausgeht, jedes politische Ge-
schäft in allen seinen Phasen mit kinematographischer Treue bis auf
das Eintauchen der Feder zu verfolgen und wiederzugeben, ist
schwerlich die geeignete Methode, um verwickelte historische Zu-
sammenhänge anschaulich zu machen. Auch eine allgemeine Wür-
digung von Sigmunds Politik hat Dr. Herre gelegentlich versucht,
812 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
von der ich fürchte, daß sie nicht viel Anklang finden wird. Trotz
manchen romantischen Reden und Posen ist Sigmund im Grunde,
wie jeder wirkliche Politiker, vor allem auf seine eigenen, oft genug
nur zu materiellen Interessen bedacht gewesen. Dies scheint mir
Dr. Herre nicht richtig erkannt und deshalb in der Beurteilung vor
des Kaisers Haltung gegenüber Papst und Concil einigermaßen fehl-
gegriffen zu haben. Von einer »Voreingenommenheit fur die kor-
ziliare Theorie« (Bd. 10 S. 297) kann bei Sigmund jedenfalls nicht
die Rede sein.
Zum Schlusse seien einige Berichtigungen im einzelnen ge-
stattet. Bd. 10 Nr. 75 ist in der Ueberschrift von einem »eigen-
händigen Briefe< des Papstes an Sigmund die Rede, der Text aber
rechtfertigt diesen mit den Bräuchen der Curie nicht wol vereinbaren
Ausdruck keineswegs. Bd. 10 S. 24f. und 133 wird eine Sendung
Englands und Frankreichs an den Papst im J. 1425 erwähnt, deren
Zweck die beschleunigte Berufung des Concils von Basel gewesen
sei. Soweit England in Frage kommt, ist das richtig, aber nicht
neu; wir haben sogar die bei diesem Anlaß gehaltenen Reden. Daß
aber Frankreich sich dabei beteiligt habe, ist mindestens ein mis-
verständlicher Ausdruck. Es handelt sich nur um den unter engli-
scher Herrschaft stehenden Teil des Landes, während Karl VII. da-
mals von einem solchen Schritte sehr weit entfernt war. Bei Be
sprechung des Verhältnisses von Sigmund zu Eugen IV. (Bd. 10
S. 144) sind die interessanten Mitteilungen Fillastres über ihre per-
sönlichen Beziehungen in Konstanz übersehen. Bd. 10 S. 300 und
307 wird vermutet, Johann von Segovia habe seinen Bericht über
Vorgänge in Rom aus mündlichen Mitteilungen der kaiserlichen Ge-
sandten ‘geschépft. Es läßt sich aber erkennen, daß er für alles,
was an der Curie vorging, eine besondere Quelle besessen haben
muß, die denn auch wol an diesen beiden Stellen zugrunde liegen
wird. Bd. 11 S. 372 heißt es, der Cardinal von Rouen habe >»als
einflußreiches Mitglied der Baseler Versammlung< sogar in eigener
Sache gerichtet. Das ist nicht ganz zutreffend. Der Cardinal war
Vicekanzler der römischen Kirche und als solcher auch der oberste
Chef der im Konzil geübten Jurisdiction. Bd. 11 S. 62 Z. 38 ver-
mißt man die Erläuterung, wer der herr, der den kunig von Franck-
reich regiert hat sei. Es ist Georges de la Trémoille. Ob Bd. 11
Nr. 249 richtig als cop. chart. coaeva bezeichnet ist, erscheint frag-
lich. Sollte es nicht vielmehr ein corrigiertes Concept sein? Der
Satz Bd. 11 S. 111 Z. 34 gibt so, wie er da steht, keinen guten
Sinn: omnes qui sunt pro parte domini nostri pape sunt congregali
hodie in ecclesia sancti Augustini secunda hora post meridiem,
Deutsche Reichtagsakten. X. 1. XI. XII. 813
cognoscamus, et removent cum istis cardinalibus. Es wird vielleicht
zu lesen sein: omnes — — sint congregati — — wut cognoscamus
quot remanent cum istis cardinalibus. Bd. 11, S. 123 Z. 46 soll
Sigmund sich selbst des Leichtsinnes zeihen: omnia quadam animi
nostri levitate sufferimus. Es muß natürlich lenitate heißen. Eine
kleine Inconsequenz herrscht im 10. Bande in der Behandlung der
Personennamen. S. 134 wechselt in einer Aufzählung die französische,
lateinische und deutsche Form: Nikolaus Lami, Egidius Canivet,
Wilhelm Everardi (statt Evrard), Dionysius von Sabrevoys. S. 304
wird ein Jacobus Alberti der Quelle » Jacques Albert< statt »Aubert«
genannt. Der Dekan von Utrecht hieß nicht Stater (S. 298), sondern
Schatter, ebenso der Bd. 11 S. 374 erwähnte Notar nicht Staet,
sondern Scaec (Schaek). Den im 11. Bande öfters vorkommenden
Venetianer Joh. Franciscus de Capitibus Liste — im Register ist er
ausgefallen — übersetzt man ins Italienische statt Giov. Francesco
Capodilista wol besser als Gianfrancesco di Capodistria ?
Berlin, im März 1901. Haller.
Nachschrift. Inzwischen, als das Vorstehende bereits seit
Monaten der Redaction übergeben war, ist auch der 12. Band er-
schienen, herausgegeben von Dr. Beckmann !). Der Band, der die
Regierungszeit Sigmunds zum Abschluß bringt, wird eingeleitet durch
ein lebendig und anziehend geschriebenes Vorwort von Quidde, der
u. A. Gelegenheit nimmt, einige neuerdings laut gewordene Einwen-
dungen gegen die von Weizsäcker überkommenen Grundsätze der
Textbehandlung zu bekämpfen, vielleicht etwas ausführlicher, als
nötig war. Ob man und oder unndt, hund oder hunndt drucken
lassen soll, u. ä., erscheint uns heute nicht mehr so wichtig, daß es
geboten wäre, die feststehende und vielfach als vorbildlich ange-
sehene Methode der RTA. auf 11 Quartseiten zu verteidigen. Auf
den reichen Inhalt des Bandes kann das Vorwort mit berech-
tigtem Stolze hinweisen : der größere Teil ist ganz neu, und auch
das Bekannte tritt dadurch vielfach in helleres Licht. Im Mittel-
punkte steht der Reichstag zu Eger 1437, seine Geschichte ist hier,
wie p. XXX bemerkt wird, »auf ganz neue Grundlagen gestellt<.
Darum gruppieren sich zwei inhaltsreiche Abschnitte tiber die Ent-
wicklung der Kirchenfrage vom December 1435 bis Mai 1437 und
über den Kurfürstentag zu Frankfurt am 3. November 1437, der
' 1) Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund. Sechste Abteilung.
1435—1437. Herausgegeben von Gustav Beckmann. Gotha, Perthes 1901.
LXVIII, 351 S. 4°.
814 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
gleichfalls nur die Kirchenfrage zum Gegenstande hat. Man darf
also wol in den Teilen, die sich auf die kirchlichen Dinge beziehen,
den hauptsächlichen Wert des Bandes erkennen. Dabei tritt deut-
licher, als bisher bekannt war, der Widerstand hervor, den die
Deutschen im Allgemeinen und K. Sigmund im besonderen den
selbstsüchtigen Absichten Frankreichs, zu deren Erreichung das
Concil die Wege ebnen sollte, aber ebenso auch den Tendenzen der
Curie entgegensetzen. Eine höchst wertvolle Aufklärung bietet in
dieser Beziehung der Bericht eines päpstlichen Gesandten über die
Lage in Deutschland im Jahre 1437 (Nr. 154)'). Konnte nun Deutsch-
land weder mit Frankreich noch mit dem Papste gehen, mußte ihm
die Verlegung des Concils und die im Gefolge davon zu befürchtende
Rückkehr der Curie nach Avignon ebenso unannehmbar sein, wie
eine Verlegung in den Machtbereich des Papstes und Erstickung der
Reform, wie sie die Curie im Schilde führte, so war damit die Not-
wendigkeit einer selbständigen Politik gegeben. Sigmund, die
deutsche Nation, die Kurfürsten haben eine solche in der That ver-
sucht, indem sie zuerst auf das Verbleiben des Concils in Basel hin-
wirkten, später, als der Conflict zwischen Papst und Synode offen
ausgebrochen war, die Vermittlung in die Hand nahmen. Mit dem
zweiten, der Vermittlung, sind sie, wie auch Beckmann S. 291 zu-
giebt, gescheitert. Man könnte auch weiter gehen: sie mußten
scheitern, denn für eine Vermittlung war überhaupt kein Raum
mehr, selbst wenn ein solcher Meister der Diplomatie, wie Sigmund,
sich ihrer annahm. Dazu war — was Beckmann nicht hervorge-
hoben hat — der Gegensatz damals zu sehr principieller Natur.
Wer will vermitteln, wo von zweien jeder die höchste Instanz zu
sein beansprucht? Man lese z. B. den fesselnden Bericht des
Bischofs von Vich über seine Sendung zu dem sterbenden Kaiser
(Nr. 160, December 1437), wie dort ein einziger Gedanke alles
andere beherrscht, der Wunsch, den Beweis zu führen, daß die
autoritas universalis ecclesiae supra papam sei. Wo die Dinge so
weit gediehen sind, da ist jede Vermittlung aussichtslos. Sache einer
vorausschauenden Politik wäre es gewesen, zu verhüten, daß es so-
weit käme, insbesondere die deutsche Nation vor dem Dilemma zu
bewahren, entweder für die Reform einzutreten, um den Preis, daß
das Papsttum wieder französisch werde, oder die Reform preis-
1) Die Vermutung, daß der Verfasser kein anderer sei als Galeazzo Capriani
(nicht de Captianis, iwie Beckmann consequent druckt), scheint mir durchaus
plausibel, wie ich ihn auch schon Concil. Basil. 1, 149 für den Autor des ganz
analogen Berichtes über die Lage in Basel im November 1436 halten zu können
glaubte. Er wurde 1444 Bischof von Mantua.
Deutsche Reichstagsakten. XII. 815
zugeben, um dem französischen Papsttum zu entgehen. Was haben
nun die Deutschen, was hat namentlich Sigmund hierfür gethan ?
Wenig genug, und das wenige war ein Mißgriff: der Versuch, das
Concil in Basel festzuhalten. Gegen den Tadel, den ich deswegen
schon früher über Sigmunds Verhalten geäußert habe, sucht Beck-
mann den Kaiser in Schutz zu nehmen (S. 6). Ueberzeugt hat er
mich nicht, im Gegenteil, mir scheint, seine eigenen Dokumente
bieten die beste Bekräftigung meiner Auffassung. Ich hatte Sigmund
schwankendes Verhalten vorgeworfen und ihn deswegen für die Ver-
wirrung der Lage im Concil mitverantwortlich gemacht. Die nun
vorliegenden Akten erhärten die Richtigkeit dieses Vorwurfs durch-
aus. Der Kaiser verlangt zuerst (1436), daß das Concil in Basel
bleibe '), und macht sich anheischig, auch die Griechen dorthin zu
bringen (was ihm aber nicht gelang). Dann, ehe noch aus Konstan-
tinopel Nachricht eingetroffen ist, ändert er plötzlich sein Programm,
läßt Basel fallen und arbeitet wiederholt und mit Nachdruck für
eine Verlegung nach Ofen ?). Sein Vertreter in Basel, der Bischof
von Lübeck, ist unter den Legaten des Concils, die sich im Sommer
1437 aufmachen, um die Griechen nach Avignon abzuholen. Und
eben um dieselbe Zeit agitiert der Kaiser bei den Ständen des
deutschen Reiches gegen die »schlimmen Ränke« (malas machina-
tiones, S. 236) der Franzosen, die das Concil nach Avignon ziehen
wollen *), um den Italienern das Papsttum und den Deutschen das
Kaiserreich zu entreißen. In so volltönenden Worten, wie sie nur
je aus seinem beredten Munde gekommen sind, spricht er von
seinem festen Entschluß, solchen Skandal zu verhindern, erklärt er,
er wolle lieber sterben, als dulden, daß auf deutschem Boden ein
Schisma ausbreche; ja er will alle andern Geschäfte liegen lassen
und selbst nach Basel eilen, — in Wirklichkeit aber macht er sich auf,
1) Beckmann betont mir gegenüber nachdrücklich, daß der Kaiser zu die-
sem Verlangen durch die deutsche Nation angeregt worden sei, nicht aber um-
gekehrt. Das ist richtig, entlastet aber den Kaiser keineswegs von der Verant-
wortung. Hätte er dem Wunsche der Concilsnation nicht zugestimmt, sondern
von Anfang an, seies Ofen — wie er später that —, sei es Wien für das Unions-
concil zur Verfügung gestellt, so hätten auch die deutschen Concilsmitglieder sich
ohne Zweifel danach gerichtet, und wahrscheinlich noch viele andere, wie uns
Job. von Segovia ausdrücklich bezeugt (Mon. Concil. 2, 929), ein Zeugnis, das
mir Beckmaun nicht zu würdigen scheint.
2) Beckmanns sonst so klare Ausführungen lassen diese Sprünge (S. 7)
nicht mit entsprechender Deutlichkeit hervortreten.
3) Der Bischof von Lübeck kehrte denn auch schon im Dauphine um, an-
geblich wegen Krankheit. Man darf dieses Unwolsein wol als ein diplomatisches,
auf höhere Weisung eingetretenes ansehen.
816 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
um von Eger weiter ostwärts zu ziehen! Was hinter diesen Wider-
sprüchen für Absichten steckten, hätte die Folgezeit ohne Zweifel
offenbart, aber der Tod trat dazwischen, riß den Kaiser aus der
Fülle seiner Entwürfe und schnitt uns die Antwort auf unsere Fragen
wol für immer ab. Vermutungen ist hier ein breiter Raum gelassen;
auch dürfte sich vielleicht bei sorgfältigen Zurückgehen auf Sig-
munds kirchenpolitische Vergangenheit mit einem gewissen Grad von
Wahrscheinlichkeit das Programm reconstruieren lassen, das ihm
für die Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse im deutschen
Reiche vorschwebte. Kein Zweifel, daß Quidde das Richtige trifft,
wenn er (p. LVIII) meint, Sigmunds Haltung sei »nicht nur durch
den Wunsch zu vermitteln, sondern auch durch seine eigenen be-
sonderen Interessen bestimmt«. Doch hier ist nicht der Ort, diesen
Dingen nachzugehen. Es genügt, festzustellen, daß Sigmunds Ein-
greifen in Basel, verspätet und widerspruchsvoll, wie es war, weder
zur Verhütung des Conflictes, noch zur Klärung der Situation, sondern
vielmehr zu einer Steigerung der Verwirrung beigetragen und seinen
Nachfolgern eine wenig erfreuliche Erbschaft geschaffen hat.
Zum Schlusse auch diesmal einige Berichtigungen, durch die
natürlich kein Vorwurf gegen die Sauberkeit der Edition erhoben
werden soll. Die Behauptung, das Annatenverbot habe die Curie zu
einer Zeit getroffen, als sie »in ihrem Florentiner Exil die Einkünfte
des Kirchenstaates entbehrte< (S. 1), ist einer der mancherlei Irr-
tümer, die, wenn ich nicht irre, durch Georg Voigt in Umlauf ge-
setzt sind, und an deren Ausrottung man fast verzweifeln möchte.
Als das Verbot erlassen wurde, am 9. Juni 1435, war der Kirchen-
staat schon längst wieder unterworfen, und das damalige »Exil« des
Papstes in Florenz war nicht weniger freiwillig, als seine heutige
»Gefangenschaft« im Vatikan. Mit Bedauern sehe ich, daß Beck-
mann §. 22 1. 31 einer Emendation von mir gefolgt ist, die ich in-
zwischen selbst als falsch erkannt habe. (Die HS. hat salvoque tm-
pigwebatur , ich emendierte Concil. Basil. 1, 425 salvo quod inili
gerebatur; aber das Richtige ist doch wol salvo quod impingebatur
oder que tmpingebantur). No. 139, Schreiben des Concilsadvokaten
Stefan von Novara an den Kaiser, verdient die Aufnahme in die
RTA. unbedingt nicht: eine ganz leere humanistische Federübung.
S. 261 1. 5—6: loco lectorum habuimus paleas supra terram et recen-
suimus (dazu Note: nicht ganz deutlich) dominium Christi, quia
»domini est terra et plenitudo eius, orbis terrarum« (Ps. 23,1) be-
friedigt nicht. Sollte da nicht stehen recoluimus dictum Christi
u. 8. w.? §S. 293 werden zwischen einem Antrag von Mainz und
einem solchen von Trier nur »Differenzen von untergeordneter Be-
Deutsche Reichstagsakten. Nachschrift. 817
deutung« gefunden. Schwerlich mit Recht, denn der Trierer Antrag
enthält u. a. die Entschädigung des Papstes für die aufgehobenen
Annaten, der Mainzer Antrag enthält sie nicht; diese Frage aber bildet
eigentlich den Kern des ganzen Streites. No. 183 scheint mir als
»Denkschrift einiger Anhänger der Vermittlungspartei< nicht richtig
bezeichnet ; es ist vielmehr eine Apologie des Papstes. S. 302 finden
sich zwei Textfehler: 1. 28 ist irrig loco annatarum ei sublatarum emen
diert für loco annatorum ei sigillorum; es muß zweifellos heißen et
sigillorum, da von einer Entschädigung die Rede ist, die sedi apostolice
et reliquis prelatis gewährt werden soll; den Prälaten aber war
gerade die Siegelabgabe durch Concilsdecret entzogen worden.
Auf 1. 42—43 liest man: ecclesie orientalis que continet innumerabiles
gentes et populos et fortiter (Note: sic) sicut ecclesia Latina. Was
das heißen soll, weiß ich nicht. Es wird wol zu lesen sein ef forte
ter sicut u. 8. w., d. h. die griechische Kirche hat vielleicht dreimal
soviel Bekenner, wie die lateinische. S. 305 Anm. 2 und 4 werden
Teile von Ausführungen päpstlicher Gesandten, auf die die Kurfürsten
antworten, als »nicht aufgefunden< bezeichnet. Sind sie überhaupt jemals
schriftlich vorhanden gewesen? Die Kurfürsten beginnen ihre Antwort :
Audiverunt domint met... legacionem vestram; das ist doch nur
ein mündlicher Vortrag. Das Register endlich enthält einige Un-
genauigkeiten. Blondus war nicht päpstlicher Kanzleibeamter, sondern
Secretär, Bapt. de Padua nicht Beamter der päpstlichen Kammer,
sondern Cubicular des Papstes. Der Augustinermönch Petrus, den
die deutsche Nation zu Ende des Jahres 1435 zu Sigmund
schickte, ist gewiß kein anderer, als Peter von Indersdorf (s. Concil.
Basil. 1, Register). Der Candola, der S. 177 und 193 vorkommt,
heißt auch in Wirklichkeit Candola und ist nicht mit Jacopo Caldora zu
verwechseln, wie im Register geschieht. Joh. Pulchripatris ist hier
als »frater« aufgeführt; er war nicht Mönch. Der Erzbischof von
Tarent hieß nicht Joh. Tagliacotti, sondern Joh. Orsini von Tagliacozzo.
Statt Laufenberg ist Laufenburg zu setzen. Einen Bischof von
Aix giebt es damals nicht, Aix ist Erzbistum, und der S. 43 vor-
kommende episcopus Aquensis ist der Bischof von Dax. So erklärt
sich auch der Zusatz »Angelicum<, wofür ohne Zweifel >» Anglicum«
zu lesen ist,denn der Bischof von Dax war Gesandter Heinrichs VI
für die Gascogne.
Rom, im Juli 1901. Haller.
Gött. gel. Anz. 1901, Nr. 10. 54
818 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
Urkundenbuch der Stadt Basel. Herausgegeben von der histori-
schen und antiquarischen Gesellschaft in Basel.
Vierter Band, bearbeitet durch Rudolf Wackernagel.
Siebenter Band, bearbeitet durch Johannes Haller.
Basel, R. Reich, vormals C. Dettloffs Buchhandlung 1899. 492 und 577 Seiten.
Die in der Vorrede zum dritten Bande des Urkundenbuches der
Stadt Basel angekündigte Scheidung des Materials nach politischen
und privatrechtlichen Urkunden!) ist mit den zwei vorliegenden
Bänden eingetreten, und zwar gehören diese beiden Bände der Serie
der politischen Urkunden an, die bis zum Jahre 1901 — dem Ge
denkjahre der 400jährigen Zugehörigkeit Basels zur schweizerischen
Eidgenossenschaft — vollständig abgeschlossen vorliegen soll.
Band IV umfaßt mit 469 Nummern die Jahre 1301—1331,
Band VII mit 431 Nummern die Jahre 1441 —1454 °).
Es sind bewegte Zeiten der Basler Geschichte, über welche die
zu überblickenden Documente Aufschluß geben.
In den acht Jahrzehnten, über die sich der IV. Band erstreckt,
sucht sich das Domcapitel gleichzeitig der ihm vom päpstlichen Hof
aufgedrungenen französischen Bischöfe und der weiteren Ausdehnung
der Machtsphäre des Rats zu erwehren; — hier ‚wie dort mit sehr
mangelhaftem Erfolg. Innerhalb des Rats gewinnen die Zünfte die
Oberhand, und die unter sich gespaltene Ritterschaft schwankt
zwischen dem Anschluß an den bischöflichen Lehnsherrn und an die
städtische Behörde, bis sie durch das Uebergreifen der österreichi-
schen Herrschaft vom Elsaß in den Breisgau und in der Persönlich-
keit des ritterlichen Herzogs Leopold III. einen äußeren Anziehungs-
und Stützpunkt findet und nun im Gegensatz zu Bischof und Rat
die für Bistum und Stadt gleich bedrohlichen Absichten dieses
Fürsten nach Kräften fördert. Und da auch Kaiser Karl IV. dem
Vorgehen Leopolds allen Vorschub leistet, steht Basel am Schlusse
dieses Zeitraumes auf dem Punkte, aus einer der vollen Selbständig-
keit schon ganz nahen bischöflichen Freistadt eine österreichische
Landstadt zu werden und in der vorderösterreichischen Herrschaft
aufzugehen. Vorausgegangen waren diesem unaufhaltsamen Vor-
dringen Oesterreichs die Kämpfe Ludwigs des Baiern um das Reich
gegen das Haus Habsburg und die päpstliche Gewalt.
In diesen innern und äußern Fährlichkeiten suchte und fand
1) S. Götting. gel. Anz. Jahrgg. 1898. S. 289.
2) Inzwischen ist auch der von Rudolf Wackernagel bearbeitete Band V er
schienen, die Jahre 1382—1605 umfassend.
Urkundenbuch der Stadt Basel. IV. VII. 819
die Stadt Basel zunächst einen gewissen Halt in dem Beitritt zu
allen kleinern und größern Landfrieden und dem Abschluß kurz-
lebiger, aber immer wieder erneuerter, enger Verbindungen mit be-
nachbarten Städten, vor allen mit Straßburg und Freiburg, denen
sich nachträglich meist auch noch Breisach anschloß. Dann aber,
nachdem das mit Straßburg zerfallene Freiburg nach einer schweren
Fehde und Niederlage gegen seinen angestammten Herrn dessen
Herrschaft freiwillig gegen die österreichische vertauscht hatte (1368),
verlor dieser Halt seine Kraft. Wie ein unentrinnbares Verhängnis
mußte der Stadt Basel die Gefährde vor Augen stehen, welche ihr
durch den Erwerb von Kleinbasel, der Reichsvogtei über Großbasel,
des Gerichts in der Vorstadt St. Albain, des Schutzrechts über die
Juden und des Rechts der Auslösung des der Stadt versetzten
Reichszolls durch Herzog Leopold ihr immer näher auf den Leib
rückte. Das Uebergewicht des österreichischen Einflusses in Basel
war entschieden, und das Auftreten Herzog Leopolds gegen Bistum
und Stadt unterschied sich kaum mehr von demjenigen eines Landes-
herrn, als sein jäher Tod in der Schlacht bei Sempach und die
politischen Folgen dieser Schlacht die sofort energisch und klug be-
nutzte Gelegenheit zur Beseitigung der unmittelbaren Gefahr er-
öffneten.
Die Gruppe der Urkunden, die sich auf die Wahrung der städti-
schen Stellung durch Bündnisse verschiedener Art und insbesondere
auf das Verhältnis der Stadt zu dem vordringenden Oesterreich be-
ziehen, nimmt den größten und immer breiteren Raum im vierten
Bande des Urkundenbuches der Stadt Basel ein.
Kaum viel geringer an Zahl und jedenfalls nicht geringer an
Interesse ist die Gruppe derjenigen Documente, welche über die
weitere Entwicklung der innern städtischen Verhältnisse Aufschluß
geben: über die Beziehungen von Bischof und Capitel zu Bürger-
meister und Rat, den Ausbau der Stadtverfassung, die Begründung
fester Rechtsverhältnisse, bestimmter Normen und gesicherter Zu-
stände als Grundlage für Handel und Verkehr.
Der zäheste Streit, der diese ganze Zeit hindurch zwischen
Domcapitel und Rat geführt wurde, ist derjenige über das Ungeld,
d. h. die Unterwerfung der Geistlichkeit unter die vom Rate aufge-
legte Abgabe vom Verkehre in Lebensmitteln und anderm Waren-
umsatz. Mit aller Kraft verwahrt sich das Capitel bei jeder Ge-
legenheit dagegen, dieser Auflage unterstellt zu werden, da der Rat
kein Recht habe, ohne ausdrückliche Erlaubnis des Domcapitels neue
allgemeine Verordnungen für die Stadt Basel zu erlassen. Vergeb-
lich giebt der Rat bei seinem ersten Versuche die Erklärung ab,
54 *
820 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
daß es sich dabei ja keineswegs um ein statutum generale, sondem
nur um ein statutum speciale handle, d. h. um eine Verfügung,
die nur so lange in Kraft bleiben solle, bis die Stadt von ihren
Schulden befreit sei, die großenteils auch zum Nutzen und für die
Bedürfnisse des Domcapitels gemacht worden seien (S. Nr. 39 v. J.
1318, sodann die Nr. 199 u. 301 aus den Jahren 1351 u. 1366).
Noch im Jahre 1376 kam es zu einem Spruche Herzog Leopolds,
durch den es den Bürgern von Basel ausdrücklich untersagt wurde,
ohne Urlaub und Willen des Bischofs und seines Capitels ein Un-
geld aufzusetzen. Freilich waren nur die Räte und Boten des
Bischofs zu dieser Verhandlung nach Schaffhausen gekommen; die
Stadt hatte ihre Abwesenheit durch Feindschaft und Krieg ent-
schuldigt, trotz dem herzoglichen Geleite (Nr. 403).
Dem allgemeinen Zuge der Zeit entspricht es, wenn das Dom-
capitel im Jahre 1337 mit Zustimmung des Bistums beschließt, zur
Ehre des Gotteshauses zukünftig keine nicht ritterbürtigen Basler
Bürger als Kanoniker oder zu einer Stiftspfründe anzunehmen
(Nr. 132), und von großer Bedeutung ist die in ihrem übrigen In-
halt wohl frühern bischöflichen Briefen entsprechende Handfeste des
Bischofs Johann Senn für Großbasel aus dem gleichen Jahre 1337
(Nr. 134) deswegen, weil aus ihr mit Sicherheit zu schließen ist,
daß die regelmäßige Vertretung der antwerke oder Zünfte um jene
Zeit durchgesetzt worden sein muß. Jedenfalls kommt die folgen-
schwere Neuerung hier das erste Mal zu bestimmtem Ausdruck‘).
Zwei höchst bedeutsame, enge zusammengehörende und sich er-
gänzende Stücke sind die Nummern 139 und 140: der sogenannte
Einungbrief über die Pfaffheit vom 7. Dezember 1339 (erneuert
1352, Nr. 202), ein von Bischof und Capitel auf Bitte des Rats er-
lassenes Strafgesetz für die im Stadtgebiet wohnende Priesterschaft,
und der ebenfalls in das Jahr 1339 gesetzte, vom Rat mit Willen
und Gunst des Bischofs und Capitels, der Gotteshausdienstleute und
der Bürger errichtete »städtische Einungbrief« oder Stadtfriede.
In die gleiche Zeit fällt die Bestellung der Siebner zur Ver-
waltung des Ungeldes und zur Aufsicht über das Archiv und das
Zeughaus durch Bürgermeister, Rat und Zunftmeister (Nr. 141), und
in das Jahr 1360 die Einsetzung des Fünfergerichts in Bausachen
durch Bürgermeister und Rat, mit Willen und Gunst des Bischofs,
der Domherren, der Dienstmannen des Gotteshauses und der Bürger
(Nr. 255).
Im Jahre 1356 giebt der Bischof den zwei Handwerken der
1) Vgl. A. Heusler: Verfassungsgesch. d. Stadt Basel 8. 196 £.
Urkundenbuch der Stadt Basel. IV. VII. 821
Fischer und Schiffsleute eine Zunft (Nr. 208), wogegen im Jahre
1361 die Bestätigung oder Erneuerung der von des ertpidems und
füres wegen verlorenen Zunftordnung der Scherer, Maler, Sattler
und Sporer vom Rat ausgeht (Nr. 260).
Gar sonderbar berührt es, wenn bei Wiederholung der bischöf-
lichen Handfeste für Großbasel im Jahre 1367 das Domcapitel sein
Siegel nur unter dem Vorbehalte an den »Privilegienbrief< hängt,
daß dessen Inhalt von Bürgermeister, Oberstzunftmeister, Rat und
Gemeinde nicht so verstanden und beobachtet werde, prout litera
iacet et sonat, sed prout in ea contenta haetenus ... sunt intellecta
et observata ((Nr. 314), und nicht weniger auffällig und ungewöhn-
lich erscheint es, wenn in dem wichtigen Verkommnis, welches im
November 1377 die zu der Stadt Basel gehörenden Edelleute über
Beilegung künftiger Streitigkeiten mit dem Rate treffen, die gleiche
ritterliche Persönlichkeit auf der einen Seite in der Eigenschaft eines
Bürgermeisters als Vertreter der Stadt handelnd auftritt und auf der
andern Seite unter den mit der Stadt pactierenden Adligen aufge-
zählt wird (Nr. 428).
Vom dem Reichsoberhaupt hat die Stadt Basel neben der wieder-
holten Bestätigung ihrer früheren Privilegien die Befreiung von der
Grundruhr auf dem Rheine, die Befreiung von fremden Gerichten
und die Gunst erhalten, daß ihre Bürger nicht für Schulden
des Bischofs oder anderer Personen gepfändet werden dürfen, —
alles von Kaiser Karl IV im Frühjahr 1357 (Nr. 230—233). Auch
übergab Karl der Stadt die Juden als seine Kammerknechte, aller-
dings nur auf Widerruf (1365, Nr. 287), und ebenfalls auf Wider-
ruf ertheilte er ihr 1372 das Geleitsrecht für alle Gäste und durch-
fahrende Leute, die Geleit fordern (Nr. 354). Im Jahre 1368 er-
laubte er der Stadt die Erhebung eines bestimmten Transitzolls auf
Kaufmannswaren, eine Erlaubnis, die nur gegen Bezahlung von
2000 Gulden zurückgenommen werden durfte (Nr. 322), und neun
Jahre später durfte dieser Zoll gegen entsprechende Steigerung der
Pfandsumme erhöht werden (Nr. 423). Drei Tage vorher (6. August
1377) hatte der Kaiser der Stadt den Grafen Walraf den ältern von
Tierstein zum Richter und Schirmer ihres — zu seinem Verdrusse
häufig überfahrenen — befreiten Gerichtsstandes gegeben (Nr. 422)
und ihr gleichzeitig das Privileg der Aufnahme verrufener Aechter
ertheilt (Nr. 421).
Der gleiche Kaiser Karl bestätigte aber 'auch dem Bischof und
Domcapitel alle ihre Privilegien unter Widerruf alles dessen, was die
Bürger gegen sie unternommen haben sollten (1366, Nr. 305).
Daß die Stadt sich nicht an seinem Zuge gen Lamparten über den
822 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
Berg im Jahre 1368 beteiligt hatte, mußte sie ihm mit 2000 Gulden
büßen (Nr. 331).
Von großem Werte sind auch diejenigen Stücke, die in die da-
maligen Münzverhältnisse und die schon damals weit ausgebreiteten
Handelsbeziehungen der zur Vermittlung des Verkehrs nach allen
Richtungen und zur Spedition von Handelsgütern so trefflich ge-
legenen Stadt Einblick gewähren.
Von den erstern sind hervorzuheben die Zurückweisung der
neuen bischöflichen Münze durch die Herrn von Rappoltstein und
eine Reihe elsäßischer Städte vom Jahre 1342 (Nr. 149); dann ganz
besonders die bisher ungedruckte Münzeinigung zwischen dem öster-
reichischen Hauptmann und Pfleger im Turgau, Argau und Elsaß,
dem Bischof und der Stadt Basel, der Abtei und Stadt Zürich, vom
20. Januar 1346 (Nr. 158), und die allerdings aus den Eidg. Ab-
schieden schon bekannte große Münzconvention vom 7. März 1377
zwischen den Häusern Oesterreich, Habsburg, Kiburg, Neuenburg,
Krenkingen und den Städten Basel, Zürich, Bern und Soloturn
(Nr. 413). Auch die Vorschriften über die Anfertigung der bischöf-
lichen Münze vom 16. December 1370 (Nr. 342) und die Versetzung
der Münze an die Stadt um 4000 Gulden (1373, Nr. 360) sind zu er-
wähnen. Ä
Von der wachsenden Bedeutung der Verkehrs- und Handelsver-
hältnisse legen die zahlreichen Vereinbarungen mit andern Städten
(Zürich, Mühlhausen, Freiburg i. Br., Luzern, Laufenburg) Zeugnis ab,
durch welche die Contrahenten gegenseitig darauf verzichten, will
kürlich auf Leib und Gut ihrer Bürger zu greifen; ferner die Anstände
über Kaufmannsgut mit Kaufleuten aus Mailand und Parma, (Nr. 320)
mit Bürgern von Asti und dem Abt von Montferrat (Nr. 248); der
gehässige Erlaß des Papstes Innocenz VI an die Stadt Basel, daß
sie den Grafen von Tierstein nicht an der Aufhebung von Mailänder
Kaufleuten und Warenführern auf ihrem Gebiete hindern möge (Nr. 222);
die Geleitsbriefe Herzog Rudolfs von Oesterreich für die Kaufleute
von Mailand, Venedig, Florenz und andern Orten’ der Lombarde
(Nr. 258) und des Grafen von Habsburg-Laufenburg für die Mai-
länder Kaufleute insbesondere (Nr. 350).
Nicht zu übersehen ist daneben die Kundschaft über 11 Sätze be-
treffend Zoll, Wage, Maß und Gewicht von Basel aus dem Jahre
1352, wenn schon das Urkundenbuch dafür nur auf Trouillet ver-
weist und sich mit Berichtigungen zu dessen Texte begnügt
(Nr. 204).
Endlich mag noch auf Jie Streitigkeiten der Brodbecken mit
den Müllern und ihren Knechten hingewiesen werden, die 1335 durch
Urkundenbuch der Stadt Basel. IV. VII. 823
einen Schiedsspruch beigelegt wurden (Nr. 128); wird doch auf
solche Dinge nur hie und da durch einen glücklichen Zufall urkund-
liches Licht geworfen. —
Eine dritte Gruppe von Documenten bezieht sich auf Besitz-
und Rechtsverhältnisse öffentlichen oder halböffentlichen Charakters.
Sie darf hier um so eher übergangen werden, als es bei manchen
Stücken dieser Gruppe fraglich erscheint, ob sie mit Recht ihren
Platz unter den politischen Urkunden gefunden haben und nicht
richtiger den Urkunden über kirchliche, gewerbliche und privatrecht-
liche Verhältnisse zugeschieden worden wären. Doch giebt es ja
immer und überall streitige Grenzgebiete.
Wesentlich anderer Natur ist der sich nur über 13 Jahre er-
streckende Inhalt des VII. Bandes.
Die ganze Stellung der Stadt ist inzwischen eine veränderte ge-
worden. Sie hat ihre lange festgehaltene, enge Verbindung mit den
benachbarten rheinischen Städten aufgegeben oder doch stark ge-
lockert und einen neuen festen Rückhalt an den ihr zunächst ge-
legenen Orten der schweizerischen Eidgenossenschaft jenseits des Jura
gesucht und gefunden, wie denn auch gleich die zweite Nummer des
Bandes ein am 2. März 1441 auf 20 Jahre abgeschlossenes Schutz-
und Trutzbündnis Basels mit Bern und Solothurn bietet.
Von Bern gemahnt zogen dessen »Eidgenossen« von Basel 1443
gegen die Herrschaft Oesterreich ins Feld, und die Verbindung
Basels mit den Schweizern bot im folgenden Jahre den Vorwand,
das unter dem Dauphin von Frankreich heranziehende Heer der
Armagnaken im Einverständnis mit dem österreichischen oder doch
österreichisch gesinnten Adel in erster Linie gegen Basel zu lenken.
Es ist bekannt, wie der Heldenkampf einer eidgenössischen
Schar bei St. Jakob vor den Toren Basels am 26. August 1444 den
Dauphin zu einem raschen Friedensschlusse mit den Eidgenossen und
mit Basel führte, während nun der Entscheidungskampf der Stadt mit
Oesterreich. und der ihm verbundenen Ritterschaft unter dem Na-
men des St. Jakoberkriegs erst recht entbrannte, um unter mannig-
fachen Wechselfällen zu der sogenannten Breisacher Richtung vom
14. Mai 1449 (Nr. 193) mit ihren verschiedenen Nachträgen und
Ergänzungen zu führen und damit zur endgültigen Auseinander-
setzung der Stadt Basel mit der österreichischen Herrschaft und
dem ihr anhangenden Adel.
Auf diesen Streit von 1444—49 und auf die lange erfolglosen
Versuche, ihn gütlich oder rechtlich beizulegen, bezieht sich der
Großteil der in Band VII des Urkundenbuchs mitgetheilten Docu-
824 Gött. gel. Anz. 1901. Hr. 10.
mente. Von ganz besonderem Werte sind dabei die zahlreichen,
außerordentlich eingehenden und bisher meist ungedruckten »Kund-
schaften< über die Ereignisse dieser Jahre und die dem Streite m
Grunde liegenden Verhältnisse. Eine ganze Folge solcher Kund-
schaften verbreitet sich über Zoll und freien Zug, über die Behand-
lung von Pfändungen, gerichtlichen Mahnungen und Klagen im Ver-
kehr der Bürger von Basel mit den umliegenden österreichischen
Gebieten (Nr. 64, 66, 83, 84, 85, 87, 89, 96, 97). Eine andere,
noch weit längere Reihe von Documenten bilden die dem Friedens
schlusse mit der Herrschaft Oesterreich folgenden Sühn- oder Ver-
tragsbriefe mit einzelnen Persönlichkeiten und die sogenannten »Eat-
sagungen< d. h. Verzichterklärungen auf die weitere Verfolgung ar-
gehobener Klagen. Wie weitschichtig aber die gegenseitigen
Klagepunkte waren und wie sorgfältig sie untersucht und ge
würdigt wurden, wird wohl am besten dadurch illustriert, daß der
Abdruck eines Schiedsspruchs von 3 »Zusatzleuten< der Stadt Basel
vom 30. October 1447 (Nr. 143) nicht weniger als 63 Seiten des
Urkundenbuchs beansprucht.
Von dem Concil, das während dieser Jahre in Basel noch eine
Scheinexistenz führte, finden sich in dem reichen Materiale des Ur-
kundenbuchs nur zweimal fast zufällige Spuren : zuerst im Januar
1442, wo die Räte zu Basel für den Papst eine Wohnung mit 12
Betten um monatlich 20 Gulden mieten (Nr. 8), und sodann in den
Jahren 1447/48, wo Kaiser Friedrich und das Kammergericht der
Stadt befehlen, endlich den Vätern des Concils ihr Geleit aufzusagen
und sie aus ihren Mauern wegzuweisen. Nur widerwillig und nach
einer Protestation gegen den kaiserlichen Befehl verstanden sich
schließlich Bürgermeister und Rat dazu, die Aufforderung zur Räu-
mung der Stadt an die noch in ihren Mauern weilenden Ueberreste
des Concils ergehen zu lassen (Juni 1448). Wenige Wochen nach-
her legten sie wiederum in aller Form Protest dagegen ein, daß sie
in einer vom bischöflichen Official dem neugewählten Papst Ni-
kolaus V abgegebenen Obedienzerklarung inbegriffen seien (Nr. 140.
167. 171. 172. 178).
In dem Verhältnis der Stadt zum Reich und zum Bistum änderte
sich nichts in diesen Jahren. Es war inzwischen stabil geworden.
Kaiser und Bischof erneuerten wörtlich die Privilegienbriefe und die
Handfesten ihrer Vorfahren (Nr. 341. 342. 313); der neue Bischof
Arnold von Rotberg bestätigte auch wenige Monate nach seiner
Wahl ausdrücklich alle Verkäufe seiner Vorgänger an die Stadt, ins-
besondere diejenigen von Kleinbasel, Liestal, Waldenburg und Hom-
burg (17. Juni 1451, Nr. 314).
Urkundenbuch der Stadt Basel. IV. VII. 825
Die Stadtverfassung erfuhr in dieser Zeit äußerer Bedrängnisse
ebenfalls keine wesentliche Fortbildung. Bei den besonderen Voll-
machten, welche dem Collegium der Dreizehn im Mai 1445 für
alle Sachen des Kriegs ertheilt wurden (Nr. 44), handelte es sich
doch nur um eine ausnahmsweise, vorübergehende Maßregel. Be-
merkenswert ist die Trennung der bisher in einer Zunft vereinigten
Rebleute und Grautücher in zwei gesonderte Zünfte unter Mitwir-
kung von Bürgermeister und Rat (Nr. 380), nachdem 10 Jahre vor-
her ähnliche Trennungsgelüste der allerdings näher zusammengehö-
renden Gerber und Schumacher durch das Eingreifen der gleichen
Behörde gütlich beigelegt worden waren (Nr. 7).
Recht erwünschten Einblick in die weitere Entwickelung der
Verkehrsverhältnisse Basels gewähren die auch in diesem Bande in
ziemlicher Anzahl vertretenen Urkunden über die Rheinschiffahrt
(Nr. 76. 255. 264. 272. 378. 388. 429); aus Nr. 255 darf auf die
regelmäßige Beschickung der zwei Frankfurter Messen durch Basler
geschlossen werden ; Nr. 272 befaßt sich speciell mit der Beförde-
rung von Rompilgern (im Jubeljahr 1450). Und nicht weniger er-
wünscht ist die Veröffentlichung des bisher ungedruckten Münzver-
trags zwischen dem österreichischen Hauptmann zu Ensisheim und
den Städten Basel, Freiburg i. B., Colmar und Breisach vom 16. Juli
1450 (Nr. 276). |
Von der verständigen Fürsorge des Rats für die Hebung des
städtischen Gewerbes sprechen die Vergünstigungen — darunter Be-
freiung von Steuern und Ungeld auf 3 Jahre —, die 5 Färbern aus
den luzernischen Horw gewährt werden, um sie zur Niederlassung in
Basel zu vermögen (Nr. 423). Auch einem auf 5 Jahre mit dem
jährlichen Honorar von 30 Gulden »und Vorbehalt eines bescheidenen
Lohnes« angestellten Stadtarzte wird Befreiung von allen Steuern
zugesichert (Nr. 420).
In das Gebiet der culturellen Merkwürdigkeiten gehören schließ-
lich die von Bürgermeister und Rat ausgestellte Empfehlung eines
ehemaligen städtischen Folterknechts zur Unterstützung auf seiner
Wallfahrt nach Santiago de Compostela (Nr. 220) und zwei ein-
gehende Verzeichnisse von Kostbarkeiten, die Herzog Albrecht II.
von Baiern zur Aufbewahrung an Bürgermeister und Rat von Basel
übersendet (Nr. 253) und die als Sicherheit für ein Anleihen von
700 Gulden durch zwei Edelleute bei der Stadt Basel hinterlegt
wurden.
Daß die Namenregister zu den beiden Bänden wieder mit der
größten Sorgfalt ausgearbeitet sind, braucht kaum besonders erwähnt
826 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
zu werden; wie denn überhaupt der IV. und VIL Band des Tr-
kundenbuchs der Stadt Basel mit ihrem so außerordestlich reichen
und mannigfaltigen Inhalt und ibrer saubern Arbeit sich m jeder Be
ziehung den vorausgegangenen Bänden würdig an die Seite stellen.
St. Gallen, September 1900. H. Wartmann.
Johannes Bugenhagens Pomerania. Herausgegeben im Auftrage der Gesellschaft
für Pommersche Geschichte und Alterthamskuode mit Unterstützung der kösnigl
Preußischen Archivverwaltung von Otto Heinemann (a. u. d T.: Quelle
zur Pommerschen Geschichte. Herausgegeben von der Gesellschaft für Pom-
mersche Geschichte und Alterthumskunde IV) Stettin, Verlag von Léon Sar
Biers Buchhandlung 1900. 4°. 4 Bil., LIX 181 S. M. 10.
Zu den ältesten Historischen Vereinen in Deutschland gehört
die 1824 in Stettin gegründete Gesellschaft für pommersche Ge-
schichte und Alterthumskunde, die seit 1832 eine jetzt schon 50
Bände zäblende Zeitschrift, die Baltischen Studien, herausgiebt, seit
1885 die Veröffentlichung von Quellen zur pommerschen Geschichte
ins Werk setzt und daneben auch das Inventar der Baudenkmäler
Pommerns in Angriff genommen hat (von den 29 Kreisen der Pro-
vinz sind 12 inventarisiert). Die Ausgabe der Geschichtsquellen,
seit 1885 in vier Bänden erschienen, macht im Vergleich zu der an-
derer Gebiete den Eindruck einer gewissen Dürftigkeit und scheint
zugleich einen festen Plan vermissen zu lassen. Band 1 bringt das
älteste Stadtbuch einer kleinen Landstadt auf Rügen, Band 2 das in
Wetzlar nach langer Verschollenheit aufgefundene Copialbuch des
Cistercienserklosters Neuenkamp in Neuvorpommern, Band 3 ein
Rechtsbuch des 16. Jahrbunderts, den sogenannten Wendisch-Rügia-
nischen Landgebrauch des Mathäus von Normann, den man als Ge-
schichtsquelle doch nur indirect bezeichnen kann. Diese Bunt-
scheckigkeit der pommerschen Quellensammlung hat ihren Haupt-
grund in dem Mangel einer eigentlichen historischen Literatur in
Ponımern bis zur Reformationszeit. Obwohl nach der Bekehrung
zum Christenthum durch Bischof Otto von Bamberg sich das lang-
gestreckte Küstenland im 12. und 13. Jahrhundert mit einem Netz
deutscher Klöster und Städte ziemlich schnell bedeckte, sind Auf-
zeichnungen geschichtlicher Natur, von den Urkunden und Stadt-
büchern natürlich abgesehen, in Pommern im Verhältnis zu den
Nachbarländern Mecklenburg und Preußen nur in ganz geringem
Umfang entstanden und von dem Wenigen, was vorhanden war, ist
auch noch einiges verloren gegangen. Vor ungefähr zwanzig Jahren
tauchte in den Kreisen der Gesellschaft für pommersche Geschichte
Johannes Bugenhagens Pomerania, hrsg. von Heinemann. 827
und Alterthumskunde in Stettin der Plan auf, diese Trümmer der
pommerschen mittelalterlichen Chronistik zu sammeln und ihr als
Schlußstein die einzige größere pommersche Chronik, die an der
Schwelle der neuen Zeit von dem zukünftigen Reformator Pommerns
Johannes Bugenhagen verfaßte Pomerania, einzufügen. Aeußere
Umstände haben damals den Plan nicht zur Ausführung gelangen
lassen, jetzt hat die Gesellschaft wenigstens die eine Hälfte desselben
verwirklicht und durch einen jüngeren Archivar in Stettin Bugen-
hagens Werk neu herausgeben lassen, es bildet den 4. Band der
Quellen zur pommerschen Geschichte.
Schon 1728 wurde Bugenhagens Pomerania von dem Greifs-
walder Theologen Jacob Heinrich Balthasar nach einer Abschrift der
Originalhandschrift, die damals im Besitz des Juristen Christian
Nettelbladt war und mit dessen Bibliothek 1744 in den Besitz der
Greifswalder Universitäts-Bibliothek. übergegangen ist, veröffentlicht
(Joh. Bugenhagii Pomerania in quatuor libros divisa .. ex manu-
scripto edidit Jac. Henr. Balthasar, Gryphiswaldiae, sumtibus Jac.
Löfleri 1728. 4°. 20+188 +2 Bill). Für die damalige Zeit war die
Ausgabe sehr gut, der Text ist, wenige Stellen abgerechnet (acht-
mal sind einzelne Worte ausgelassen) sorgfältig behandelt, eine recht
verständige, einen Theil der quellenkritischen Aufgaben lösende Ein-
leitung ist vorangeschickt. Der neue Herausgeber wird der Leistung
seines Vorgängers S. X besser gerecht, als eine 1881 erschienene
Göttinger Dissertation (Gustav Jähnke, Die Pomerania des Johannes
Bugenhagen und ihre Quellen), deren Verfasser S. 24 Balthasar für
die Herausgabe der Pomerania für wenig geeignet erklärt, sich aber
in einer eingehenden Besprechung von Georg Haag, dem damals
besten Kenner der mittelalterlichen Chronistik Pommerns, 1883 in
den Baltischen Studien 33 S. 211—229 selbst die Qualification zur
Herausgabe Bugenhagens absprechen lassen mußte. Gerechter als
diese beiden urtheilt der neue Herausgeber über alle seine Vor-
läufer, Balthasar, Jähnke und Haag, so oft er auch im Einzelnen ihre
Angaben berichtigen kann.
Die Hauptaufgabe der neuen Ausgabe lag, da das Autograph
des Verfassers erhalten und selbstverständlich zu Grunde gelegt ist,
in dem Nachweis der benutzten Quellen. Bugenhagen steht trotz
humanistischer Schulung noch ganz im Banne der mittelalterlichen
Tradition, er schreibt seine Vorlagen wörtlich aus, höchstens giebt
er dem Stil eine kleine Aufbesserung, meist erleichtert er das Auf-
finden seiner Quellen dadurch, daß er sie am Rande anmerkt. S.XI
—LV weist nun Heinemann diese Quellen im Einzelnen nach, indem
er vier Arten unterscheidet, Geschichtswerke, Urkunden, Inschriften
828 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
und mündliche Ueberlieferung. Die Geschichtswerke zerfallen wieder
in nichtpommersche und pommersche. Daß unter diesen an erster
Stelle Helmolds Slavenchronik sich befand, hat bereits der erste
Herausgeber Balthasar S. 10 angemerkt, auch auf die inzwischen
verlorene, wahrscheinlich 1677 bei der Beschießung durch den großen
Kurfürsten verbrannte Stettiner Handschrift hingewiesen, die Bugen-
hagen vorgelegen hat. Neben Helmolds chronica Slavorum antiqua
eitiert er die deutsche und lateinische gedruckte Ausgabe der chro-
nica Slavorum nova, das 1485—88 (jedenfalls vor 1492) gedruckte
Chronicon Slavicum parochi Suselensis, wie zuerst W. Boehmer in
der Einleitung zum niederdeutschen Kantzow dargethan hat. Eine
recht erfreuliche, über die Ermittelung der Vorgänger hinausgehende
Entdeckung ist dem neuen Herausgeber Heinemann hinsichtlich der
nächsten Quellengruppe, der von Bugenhagen benutzten Lebens-
beschreibungen des Apostels der Pommern, Bischofs Otto von Bam-
berg, gelungen: er hat die von Bugenhagen S. 11 (I 2) und 32
(I 11) angeführte gedruckte (und zwar corruptissime) historia divi
Ottonis in einem Exemplar der Königlichen Bibliothek zu Kopen-
hagen ermittelt und als ihren Inhalt den sog. Anonymus (d.i. der in
zusammenhängende Erzählung umgesetzte dialogus Herbords de vita
Ottonis) feststellen können, worüber er aber nicht in der Vorrede,
sondern im Centralblatt für Bibliothekswesen 16 (1899) S. 495 —498
eingehend berichtet hat. Neben dieser "gedruckten Ottobiographie
benutzte Bugenhagen die von Abt Andreas von Michelsberg 1487
umgearbeitete vita des Ebbo, welche ihm in einer jetzt in der Bi-
bliothek der Jacobikirche in Stettin befindlichen Handschrift vorlag:
beide hat er mosaikartig zusammengearbeitet und außerdem noch
kürzere Lebensbeschreibungen des Heiligen in Stettin, Camin und
Stargard vor sich gehabt (S. XVII). >Nur einige kleinere Notizen ent-
nahm Bugenhagen der 1493 zu Nürnberg gedruckten Weltchronik Hart-
mann Schedels« und der ihr angehängten Europa des Aeneas Sylvius
(S. XVII. XVII), nur je einmal beruft er sich auf Konrad Wimpinas
Gedicht über die Thaten Albrecht des Beherzten von Sachsen, auf
die Rede Heinrich Bebels de laudibus Germaniae und spielt auf
Erasmus’ encomium moriae an. Auch einen Stammbaum der Habs-
burger hat Bugenhagen vor sich gehabt, wenigstens berührt sich die
von ihm III c. 22 (S. 150) gegebene Schilderung der riesenstarken
Cimbarka oder Cimburgis von Masovien, der Mutter Kaiser Frie-
drichs III. und der Margaretha von Sachsen, der Gemahlin Friedrichs
des Sanftmütigen, wörtlich mit einer von Rauch, Scriptores rerum
Austriacarum I 380 ff. im Anhange an Enenkels Fürstenbuch heraus-
gegebenen Genealogia domus Habsburgo-Austriacae. Da Heinemann
Johannes Bugenhagens Pomerania, hrsg. von Heinemann.
829
auf die Quelle dieser Notiz nicht eingegangen ist, setze ich die Ver-
gleichung her.
Rauch S. 387:
Die selb Csimburga was gar ein
andechtige fraw, sy pett und vast
gar vil und was gar fleissig an
dem gocedinst. Die selb fraw was
so stark, daz sy ein huefnagel mat
dem dawm in ein feuchtein prett
gance eindruckt und zeprach em
haselnuze zwischen zwain vingern.
Bugenhagen S. 150 (III, 22):
Fuit hec Cimburga mulier multum
deo devota et teiunits et piis pre-
cibus celo intenta, et tamen mira
scribitur corporis fuisse fortitudine,
puta, que ad capitellum usque po-
tuerit asseri abiegno claviculum
vel solo pollice infigere, nucem
quoque avellanam pollict atque in-
dict inclusam absque reliquorum
adminiculo digitorum frangere.
Diese von Cuspinian und Fugger bis Hormayr und Huber wie-
derkehrende Beschreibung der Stammmutter des Hauses Habsburg
war von Interesse fiir Bugenhagen, weil ihre Schwester Maria die
Großmutter Herzog Bogislaw X. von Pommern wurde (S. 151). Das
ganze Kapitel 22 scheint nach einem officiellen, wenn auch nicht
fehlerfreien Stammbaum gearbeitet zu sein.
Die Pommerschen Quellen Bugenhagens, auf welche Heinemann
S. XXI zu sprechen kommt, ordnet er zweckmälig geographisch und
beginnt mit dem Osten, mit Oliva, indem er für die Benutzung der
älteren Chronik von Oliva, die zuerst 1861 Theodor Hirsch in den
Scriptores rerum Prussicarum erwiesen hatte, kurz auf diesen und
meine Dissertation von 1871 sich bezieht, obwohl er auch die in-
zwischen erschienene 2. Ausgabe Hirsch’s im 5. Bande der Ss. r. Pr.
(1874) und die polnische Ausgabe W. v. Ketrzynskis in den Monumenta
Poloniae historica VI (1893) kennt. Hatte 1871 Bugenhagens Ex-
cerpt großen Werth für die Textkritik der Chronik von Oliva, so
konnte jetzt, nachdem weitere Handschriften dieser wichtigen Quelle
in Polen aufgefunden und bei den neuen Ausgaben verwerthet sind,
festgestellt werden, daß Bugenhagen den schlechteren Text der 1350
verfaßten Chronik vor sich hatte, seine Lesarten stimmen mit den
Handschriften von Kurnik und Dzikow mehr überein, als mit dem
von Zeißberg entdeckten Lemberger Codex. Verloren ist für uns
und nur aus der Pomerania bekannt, was Bugenhagen im Cister-
cienserkloster Buckow bei Schlawe, dem Prämonstratenserkloster Pu-
dagla auf Usedom, in Demmin, Neuenkamp und Anklam vorfand ;
erhalten haben sich von seinen Quellen Greifswalder, Stralsunder,
Caminer, Stargarder und Colbatzer Aufzeichnungen, die Stralsunder
nur noch in späteren Ableitungen, die übrigen lagen ihm in ähnlicher
Fassung vor, wie noch heute. Von besonderem quellenkritischen
830 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
Interesse sind die Stargarder Denkmäler, das sogenannte Protocollum
des frater Angelus (S. XXV), eine 1345 zu dem Zwecke verfaßte
Denkschrift, die Unabhängigkeit Pommerns von Polen in kirchlicher _
Beziehung nachzuweisen. Bisher war sie nur aus einer mangelhaften
Abschrift des Greifswalder Professors Palthen (} 1710) bekannt und
ist nach dieser 1858 von Kosegarten im 17. Jahrgang der Baltischen
Studien (S. 103—137) herausgegeben; jetzt ist es Heinemann ge-
gelungen in Hamburg eine um 180 Jahre ältere Handschrift aufzu-
finden, über die er einen kurzen Bericht in den Pommerschen Monats-
blättern XIV 1900 S. 17—19 giebt; er hat damit die Vorlage der
Palthenschen Abschrift entdeckt. Das Hauptinteresse dieses Proto-
collum liegt nun darin, daß sein Verfasser seine Beweisführung nicht
auf Urkunden, sondern auf Chroniken stützt, auf Helmold, auf die
Viten des hl. Otto und auf die Chronica Polonorum, in welcher schon
1876 Georg Haag die zuletzt von Cwiklinski 1878 (Mon. Polon. hist. III,
diese Ausgabe scheint Heinemann nicht zu kennen) herausgegebene
älteste schlesische Landeschronik erkannte. Diese Chronik lag dem
Bruder Angelus in einer Handschrift, die in Kapitel eingetheilt war,
vor, während die drei noch heute erhaltenen Codices, der Fürsten-
steinsche, der Rhedigersche und der Königsberger, eine solche Ein-
theilung nicht haben (Angelus citiert cap. 3, 4, 6, 11, 15, 19, 16, 12).
Neben der chronica Polonorum beruft sich A. 5 Mal auf die vita
S. Stanislai, wie eine Vergleichung der benutzten Stellen zeigt, meint
er die c. 1260 von Vincenz von Kielce verfaßte jüngere Lebensbe-
schreibung (Mon. Pol. IV 363 ff.), auch dieses Denkmal fand er in
Kapitel eingetheilt (c. 2, 20, 19 werden angeführt). Einmal (S. 123
des Abdrucks) citiert A. >in secundo capite cronice Romanorum« für
die Nachfolge der Prinzessin Wanda auf dem Thron ihres Vaters
Craccus, die Stelle klingt aber wörtlich an S. 608/9 der Chronica
Polonorum an und ist ohne Zweifel aus dieser entlehnt, Quelle der
chronica Polonorum ist bekanntlich Vincentius Kadlubek (hier lib. I
c. 5—7). Hält man nun fest, daß in zwei Handschriften der Chro-
nica Polonorum, der Fürstensteiner und der Königsberger, diese auf
die Papst- und Kaisergeschichte des Martin von Troppau folgt, so
liegt die Annahme nahe, daß auch in dem von Angelus benutzten
Codex diese Verbindung bestanden habe und daß dieser versehent-
lich die erste Schrift seinerVorlage anführte, statt der zweiten; eine
andere Erklärung dieser »räthselhaften chronica Romanorum« (Balt.
Studien 31, 80) hat Haag, Balt. Stud. 26, 100 Anın. 40 vorgeschlagen,
indem er meint, daß ein späterer Glossator des Angelus, der den
Kommentar des Johannes Dombrowka zu Vinceu“ Kadlubek kannte,
auf Grund eines ähnlichen Citates Polonorum in Romanorum änderte;
Johannes Bugenhagens Pomerania, hrsg. von Heinemann. 831
Dombrowka führt nämlich für die Wanda-Sage die cronica Roma-
norum als Quelle an.
Alle diese Citate des Angelus finden sich nun auch bei Bugen-
hagen wieder, die Chronica Polonorum wird fünfmal (S. 12, 14, 30,
31, 32), die historia divi Stanislai zweimal S. 12, 31 genannt; daß
B. diese und die chronica Romanorum nur aus Angelus kennt, ist
sicher, über die Römische Chronik läßt er sich ja auch im nächsten
Kapitel 4 S. 13—14 mißbilligend und verwundert aus. Anders liegt
es mit der Chronica Polonorum: mit Recht führt Heinemann S. XIX
aus, daß diese dem Bugenhagen vorgelegen haben muß, denn er
entnahm ihr zwei nicht bei Angelus vorkommende Nachrichten über
die Gründung Krakaus (S. 12) und Lestko III (S. 14) genau mit
den Worten der Chronik, an der letzten Stelle sogar mit einem Zu-
satz (Aurum sttisti, aurum bibe), den ihre drei erhaltenen Hand-
schriften nicht haben. Vermuthlich fand Bugenhagen in Stargard
1517 noch die 1345 von Angelus benutzte Handschrift der Chronica
Polonorum vor, die ja auch in der Eintheilung in Kapitel von den
noch vorhandenen abwich.
Mit dem Protokoll des Angelus ist in der Palthenschen Ab-
schrift eine in Camin entstandene Chronik und ein Stammbaum der
Herzöge von Pommern aus dem 15. Jahrhundert verbunden, die
ebenfalls zu Bugenhagens Quellen gehören. Von Urkunden lagen
ihm, wie Heinemann S. XLV—L nachweist, 10 Kaiserurkunden, 2
Bullen, 15 herzogliche, 2 bischöflich caminsche und 7 auswärtige, im
Ganzen 36, vor; Inschriften fand er (S. L—LIII) in der Marien-
und Ottenkirche in Stettin und in den Cistercienserklöstern Eldena
und Neuenkamp, der mündlichen Tradition hat er nur wenig ent-
nommen (S. LIII—LIV). Die Einleitung des Herausgebers, der wir
bei dieser Quellenanalyse fast immer folgen konnten, schließt mit
der Darlegung der Grundsätze der Edition, die, da die Original-
handschrift und eine vom Verfasser durchgesehene Abschrift (die
Hamburger Handschrift) vorliegen, sich auf Verbesserung einzelner
Schreibfehler und Modernisierung der Interpunction beschränken.
Der Text macht, soweit man ohne Vergleichung der Handschrift ur-
theilen kann, einen zuverlässigen Eindruck, die Auslassungen Bal-
thasars (acht habe ich gezählt) sind berichtigt. Doch fehlt es nicht
ganz an Stellen, an denen die alte Ausgabe Balthasars den Text
Bugenhagens besser wiederzugeben scheint als die neue; außer den
6 S. 181 verbesserten Druckfehlern habe ich noch folgende Errata
angemerkt: S. 9 Z. 6 von unten I. appellabatur für appellatatur ;
S. 17 2.6 v. o. hat zwar auch Balthasar S. 19 Z. 4 omnibus merci-
bus optimam civitatem (Wineta), aber im Hinblick auf den Wortlaut
832 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 10.
der Quelle, Helmold I c. 2: civitas illa mercibus omnium nationum
locuples ist wohl opimam zu bessern; S. 24 Z. 13 v. o. lies latıssima
est nec minor statt .. e nec ..; S. 25 Z. 13 v. 0. cuiusdam für
cutusdem: S. 27 Z. 8 v. u. fehlt zwischen paucos und annos surre-
zisse; S. 43 Z. 17 v. 0. 1. pre se constitutis st. per se (fur uns ko-
men ist Balt. Stud. N.F. 3, 183); S. 56 Z. 3. v. 0. ergänze vel vor
simulachrorum; S. 69 Z. 6 v. u. 1. episcopos für episcopus; S. 71
Z.7v. 0. fehlt hinter timentibus-dux, S.T5 Z. 5 v. 0. 1. Stetinum st.
Stetinam; S. 112 Z. 5 v. 0. 1. ecclesiam st. ecclesia {ebenso die
Quelle); S. 136 Z. 11 v. 0. Oue s. One. In den Anmerkungen hat
der Herausgeber überall die benutzten Quellen nachgewiesen, meist
den Wortlaut derselben angeführt, auch Irrthümer und Versehen
Bugenhagens berichtigt. Nur selten kann man seine Erklärungen
nicht annehmen oder dieselben ergänzen. Einige solcher Fälle will
ich anführen. S. 28 erzählt Bugenhagen, Treptow an der Rega, seine
Vaterstadt, habe auf dem Stadtsiegel den Beinamen Largum Treptow
geführt, was der Herausgeber gestützt auf Mittheilungen des Magi-
strats von Treptow als unbegründet zurückweist: ich glaube hier
liegt eine Entstellung von NIGHEN TREPTOW in RICHEN TREP-
TOW vor’). S. 68 ist der Satz Sed dolus an virtus quis in hoste re-
quirit nicht als Citat aus Vergils Aen. II 390 erkannt. Die lange
Auseinandersetzung der Anm. 4 S. 113/114 erledigt sich z. Th. durch
einen Schreibfehler Bugenhagens, 113 Z. 2 v. u. ist Bugslao quinto für
decimo verschrieben. S. 124 verbessert der Herausgeber das Datum
der Eroberung Stargards durch die Brandenburger aus 1280 in 1283,
wie die Colbatzer Annalen berichten; da aber Bugenhagen ins 12.
Jahr nach dieser Eroberung eine Urkunde von 1292 setzt, ist 1280
beizubehalten. S. 127 geht die Nachricht über den Feuertod des
falschen Waldemar nicht auf die Chronik von Oliva zurück, wie
Anm. 4 will. Ä |
Ein sorgfältig gearbeitetes Namenregister beschliesst die neue
Ausgabe der Pomerania (S. 165—181): da Bugenhagen sehr häufig
sich im Stammbaum der so vielfach gleichnamigen pommerschen Her-
zöge irrt, wäre auch eine genealogische Tafel, wie sie Balthasar
seiner Ausgabe beigab, für den Benutzer angenehm gewesen, zumal
Klempins Stammtafeln von 1876 von Heinemann an einigen Stellen
berichtigt werden. Jedenfalls bedeutet diese neue Ausgabe einen
erfreulichen Fortschritt in der Quellenkunde. der heimischen Geschichte.
1) Eine andere Erklärung hat der Herausgeber nachträglich in den Pomm.
Monatsbl. 1901 S. 72—75 versucht: in einer Urkunde (aber nicht auf dem Siegel)
von 1285 heißt die Stadt Tr. civitas larga.
Halle. M. Perlbach.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen.
November 1901. Nr. Il.
Preuschen, E., Antilegomena. Die Reste der außerkanonischen Evangelien
und urchristlichen Ueberlieferungen herausgegeben und übersetzt. VIII und
175 8. Gießen, Ricker 1901. Preis 3 M.
Das Bedürfnis nach einer solchen Sammlung altchristlicher Lite-
raturreste und die Zeitgemäßheit vorliegender Veröffentlichung er-
hellen schon daraus, daß man selbst in streng wissenschaftlichen Ar-
beiten zahlreichen Hinweisen darauf und Entlehnungen daraus schon
gleich in den nächsten Monaten nach der Veröffentlichung begegnen
konnte. Die Texte (nur griechische sind aufgenommen mit einigen
Ergänzungen aus den Syrischen, Armenischen und Talmudischen)
sind nach den besten Ausgaben und mit Angabe der wichtigsten Va-
rianten mitgeteilt, eine deutsche Uebersetzung angefügt; dazu reich-
liche Literaturnachweise, zweckmafige Verzeichnisse der Stellen und
der Eigennamen — Alles in einer zum Gebrauche einladenden Form
hergestellt. Das Biichlein wird Vielen bald noch unentbehrlicher
werden, als die gleichfalls recht brauchbare Sammlung von Texten
zur Geschichte der alten Kirche und des Kanons, welche der Verf.
1895 unter dem ebenso weitschichtigen Titel »Analecta< zusammen-
gestellt hat.
Den Inhalt bilden die Angaben des Origenes iiber apokryphe Evan-
gelien in der ersten Homilie zu Lucas; dann die Reste des Aegypter-
evangeliums, wobei mit gutem Fug von neueren Versuchen zur Er-
weiterung dieses Gebietes durch allerhand herrenloses Gut Um-
gang genommen ist. Auf die Evangeliencitate der Naassener wird
zwar wegen der Notiz Philos. V, 7 p. 136 hingewiesen; sie selbst
aber sind besonders zusammengestellt, nachdem zuvor die Reste des
Hebräer- und Ebionitenevangeliums gesammelt erschienen. Weiter-
hin schließt sich an was wir noch wissen von Ueberlieferungen des
Matthias (S. 13, 2 lies oörog und 3 duapreiv), vom Evangelium des
Philippus und demjenigen des Petrus mit dessen sämtlichen ge-
retteten Bruchstücken ; es folgen die das Thomasevangelium be-
treffenden Stellen, das Evangelienfragment von Fajjum, die Evan-
@ött. gel. Anz. 1901. Nr. 11. 55
834 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
geliencitate im sogenannten zweiten Clemensbrief (trotz 12,2 unver-
worren mit dem Aegypterevangelium) und bei Justin (lies hier S. 29, 13
Apol. 1, 63 statt 62), die Notizen über die Evangelien bei Celsus
(tilge hier S. 38,31 das Komma), die Adyıx von Oxyrynchus (die
mit »vielleicht< dargebotene Conjectur xara xdauov zu S. 43, 17 ist
einfach zu streichen); weiterhin 24 glücklich ausgewählte >»herren-
lose Herrnworte< (S. 44, 18 lies 64 statt 63), der Rest der Apoka-
lypse und der Verkündigung des Petrus, die Nachrichten über und
die Fragmente von Papias, die Aussagen der Presbyter bei Irenäus
und die Ueberreste des Hegesippus. Als Anhang erscheinen die
Nachricht des Epiphanius über ein ophitisches Evangelium der Eva,
die Evangeliencitate in den clementinischen Homilien und ein, viel-
leicht einer Evangelienschrift angehöriges, Fragment aus den Oxy-
rynchus-Papyri. Damit ist zweifelsohne meist solcherlei außerkano-
nisches Material beisammen , darauf man sich bei jeder eingehende-
ren Beschäftigung mit den kanonischen Evangelien auf Schritt und
Tritt gewiesen sieht. Wer die Einheit der hier gebotenen Stoffe in
diesem Zweck findet, wird sich nicht weiter aufhalten bei dem etwas
zu umfangreichen und den Inhalt nicht genau bezeichnenden Titel des
Buches, wie z. B. van Manen thut (Theologisch Tijdschrift 1901.
S. 467—469). In ganz hervorragender Weise entsprechen jenem
Zwecke die mitgeteilten Citate Justins, über die sich im Organ der
Leipziger Orthodoxie W. Walther entrüstet, weil durch die Ueber-
setzung auch der Laie aus seiner glücklichen Unwissenheit aufge-
stört und zu unliebsamen Urteilen veranlaßt werden könne (Theo-
logisches Literaturblatt 1901, S. 425 f.).
Gerade nur um solcher Laien willen ist wohl eine Uebersetzung
beigegeben. Wer die unpräcise, in schwankenden Schritten einher-
gehende Ausdrucksweise vieler dieser Stücke kennt und die mit einer
Wiedergabe in lesbarem Deutsch verknüpften Schwierigkeiten in —
Anschlag bringt, wird diesem Versuch trotz zahlreicher Flüchtig-
keitsfehler seine Berechtigung nicht absprechen. Freilich mehren sich
hier besonders die möglichen Einreden. So dürfte z.B. der sermo
peccati S. 5, 35 statt mit »das Wort Sünde« S. 108 dem Zusammen-
hang entsprechend (st peccaverit frater tuus in verbo) eher mit » Wort-
sünde« wiedergegeben werden. Näher noch liegt die Vergleichung
des sermo S. 65, 34, was dem Gebrauch von Aoyog = "37 auch wo
das Sache bedeutet in LXX entspricht. Auch der Scholiast Tischen-
dorfs hat Adyog &uepriag, welcher Ausdruck Sir. 23, 13 gleichfalls
entweder = sündige Rede oder — etwas Sündhaftes gefaßt wird.
In der Wiedergabe der Taufgeschichte bei Justin sind 124 die Worte
toig dvdommoıg S. 26,19 ausgefallen. Der Verf. hat wohl seine
Preuschen, Antilegomena. 835
Gründe gehabt, ta dövvare nagd dvdpnnog Övvarde nage Bed
S. 30,18 wiederzugeben S. 127 mit »Was schwach ist bei den Men-
schen, ist stark bei Gott<«. Aber der Zusammenhang erfordert den
Sinn des vorschwebenden Herrnworts Marc. 10,27 = Matth. 19, 26,
welches hier als Parallele hätte notiert werden müssen; vgl. die
Stelle aus den Clementinen S. 85,17. Vielleicht hätte auch zu dem
ö&yoapov S. 45,12 als Erläuterung 1 Joh. 4,20 angeführt werden
diirfen. Ferner ist S. 139 die zweite Halfte des Spruches S. 45,
27—29 weggefallen. S. 168 ist »ihm« Druckfehler für »>ihnen< =
avtots S. 83, 16 und ist statt »im Tempel zu sein« zu lesen »daß er
im Tempel seic = S. 83, 23. Die Worte S. 89,19f. vgl. S. 173
könnten verständlicher wiedergegeben werden, etwa: er zeigte uns,
wie ohne innern Widerspruch ein Schlechter mit guten Grund u.s. w.
Weitere, hier nicht angeführte, Versehen haben Schmiedel im »Lite-
rarischen Centralblatt« Nr. 37, S. 1491 f. und Jülicher in der »Theo-
logischen Literaturzeitung< Nr. 21, S. 508 f. verzeichnet.
Straßburg i. E. H. Holtzmann.
Kunze, J., Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis.
Untersuchungen über die dogmatische Autorität, ihr Werden und ihre Geschichte,
vornehmlich in der alten Kirche. Leipzig, Dörffling u. Franke. 1899. XII u.
560 S. Preis 14 M.
Nachdem Th. Zahn im Jahre 1893 die Ueberzeugung ausge-
sprochen, daß noch einige Jahrzehnte darüber hingehen möchten, bis
eine Geschichte des apostolischen Symbols geschrieben sei ‘(das apo-
stolische Symbolum p. 23), veröffentlichte schon im folgenden Jahre
Kattenbusch den ersten Band seines »apostolischen Symbols<, dessen
zweiten Bandes zweite Hälfte sechs Jahre später den Mitforschern vor-
gelegt werden konnte. Ehe jedoch Kattenbusch seine Resultate im
Zusammenhang und abgeschlossen darbieten konnte, wurde auch von
anderer Seite die Erforschung der Geschichte des Symbols in An-
griff genommen, worunter freilich die Kontinuität der Forschung zu
leiden hatte. So hat sich nicht bloß Kattenbusch mehrfach zu Selbst-
korrekturen genötigt gesehen und seine Hauptthese schließlich nicht
ganz unerheblich modifiziert, es konnten auch die Mitforscher nicht
vollständig Kattenbusch berücksichtigen. Das gilt unter anderem
auch von dem hier zu besprechenden Werke Kunzes, welches vor
Abschluß des zweiten Bandes von Kattenbusch erschien.
Zöckler hat (deutsche Litztg. 1899 Nr. 29 p. 1132) Kunzes Ar-
55*
886 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
beit als eine »den Ertrag der seitherigen Bearbeitung ... zusam-
menfassende und kritisch revidierende Monographie< bezeichnet.
Dies Urteil wird man aus dem eben genannten Grunde doch etwas
modifizieren müssen. Die »seitherige Bearbeitung< lag noch nicht
abgeschlossen vor. Es ist dies Urteil aber auch aus einem anderen
Grunde irreführend. Denn Kunze hat gar nicht die Absicht, den
Ertrag der seitherigen Bearbeitung zusammen zu fassen und kritisch
zu revidieren. Seine Arbeit bietet vielmehr eine auf eingehenden,
selbständigen Quellenuntersuchungen ruhende Ergänzung zu den
früheren Arbeiten, wenigstens sofern die Symbolforschung in Be-
tracht kommt. Kunze behandelt nicht ex instituto die Frage nach
der Urgestalt und der Herkunft des Symbols. Das sind Fragen, die
Kunze entweder nur gelegentlich streift oder die für seine Thema-
stellung ein untergeordnetes Interesse besitzen. Die Hauptfrage, die
Kunze bewegt, ist die Frage, wie sich das »Taufbekenntnis< zur re-
gula fidei verhalte. Es ist selbstverständlich, daß Kunze dann auch
sein Augenmerk der Bedeutung des Kanons zuwenden mußte. So
bietet, wie dies denn auch der das Resultat gleich ankündigende
Titel zeigt, das Werk Kunzes neben Symbolforschungen, an welchen
sich Kunze schon in seinen früheren Schriften beteiligt hatte, auch
Forschungen, welche den Kanon und seine Entstehungsgeschichte
zum Inhalt haben. Die Grenzen der alten Kirchengeschichte sind,
wie dies auch der Untertitel andeutet, mehrfach überschritten. Zu-
gleich will die Arbeit Kunzes eine dogmatische sein; nicht sofern
sie bloß, wie der Untertitel besagt: » Untersuchungen über die dogma-
tische Autorität, ihr Werden und ihre Geschichte, vornehmlich in
der alten Kirche«, bietet, sondern sofern sie aus der historischen
Forschung dogmatische Erträge zu gewinnen sucht und mit einer
Auseinandersetzung darüber, was dogmatische Autorität sein dürfe
und müsse, abschließt. Damit wäre im allgemeinen die Besonder-
heit der Arbeit Kunzes charakterisiert, auf deren Einzelheiten wir
erst nach der Inhaltsangabe eingehen können.
Kunze hat seinen Stoff in 10 Kapitel gegliedert. Er beginnt
mit einer kurzen Einleitung, welche die zu untersuchende Frage ent-
wickelt. Harnack habe die auf Lessing zurückgehende, heute herr-
schende Ansicht vorbildlich formuliert, wenn er sage, daß der Kanon
ursprünglich die Glaubensregel sei, die Schrift in Wahrheit zwischen
eingekommen sei. Die Kirche, meint Kunze, könne aber doch ur-
sprünglich eine doppelte Norm besessen haben, die später auf die
Schrift reduziert worden sei. Diese Fragestellung macht es darum
nötig, das Verhältnis beider Autoritäten zu einander zu untersuchen
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 837
und zugleich das Verhältnis zu erörtern, in welchem Glaubensregel
und Taufbekenntnis zu einander stehen.
Es wird demzufolge im zweiten Kapitel der Name und allge-
meine Begriff der Glaubensregel behandelt. Es ist wesentlich For-
melstatistik und Wortexegese, die der Verf. selbst nicht hoch ein-
schätzt (p. 14). Die Ausführungen stimmen wesentlich überein mit
denjenigen Zahns, dessen Artikel »Glaubensregel< in RE? wohl nicht
mehr benutzt werden konnte. Kunze verweist nur auf Zahns Auf-
satz: Glaubensregel etc. (p. 7). Der Begriff xavov tijg dAndeiag ist
älter als der Begriff xavov rg niareng. Die Genitive werden in der
herkömmlichen Weise erläutert. Gegen Harnack wird der Nachweis
unternommen, daß die Begriffe xrjevypa und napddocıs mit dem Be-
griffe Glaubensregel alternieren (p. 10). Die pluralische Formel
regulae ist ein besonderer Sprachgebrauch Tertullians, der überhaupt
eine besondere Stellung einnimmt. Als Hauptfrage ist aber zu be-
trachten, woher die Glaubensregel ihren Inhalt habe, der irgendwie
als Lehrsumme zu verstehen sei. Indem Kunze sich auf die Auf-
stellungen Zahns, Harnacks und Kattenbuschs einläßt und im Satze
Zahns, daß die Glaubensregel identisch sei mit dem Taufbekenntnis
der alten Kirche, einen wichtigen Fortschritt zum Richtigen hin er-
kennt, wendet er sich der Frage zu, ob denn überhaupt im alt-
katholischen Zeitalter das Vorhandensein eines Taufbekenntnisses in
demselben Umfang sich belegen lasse, als die fragliche Größe der
reg. fid. vorkomme.
So wird »das Taufbekenntnis in der vornicänischen Kirche« das
Thema des dritten Kapitels. Das mit großem Fleiß aus den vor-
nicänischen Vätern gesammelte, auch hin und wieder Kattenbusch
ergänzende Material wird in z. T. sehr eingehender und scharfsinniger
Einzelexegese gegen Kattenbusch verwertet, dessen abweichende Be-
hauptungen fast auf jeder Seite dieses Kapitels im. Text oder in den
Anmerkungen notiert und abgewiesen werden. Es erhellt nach
Kunze nicht nur die Thatsache eines trinitarisch gegliederten und
an das römische sich anschließenden Symbols, sondern auch des wei-
teren, daß weder Tertullian noch Cyprian noch Irenaeus dies Be-
kenntnis für spezifisch römisch gehalten, es vielmehr als ökumenische
Größe vorausgesetzt haben. Dies Ergebnis wird bestätigt durch die
morgenländischen Theologen. Bei Athanasius liegt ein Taufbekennt-
nis so offen wie möglich vor. Origenes, der mit besonderer Aus-
führlichkeit behandelt ist, besitzt ein mit der abrenuntiatio verbun-
denes Taufbekenntnis, das im großen und ganzen mit der auch durch
R bezeugten Gestalt übereinstimmt (60). Mit Kattenbusch den rö-
mischen Aufenthalt des Origenes zu urgieren, hält Kunze für unan-
888 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
gebracht (42 A. 54. 66). Von Origines aus gewinnt man nun auch ein
sicheres Urteil über das Taufbekenntnis bei Clemens Alexandrinus,
der ein den anderen Taufbekenntnissen ähnliches Taufbekenntnis ge-
habt hat (gg. Harnack, Kattenbusch). So hat die alexandrinische
Kirche in der Zeit von Clemens bis Athanasius ein bei der Taufe
abzulegendes trinitarisches Bekenntnis von der gemeinüblichen Grund-
gestalt besessen, das man als allgemein kirchlich beurteilt hat. Sy-
rische und kleinasiatische Zeugnisse bestätigen die Verbreitung eines
nicht lediglich trinitarischen Taufbekenntnisses für den Osten, wel-
ches überhaupt nicht bloß als Glaubensbekenntnis, sondern, da es
stets mit der abrenuntiatio verknüpft uns entgegentritt, als dogma-
tisch-ethische Ganzheit aufzufassen ist.
Im vierten Kapitel entwickelt nun Kunze das Verhältnis von
Glaubensregel und Taufbekenntnis, indem er von der These Zahns
ausgeht. Es ist nur zuzugeben, daß »vielfach, wenn nicht gar überall«
(74) der Begriff regula fidei irgendwie das Taufbekenntnis meine.
Aber selbst bei Tertullian, wo der Begriff reg. fid. sich mit dem
Taufbekenntnis »fast bis zur Identität nahe berührt«, haftet dem
Begriff reg. fid. das Moment des Antihäretischen an (82). Daß die
reg. das antihäretisch gerichtete Taufbekenntnis ist, wird vollends
durch Origenes und Clemens bewiesen. Woher stammen aber diese
Erweiterungen ? Die Lösung dieser für das Verständnis des ganzen
Problems Ausschlag gebenden Frage wird im folgenden Kapitel
»Glaubensregel und heilige Schrift« in Angriff genommen.
Die Lektüre dieser ausführlichen und sehr ins Detail gehenden
Untersuchung wird erleichtert durch gelegentliche Rückblicke, die in
kurzen Sätzen das gewonnene Ergebnis noch einmal dem Leser zum
Bewußtsein bringen, ohne daß dadurch die Geschlossenheit der Dar-
stellung litte. Die reg. fid. ist weder das Symbol noch die Selbst-
auslegung des Symbols. Harnacks Bedenken gegen Zahns Formu-
lierung (Harnack DG I? 293. 325. 295 A. 1) eignet Kunze sich an,
führt aber die »Interpretation< des Bekenntnisses nicht auf die
Ueberlieferung (I? 327 A.2) oder das »fromme Bewußtsein« (Katten-
busch II 83) zurück, sondern auf die Schrift, die im Begriff der
reg. fid. mit enthalten ist (p. 95). Einen »Kanon< ohne die heil.
Schrift hat es nicht gegeben (ib. cf. p. 99). Die Erweiterungen
stammen also aus der Schrift. Mit dieser These, die Kunze öfters
wiederholt, hat er die Lösung des im Begriff reg. fid. enthaltenen
Problems gegeben, der man sich schon manchesmal genähert habe,
die aber heute sich nicht leicht durchsetzen werde (p. 95). Es folgt
nun im einzelnen die Begründung dieser These. Die Stellung des
Irenaeus ist einer besonders eingehenden Analyse unterzogen. In
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 839
den Anmerkungen findet man hin und wieder auch textkritische Be-
merkungen. Es ist selbstverständlich, daß Kunzes Erörterungen hier
zugleich einen Beitrag zur Kanonsgeschichte geben. Bei Irenaeus
fallen die heil. Schriften ganz wesentlich unter den Begriff der Wahr-
heitsregel, ohne daß ausgeschlossen wäre, daß Irenaeus auch zugleich
das Taufbekenntnis meine. Es ist die apostolische Autorität, welche
den >Kanon« ausmacht (116). Ist nun aber die reg. veritatis eine
solche als Ausprägung des apostolischen Glaubens, so gehört die
Schrift mit zur regula veritatis. Es sind aber die hellen Stellen,
welche die regula bilden. Darum kann denn auch Irenaeus von
einem owudrıov (demin.) reden, während er doch das ganze Schrift-
korpus zu meinen scheint. Er denkt nur an den summarischen Aus-
zug aus der Schrift (120). Dadurch wird die Behauptung nicht
zurückgezogen, daß reg. ver. das Taufbekenntnis sei (78f.). Denn
Iren. hat eben sein Taufbekenntnis nicht anders geschätzt, denn als
summarischen Ausdruck der Schriftwahrheit. Diesen klaren That-
bestand bei Iren. hat man bisher deswegen verkennen können, weil
man nicht beachtete, daß adv. haer. III 34 bloß ein Exkurs sei, hin-
ter welchem Iren. III 5: wieder den Schriftbeweis aufnehme. Eine
auffallende Uebereinstimmung mit Irenaeus findet man bei Clemens
Alexandrinus (145). Auch Origenes zählt die Schrift »irgendwie<
mit zur Glaubensregel, ja selbst Tertullian, der allerdings anderer-
seits die Trennung von Schrift und regula fidei erreicht hat, dies
aber selbst als Neuerung kennzeichnet (178). Diese Neuerung hat
sich auch in der Folgezeit nicht durchgesetzt; das beweist Novatian.
So werden überall, wo die kirchliche Glaubensregel gegen die Häre-
tiker verwandt wird, die Schriften alten und neuen Testamentes in
den Begriff der Glaubensregel aufgenommen.
Das sechste Kapitel »Zusammenfassende Erörterung über die
Glaubensregel in der altkatholischen Kirche<, soll das bisher ge-
fundene Ergebnis auch an solchen Stoffen erproben, die Kunze als
ungeeignet noch nicht verwerten konnte. Kunzes These lautet, daß
der Begriff »Kanon« weder mit der heil. Schrift noch mit dem Tauf-
bekenntnis schlechthin zu identifizieren sei, daß er vielmehr beide
Größen in sich begreife und das Moment des Antihäretischen mit-
enthalte. Darum: >reg. fid. ist das antihäretisch gewendete aus der
heil. Schrift ergänzte und ausgelegte Taufbekenntnis, diese, die
Schrift selbst mit eingeschlossen«, oder auch: >reg. fid. ist die gegen
die Häretiker zur Einheit zusammengefaßte heil. Schrift ‘alten und
neuen Testamentes, insofern sie den im alten Taufbekenntnis ausge-
sprochenen Glauben zum Inhalt hat, dies, das Bekenntnis selbst mit
eingeschlossen< (p. 185). Die nun folgenden Erörterungen laufen auf
840 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
eine längere Auseinandersetzung mit Harnack hinaus. Wenn Harnack
Recht hat, so entsteht die Frage, wie man dazu gekommen sei,
die >Interpretation< so mit der Formel zu verschmelzen, daß sie an
ihrer Autorität Anteil hatte. Diese Frage ist identisch mit der an-
deren, wie sich die Kirche des Gnostizismus und Marcionitismus er-
wehrt habe. Kunze meint, daß allein die von ihm gegebene Fas-
sung die Ueberwindung der gnostischen Krisis erklärt. Die fraglos
vorhandene Unsicherheit der regula wird zurückgeführt auf die Un-
sicherheit über den Umfang der Schrift. Grade die Einbeziehung
der Schrift in die regula macht sowohl den festen dogmatischen
Maßstab wie die Unsicherheit begreiflich. Wenn aber manchmal die
Schrift der regula untergeordnet wird, so wird doch nicht die ganze
Schrift einer außer ihr belegenen Norm unterstellt, sondern nur die
je einzelne Schrift der Gesamtmasse der übrigen Schriften gegenüber
‘ gestellt (206). Dies Resultat bestätigt der Vorbereitungsunterricht
vor der Taufe. Anhangsweise werden noch Grundsätze gegeben,
‚nach welchen aus den Relationen der Glaubensregel das Tauf-
bekenntnis eines Autors zu ermitteln ist«.
Mit den bisherigen Erörterungen stellt sich Kunze in Gegensatz
zu der >allgemein herrschenden Auffassung«. Die im siebenten Ka-
pitel >die weitere Entwicklung der Glaubensregel im Morgen- und
Abendland< gegebenen Ausführungen hinterlassen dem Kundigen,
wenn es auch hin und wieder nicht an scharfen Ausfällen fehlt, doch
im ganzen den Eindruck einer weit gehenden Uebereinstimmung der
verschiedenen Forscher. Zunächst wird freilich nochmals betont,
daß die »Festigkeit< der Bekenntnisformel, die Harnack in der alten
Kirche voraussetze, nicht einmal bei Tertullian, an den die spätere
Entwicklung anknüpfe, zu finden sei. In der römischen Praxis da-
gegen trete die Neigung hervor, die Formel als solche zu schätzen,
d.h. aber, nicht das ganze Taufbekenntnis, sondern bloß die trinita-
rische Formel (227). Das vierte Jahrhundert aber bedeutet nach
Kunze einen Wendepunkt in der Geschichte der reg. fid. Das Tauf-
bekenntnis besitzt freilich nach Ausweis der Katechesen Cyrills keine
‚an sich seiende Lehrautorität«, wie es denn überhaupt im Morgen-
land nicht als feste, streng apostolische Formel betrachtet worden
ist, die neben oder über der Schrift steht (239). Zahns Hinweis auf
die Didascalia ist hinfällig (239—43). Der christliche Orient hat
also keine Formel gekannt, die als solche für apostolisch gegolten
hätte. Die Autorität des Taufbekenntnisses ruht wesentlich darauf,
daß es die Schriftlehre zusammenfaGt. Wir haben also hier die
gradlinige Fortsetzung der Entwicklung, die nicht durch Tertullian
bezeichnet war. Aber ein Fortschritt ist insofern bemerkbar, als der
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 841
Begriff »Kanon« noch stärker als zuvor an der Schritt haftet (247).
Isidor von Pelusium erklärt die Schrift ausdrücklich für die Glaubens-
regel (250). So erscheint denn die Entwicklung nicht so willkürlich
und irrationell, als wenn man annimmt, der Begriff, reg. ver. habe
ursprünglich nur ein formuliertes Lehrbekenntnis bezeichnet. Von
da aus führt keine verbindende Brücke zu der Bezeichnung der
Schriftensammlung als Kanon.
Aber dies Ergebnis ist nicht das einzige Ergebnis der Entwick-
lung der reg. fid. im Osten. Die Entwicklung mündet vielmehr in
zwei Armen aus. Das Konzil von Nicaea bedeutet den Wendepunkt.
Indem das Nicaenum sich als Formel durchsetzte und aus sich selbst
ausgelegt wurde, erfuhr der Begriff xavov rg niorsng eine Ver-
änderung. Im C. hat die griechische Kirche ihren Ruhepunkt ge-
wonnen. Dieser Entwicklung folgte der Sprachgebrauch, indem der
Name reg. fid. auf N. und C. überging. Unter Justinian stellt sich
uns die perfekt gewordene veränderte Sachlage dar. Da man nicht
zwei regulae fidei haben konnte, rückte das Bekenntnis als das deut-
lichere über die Schrift. Diese ganze Entwicklung stand unter
kaiserlicher Einwirkung.
Auch für das Abendland bedeutete N. einen Einschnitt. Hilarius
bildet den Uebergang. Man begegnet einer bisher nicht gekannten
Hochschätzung des alten Taufbekenntnisses, dessen Autorität durch
die jetzt auftauchende Sage von der Abfassung durch die Apostel
rapide steigen und den Wortlaut selbst heiligen mußte. Das Symbol
wird eine selbständige Lehrautorität. An die Stelle der biblischen
tritt eine rationelle Betrachtungsweise der Symbolformel, deren
klassischer Zeuge das Athanasianum ist, das Kunze mit Loofs gegen
Harnack als einheitliche Bildung betrachtet. Trotz allem wird aber
doch der Schrift der Begriff der Glaubensregel nicht entzogen. Es
bleibt aber an der Schrift das Fremdwort canon haften. So gewinnt
auch das Abendland einen zweispältigen Abschluß. Doch rückt das
Symbol als Norm über die Schrift, und über beiden erhebt sich
schließlich die Kirche, bis endlich im Tridentinum der Kanon ganz
unter die Kirche gebeugt ist. Die letzte Seite dieses Kapitels stellt
die Merkmale des katkolischen Schriftprinzips zusammen.
Im folgenden Kapitel wendet Kunze wieder den Blick rückwärts,
wenn er die »Herausbildung der Glaubensregel im Kampf mit Gnosti-
cismus und Marcionitismus< behandelt, und die Frage diskutiert, ob
Kanon und Symbol eine Schöpfung der antignostischen Kirche sind.
Der Begriff ist neu, in der Kirche als nachgnostisch zu be-
trachten (313). Das berechtigt noch nicht zu der Folgerung, daß
die Sache selbst nachgnostisch sei. Es entsteht demnach die Frage,
842 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
ob die Kirche die ntl. heil. Schrift und das Bekenntnis erst ge-
schaffen habe, als sie der Gnostiker sich zu erwehren hatte, wie dies
die Anschauung der »neueren Theologie« sei. Kunze verneint nach-
drücklich diese Frage, sodaß dies ausführliche und interessante
Kapitel zu einer fortlaufenden Auseinandersetzung namentlich mit
Harnack wird; vereinzelt nur wird Jülicher erwähnt. Bei aller Selb-
ständigkeit im Einzelnen verrät Kunze hier doch eine große Ab-
hängigkeit von Zahn. Nach einigen allgemeinen Erörterungen, die
gegen Harnacks Darstellung erhoben werden, wird aus den Quellen
der geschichtliche Nachweis unternommen, daß das kirchliche Tauf-
bekenntnis und das kirchliche N. T., wie sie in der reg. ver. zu-
sammengefaßt wurden, älter seien als der antignostische Kampf. Es’
wird zunächst auf 69 Seiten das Verhältnis der Gnostiker zu der
späteren reg. fid. untersucht. Irenaeus und Tertullian haben keines-
wegs, wenn sie auf die regulae der Gnostiker hinweisen, besondere
Lehrbekenntnisse der Gnostiker benannt. Regula bedeutet hier nicht
kurz formulierte Lehrformel, sondern Lehrbegriff. Es ist
die Uebersetzung nicht von xav&v, sonderu von tad@eots. Bereits
die Gnostiker hatten das kirchliche Taufbekenntnis besessen. Auch
nach Tertullian bekennen sich die Gnostiker zur communis fides der
Kirche. Die gnostische Litteratur bestätigt dies Ergebnis. Die Be-
kenntnisse der Gnostiker haben durchaus den gemeinchristlichen Cha-
rakter gewahrt. Es sind nur diese Bekenntnisse nie von den Gno-
stikern als Lehr autorität geltend gemacht. Ihre Autorität ist die
Schrift, d. h. der »Kanon<« der antignostischen Väter. Die neben
Schrift und Bekenntnis gestellte Geheimüberlieferung ist keine
Formel, sondern eine ausführliche Lehre (375), welche die öffent-
liche apostolische Ueberlieferung der Katholiken nicht verdrängte.
Das evangelium veritatis stand auch nicht als Wahrheitsevangelium
im Gegensatz zum kirchlichen Lügenevangelium. Es war vielmehr
ein Evangelium, welches nicht mehr im Bilde und Gleichnis sprach.
Es haben also die Gnostiker die öffentliche, schriftlich-mündliche
Ueberlieferung der Kirche bestehen lassen, ihren apostolischen Cha-
rakter formell nicht geleugnet. Aber die gemeinkirchliche Unter-
weisung wurde als Bild und Gleichnis beurteilt, deren Verständnis
erst die Geheimüberlieferung der Gnostiker ermöglichte. Das ap.
Bekenntnis und das N. T. ist demnach keine gnostische Schöpfung;
richtig ist nur, daß die Gnostiker zuerst einen ausgeführten ntl.
Schriftbeweis gegeben haben. Neues Testament und Taufbekenntnis
sind also älter als der Gnosticismus (384). Das geringe Plus des
späteren kirchlichen Testaments gegenüber dem uns bekannten gno-
stischen darf man nicht daraus erklären, daß die Kirche gegen die
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 848
Gnostiker noch pseudoapostolische Schriften fabriziert oder ältere
Schriften zum Zwecke der Kanonisierung dazu umgestempelt habe.
Weder von der »Schépfung< des N. T. noch des Bekenntnisses hätte
sich die Kirche Erfolg versprechen können, da sie die Geheimiiber-
lieferung der Gnostiker zu bekämpfen hatte. Unter Beseitigung
jener gnostischen Sonderautorität setzte die Kirche, —- und das war
ihre positive Leistung gegen die Gnosis —, >das gemeine Christen-
bekenntnis mitsamt der alt- und neutestamentlichen Schrift als die
Norm (regula) in Geltung, nach der ausschließlich entschieden
werden müsse, was christlicher Glaube ... seie (388).
Der zweite Teil des Kapitels behandelt das Verhältnis des
Marcionitismus zur späteren regula fidei. Marcion teilte mit
der Kirche die Sakramente, machte aber Abstriche am gemein-
samen Glauben. In der Stellung zum N. T. erscheint Marcion mehr-
fach als derjenige, welcher die regula verändert hat. Während also
zwischen Kirche und Gnosis hinsichtlich des N. T. Uebereinstimmung
herrschte, war das zwischen Marcion und der Kirche nicht der Fall.
Er setzt aber doch dasselbe Bekenntnis und N. T. in der Kirche
voraus, wie die Gnostiker. Das N. T. und Taufbekenntnis des Iren.
sind also älter als Marcion und die Gnostiker. Wenn freilich die
strenge Abgeschlossenheit zum Wesen des Kanons gehört, dann war
Marcion der Kirche voraus. Aber die alte Kirche hat weder beim
Symbol noch beim N. T. auf dies Merkmal Gewicht gelegt. Marcion
darf also nicht als Schöpfer des N. T. betrachtet werden. Die Kirche
hat weder im Kampf mit der Gnosis noch im Kampf mit dem Mar-
cionitismus ihr N. T. gebildet oder wesentliche Stücke ihm an-
gegliedert.
Dafür kann man sich auf die Apologeten berufen, deren Christen-
tum sich wesentlich mit dem der antignostischen Väter deckt. Justin
kennt als Apologet nur das A. T., während die ntl. Schriften gegen
Heiden und Juden nicht als Instanz, sondern nur als Ausweis ver-
wertet werden. Es sind aber für den ntl. Kanon die inneren Vor-
bedingungen vorhanden. Denn Justin hätte, wenn er gegen inner-
kirchliche Gegner aufzutreten genötigt gewesen wäre, die ntl.
Schriften als Norm gehandhabt (425). Dafür darf man sich auch auf
Tertullians Apologetikum berufen, welches die Maßstäbe Justins teilt,
trotzdem doch Tertullian ein neues Testament als Autorität besitzt.
Das Neue in der Position der antignostischen Väter gegenüber den
Apologeten ist demnach hauptsächlich nur ein Formales: daß man
nämlich sein eigenes Christentum vom ursprünglichen Christentum,
welches in den apostolischen Schriften überliefert war, bewußt unter-
scheidet und also dieses als kritische Autorität in Geltung setzt.
844 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
Diese formale Neuerung ist aber zuerst nicht von den altkatho-
lischen Vätern, sondern zuerst von den Gnostikern und Marcion voll-
zogen worden. In dieser Beziehung sind also in der That odie
kirchlichen Theologen den Gnostikern notgedrungen nachgefolgt«.
(428). In der materialen Wertung und Verwendung des N. T. und
des Bekenntnisses stehen dagegen die altkatholischen Väter auf seiten
der Apologeten. Indeß muß man doch auch von einer materialen
Neuerung sprechen. Mit der Verwendung des N. T. als Kanon
mußte eine gewisse Verfestigung eintreten. Der innerkirchliche
Gegensatz mußte »mit einem Schlage« die Lage ändern. »Die apo-
stolische Litteratur mußte sich abgrenzen .... Diese ideelle Ver-
festigung hat aber darum nicht erst die sog. altkatholische Kirche,
sondern bereits der Gnosticismus vollzogen« (430). Die materiale
Neuerung hinsichtlich des N. T. bestand darnach nicht in der Hin-
zufügung gewisser Schriften, sondern in der reinlicheren Absonde-
rung der nachapostolischen Stoffe. »Die Physiognomie des Neuen
Testamentes bleibt so, wie sie schon in jenem viel früheren Zeitraum
gewesen ist«e (431). In Rom freilich hat eine mechanische Abgren-
zung der regula stattgefunden, sowohl hinsichtlich des Symbols als
des Neuen Testamentes (Canon Murat... Das ist aber spezifische
Eigentümlichkeit der römischen, nicht aber der gesamten altkatholi-
schen Kirche. So sind also Taufsymbol und Neues Testament vor-
katholische, positive Bildungen (436). Zum Schluß zieht Kunze aus
diesem Ergebnis Konsequenzen für die Vorgeschichte der zweiteiligen
regula. Es ist durchaus unwahrscheinlich, daß das Abendland, im
bes. Rom, das Taufbekenntnis geschaffen hat. Es ist ebenfalls un-
wahrscheinlich, daß das Neue Testament sich gebildet hat aus den
Herrenworten, an die sich später die apostolischen Worte als neue
Instanz anschlossen. Vielmehr gilt das N. T. als apostolische
Schriftensammlung.
Im 9ten Kapitel wird die regula disciplinae behandelt, die schon
im 3ten Kapitel gestreift war. Kunzes Ausführungen sind hier
wiederum an denjenigen Harnacks antithetisch orientiert. Zwischen
der Großkirche und der Gnosis sowohl wie dem Marcionitismus be-
steht auch ein ethischer Gegensatz. Es ist darin die regula disc-
plinae ebenso antihäretisch wie die reg. fidei und also dieser ent-
sprechend zu definieren. Kunze sucht seine Gedanken namentlich
im Anschluß an die ovvrayıj; und éxotay bei der christl. Taufe zu
entwickeln. Natürlich nimmt auch hier Tertullian eine besondere
Stellung ein, sofern er die Schrift hinter die Abrenuntiationsformel
zurückschiebt, während bei den andern Vätern die Schrift voransteht. So
hat denn auch Tert. so wenig auf den Zusammenhang von Glauben
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 845
und Leben im Christentum geachtet (gegen Harnack), daß er viel-
mehr fides und disciplina auseinanderreißt. Bei Cyprian tritt wieder-
um die Autorität der Kirche an die erste Stelle. So hält die Ent-
wickelung auf dem Gebiet der fides gleichen Schritt mit der Ent-
wickelung auf dem Gebiet der disciplina. Eine wesentliche
Wandlung des Christentums von Justin bis Irenaeus ist nicht er-
kennbar. Die altkatholische Zeit unterscheidet sich nicht von der
früheren hinsichtlich der dogmatisch-ethischen Normen durch wichtige
Neuerungen. Die Maßstäbe sind dieselben geblieben. »Die Neue-
rungen der altkatholischen Kirche sind . . . nicht materiale, sondern
formale, nicht Neuschöpfungen, sondern Neuschätzungen« (464).
Mit dem 10ten Kapitel, in welchem die »Gesamtübersicht über
die Entwickelung der reg. fidei und ihr Ausgang in der Reforma-
tion< behandelt wird, schließt Kunze seine Untersuchung, die in
eine dogmatische Erörterung über die regula auslauft. Nachdem zu-
nächst die vorhergehenden Resultate rekapituliert sind, wendet sich
Kunze der Stellung Luthers zur Schrift und zum Symbol zu, die er
anders als Harnack glaubt beurtheilen zu müssen. Luther hat sich
das Apostolikum gleichwie die alte Kirche als Summe des Schrift-
glaubens positiv und innerlich angeeignet, ohne doch sich an den
Wortlaut des Bekenntnisses gebunden zu fühlen, an dem er viel-
mehr gegebenen Falls Kritik geübt hat. Das ist überhaupt die
richtige evangelische Stellung zum Apostolikum (Kunze streift hier
den Apostolikumstreit), daß man auf die Geschichte des‘ Symbols
sich stützend, den Wortlaut nicht grundsätzlich für sakrosankt er-
klärt. Denn das Symbol hat betonte und unbetonte Stellen. Aber
für eine Aenderung des Symbols liegen weder entscheidende sach-
liche Gründe vor, noch wäre den Gegnern mit einigen Aenderungen
am Symbol gedient. Das Symbol ist überhaupt für den ev. Christen
nicht regula fidei; dies ist allein die Schrift. Mit der Stellung
Luthers zur Schrift und mit der Autorität der Schrift beschäftigen
sich die letzten Ausführungen dieses Kapitels. Luther hat die
Schrift unter dem Gesichtspunkte des Apostolischen für maßgebend
angesehen. Seine Stellung ist dieselbe wie die der alten Kirche.
Seine Kritik an der Schrift ist nicht von subjektiv religiösen Ideen
geleitet, sondern wesentlich historisch orientiert. Seine Stellung zur
Schrift unterscheidet sich auch durchaus von der kirchlich katholi-
schen Stellung zur Schrift, die ja die Kirche den Kanon festellen
läßt. In Luthers Stellung zur Schrift wird man demnach nicht
einen flagranten Widerspruch (Harnack III 609 A 1) entdecken
können. Man muß vielmehr die Einheitlichkeit und Geschlossenheit
seiner Stellung zur Schrift anerkennen. Unverbrüchlich gilt das apo-
846 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
stolische Evangelium, dagegen das konkrete N.T. nur, weil und se
weit es das Evangelium der Apostel ist. Als dogmatischen Ertrag
der ganzen Untersuchung über die Geschichte der reg. fid. stellt
dann Kunze zum Schluß die These auf, daß das N. T. regula fidei
und disciplinae, d. h. dogmatische und ethische Autorität und Norm
der christlichen Kirche sein und bleiben müsse, weil es und soweit
es das einzige, authentische, geschichtliche Denkmal des apostolischen
Evangeliums sei, durch welches die Kirche gegründet worden (529).
Unter diesem rein geschichtlichen Geschichtspunkt eignet dem N.T.
Kanonizität, ist es regula fidei (533). Es führt dieser Satz natürlich
zu einer Auseinandersetzung mit der >neuprotestantischen< Position,
daß allein der sog. historische Christus dogmatische Autorität sei.
Der Neuprotestantisınus kämpft wohl mit Recht gegen einen un-
evangelischen Begriff vom Kanon, aber zugleich doch gegen den
Kanon, gegen das apostolische Evangelium selbst. Evangelium und
Apostel sind für ihn nicht mehr Wechselbegriffe, wie in der Kirche
von Anfang an, sondern sie werden einander gegenübergestellt. Da-
mit ist sowohl der ntl. Kanon schlechthin abgethan (546), als auch die
altkirchliche regula fidei, wie sie seit Irenaeus als dogmatische
Autorität aufgerichtet war. Man versucht ein neues Evangelium zu
schaffen, dessen Aussichten freilich, auch nur rein wissenschaftlich
betrachtet, gering sind. Es führt diese ganze moderne Bewegung
entweder auf den Skeptizismus eines Strauß hinaus, oder man findet
den Weg. wieder zurück zum alten, apostolischen Evangelium des
Neuen Testamentes.
Es erhellt aus der Inhaltsübersicht, daß die Fragen, welche
Kunze in seinem Buch behandelt, komplizierter und mannigfaltiger
sind, als man zunächst auf Grund des Titels erwartet. Es weiß
aber jeder, der auf diesem Gebiete arbeitet, daß man auf eine
einigermaßen befriedigende Lösung der betreffenden Frage nicht
rechnen darf, wenn man nicht von einer möglichst breiten Basis aus-
geht und den Zusammenhang der dogmengeschichtlichen und re
‘ligionsgeschichtlichen Entwicklung im Auge behält. Es ist selbst-
verständlich, daß von hier aus auch andererseits auf die allgemeine
Entwicklung Schlaglichter fallen müssen. So bietet denn die Arbeit
Kunzes nicht bloß erhebliche Beiträge zur Geschichte des Symbols
und des Kanons, über deren gegenseitiges Verhältnis sie ja im be
sonderen unterrichten will; sie bietet zugleich einen Beitrag zur
Entstehung der katholischen Kirche und zur Ketzergeschichte des
zweiten und dritten Jahrhunderts. Wenn außerdem dogmatische Ent-
wickelungen und Ergebnisse vorgetragen werden, so hat das seinen
Grund in der besonderen Absicht des Verfassers, der deswegen auch
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 847
den Apostolikumstreit berührt. Man wird demgegenüber nur fragen
dürfen, ob das dogmatische Interesse das historische verkürzt hat,
oder ob und wie weit eine Verbindung rein bistorischer und dogma-
tischer Untersuchungen möglich und berechtigt ist.
Kunze hat in seinem Buch ein umfassendes Quellenmaterial mit
großem Fleiß und Scharfsinn zusammengetragen. Die Fülle des zu
verarbeitenden Materials hat dem gelehrten Verfasser doch nicht den
Ueberblick über das Ganze entzogen. Immer behält er das Endziel
im Auge. Er beherrscht frei und selbständig die große Stofffülle
und vermag es auch, hin und wieder Kattenbusch zu ergänzen,
Stellen vorzuführen, die Katt. entgangen sind. Die Partieen über
die morgenländische Entwicklung, namentlich die Herausbildung der
Glaubensregel im Kampf mit Gnostizismus und Marcionitismus, sind
besonders sorgfältig gearbeitet. Die dann nnd wann gegebenen text-
kritischen Bemerkungen und Vorschläge zur Verbesserung eines un-
klaren Textes zeigen, wie sehr es Kunze um das Verständnis der
Einzelstelle zu thun gewesen ist und mit welcher Gründlichkeit er
jede einzelne Aeußerung behandeln will. Das ist ein Vorzug der
Methode Kunzes, der um so höher zu werten ist, als vorläufig auf
dem von Kunze bearbeiteten Gebiet der Einzelexegese noch viel zu
thun übrig bleibt. In der Einzelexegese selbst beweist der Verf. ein
großes Maß von Selbständigkeit. Dessen kann man leicht inne wer-
den, wenn man die entsprechenden Ausführungen bei Kattenbusch
vergleicht. Kein Geringerer als Kattenbusch selbst hat die gediegene
Gelehrsamkeit, die Scharfsinnigkeit und den Gedankenreichtum die-
ses Buches anerkennend hervorgelioben , und sogar in m. E. zu weit
gehender Bescheidenheit, die man freilich um so höher achten
wird, als Kunzes Polemik gegen Kattenbusch im ganzen angemesse-
ner hätte sein können, gemeint, es sei Kunze vielleicht annähernd
besser als ihm geglückt, das richtige Geschichtsbild zu fixieren (Th.
L. Ztg. 1900 Nr. 1). Zuweilen aber möchte man doch wünschen,
daß Kunze ausführlicher auf die Einzelexegese sich eingelassen hätte.
Kunze wird gewiß die verschiedenen Möglichkeiten bei sich erwogen
und vielleicht nur aus Furcht, den Leser zu ermüden, es unterlassen
haben, sie auch alle vorzufiihren. Dadurch gewinnt nun zweifellos
auch seine Darstellung, zumal wenn man sie mit derjenigen Katten-
buschs vergleicht, an Straffheit und Geschlossenheit. Und doch wäre
es im Interesse einer möglichst gesicherten Erkenntnis wünschens-
wert gewesen, wenn Kunze hier eventuelle Rücksichten auf den
Leser oder den Umfang des Buches bei. Seite geschoben hätte. Das
hätte freilich zur Folge gehabt, daß öfters kaum eine definitive Ent-
scheidung gegeben werden könnte, und daß gelegentlich sich eine
848 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
skeptische Stimmung aufdrängen würde, die natürlich manchen Leser
nicht befriedigen, die aber der Kundige verstehen würde. Nun aber
hinterlassen die Ausführungen Kunzes ein zu starkes Gefühl der
Sicherheit, und seine Resultate werden auch zuweilen nicht immer
mit der durch den gegenwärtigen Stand der Quellen gebotenen Vor-
sicht und Limitation vorgetragen. Ich könnte, um nur ein Beispiel
zu nennen, auf die Verwertung des Alexander von Lycopolis (p. 135.
147) hinweisen, dessen christlicher Charakter doch durchaus nicht
über allen Zweifel erhaben ist. Baur und Brinkmann erblicken viel-
mehr in ihm einen Nichtchristen ; Krüger schließt sich dem an, und
auch Zöckler erhebt Bedenken. Kunze hätte darum es wenigstens
näher rechtfertigen müssen, warum er diese Bedenken nicht teilt.
Daß die Einzelexegese zuweilen zu wünschen übrig läßt, kann hier
nur kurz bemerkt werden. Iren. adv. haer. III.2, hätte eine aus-
führlichere Behandlung vertragen können (103). Dann hätte sich
Kunze vielleicht genötigt gesehen, die Beweiskraft dieser Stelle selbst
einzuschränken. Iren. II. 40,1 (II. 27, 1—28, 3) (p. 104) wird eben-
falls mit zu großer Sicherheit verwertet. Man kann nicht ohne
weiteres aus dieser Stelle folgern, daß die Schrift die Wahrheits-
regel ist (p. 106), sei es auch nur in ihren klaren und deutlichen
Oertern. Kunze selbst will auch zunächst reg. ver. hier nur mit
»normgebender Wahrheit oder wahrer Lehre< (p. 104) übersetzt
wissen. Dieselbe allgemeine Fassung vertritt Kunze auch p. 8
(cf. ebenfalls Zahn, Glaubensregel RE? 683,25). Zu schnell wird
auch zu Hilarius ad Const. I. 3 Stellung genommen. Ein näheres
Eingehen auf diese und ähnliche Stellen würde aber schon zu sach-
lichen Erörterungen führen, die vorläufig noch zurückgestellt werden
müssen. Wenn Kunze p. 234 ausdrücklich Nicetas von Remesiana zu
den orientalischen Vätern zählt, hätte er nicht p. 267 denselben Nicetas
als Abendländer behandeln dürfen (cf. Zöckler). Kunze giebt auch keine
sachliche Begründung für dies Verfahren. Wir lesen nur die Worte:
»In diesem Zusammenhang werden wir auch nochmals an Nicetas v. Re-
mesiana in Dazien erinnern diirfen<. Man wird sich auch darüber
wundern, daß Kunze Justin (p. 415) schlechthin als Typus der apo-
logetischen Theologen behandelt, während doch gerade Justin eine
eigenartige Stellung unter den Apologeten einnimmt. Man muß 6
auch beanstanden, daß Kunze in diesem Zusammenhang sich über-
haupt auf Justin beschränkt und z. B. Melito v. Sardes oder Theo-
philus v. Antiochien gar nicht berücksichtigt. Ich kann hier natür-
lich nicht die ganze Theophilusfrage aufrollen. Da aber nun einmal
Kunze sich auch auf die Frage nach dem Ursprung des ntl. Kanons
eingelassen hat, wobei er sich in den Hauptsachen von Zahn leiten
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 849
äßt (cf. p. 419 ff), hätte man doch gern Kunze zur Theophilusfrage
Stellung nehmen gesehen. Kunze hätte im eigensten Interesse die
Apologeten und die Stellung der Apologeten zum »Kanon« weniger
summarisch behandeln müssen. Man kann doch gerade durch einen
Hinweis auf Theophilus Bedenken gegen Kunzes Aufstellungen er-
wecken (cf. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die heilige
Schrift, Berlin 1871 p. 186 A.2). Theophilus hat doch auch nur
die Propheten und Evangelien eng mit einander verknüpft (ad Autol.
II 22, IH 12) und die Herrenworte mit der Zitationsformel 7 eö-
ayy£iıos pavi duödaxsı, rd ebayy£iıdv pnoıv (III. 13.14) eingeführt.
Aus den Briefen Pauli aber, die er fast alle, wenn nicht gar alle kennt,
finden sich bei Theophilus keine direkten Zitate, sondern nur freie
Anspielungen. Das Ergebnis, zu dem Zahn (G.K. I. 91 A.1) auf
Grund von II,14 (xeAever Tuäs 6 Belog Adyog sc. Paulus) kommt,
ist nicht unanfechtbar. Harnacks Auslegung (Z. K. G. XI,1) ist wohl
vorzuziehen. . Doch darauf kann hier nicht näher eingegangen
werden. Es soll hier nur darauf hingewiesen werden, daß die Be-
deutung, welche Theophilus für die Geschichte des Kanons hat,
Kunze hätte veranlassen müssen, auch Theophilus heranzuziehen.
Ebenfalls vermißt man ein Eingehen auf die Akten der scillitani-
schen Märtyrer. Zahns doch recht unnatürliche Exegese (GK. 1/102)
des hier in Betracht kommenden Satzes wird Kunze sich wohl kaum
aneignen. Das nächstliegende Verständnis dieser Worte ist aber
keineswegs geeignet, die Grundauffassung Kunzes zu stützen. Ueber-
haupt vermißt man hier, wo Kunze nicht mehr seine Hauptthese be-
handelt, die Sorgfalt und Gründlichkeit, die man sonst in seinem
Buche kennen lernt. Wenn ferner Kunze dem Ursprung des Kanons
nachgeht und die Bedeutung des Gnostizismus und Marcionitismus
für die Bildung des Kanons untersucht, hätte er auch dem Montanismus
sein Augenmerk zuwenden müssen. Kunze geht aber, nachdem er
von den Gnostikern und von Marcion gehandelt hat, sofort zu den
Apologeten über. Wenn ich recht sehe, hat Kunze nur an einer
Stelle im Texte den Montanismus erwähnt, und zwar ganz vorüber-
gehend in einem Nebensatze (414 dazu cf. die Anmerkung 1 auf
p. 415). Die Zielstrebigkeit der Darstellung wird man anerkennen
müssen ; die damit verbundene Gefahr eines zu sicheren Auftretens
ist nicht vermieden worden.
Man hat nun allerdings (Zöckler, DLZtg. 1900 p. 1136) der
Gesamtdarstellung zu häufige, den Leser ermüdende Wiederholungen
vorgeworfen, oder auch Mangel an übersichtlicher Gruppierung
(Wohlenberg ThLBl. 1900 Nr. 2). Ich möchte diesen Vorwurf nicht
erheben. Freilich hätte die lockere Verbindung der Anmerkung 1
Gött. gel. Ans, 1901. Nr. 11. 56
850 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
mit dem Texte p. 427 gewiß vermieden werden, und dem Leser dieser
Einblick in das Werden des Manuskripts erspart werden können;
p. 286 A.1 findet sich eine Selbstkorrektur. Im ganzen leidet aber
die Darstellung Kunzes keineswegs an Nachlässigkeit im Stil oder
an überflüssigen Wiederholungen. Die am Schluß der einzelnen
Kapitel und in den Kapiteln selbst gegebenen Rekapitulationen er-
leichtern es dem Leser, ein anschauliches Bild von der Position
Kunzes zu gewinnen, und man wird Kunze für diese Rekapitula-
tionen um so dankbarer sein, als der umfassende Stoff ohnehin an
die Gedächtniskraft des Einzelnen große Ansprüche stellt. Nur zu
Beginn des 10. Kapitels scheint Kunze etwas ausführlicher als nötig
zu rekapitulieren, und wenn er hier auch die (apostolische) Kirche
unter den Begriff der regula bringt (p. 465), ein Moment zu be-
tonen, auf das man nicht genügend vorbereitet gewesen ist, und
welches auch die im Titel des Buches enthaltene Erläuterung der
Glaubensregel erweitert, auch den doch aus der alten Kirche stam-
menden Begriff regula selbst zu verwirren geeignet ist. Dadurch
wird zugleich der Begriff zu einer bloß oder, wie Kunze sagt,
wesentlich formalen Größe« (465). Kunze hat aber mehrfach (p. 95.
99. 185) die regula so definiert, daß er nur die Schrift und das Be-
kenntnis von ihr umspannt sein ließ. Das Unvermittelte der im
10. Kapitel gebotenen Erweiterung des Begriffs regula muß Kunze
selbst gefühlt haben. Denn er rechtfertigt (p. 472) ausdrücklich
diese Erweiterung, wenn er darauf hinweist, daß bei Cyprian that-
sächlich der Begriff der reg. fid. auf die Kirche übergehe, daß
in der Reihenfolge Irenaeus, Tertullian, Cyprian wirkliche Neuerungen
und Fortbildungen zum Katholizismus hin bezeichnet seien, man
also berechtigt sei, die (apostolische) Kirche unter den Begriff regula
zu bringen. Es dient aber doch nicht zur Klärung, wenn Jer eigen-
artige, von Kunze auf die Schrift und das Bekenntnis bezogene Be-
griff der altkirchlichen regula, im weiteren Verlauf der Untersuchung
auf Größen übertragen wird, die, wie Kunze meint, nicht unter diesem
Begriff eingeführt sind, mögen sie auch wirklich dogmatische Autorität
sein. Kunze selbst muß dies hinsichtlich Cyprians zugeben. Daß Kunze
zu diesem Vorgehen veranlaßt worden ist, wird seinen Grund darin
haben, daß er über die dogmatische Autorität überhaupt eine
historisch-dogmatische Untersuchung hat anstellen wollen. Dadurch
hat sich aber die ursprüngliche Fragestellung: >was hat der bei den
altkirchlichen Schriftsteller immer wiederkehrende Begriff regula veri-
tatis oder fidei zu bedeuten ? verschoben, und die andere, mit der
Jersten nicht mehr identische Fragestellung veranlaßt: was ist letzt-
ich und überhaupt dogmatische Autorität (rcgula)? Dann ist natür-
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 851
lich Kunze berechtigt, in der Konsequenz dieser Fragestellung das
Vaticanum zu erwähnen und auf die Kirche als letzte dogmatische
Autorität hinzuweisen (472). Die ursprüngliche Fragestellung aber,
welche den altkirchlichen Begriff regula veritatis klarstellen wollte
(cf. Cap. I) und fest umschrieb, muß diese Erweiterung des Be-
griffs regula verbieten. Es hat den Anschein, als ob Kunze
im Verlauf seiner Untersuchungen sich die Grenzen weiter gesteckt
hat, als ursprünglich beabsichtigt gewesen.
Dies darf man vielleicht auch aus der Thatsache schließen, daß
der letzte Teil der Untersuchung Kunzes, d. h. also der Teil,
welcher die augustinische und nachaugustinische Entwicklung erörtert,
nicht mehr so eingehend und sorgfältig gearbeitet ist, wie die große
Hauptpartie des Buches, welche den Begriff Glaubensregel in der
alten Kirche zum Gegenstand der Behandlung hat (cf. den Neben-
titel: »vornehmlich in der alten Kirche<), und daß schließlich die
historische Untersuchung in eine dogmatische Auseinandersetzung
auslauft, die ebensowenig durch den Titel gedeckt werden kann, wie
die oben besprochene Erweiterung, Nicht nur die mittelalterliche
Entwicklung ist recht summarisch vorgeführt, auch die Darlegung
der Stellung Luthers läßt zu wünschen übrig. Es hat Kunze hier
nicht alles berücksichtigt, was zu berücksichtigen gewesen wäre, und
einige von Kunze zitierten Aeußerungen Luthers sprechen (524 A. 3)
gegen Kunzes Auffassung.
Auch die letzte dogmatische Auseinandersetzung mit der »neu-
protestantischen« Position läßt die erforderliche Gründlichkeit ver-
missen. Die im letzten Dezennium so außerordentlich angeschwollene
Litteratur über die dogmatische Autorität, und die mit diesem Pro-
blem verknüpften schwierigen Fragen lassen sich nicht so kurz er-
ledigen, wie es von Kunze geschehen ist. Es kann dies Problem
gar nicht erörtert werden, ohne daß zugleich das Verhältnis von
Glaube und Geschichte im allgemeinen erörtert würde. Auf diese
weitschichtige Frage läßt sich aber Kunze nicht ein. Er scheint
sie vielmehr abzulehnen. Wenn aber Kunze überhaupt nicht bloß eine
historische Untersuchung über die dogmatische Autorität liefern
wollte, sondern zugleich eine dogmatische Untersuchung, dürfte er
nicht aus einem vorgefundenen jhistorischen Bestande dogmatische
Schlußfolgerungen ziehen. Die Autorität der Schrift ist damit noch
nicht dogmatisch begründet, daß gesagt wird, das N. T. müsse reg.
fidei sein, weil es das einzige authentische Denkmal des apostoli-
schen Evangeliums sei, durch welches die Kirche gegründet worden,
und soweit es das sei (p. 529). Eine ähnliche Begründung der Schrift-
autorität hat man freilich schon früher gehört, und ein Rezensent
56 *
852 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
der Arbeit Kunzes (Wohlenberg im Th.L.Bl. 1900) hat diesen Grund-
gedanken als besonders wertvoll hervorgehoben. Das Werk Kunzes
habe seinen Vorzug in der Darstellung und Prüfung des gesamten
Materials für die Frage nach der dogmatischen Autorität in der
Kirche, und in der festen Grundlegung, daß diese Autorität die der
Apostel sei, d. h. aber für uns Nachgeborene die heil. Schrift. Dann
geht freilich der Rezensent über diesen Gedanken Kunzes hinaus,
wenn er ihm vorwirft, er habe Grundtvig nicht gebührend berück-
sichtigt, dessen Hauptgedanke heute endlich anerkannt werden müsse.
Die alte regula fidei, d.h. das Taufbekenntnis, sei älter als die Schrift.
Die gegenwärtige theologische Entwicklung zeige, daß die einseitig
subjektivistische Begriffsbestimmung der fides salvifica die Kirche eher
auflöse als aufbaue. Auf die Schrift berufe sich jeder. Das Aposto-
likum sei xavov tig dAndelas. Es berührt eigentümlich, daß grade
Wohlenberg, der durch Kunzes Arbeit die moderne theologische
Position völlig erschüttert sieht, zu dieser Konsequenz sich verleiten
läßt, nachdem er noch kurz vorher mit Kunze die Schrift als die
dogmatische Autorität beurteilt hatte. Kunze selbst wird die von
seinem Rezensenten aus der gegenwärtigen theologischen Lage ge-
zogene Folgerung nicht billigen. Hat er doch sich ziemlich scharf
gegen eine mehr im Sinne des Grundtvigianismus verstandene un-
evangelische Schätzung des Symbols ausgesprochen (p. 496) und nur
die Schrift, nie ein Bekenntnis, auch nicht das Apostolikum als reg.
fid. betrachtet wissen wollen (ib. cf. p. 492).
Es ist aber diese Begründung der Schriftautorität unzureichend.
Denn die Dogmatik hat es immer nur mit Glaubensaussagen zu
thun, d.h. aber, Aussagen eines inneren Lebens, das sich nur an
einem anderen inneren Leben entzünden kann. Kunze meint, daß
unter dem »rein geschichtlichen Gesichtspunkte«e dem N. T. »Kano-
nizitit< eignet, daß es unter diesem Gesichtspunkt reg. fid. sei
(533; cf. 497. 529. 538. 540). Er ist überzeugt, daß seine Be-
stimmung der Kanonizität nicht bloß den Intentionen derer, die erst-
malig das N.T. brauchten, wie den Intentionen Luthers entspreche,
sondern daß sie auch für die Gegenwart sich empfehle, die alles ge-
schichtlich betrachte (534). Aber ein noch so zweifelsfreier und
sicherer historischer Beweis ersetzt nicht den dogmatischen. Wenn
auch der Nachweis erbracht ist, daß die Schrift das apostolische
Evangelium ist, oder es enthalte, so ist doch die entscheidende Frage
noch nicht beantwortet, warum dies apostolische Evangelium Autorität
besitze, und worin diese Autorität bestehe. Eine solche prinzipielle,
dogmatische Untersuchung über die Autorität des »apostolischen« Evan-
geliums wird dazu führen müssen, die Schrift zu gunsten des Personea-
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 863
lebens Jesu zurückzustellen in die Reihe der Mittel, die zu Christus
und zum selbstgewissen Glauben hinführen. So gewinnt man eine
regula, auf grund derer man »religiöse« Kritik an der Schrift übt.
Die so gewonnene regula hat aber nicht die »bunteste Willkür auf dem
Boden des Christentums< zur Folge (534). Denn Christus, der Hei-
land, und die heilsverlangende Seele sind immer und überall dieselben.
Kunze verwertet auch selbst gelegentlich diesen religiösen Kanon,
ohne freilich damit seine eigentliche Position aufgeben zu wollen,
welche aus der geschichtlichen Untersuchung »den dogmatischen Er-
trag« gewinnen will (529). Kunze giebt nämlich die Richtigkeit
dessen zu, daß >die Autorität der Schrift nicht auf einer bestimmten
Theorie ihrer Entstehung, sondern auf ihrer dem Glauben, der durch
sie erweckt wird, jederzeit erfahrbaren Kraft ruht« (530). In die-
sem Zusammenhang eignet er sich auch Luthers paradoxen Satz an,
die heil. Schrift, insbesondere das N.T., bleibe was es sei, wenn-
gleich Judas, Pilatus und Herodes es geschrieben hätten (531).
Kunze meint aber, man müsse sich dann stets gegenwärtig halten,
daß dies von jedem Worte Gottes gelte, auch dem nicht in der
Schrift enthaltenen. In dies fortgehende Gotteswort sei die Schrift
als die auch heute noch vornehmlich redende und zeugende mitein-
geschlossen. Dagegen wird gewiß niemand von den »neuprotestan-
tischen< Dogmatikern Einsprache erheben, es vielmehr als eine will-
kommene Konzession an die >»neuprotestantische« Position betrach-
ten und hoffen, daß von hier aus eine Verständigung über die dog-
matische Autorität gewonnen werden kann. Denn diese Aenderung
zeigt, daß Kunze wenigstens die religiösen Motive der »neuprote-
stantischen« Theologie versteht, wenn er ihnen auch, aus Furcht
vor subjektivistischer Willkür und überzeugt von der Tragfähigkeit
eines historischen Beweises innerhalb der dogmatischen Argumenta-
tion, noch keinen Einfluß auf die Gestaltung der dogmatischen Auto-
rität gewähren will.
Es ist darum auch zu bedauern, daß Kunze sich in der Polemik
gelegentlich zu scharfen und nicht berechtigten Aeußerungen fort-
reißen läßt. Wenn es p. 473 in der Anmerkung heißt, es sei bloße
Silbenstecherei, wenn wir Evangelische nicht sagen wollten, daß wir
im Apostolikum unsern Glauben »in der Einheit mit der ganzen
Christenheit auf Erden« bekennen, so verdienen die von Theologen
und theologisch interessierten Laien gegen diese liturgische For.mel
erhobenen Bedenken keineswegs diese scharfe Zensur von ‘seiten
eines Theologen, der die Geschichte des Apostolikums so, wie Kunze
überschaut. Kunze vergißt auch das religiöse Motiv der geueren
Theologie, wenn er die einen starken Vorwurf enthaltende forde-
854 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
rung an die neuere Theologie richtet, sie möchte mit den übrig ge-
bliebenen Steinen (sc. des N.T.) das Gebäude des neuen Evange-
liums errichten, das unserer Zeit anders als das alte apostolische,
aber doch ebenso wie jenes der damaligen Zeit, imponieren solle
(547). Das sind aber wohl nur Aeußerungen, die einer vorüber-
gehenden Stimmung entsprungen sind. Denn Kunze scheut sich
nicht, das »Wahrheitsmoment der neueren Theologie< hinsichtlich
der Stellung zum Kanon >unumwunden< anzuerkennen (546) und
gegen einen orthodoxen, katholisierenden Schriftgebrauch Verwahrung
einzulegen.
Weniger zu entschuldigen ist es, wenn Kunze seine Gegner
nicht ganz zu Worte kommen läßt. Es finden sich freilich überall
in den Anmerkungen und im Texte Auseinandersetzungen besonders
mit Kattenbusch und Harnack. Aber Kunze zitiert sie fast nur, wenn
er sie glaubt korrigieren zu müssen. Auch führt er dem Leser nir-
gends die Gesamtposition des Gegners vor, sodaß der Harnack oder
Kattenbusch nicht aus eigenen Studien kennende Leser ein unzu-
treffendes Bild von den Bemühungen und Ergebnissen dieser For-
scher gewinnen muß. Es wird noch zu zeigen sein, daß Kunze ge
legentlich sich sehr nahe mit Kattenbusch berührt. Er hätte an
solchen Stellen wenigstens seine Uebereinstimmung mit ihm zum
Ausdruck bringen können. Ein solcher Hinweis findet aber selten
statt, und betrifft dann nur nebensächliche Punkte, nicht die Ge
samtposition. Auch gegen Harnack sucht Kunze seine Auffassung
möglichst scharf und pointiert abzugrenzen und verschärft dadurch
unnötig den an sich nicht so großen Gegensatz. Jülicher wird äußerst
selten genannt, und ebenfalls, ohne daß der Leser ein Gesamtbild
von seiner Position gewinnt, die trotz Kunzes Bemerkung p. 314 A.1
von der Position Kunzes nicht so verschieden ist, wie es nach Kunze
scheint (cf. dazu p. 414. 466). Dies Verfahren Kunzes erweckt den
Anschein, als suche Kunze geflissentlich von Kattenbusch, Harnack
und überhaupt der »neueren Theologie< abzurücken. Dieser Ein-
druck würde aber doch Kunze nicht gerecht. Denn K. sucht doch
wieder — und das empfindet man besonders in den letzten Partieen
des Buches —, dem Gegner durchaus gerecht zu werden und das
Wahrheitsmoment seiner Position herauszuheben (cf. 382. 427. 478 A. 1.
481. 486 A.1. 494. 546). Es ist dies die Absicht des Verfassers;
der. gegenteilige Eindruck hätte aber wohl vermieden werden kön-
nen, wenn Kunze die Anschauung des Gegners im Zusammenhang
vorgeführt hätte.
Der Druck ist gut überwacht. Die Schreibung Gruntvigianismus
statt Grundtvigianismus beruht wohl auf einem Druckfehler (p. 496
Kunze, Glaubensregel, Reilige Schrift und Taufbekenntnis. 855
2.13 v. ob.); p. 309 Z.4 v. ob. findet sich die Schreibung > Cajetan«,
Z. 6 v. ob. » Kajetan«; p. 73 Z. 5 v.u. ist ein daß ausgefallen.
Daß der Verf. es unterlassen hat, seinem Buch einen Index
beizufügen, ist sehr zu bedauern. Ein Index hätte den Gebrauch
des Buches wesentlich erleichtert. Die ausführlichen Inhaltsangaben
der einzelnen Kapitel genügen nicht. Sie geben wohl einen Ueber-
blick über den Gedankengang, lassen aber im Stich, wenn man sich
über des Verf. Stellung zu einzelnen Detailpunkten orientieren will.
Auch der Umstand, daß der Verf. mehrfach dieselben Väter an ver-
schiedenen Stellen seines Buches behandelt, hätte einen Index wün-
schenswert gemacht.
Es ist nun selbst in dieser Zeitschrift unmöglich, in eine ein-
gehende, geschweige denn erschöpfende Besprechung des weitschich-
tigen Stoffes und aller von Kunze behandelten Probleme einzutreten.
Eine solche Besprechung müßte notwendig selbst eine umfassende
Monographie werden. Es kommt darum natürlich vor allem darauf
an, zur Hauptthese Kunzes Stellung zu nehmen.
Kunze selbst weist gelegentlich sowohl darauf hin (p. 95), daß
man sich manchesmal der richtigen, von ihm wieder vertretenen Er-
kenntnis genähert habe, als auch darauf, daß diese Erkenntnis sich
heute nicht ganz leicht durchsetzen werde. Denn die herrschende,
auf Lessing zurückgehende, von Harnack in vorbildlicher Weise for-
mulierte Meinung verbinde nur die Glaubensregel und das Symbol
mit einander (p. 3. 15, Kunze übersieht hier Harnacks Aufsatz in
Z. Th. K. 1894 p. 130 ff.) Die Differenzen zwischen Zahn und Harnack
seien nicht durchgreifender Natur. Auch Kattenbusch habe den
hergebrachten Begriff von reg. fid. nicht grundsätzlich umgestaltet,
trotz mancher Erkenntnis, die über die bisherige Fragestellung
hinausführen könnte (15).
Ueberschaut man nun die Besprechungen , die Kunzes Arbeit
erfahren hat, so ist ihr allerdings nur von einer Seite unbedingte
Zustimmung zu teil geworden. Zöckler hat (DLZtg. 1900 p. 1136)
sich Kunze völlig angeschlossen. Widerspruch seitens der »mehr links<
stehenden Theologen erwartet Zöckler freilich zu hören. Diesen
Widerspruch hat nun allerdings auch ein sehr »rechts« stehender
Theologe erhoben (Wohlenberg, Th. L. Bl. Nr. 2. 3) und an Irenaeus
durchzuführen versucht, freilich ohne die Bemühungen Kattenbuschs
zu berücksichtigen. Der Rezensent des litterarischen Centralblattes
(1900 p. 1153) fürchtet, Kunze habe umgekehrt wie seine Gegner,
die zu sehr durch die Brille Tertullians sahen, diesen zu sehr den
Alexandrinern genähert, die doch auch, wie er selbst sage (186), der
Schrift wesentlich entnommen hätten, was zur Bewährung des alten
ws Go. gf Aas. 1905. Se. LI
Symbols getient habe. Vollends Tertaiken bebe wirkäch mit seiner
Giaahensrege| nur das Taafbekenstam za interpretieren gemeint.
In der theol. Latersturzeitung hat Kattesbusch, der m semem Bach
ther das Apostolkum Kunze zur noch fückie erwähnen kusste,
Mellang gencmmen. Man wird sich, wean man die einschlägisrs
Ausführungen Kattenbuschs in semem großen Werke sich vergeges-
Wartigt und namentlich an die zusammenfassenden Schintausfabrm-
gen denkt, nicht darüber wundern, daß Kattenbesch die Teberzeugung
ausspricht, es handle sich bei seinen und Kunzes Aufstellungen mehr
um scheinbare, als wirkliche Gegensätze. Kunzes Bilder seien doch
nur Verschiebungen (a.2.0. p. 10). Kattenbusch meint aber doch,
dab es ein aut-aut in der Stellung der Kirchenvater zur regula als
Schrift oder Symbol gebe. Man müsse regionenweise unterscheiden.
Im Orient hätten die yoagal als xavdy gegolten, im Abendland das
Symbol; Asia zeige eine mittlere Haltung, das et-et.
Man kann nun thatsächlich eine weitgehende Uebereinstimmung
Kunzes und Kattenbuschs konstatieren, die freilich Kunze zum Aus-
druck zu bringen unterläßt. Ich denke dabei nicht an die Schluf-
ergebnisse, die Kattenbusch II 963 f. zusammengestellt hat. Sie be-
weisen allerdings, daß Kunze mehr als berechtigt, die Ausführungen
Kattenbuschs im Lichte der »hergebrachten< Meinung betrachtet
hat. Aber dieser letzte Teil des zweiten Bandes hat Kunze noch
nicht vorgelegen. Ich beschränke mich darum auf die Kunze be-
kannten Partieen des zweiten Bandes. Kunze kommt in seinem
Buch p. 284 auf Nicetas von Remesiana zu sprechen. Er weist mit
Rocht darauf hin, daß von Nicetas das Symbol nicht als eine von
den Aposteln überlieferte Formel geschätzt werde. Er zitiert auch
die Worte des Nicetas: »Denn aus der ganzen Schrift ist dies der
Kürze halber gesammelt« etc. Kunze macht auch darauf aufmerk-
sam, daß Nicetas ganz den von Cyrill eingenommenen Standpunkt
vertrete. Wenn man nun die entsprechenden Partieen bei Katten-
busch nachliest, findet man dieselben Gedanken ausgesprochen, zur
ausführlicher begründet als bei Kunze. Es werden von Kattenbusch
dieselben Worte des Nicetas zitiert; es wird ebenfalls auf die Ab-
hängigkeit von Cyrill hingewiesen. Seine Uebereinstimmung mi
Kattenbusch hätte doch Kunze, der so oft gegen Kattenbuch pole
misiert, hier zum Ausdruck bringen können. Es ist ja möglich, das
Kunze gegen Kattenbusch Stellung nimmt, wenn er die litterarische
Abhängigkeit des Nicetas von Cyrill nur gering wertet Er dewset
dies aber nicht an, und diese Diflereaz ist im Vergleich mit der Ceber-
einstimmung ganz geringfügig. Noch auffalleader ist die Ucherun-
stimmung beider Forscher hinsichtlich Cynlls. Aus catech IVs
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 857
IVi7 schließt Kunze, daß für Cyrill das Symbol ein richtiger In-
begriff der Schriftwahrheit gewesen sei (231). Das Symbol besitze
»keine an sich seiende Lehrautoritat< (ib... Wenn richtender Maß-
stab etwas einzelnes sei, dann sei es die Schrift, aber doch mit Ein-
schluß des Taufbekenntnisses (ib.). Kattenbusch äußert sich ähnlich.
Die Kirche habe nach Cyrill das Symbol hergestellt aus der >gan-
zen Schrift< (II 226). Und wenn Kunze behauptet, daß bei Cyrill
das Symbol »keine an sich seiende Lehrautorität« besitze, so lesen wir
bei Kattenbusch, daß das Symbol in seinem. Werte (sc. als Richt-
schnur der Lehrentwicklung) »nicht prinzipiell auf sich selbst< beruhe
(ib.). Wenn Kunze darauf aufmerksam macht, daß nicht die Apostel
im Symbol reden, sondern die Kirche (230 A. 1), so hat Kattenbusch
dasselbe ausgeführt (II 10; II 226). Man hätte demnach hier, wo
Kunze sich so nahe mit Kattenbusch berührt, wenigstens einen Hin-
weis auf die gleichen Ausführungen Kattenbuschs erwarten dürfen.
Die weite Uebereinstimmung beider Forscher in dieser Frage läßt
sich leicht auch durch andere Belege nachweisen. Wenn Kunze
sagt (236), daß Euseb von Caesarea das Taufsymbol als Schriftinhalt
würdige, das Bekenntnis also nicht als Quelle der Lehre neben der
Schrift in Betracht komme (237), so weist Kattenbusch darauf hin
(II 220), daß Euseb seiner Absicht nach Schrifttheologe sei, daß er
Marcell gegenüber nie vom xavov tijg dAndelas rede, da er sich
offenbar mit ihm darin einig wisse, daß dies die Schrift sei. Kunze
weist auch noch auf Marcus Eremita und Eutherius v. Tyana hin,
auf welch’ letzteren Kattenbusch sich nicht einlassen will (II 275),
. da Kunze sich in seinem Marcus Eremita ein Eingehen auf Euthe-
rius vorbehalten hatte. Es ist auch überflüssig, Kattenbuschs Stellung
zu diesen zwei Männern kennen zu lernen. Man findet ohnehin Be-
rührungspunkte genug, und Kunze hätte es nicht nötig gehabt, dort,
wo er von Basilius v. Caesarea spricht (237), wieder die von Katten-
busch gegebenen Ausführungen als unbrauchbar zu bezeichnen, um
den bei den morgenländischen Vätern vorliegenden Thatbestand zu
erklären. Kattenbusch hat es oft genug ausgesprochen, daß die
Morgenländer dieser Zeit das Taufbekenntnis als Schriftsumme wür-
digten. Nicht nur, daß Kattenbusch am Schluß seiner Ausführungen
(II 963) den Titel Glaubensregel auf die Schriften bezogen wissen
will, und ‘erst allmählich über die Schriften als xavadyv das Symbol
gerückt sieht (cf. auch ThLZtg. 1900 Nr. 1); Kattenbusch hat auch
in dem Kunze vorliegenden Teile seines Werkes sich ähnlich wie
Kunze über diesen Abschnitt der Entwicklung ausgesprochen. Grade
im Hinblick auf Sätze des Basilius meint Kattenbusch (II 236), Ba-
silius habe unter dem Titel xa@v&» prinzipiell wohl die Schriften ver-
858 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
standen. Gregor v. Nyssa habe den Taufbefehl Christi als »Summe
der Schrift und wiederum von N. in einem< betrachtet (ib. cf. Kunze 237),
und Epiphanius nenne die Schrift xavov rüg dAndelas (II 235). Katten-
busch beruft sich hier auf Voigt, »Eine verschollene Urkunde< etc.,
den auch Kunze vielfach zustimmend erwähnt (cf. auch Harnack
DG?’ I 320 A. 2). Esist darum auffallend, daß Kunze so wenig sich
bemüht, ein Gesamtbild von der Position Kattenbuschs zu geben.
Das Maß der Uebereinstimmung zwischen Kunze und Katten-
busch wird aber noch größer, wenn man beachtet, daß Kunze nur
unter großen Schwierigkeiten seine eigentliche These durchführen
kann. Kattenbusch hatte die yoapai als xavav der Orientalen hin-
gestellt. Davon scheint sich nun doch Kunze recht zu entfernen,
wenn er Taufbekenntnis und heil. Schrift die Glaubensregel aus-
machen läßt. Aber diese These giebt Kunze doch hier gerade preis.
Freilich bemüht er sich, sie festzuhalten. Er meint (p. 231), daß
der >richtende Maßstab« Cyrills nicht das Taufbekenntnis allein sei,
sondern wenn etwas einzelnes, dann vielmehr die Schrift, aber doch
nicht mit Aus-, sondern Einschluß des Taufbekenntnisses (231 A. 1 ef.
233). Thatsächlich aber fehlt es grade in diesen Partieen nicht an Aeuße-
rungen, die die Hauptthese Kunzes hinfallig machen. Denn das
Taufsymbol gilt ja nur als Schriftsumme, als Schriftinhalt (236), es
ist mit seiner wesentlichen Grundlage in die Schrift gestellt (238),
es ist keine Lehrquelle neben der Schrift, sondern aus dieser Quelle
geschopft (237; cf.235. 263. 274): die griechische Theologie hat lange
Zeit allein die Kanonizität der Schrift zu verwerten gewußt (286
cf. p.186; 188.238). Ebendort (cf. 247 A. 1; p. 251) findet sich die
Bemerkung, es dürfe aus der Thatsache, daß im Abendland sich für die
Schriften der Titel canon eingebürgert habe, gefolgert werden, daß die
kanonische Schätzung der Schrift aus der griechischen Theologie sich
herschreibe, und in das Abendland von dort importiert sei. Ganz die-
selbe Notiz finden wir bei Kattenbusch (II 398 A. 68). So muß denn
auch Kunze darauf hinweisen, daß bei Marcus Eremita ganz wie bei
Cyrill die Schrift im grunde allein die tragende Autorität sei.
Das Bekenntnis habe nur abgeleiteter Weise normative Bedeutung als
der Mond, der sein Licht von der Sonne der hl. Schrift empfange (233).
Für Eutherius von Tyana sei die Schrift das erste und letzte (233
A.2). Kunze muß auch später auf Isidorus von Pelusium aufmerksam
machen (p. 250), der mit dürren Worten die Schrift, und zwar die
Schrift allein als Glaubensregel bezeichnet (cf. Katt. II 236). Da aber
diese Schätzung der Schrift nach auch Kunze weiter zurückgeht, läßt
sich seine These nicht halten; er entwickelt im grunde dasselbe, wie
Kattenbusch (cf. bes. 238f.). Hinsichtlich der folgenden Entwicklung
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 859
im Orient wird man überhaupt nicht mehr von Differenzen reden
können. Kunze zeigt hier in sehr klarer und überzeugender Weise,
daß die durch N bedingte Entwicklung dazu geführt habe, daß das
Symbol NC als das deutlichere über die Schrift rückte, und daß die
Schrift am Symbol bewährt wurde. So sei das Bekenntnis eine »>aus
sich gültige regula fideie geworden (260), Dasselbe behauptet Kat-
tenbusch. Im Orient schiebe sich über die Schrift als xavov das
Symbol (II 963. 220 ff.).
Wie verhält es sich nun mit der abendländischen Entwicklung,
die ja bisher nicht berücksichtigt wurde? Wenn man die zusammen-
fassenden Sätze sich vergegenwärtigt, in welchen Kunze und Katten-
busch zur Entwicklung im Abendland Stellung nehmen, gewinnt
man den Eindruck einer wirklichen, nicht unerheblichen Differenz.
Kunze meint, daß im Occident das alte Symbol allmählich an An-
sehen gewann und selbständige Lehrautorität, also reg. fid. wurde,
daß zwar auch die Schrift unter dem Titel canon zur reg. fid. er-
hoben wurde, aber doch das Symbol als Norm über die Schrift
rückte. So gelte denn, während noch Hilarius eine mittlere Haltung
einnehme, auch für Augustin der Inhalt des Symbols als unabhängig
von der Schrift, wenn A. auch das Symbol als Schriftsumme gewür-
digt habe (265-—290). Kattenbusch dagegen behauptet, daß im
Westen sich allmählich über das Symbol als regula die heil. Schrift
schiebe (II 963). Im vierten Jahrh. sei für das Symbol eine kritische
Zeit gekommen, sofern die Schrifttheologie des Orients in den Occi-
dent eingedrungen sei (II 964). Man habe im Abendland jetzt ge-
merkt, wie nötig man die Schrift habe (ThLZtg. p. 12). So sei all-
mählich ein Rollentausch hinsichtlich der formalen Maßstäbe zwi-
schen beiden Kirchen eingetreten (ib... Augustin habe einen rech-
ten inneren Ausgleich zwischen Symbol- und Schriftprinzip gefunden
(ib.; II 964). Fortab habe es seine Autorität an derjenigen der Schrift
gehabt, die in ihm »zusammengefaßt« sei.
Das sind allerdings Gegensätze. Im Detail fehlt es doch nicht
an Annäherungen. Man darf auch der Ueberzeugung sein, daß
Kunze zu etwas anderen Resultaten gekommen wäre, wenn er mehr
den großen dogmengeschichtlichen Zusammenhängen sein Augenmerk
zugewandt, ein lebensvolleres Gesamtbild von der Eigenart der
großen Theologen dieser Zeit gegeben und die chronologischen Ver-
hältnisse genauer beobachtet hätte, statt mehr statistisch die einzel-
nen dicta der verschiedenen Väter nebeneinander zu stellen. Es ist
ja grade das vierte Jahrh. von eminenter Bedeutung für die Ent-
wicklung der abendländischen Theologie geworden. Seit der Mitte
des vierten Jahrh. wandelte sich die dem Einfluß der griechischen
860 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
Theologie und Exegese ausgesetzte abendländische Theologie er-
heblich. Altabendländische dogmatische Vorstellungen wurden mo-
difiziert oder mußten hineingearbeitet werden in die durch den
Orient dem Occident aufgedrängten Probleme. Aus gelegentlichen
Bemerkungen ersieht man, wie förmlich eine neue Welt sich dem
Abendlande erschloß. Ein deutlicher Hinweis auf dies Hineinfluten
morgenländischer Vorstellungen ins Abendland wäre sowohl bei Theo-
logen wie Hilarius und Augustin, als auch Cassian und anderen
wünschenswert gewesen. Es geschieht freilich gelegentlich. Kunze
macht darauf aufmerksam, daß der vom Orient beeinflußte Rufin die
Schrift reichlich in seine Symbolauslegung hereinziehe (274). Bei
Cassian, den Kunze in seinem Marcus Eremita 181 ff. als Vertreter
des Abendlandes behandelt hatte, findet sich die Bemerkung, daß er
»noch nicht römisch genug« sei, um mit der Widerlegung aus dem
Symbol sich zu begnügen (275). Wie ist aber dies Verfahren zu er-
klären? Muß man nicht grade darauf Rücksicht nehmen, daß sich
Cassian selbst im Orient aufgehalten hat? Grade bei den hier von
Kunze herangezogenen Vätern, wie Hieronymus, Cassian, Rufin etc.
ist neben der Abhängigkeit von Rom doch auch diejenige vom Orient
in Rechnung zu stellen und demgemäß ihre Stellung zum Symbol
zu beurteilen. Daß bei Cassian widerspruchsvolle Gedanken über
den Ursprung des Symbols vorhanden sind, wird man mit Kunze
annehmen müssen (267. cf. Kattenbusch IJ 14). Daß Cassian das
Symbol als selbständige Lehrautorität neben der Schrift behandelt
(275 cf. Katt. II 15), wird auch schwerlich jemand bestreiten. Man
wird aber dann erst recht fragen müssen, woher die »nichtrömische«
Methode Cassians stamme. Cassian hat ja die expositio Rufins ge-
kannt (Katt. I 105 II 14). Rufin wiederum ist abhängig von Cyrill.
Es ist möglich, daß er auch die explanatio des Nicetas benutzt hat
(Zahn, NKZ. 1896 p. 105). Eine Entscheidung in dieser schwierigen
Frage ist hier nicht nötig. Denn die Abhängigkeit Cassians, der
selbst im Orient gelebt hat, von dem den Cyrill ausschreibenden
Rufin ist zweifellos. So haben wir hier eine direkte Verbindung
Cassians mit dem Orient. Es wird demnach die dem römischen Stand-
punkt sich nicht einfügende Methode Cassians lediglich auf orienta-
lische Einflüsse zurückgehen. Aber auch Augustin kommt in Betracht,
von dem unten die Rede sein wird. Es wärezu wünschen gewesen,
daß Kunze auf diese Zusammenhänge im großen und im einzelnen
ausführlich eingegangen wäre. Die Anm. 275 A 2ist nicht ausreichend.
Aber Cassian steht nicht mehr am Anfang dieser Entwicklung.
Neben der griechischen Theologie wird in dieser Zeit im Abendland
der Gedanke von der Autorität der empirischen Kirche und des rö-
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 861
mischen Bischofs immer lebendiger, um schon im beginnenden fünften
Jahrh. auf einen scharfen Ausdruck gebracht zu werden. Ist die
dogmatische oder dogmatisch-polemische Methode des Abendlands
von diesen neuen Fragestellungen betroffen worden?
Die Frage, was denn reg. fid. sei, konnte verschieden beant-
wortet werden. Es konnten die ins Morgenland verbannten und
die vom Orient beeinflußten Väter auch das Schriftprinzip des Orients
sich aneignen. Man konnte aber auch im Gegensatz zur Kirche des
Ostens und im Zusammenhang mit den Ansprüchen Roms das alte
Symbol urgieren. Oder man konnte es versuchen, beide Maßstäbe
mit einander auszugleichen, oder auch zu gunsten eines dritten auf-
zuheben. Aus den Quellen dieser Zeit merkt man nun nicht bloß,
— und das ist wiederum für die Erkenntnis der vorhergegangenen
Entwicklung wichtig —, daß man im Orient einen neuen Maßstab
kennen lernte, man sieht auch, wie man diesen Maßstab anfänglich
ignorierte.
Ich denke zunächst an Hilarius, der nach Kunze eine Ueber-
gangsstellung einnehmen soll (263), sofern er sich ganz der Richtung
anschließe, nach welcher die eigentliche Norm die Schrift sei, anderer-
seits aber auch eine bis dahin nicht gekannte Hochschätzung des
Symbols bekunde (265). Ich halte die Darstellung Kunzes nicht für
ganz zutreffend. Es ist unschwer, bei Hilarius eine Beeinflussung durch
den Orient zu konstatieren. Hilarius hat auch den Schriftbeweis des
Morgenlandes kennen gelernt und sich angeeignet (cf. Kunze 264).
Und doch wäre es falsch, zur Beurteilung seiner theologischen Hal-
tung bloß Maßstäbe anzulegen, die ihm im Orient nahe getreten
sind. Denn daß ihm die spekulativen Probleme des Morgenlandes
nie recht vertraut geworden sind, wenn er auch im Orient korrekter
über die Trinität denken lernte, läßt sich unschwer zeigen. Auch
in seiner Christologie zeigt er abendländische Gedankenreihen. So
hat er denn auch dem Schriftbeweis der Orientalen kein rechtes Ver-
trauen entgegengebracht. Es ist ja selbstverständlich, daß die Schrift
Autorität besitzt. Aber ist sie regula? Nach dem Vorgang der
Mauriner hat man im Hinblick auf ad Const. I 3 das Symbol für
die regula des Hilarius erklärt; so noch Kattenbusch (II 380). Hil. re-
det hier von einer apostolorum regula, um welche die Arianer sich
nicht kümmerten. Kunze hält es für falsch, hier an das Symbol zu
denken. Denn wenn Hil. sage: non cessant ore impio et sacrilego
animo evangeliorum sinceritatem corrumpere, et rectum apostolorum re-
gulam depravare, divinos prophetas non intelligunt, so könne auch das
mittlere Glied nur heilige Schriften, nämlich die der Apostel, be-
zeichnen. Kunze führt zum Erweise der Richtigkeit dieser Auslegung
862 Gött. gel. Anz. 1%1. Nr. 11
andere Worte des Hilarius an, in welchen Gesetz und Propheten, Evan-
gelium und Apostel neben einander gestellt werden (264 A 1). Diese
Parallelen beweisen nun freilich, daß Hil. das ganze N. T. unter dem
Begriff »Evangelium und Apostel< zusammengefaßt hat. Mehr können
sie aber auch nicht beweisen, und diese Zusammenstellung selbst ist
eine ganz gewöhnliche. Es wäre aber auch nichts ungewöhnliches,
wenn Hilarius mit dem einfachen Begriff evangeliorum in der oben zi-
tierten Stelle das ganze N.T. gemeint hatte. Denn auffallend bleibt
immer, daß er dort nicht von den apostoli spricht, sondern von der
regula apostolorum. Grade dieser Ausdruck fehlt in den von Kunze
beigebrachten Parallelen. Kunze hätte vielleicht zur Rechtfertigung
seiner Auffassung auf ad Const. [7 aufmerksam machen können, wo
Hilarius schreibt, fide: doctrina praeceptis evangelicis et apostolicis eluceat.
Mit diesen Worten will er aber nicht die Schrift als regula hin-
stellen. Der Konjunktiv zeigt vielmehr an, daß es sich nicht um
eine allgemein anerkannte, in ihrer Verwendung unbedingt zuver-
lissige Norm handelt. Hil. giebt hier nur eine besondere Anwei-
sung, der zufolge in Glaubenssachen auch die Schrift herangezogen
werden möge. Dann wäre aber der Rückschluß berechtigt, daß die
eigentliche regula das Symbol sei. Freilich könnte es auffallend er-
scheinen, — und das ist ja auch Kunzes eigentliches Argument —,
daß Hil. in dem oben angeführten Satze zwischen das N. und A.T.
das Symbol stellt, worauf Katt. nicht achtet. Es ist aber andererseits
doch nicht ein ganz vorsichtiges Verfahren, wenn man auf Grund dieser
Wortstellung die Deutung ablehnt, daß die regula hier das Symbol be-
zeichne. Denn nichts berechtigt zu der Annahme, daß Hil. eine feste Rei-
henfolge inne halten mußte. Selbst wenn man Kunzes Deutung der stritti-
gen Worte sich aneignete, wäre es immer noch auffallend, daß das A.T.
nach dem N.T. genannt wird. Es müßte dann aber auch noch er-
klärt werden, warum die Schriften der Apostel unter den Begriff
regula gestellt werden, die Evangelien dagegen nicht. Man kann
darum nicht mit so unbedingter Sicherheit, wie es seitens Kunze
geschieht, die schon von den Maurinern gegebene Deutung ablehnen.
Wenn man nicht bereits auf grund des Gesagten sich für diese Deu-
tung entscheiden will, bleibt höchstens ein non liquet übrig. Für
die Deutung der Mauriner lassen sich aber nun noch die Worte I6
anführen, mit welchen Hil. des Taufbekenntnisses gedenkt : non pos-
sum nisi ... profitentem signare. Simplicitate quuerendus est (sc.
Deus), confessione discendus est. Vergleicht man damit, dab
Hil. I 3 von den Arianern sagt, daß sie simplices ... sub prac
textu nominis Christiani raptos zu Mitschuldigen ihrer
Häresie machen, so fällt offenbar auf das Symbol der Hauptton.
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 868
Man wird dann weiter annehmen dürfen, daß Hil. mit gutem Grund
von der apostolorum regula gesprochen hat, mit welcher er demnach
an das Symbol gedacht hat. So scheint doch der ganze Zusammen-
hang dieser Schrift die Deutung der Mauriner zu fordern. Aus den
späteren Schriften gewinnt man vollends den Eindruck, daß Hil. als
regula -nicht die Schrift betrachtet wissen will, daß er vielmehr letzt-
lich sich am Symbol orientiert. Es wird durch die in diesen Schrif-
ten sich findenden Aeußerungen auch die oben gegebene Deutung
von ad Const. I 3 als die richtige wahrscheinlich gemacht. Kunze
meint allerdings (266), daß Hil., wenn er von der fides apostolica
rede, doch wiederum als synonym andere Ausdrücke gebrauche,
welche die Abhängigkeit des Symbols von der Schrift bezeugen (und
der Taufformel). Er denkt an Ausdrücke, wie: fides evangelica,
fides evangeliorum. Kunze zieht aber aus diesen Formulierungen zu
weit gehende Schlüsse. Denn die Begriffe fides apostolica und evan-
gelica sind nicht derartig gegen einander abgegrenzt, daß der erste
die Abhängigkeit vom Symbol, der letztere die Abhängigkeit von
der Schrift deutlich mache. Kunze hätte zunächst nicht die Tauf-
formel in Parenthese setzen dürfen. Denn mit der evangelica fides
hat Hilarius, was auch Kunze nicht bestreitet, grade die Taufformel
bezeichnet. Erklärt er doch gradezu de Trin. II 5 die Taufformel
für die forma fidei certa. Nun aber korrespondieren nicht Tauf-
formel und Schrift, sondern Taufformel und Symbol. Das gilt über-
haupt für jene Zeit. Hat man doch sogar im Abendland den Be-
griff Evangelium auf das Symbol angewendet. In der praefatio zum
Gelasianum (ed Wilson p. 53) hören wir vom evangelici sym-
bolt sacramentum a Domino inspiratum. In der exhortatio ad neo-
phytos de symbolo, die, mag auch die Verfasserfrage nicht sicher zu
entscheiden sein, doch ohne Zweifel dem Abendland (cf. die neueste
Arbeit von Künstle: eine Bibliothek der Symbole etc. Mainz 1900
p. 65f.) und höchst wahrscheinlich der uns hier interessierenden Zeit
angehört, gilt das Symbol als. das salutiferae signaculum fides
(Caspari, Ungedruckte etc. Quellen II Christiania 1869 p. 133. Cf.
Caspari ib. p. 50 in der explanatio symboli ad initiandos: quod sym-
bolum est spiritale signaculum, cordis nostri meditatio), ja als das
verbum evangelicae praedicationis (Caspari a.a.O. p. 133). Es ist
demnach im Abendland damals mit dem Symbol nicht bloß das Prä-
dikat »apostolisch<, sondern auch das Prädikat »evangelisch« ver-
bunden gewesen. Dann kann man aber den Begriff evangelica fides
nicht mehr im Sinne Kunzes verwerten. Diese Bezeichnung des
Symbols hat es natürlich späterhin, als die Schrift zur Lehrquelle
wurde, erleichtert, das Symbol als Summe des Schriftganzen aufzu-
864 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
fassen (Cassian, Augustin u.a.). Das ist aber noch nicht der Fall.
Denn in der eben genannten exhortatio kommt das Symbol als
doctrina und regula fidei in Betracht. Wir haben hier die abend-
ländische Antithese zu Isidor von Pelusium.
(Schluß folgt im nächsten Hefte.)
Kiel, September 1901. O. Scheel.
Tr)
Thiele, E., Luthers Sprichwörtersammlung. Nach seiner Handschrift
zum ersten Male herausgegeben und mit Anmerkungen versehen. Weimar,
Böhlaus Nachfolger. 1900. XXII und 448 Ss. Preis 10 Mark.
Es ist ein Verdienst J. Köstlins, zuerst auf eine in Luthers
Handschrift vorhandene Sammlung von Sprichwörtern aufmerksam
gemacht zu haben, die sich in der Familie Lingke fortgeerbt hatte.
Er hatte sie gesehen, ehe er noch daran dachte, seine Lutherbio-
graphie zu schreiben, und als sie ihm wichtig wurde, war nur noch
festzustellen, daß sie von einem Breslauer Antiquar an einen solchen
in Cambridge gekommen war. Erneute Nachforschungen lieferten im
Jahre 1889 das Resultat, daß die Handschrift von der Bodleiana in
Oxford erworben worden war. Eine im Interesse der Veröffent-
lichung in der Weimarer Lutherausgabe hergestellte, aber nach den
Mitteilungen des Herausgebers wenig gelungene Photographie konnte
nicht genügen, erst unter Zusammenhalt mit einer von dem Germa-
nisten Sievers genommenen Abschrift war es möglich, mit einiger
Sicherheit den Text wiederzugeben.
Jedermann wird dankbar dafür sein, daß man mit der Heraus-
gabe der wichtigen Handschrift nicht so lange gewartet hat, bis
sie in der Lutherausgabe erscheinen konnte, noch mehr aber dafür,
daß der Herausgeber sich nicht darauf beschränkt hat, einfach den
ihm vorliegenden Text, es sind nur 489 Sprüchwörter oder Redens-
arten, gewissenhaft abzudrucken, sondern durch reiche Commentation
verständlich zu machen. So ist auf Grund jahrelanger, mühesamer
Forschungsarbeit, der man überall nicht nur die besondere Be-
fähigung des Autors zu dieser Arbeit, sondern auch die nur aus der
Sachkunde hervorgehende Freude an ihr anmerkt, ein Werk ent-
standen, welches in der Lutherforschung stets einen Ehrenplatz ein-
nehmen und gewiß auch von den Philologen als Grundlage für wei-
tere Forschungen auf diesem Gebiete und ebenso von den Cultur-
historikern warm begrüßt werden wird. Der Gang, den der Heraus-
geber einschlägt, ist der, daß er nach verhältnismäßig kurzer Be-
Thiele, Luthers Sprichwörtersammlung. 865
handlung der einleitenden Fragen auf S. 1—24 den Text abdruckt
und dann unter Wiederholung der einzelnen Sprichwörter auf S. 25
—422 zu jedem einzelnen unter Beibringung von gleichlautenden
Aussprüchen bei Luther und Andern und Varianten, die zur Fest-
stellung des Sinnes dienen können, seine Erklärung giebt, worauf
dann sehr beachtenswerte Nachträge und Berichtigungen und was
besonders dankenswert ist, ein genaues Wortregister folgen.
Eine Hauptfrage für den Lutherforscher wird immer die sein,
wann und zu welchem Zweck hat Luther diese unvollendet gebliebene
Sammlung angelegt? Da in der Handschrift selbst bestimmte An-
haltspunkte nicht vorliegen, in Luthers Werken, in der zeitgenössi-
schen Litteratur, Briefen, Tischreden etc. bis jetzt ein Hinweis dar-
auf sich nicht gefunden hat, können die beiden Fragen zur Zeit mit
Sicherheit nicht beantwortet werden. Immerhin hat der Heraus-
geber einige nicht von der Hand zu weisende Vermutungen ausge-
sprochen. Erstens wird man ihm beistimmen müssen, daß nach der
Anmerkung zu Nr. 219 Luther, als er dies schrieb, schon die Er-
fahrungen des Bauernkriegs hinter sich hatte. Zweitens — und da-
mit verbindet sich schon die Antwort auf die Frage nach dem
Zwecke —, verweist der Verf. darauf, daß Luther in der Vorrede zu
seinen Fabeln (deren ebenfalls von Thiele herrührende Ausgabe in
Niemeyers Neudrucken Nr. 76 S.1), wo er als Zweck seines Deutschen
Aesops, die Absicht den bisherigen schlechten Deutschen Aesop zu
verdrängen hinstellt, zugleich den Wunsch ausspricht, auch die
‚Sprüche so bei vns im brauch sind«, zu sammeln und ordentlich in
ein Buch zu fassen. Daraus und weil Luther mit der damals schon
vorhandenen Sprichwörtersammlung des Agrikola — die Seb. Franks,
die er noch schärfer verurteilte, erschien erst 1542 — sehr wenig
zufrieden war (vgl S. XVII), ist Thiele zu schließen geneigt, daß
Luthers Sammlung den gleichen Zweck gehabt hat, nämlich »die-
jenigen Sammlungen, die seine Unzufriedenheit erregt hatten, durch
eine bessere zu ersetzen« (S. XVII), und daß ihre Entstehungszeit
— ich möchte lieber sagen — ihr Beginn schon in das Jahr 1530
gleich hinter die der Fabeln zu setzen wäre. Das ist eine an-
sprechende Vermutung, und soweit könnte ich beistimmen. Aber
Thiele geht, ohne ein abschließendes Urteil aussprechen zu wollen,
noch weiter. Indem er dafür eine Bemerkung aus Luthers Vorrede
zu den Fabeln 8. 1 heranzieht, sagt er S. XVIII: »Sieht man nun,
wie er in seiner Bearbeitung statt der üblichen Moral jeder Fabel
eine Reihe von Sprichwörtern anhängt, so scheint es, als habe er
beides vereinigen wollen. Hierzu war aber eine eigene Sammlung
dieser letzteren ihm unentbehrlich«, und weiter unten: »Ferner sind
Goth. gel. Ans, 1901. Nr. 11, 67
v
use zasır krise som Kerinuzarea tree ft BI REN ees.
zur Murau zu warten wactnes. om m Onn. Fagen Beret I we-
tens, wad er schlicht mat der Vermatang. sul »Leummı DE ENGE
Sammlung nur einen Secheazweck, em spiter I De Fun dır-
sendung zu haden<, veriAgt hate.
Las scheint mir schwerlich richtig zu sem Leer Greer
wird zu seiner Hepthese wesentlich durch dra Bestectcoen «r-
anlaft: 1. dab Lather, wie gesagt, m semen Fate scam oo Wr
ral Sprichwörter beifügt und eine Sasmmblaxg ta Fasun um Som-
wirtern wünschte, 2. durch die sehr richtige. iesoer tem Heras:
geier nicht weiter verfulgte Beobachtung. dab m Laciers Sammer
das Bestreben, Gruppen zu bilden, zu bemerken ist. umd 3. aus a
den Sprichwortern durch Randbemerkungen andere ak die gesiar-
liche Deutung zu geben sucht. Was nun diese Ramibemerkzzga
‚anlangt, ws fallen sie, so weit ich sehe in zwei Gruppen, ers
s‚iche, die eine Erklärung, die Luther zum Teil im Gegensatz m
der Auflassung anderer (z.B. Nr. 41 ff. u 73fL, gefunden zu habe
meinte, festlegen sollte, und zweitens solche, die er später vem
Wiederlesen hinzusetzte, und die der Ausdruck seiner augenblick-
lichen Stimmung sind, und darin wird der Herausgeber, wie ich
wiederhole, recht haben, dab man demnach schließen darf, daß Luther
mit seiner Sammlung resp. Erklärung anderen entgegentreten wollte.
Aber es frägt sich doch, ob die mehr gegen Mitte und Ende als am
Anfang zu beobachtende Gruppenbildung, also das Hervorstechen des
Jehrhaften Interesses, schon das Recht zu der Annahme giebt, Luther
habe diese Sammlung nur zur Verwendung bei den Fabeln ange
stellt. (sanz abgeschen davon, daß Luther bei aller Derbheit, die
ja auch in den Fabeln zum Ausdruck kommt, eine ganze Reihe der
von ihm gesammelten Sprichwörter schwerlich in einem Fabelbuche
gebraucht haben würde, bei andern sich kaum denken läßt, wie sie
eine solche Verwendung finden konnten (vgl. für Beides z.B. Nr. 68.
69. 184. 186. 205. 267. 290. 295. 337. 388. 397. 398. 420. 425.
426. (428). 431. 432. 445. 448), scheint mir der Herausgeber eine
Frage nicht genügend gewürdigt zu haben. Woher diese kleine Zahl
von Sprichwortern, während Luther so unendlich viele zu Gebote
stunden, giebt doch ein einziger Band seiner Vorlesungen in den
unmittelbaren Nachschriften, wie wir sie jetzt wieder haben, z.B. im
XX. Bde. der Weimarer Ausgabe, eine Fülle von Ergänzungen? Die
Thatsache, daß wir es mit einem Fragment zu thun haben, giebt
keine genügende Erklärung. Noch weniger kann man sagen, wie
der Herausgeber anzunehmen scheint, daß eben das lehrhafte Inter-
esse gerade diese Auswahl bedingt hat. Hätte Luther seine Samm-
Thiele, Luthers Sprichwörtersammlung. 867
lung behufs Verwendung in den Fabeln angelegt, dann dürfte man
eine Zusammenstellung gerade der landläufigsten Redensarten er-
warten. Warum fehlen S. 60 zu Nr. 33 die vom Herausgeber mit
aufgeführten, Luther so lieben und vertrauten Redensarten? Wer
diese Sprichwörter hinter einander liest, muß m. E. den Eindruck
gewinnen, daß neben einzelnen ganz geläufigen, doch die meisten
seltene und ungewöhnliche, oft gar nicht volksmäßig gebildete, son-
dern reflectierende Sprechweise aufweisende Auslassungen sind.
Warum hat nun Luther aus den vielen ihm nach seinen Schriften zu
Gebote stehenden gerade diese gewählt, für die Parallelstellen oft
weder bei ihm manchmal auch nicht bei andern zu finden sind?
Wohl deshalb, weil sie ihm selber ungewöhnlich, bemerkenswert, der
Erklärung oder gegenüber andern einer richtigen Erklärung bedürf-
tig schienen; aber wie die Randbemerkungen ergeben wird er sie
schwerlich nur für sich gesammelt haben, und wenn er zur Ver-
öffentlichung der längst nicht abgeschlossenen Sammlung gekommen
wäre, würde er wohl zu mindesten kurze erklärende Bemerkungen
hinzugefügt haben. Auch das sind alles Vermutungen, aber sie
scheinen mir die Zusammensetzung der Sammlung am besten zu er-
klären.
Die Commentierung muß, obwohl eine Vollständigkeit der Pa-
rallelen nicht einmal bei Luther, geschweige aus der zeitgenössischen
Litteratur, weder beabsichtigt noch möglich war, als eine ganz vor-
treffliche und sorgfältige bezeichnet werden, aus der nicht nur der
Lutherforscher, sondern auch der Sprachforscher Manches lernen
kann. Das schließt natürlich nicht aus, daß man über Manches anderer
Meinung sein kann und wird. Da ich bezüglich der Sprichwörter-
litteratur nicht als Fachmann sprechen darf, und noch weniger, wo
es sich um rein sprachliche Fragen handelt, muß ich mich auf einige
Bemerkungen bzw. Ergänzungen beschränken.
Bei Nr. 1 » Art gehet vber Kunst« halte ich die Variante » Art
läßt nicht von Art« für unzutreffend. Nicht umsonst steht der > Art«
die Kunst gegenüber, oder ist es zu modern, »Aunst< im eigentlichen
Sinn und dann Art im Sinn von »ingenium«, Talent, zu fassen? —
Zu Nr.7 vgl. W. A. XX, 613 je klüger, je thörichter. — Vortrefllich
sind die Bemerkungen zu Nr. 12 S. 37, nur könnte man zweifeln,
ob Luther bei dem Reim Kaiser Friedrichs und dem kaiserlichen
Reim wirklich an die in der Zimmernschen Chronik 3, 484, 14 be-
richtete Bemerkung Maximilians zu diesem Reim denkt oder nicht
vielmehr an einen der Tradition nach von einem Kaiser Friedrich
herrührenden Spruch. Der Reim ist in Nürnberg nicht mehr zu
lesen, auch hat sich weder in der die Stadt betreffenden Litteratur,
67 *
Shae o VEN )
868 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
so weit meine Kunde reicht, noch in der Tradition eine Erinnerung
daran erhalten. Immerhin wird es darauf zurückzuführen sein, dab
die Redensart »den Reim auslöschen«e sich noch in Haussprüchen
in Mittelfranken erhalten hat. Als Belege dafür führe ich folgende
von Dr. Heerwagen in Nürnberg gesammelte Haussprüche an, die
ich durch gütige Vermittelung des Herrn Archivrat Dr. Mummenhof
erhalten habe.
Gottes Gnad’, ein g’sunder Leib
Ein gutes Bett, ein schönes Weib,
Tausend Dukaten in der Not,
Fröhlich Urstand nach dem Tod,
Wer die sechs Glück beisammen hat,
Der komm und lösch den Reimen ab.
(Röckingen, Mittelfranken.)
Wer kein Sorg und Leiden hat,
Der lösch mir diesen Reimen ab.
(Bauernhaus bei Uffenheim.)
Kreuz und Leiden,
Das schreib ich mit der Kreiden,
Wer kein Kreuz und Leiden hat,
Der wisch mir diesen Reimen ab.
(Ostheim, Mittelfranken.)
Bei der Erklärung von »sfar< Nr. 15 halte ich die Auffassung des
Herausgebers gegenüber der von Pietsch für die einzig mögliche.
Zu Nr. 29 verweise ich noch auf Weim. A. XIX: » Nun sol keine ein-
zeln personen sich widder die gemeine setzen noch die gemeine an sich
hengen, denn sie hewet damit ynn die höhe, so werden yhn die spnn
gewislich ynn die Augen fallen«. Vielleicht kann man bei Nr. 17
»Er reit«< denken an die bei Jud. Nazarei (Neudr. 142, S. 52) sich
findende R. A. denken » Walt der Ititt<, (vgl. das walt die Sucht) vgl.
die S. 190 zu 186 citierte Stelle aus Luther E. A. 23, 222. Eine
Parallele zu Nr. 18 » Auf den Esel setsen« könnte die mir nicht
ganz klare R.A. »den Esel mit den Fingern bieten< sein. Vgl
Förstemann, Reformationsurkunden. Hamburg 1842 S. 156: »Do der
Legat zu Augspurgk eingeritten sey, habe er Creug vnd segen vber
das Volgk gethan, haben Im ettlich den essel mit den fingern gepoten«.
Das könnte soviel sein als >eine lange Nase machen< und würde
dann in die Kategorie der verächtlichen Bewegungen gehören wie
‚eine Feige machen«, vgl. unten zu Nr. 290. Bei Nr. 36 scheint
mir nur Erl. A. 36, 127 eine passende Parallelstelle zu sein. Zu
Thiele, Luthers Sprichwörtersammlung. 869
Nr. 37. »Ein man kein mane möchte ich noch erinnern an den
Spruch über der Thür zum Rathausgänglein im Rathaussaale in
Nürnberg » Eins manns red ist eine halbe red, man soll die teyl ver-
hören bed«, dessen Vorhandensein schon zur Zeit des Markgrafen
Albrecht Achilles bezeugt ist. Vgl. Mummenhoff, Das Rathaus in
Nürnberg. Nürnberg 1891 S. 37. — Bei Nr. 38 »Einem zu enge«
etc., wofür Luther an der S. 64 angeführten Stelle in den Tisch-
reden eine besondere Anwendung bringt, könnte man auch an die
allgemeinere Fassung denken, die Lessing in seinem Nachlaß (K. G.
Lessing, Lessings Leben, Berlin 1795 III, 238 aus Seb. Franck ver-
zeichnet: > Zu wenig und zu viel verderbt das Spiel«.
Mit Recht wird zu Nr. 49 an Luthers Wappen erinnert, aber
der Herausgeber hat übersehen, daß Luther schon vor dem Jahre
1520, worauf ich bereits in meinem Luther II, 351 aufmerksam ge-
macht habe, das Wappen mit der Rose geführt haben muß, da es
sich schon in der Erfurter Matrikel beim Antritt des Rektorates
des Joh. Crotus (vergl. Weißenborn II, 317) findet. Danach war da-
mals freilich die Grundfarbe anders als später. Vgl. auch eine Be-
merkung bei Osiander eine mündliche Weissagung von dem Papst-
umb 1527 Bog. C tj: »Damit man aber sehe, wer der münch
sey, so stehet er da, ynn seiner Kleyduny ond hat die rosen in der
hand, ich meyn ia es sei der Luther«. Die Rose hat dieselbe Form
wie in Luthers Wappen, aber natürlich ohne Kreuz. Sonst ist noch
zu vergleichen Knaake, Luthers Wappen, Ztschr. f. kirchliche Wissen-
schaft 1880 S. 52ff. Bei der Erzählung von der Häresie des Arius
sagt Judas Nazaraei (Neudrucke 142. 143 S. 13): »do wattet der ult
Leviathan in rosen«.
Nr. 67 ist ein altes lateinisches Sprichwort, vgl. Otto, Sprich-
wörter der Römer S. 93. Wenn Luther zu 74 »Wers kan dem
kompts« die Randbemerkung macht perversa omnia a diabolo, meinte
er wohl eine obscöne Deutung des Sprichworts. Zu Nr. 78: »Zeug
macht meister< könnte man heranziehen: »Das werck wirdt den
Meyster beweren« Cochlaeus (Vogelsang) Neudruck, Nr. 174 S. 12.
Zu Nr. 79 bemerke ich, daß die Vorstellung, daß der Teufel schwarz
ist, wohl im Gegesatz zum Engel des Lichts (2. Cor. 11, 14), alt ist.
Vielleicht findet, sie sich zuerst in der christlichen Litteratur bei
Pseudobarnabas 4,9: &s woeneı vlois Heod dvriorausv, tva un oxi
zageloövoıv 6 wédag. vgl. XX,1: 4 08 rod wedavog Öbog xrd. —
Was den schon von Luther in den Fabeln herangezogenen
Dr. Megenhofer (vgl. Nr. 80) anlangt, kann ich teilweise auf Grund
freundlicher Mitteilung von Dr. G. Bauch nachtragen, daß er aus Leipzig
stammte (vgl. Leipziger Matrikel ed. Erler II, 37), in Leipzig 1504
870 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 11.
als Dr. utriusque iuris, Professor und Canonicus Nunburgensis er-
scheint, mit Hermann von dem Busche befreundet war, (Buschius
epigrammatum liber III), 1508 Nachfolger Friedrich von Kitschers
Stiftspropst und Ordinarius iuris canon. in Wittenberg, nach den
Statuten von 1508 zu den Reformatoren der Universität gehörte, im
Wintersemester Dekan der Juristenfakultät war, aber bald Christoph
Scheurl als Vicedekan substituierte. Ein Brief Scheurls an ihn vom
20. April 1508 in den Neuen Mitteilungen des Thüring. sächs. Altertums-
vereins XIX, 408, endlich erwähnt ihn Scheurl als verstorben in einem
Briefe vom 27. Juni 1510 in Scheurls Briefbuch I, 60. — » Es regne
aus, so wirds schon wetter«, Nr. 81, ist offenbar nichts weiter als das
alte nubilo serena succedunt (Plin.) uud das noch gebräuchlichere
Post nubila Phoebus. Bei 110 ist die Redensart bei Dietz I, 117,
für welche dieser die richtige Erklärung giebt, m. E. nicht heranzu-
ziehen. Zu Nr. 124 u. 125 weiß ich leider auch keine Erklärung
zu geben. Einen Augenblick dachte ich daran, daß vielleicht der
dem H. Göden zugeschriebene Spruch Lex sine executione est velut
campana sine pistillo (Th. Kolde, der Kanzler Brück, Gotha 1874
S. 6, vgl. Otto, röm. Sprichwörter unter pistillum: Acumen omm
pistillo retusius, stumpfer als eine Mörserkeule) herangezogen werden
könnte, aber es wird dadurch auch nicht viel gewonnen. > Rädlem-
treiben« Nr. 126 heißt nichts weiter als die treibende Kraft, der
Anführer sein, und Nr. 131 schwerlich etwas anderes, als in schalkhafter
Weise vorgeben, daß man etwas thäte, mit dem Schalksberger Wein
bei Würzburg hat die von Luther entlehnte Redensart nichts zu
thun. An Nr. 138 erinnert: »Ad Calendas Graecas, wenns Säu
regnet« bei dem Augsburger Prediger Michael Keller in seinen Ser-
monen vom Nachtmahl, vgl. F. Roth, Augsburgs Reformationsge-
schichte, München 1901, S. 133, und bei Nr. 132 halte ich die Erklä-
rung Wanders für die richtige. Daß Federlesen Nr. 140 bei Luther
auch in anderm Sinne vorkommt (vgl. W. A. 19, 326), habe ich Gött.
gel. Anz. 1901 S. 717 nachgewiesen. Zu 177 vgl. Eberlin, X. Bundes-
genosse (Neudruck Bd. 1, 107) auf dem Titel: » Wann man annam
disz reformate, So gschweigt man mancher kloster katz, Die vornen
läckt ond hinden kratzt.« — Zu Nr. 184 vgl. Cochlaeus (Vogelsang),
der im Heimlichen Gespräch (Neudrucke 177, S. 35) Melanchthons
Frau sagen läßt: »O der omechtigen pälge, der stinckenden Münch
end pfaffen hurn wie halten sie so hock unnd vil von ynen selbst, Ich
allein hab mit Got und mit ehren eynen rechten Eheman, under ihnen
allen, und die hoffertige Schlepseck haltenn mich für die aller ge-
ringsten under yhnen«. — Die Erklärung Wanders zu 217 ist zu
weit hergeholt; jemand der nicht einmal den Hund vom Ofen locken
Thiele, Luthers Sprichwértersammlung. 871
kann, ist ein solcher, der auch das Gewöhnlichste nicht versteht.
Zu Nr. 137, das im 16. Jahrh. noch nicht so gebräuchlich gewesen
zu sein scheint als heutzutage, kann ich eine Parallele aufweisen aus
Simon Haferitz, Ein Serms / vom Fest der heili- /gen drey Konig / ge-
prediget / durch / Simonem /Haferitz zu Alstet (M.D.XXLL. Blatt
fiij: »Dan es ist ie war das die großen Hause in der Christenheit
wolten alle gern Christum anbetten, das ist alle gern gute Christen
sein, wan es yren ehren, gewalt, vnd reichtumb nicht eu nah were.
Sie wissen wol, wo ste der schuch drugket<, hier also, wo sie am em-
pfindlichsten sind. — Zu Nr. 258: Teufelsbraten hat damit nichts
zu thun. — Bei Nr. 287 scheint mir die persönliche Bemerkung des
Herausgebers zum richtigen Verständnis zu führen. — Es ist richtig,
daß Luther »die Feigen weisen«, im Sinne höhnischer, verächtlicher
Abweisung gebraucht, wie Nr. 290, aber die Redensart hat ursprüng-
lich, eine obscöne Bedeutung cf. Dietz 1,645, im mittelalterlichen
Latein facere ficam, nach dem italienischen fave la fica (fica =
cunnus). Vgl. auch Eberlin im 1. Bundesgenossen Neudrucke I
S. 7. Dazu die Anm. S. 209. Bei der Redensart: Ein pflocklin da-
fursteeken (Nr. 313) spielen bei Luther zwei verschiedene Vorstel-
lungen mit, einmal denkt er an das Bild von der Armbrust, wie der
Herausgeber richtig bemerkt, sodann aber an Pflock im Sinne von
Zaum, den man dem Tier ins Maul legt, wie aus den angeführten
Beispielen deutlich hervorgeht besonders E. A. 32,25. und De Wette
V,34. Zur Redensart selbst noch die Parallele W. A. 19, 278, 29.
Vgl. auch den Nachtrag des Herausgebers S. 428. Als ganz besonders
wertvollmuß die Erklärung von Nr. 381, Habersack singen, hervorge-
hoben werden. Klaiber wird aber darin recht haben, dass die
Redensart ; »die singen unserm H.G. von einem Strohsach< den Gegen-
satz dazu bildet. Auch hier wird man an einen volkstümlichen Vers
zu denken haben, vgl. »Axum strosack< bei Judas Nazarei, vom
alten und neuen Gott Neudrucke Nr. 142. 143. S. 43 und dazu die
Erläuterungen auf S. 124. — Zu »Kappe schneiden« Nr. 392 vgl.
»Kappe kaufen« in dem Widmungsbrief zur Schrift an den Adel
W. A. 6,404: gelingt mir nit, seo hab ich doch ein vorteil, darff mir
niemant eine kappen kauffen, noch den kamp bescheren. Nr. 435 be-
darf noch genügender Erklärung, mit »K6ten spielen« hat es sicher-
lich nichts zu thun. Zu Nr. 438 »er hat yhn hinder den ohren«
möchte ich an Jesus Sirach 19, 24 erinnern : »Er schläget die Augen
nieder und horchet mit Schalksohrenc. Zu Nr. 449 kann ich eine
Parallele beibringen. In einem noch ungedruckten Briefe des Augs-
burger Humanisten Pinicianus (Einiges Wenige über ihn bei Cohrs,
die ev. Katechismusversuche. Bd. III, 416ff) an Althamer vom
872 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
5. August 1525 weist der Briefsteller das ihm von jenem gespendete
übergroße Lob zurück und fährt fort: Tutius futsset cum mea do-
ctrina, quae non magna est, latitasse, quam cum pudore in doctorum
corona apparere. Pauci admodum vivunt, qui Clementissimum Cae-
sarem Maximilianum in Aeniponte secreta mansione asınum coronare
viderunt. Sed parum refert. Mihi non secus accidit quam nostn
saeculi novis hominibus (ut Cicero vocat) nobilibus et equitrbns aura-
tis nullis sive egregie militaribus factis nobilitatis et evectis. De quibus
ex nostris quidam dicterium non infacetum deprompsit, sic tnciptens.
Ain Ritter an mie, In indocto pariter nthil perit poea
Kalbfleisch in einer gelben prie quam ab arbore virens direpta
Ist nichs dran verloren Et duo illa coronantis verba: sis
Dan Saffran und messin sporn. fatuus (vates dicere volui).
Darin ist die Erklärung gegeben. Wer war wohl der quidam
ex nostris, von dem der Vers herrührt, und läßt sich die Geschichte
von dem [in] secreta mansione (heimliches Gemach ?) gekrönten Esel.
die wohl in Maximilians Jugendzeit fallen wird, noch sonst nach-
- weisen ? Ich habe darüber nichts finden können. — Zu Nr. 468
vgl. noch W. A. 19, 326, 11: »mit der Wahrheit unter die Banck«.
Wenn es auch nur weniges ist, was ich beifügen konnte, so wird
der Herausgeber doch daraus entnehmen können, mit welchem leb-
haften Interesse ich seine schöne Arbeit studiert habe. Sie ver-
anlaßt mich zu dem Wunsche, daß er uns eine vollständige Samm-
lung aller bei Luther vorkommenden Sprichwörter schenken möchte.
Erlangen, 1. Nov. 1901. D. Th. Kolde.
Monod, &., Etudes critiques sur les sources de Phistoire caro
lingienne. Premiére partie. Introduction. Les Annales Carolingiennes. Pre-
mier livre. Des origines & 829. (Bibliothéque de l’&cole des hautes études 119).
Paris, E. Bouillon. 1898. 175 S.
Die Entwickelung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahr-
hundert hat es mit sich gebracht, daß selbst diejenigen Gebiete
aus der Geschichte des frühesten Mittelalters, für die auch in
Frankreich besonderes Interesse herrscht, doch überwiegend von
deutschen Gelehrten erhellt worden sind. Nahezu ausschließlich war
diesen die kritische Behandlung der fränkischen Geschichtsquellen
überlassen, deren Veröffentlichung in den früheren Jahrhunderten
zumeist französischer Gelehrsamkeit verdankt wird, und sie ist
dauernd im engsten Zusammenhange mit den Ausgaben der Monu-
menta Germaniae historica vorgeschritten. Auf der durch sie be-
gründeten quellenkritischen Methode beruhen die Aufsätze von
Monod, Etudes critiques sur les sources de l’'histoire carolingienne, I. 878
Gabriel Monod, die anfangs der siebziger Jahre recht eigentlich den
Beginn selbständigen Anteils der französischen Historiker an solchen
Arbeiten bezeichnen. Seitdem ist in Paris unter der Führung von
Männern wie Monod, Havet, Giry — von denen die beiden letzten
aus fruchtbarer Thätigkeit hinweggerissen sind — die Erforschung
der fränkischen Geschichte planmäßig in Angriff genommen und er-
freulich gefördert worden. Dennoch blieb noch immer Wattenbachs
klassisches Buch der einzige Führer durch die Geschichtsquellen der
merowingischen und karolingischen Zeit und durch das Labyrinth
ihrer kritischen Bearbeitungen, trotzdem das Werk, in den erneuten
Ausgaben den schwankenden Ergebnissen der Forschung nur zu
leicht nachgebend und sie zu allseitig berücksichtigend, grade für
diese Zeit den einheitlichen Charakter der ursprünglichen Anlage
mehr und mehr verloren hat. Schon um deswillen wird die Dar-
stellung der karolingischen Historiographie freudig begrüßt, mit der
Monod selbst jetzt seine älteren Arbeiten fortführen will. Vorläufig
liegt ein erstes Heft vor, das nach einer umfangreichen Einleitung
»die karolingischen Annalen bis 829« behandelt.
In Deutschland wird diese Einleitung leicht als der Schwerpunkt
der vorliegenden Arbeit erscheinen. Ihr erstes Kapitel soll die »all-
gemeinen Merkmale der karolingischen Historiographie< behandeln ;
Monod hat offenbar gern die Gelegenheit benutzt, ihre Entwicklung
aus der merowingischen Geschichtsschreibung zu schildern, und er
betrachtet sie in der knappen Zusammenfassung, in der er Meister
ist. Erst daran schließt sich die Uebersicht über Art und Gliede-
rung der karolingischen Quellen. Die beiden Abschnitte sind inso-
fern verschieden, als der erste in gewisser Weise einen Abschluß
gegenüber Monods älteren Einzeluntersuchungen bedeutet, der zweite
vielmehr auf die folgenden vorbereitet. In jenem besticht die
strenge Sonderung der zeitlich und sachlich verschiedenen Quellen;
die Heiligenleben der gallo-römischen, der irländischen, der angel-
sächsischen Zeit, die an die Consularfasten anschließenden Chroniken,
die Zeitgeschichten Gregors, Fredegars und des Liber historiae
(= Gesta regum Francorum) werden gegen einander herausgehoben.
Indessen ist es doch fühlbar, daß Monods Darstellung z. T. schon
älteren Ursprungs ist; der Zusammenhang der merowingischen mit
den gallo-römischen Quellen wird auf Grund von Mommsens Ausgabe
der Chronica minora neu zu behandeln, insbesondere die Chronik von
511 (der sog. Sulpicius Severus, den M. trotz Holder-Egger als
Chronik von 733« bezeichnet) in ihrer engen Berührung mit den
Fasten von 452 anders zu beurteilen sein. Und daß M. nicht wohl
an seiner früheren Anschauung über die Entstehung des sog.
874 Gött. gel. Ans. 1901. Nr. 11.
. Fredegar um 642 festhalten darf !), beweisen die jüngst erschienenen
scharfsinnigen Untersuchungen Schnürers (Collectanea Friburgensia
IX. 1900), die mindestens in der Hauptfrage des nicht einheitlichen
Charakters und der Dreiteilung des Geschichtswerkes Kruschs Er-
gebnisse werthvoll bestätigen.
Grade diese Arbeit ist allerdings in anderer Hinsicht für Monod
bedeutsam , da Schnürer die Abfassung der einzelnen Teile des
Werkes in der Nähe des Hofes und in Beziehung zu der königlichen
Kanzlei vermutet. Er liefert damit einen neuen Beleg für die
These von dem engen Zusammenhang zwischen Geschichte und Ge-
schichtsschreibung, die recht eigentlich das Grundmotiv von Monods
Uebersicht im ersten Kapitel bildet: die Historiographie des Franken-
reichs ist nicht Beschreibung des Vergangenen, sondern Geschichte
der Gegenwart. Deshalb üben die politischen Ereignisse ihre un-
mittelbare Wirkung auf sie aus. »Nie ist damals eine irgend be-
deutende Schrift fern vom Treiben der großen Welt, vom Schau-
platz der großen Ereignisse entstanden<. So berechtigt diese Auf-
fassung für die Anfänge der fränkischen Geschichtsschreibung ist, so
trifft sie doch nicht mehr dort zu, wo man beginnt, die Geschichte
als Wissenschaft zu betreiben, und so bedenklich wird sie, wenn
z. B. um ihretwillen für die Ann. Laureshamenses die Entstehung in
höfischen Kreisen beansprucht wird. Im allgemeinen aber hält sich
Monod von gewagten Vermutungen frei; und wir danken seinem,
übrigens schon früher von ihm ausgesprochenen Satze so anregende
Beobachtungen wie diejenigen über Reims als den Mittelpunkt des
französischen Lebens von der Mitte des 9. bis zum Ausgange des
10. Jahrhunderts. Hier, am Sitze des Erzbischofs, blieb die Tradition
erhalten, die Flodoard und Richer und, wie wir hinzufügen dürfen,
Gerbert mit der karolingischen Epoche verknüpft. Der Bruch, der
in Deutschland das Geistesleben des 10. Jahrhunderts von dem ka-
rolingischen trennt, ist in Westfrancien noch nicht eingetreten; dort
bringt, wenigstens für die Geschichtsschreibung, erst das 11. Jahr-
hundert das verhängnisvolle Abreißen der Ueberlieferung. Von
jenem ununterbrochenen Zusammenhange mit der Kultur der Karo-
lingerzeit aus wird aber auch die Bedeutung zu würdigen sein,
welche die Gelehrten von Reims und ihre Schüler für das Ottonische
Deutschland gewonnen haben.
Die enge Verbindung, in die M. die Geschichtsschreibung mit dem
Königshofe als dem Mittelpunkte des politischen und geistigen Lebens
bringt, berechtigt ihn, das zweite Kapitel seiner Einleitung der vom
1) Mit um so größerer Spannung wird man die von ihm angekündigte be-
sondere Untersuchung über das Werk erwarten.
Monod, Etudes critiques sur les sources de Vhistoire carolingienne. I. 878
Kaiser heraufgeführten »karolingischen Renaissance« zu widmen.
Auch der Kenner von Haucks glänzender Schilderung wird an der
klaren Herausarbeitung der Hauptgesichtspunkte seine Freude haben,
durch welche die verschiedenen an Karls Hofe zusammenfließenden
Strömungen vielleicht zu scharf gegen einander abgegrenzt werden ;
und er wird mit erhöhtem Interesse den Ausführungen folgen, in
denen der nach Traube’s Nachweisen sehr hoch einzuschätzende per-
sönliche Anteil des Kaisers an der litterarischen Bewegung sorgsam
abgewogen wird. Gern würden wir von dem französischen Gelehrten
ein im einzelnen ausgeführtes Bild von dem westfränkischen Geistes-
leben unter Ludwig d. Fr. und Karl dem Kahlen erhalten haben;
gewiß hat er mit der Beobachtung Recht, daß unter ihnen von
einem Niedergange noch kaum etwas zu spüren ist. In formaler
Hinsicht ist sogar bei den Schülern der großen Gelehrten aus Karls
Zeit ein Fortschritt unverkennbar; auch bedeutet das Auftreten
Hincmars und des Johannes Scotus unzweifelhaft eine Vertiefung der
Kenntnisse, an der Ostfrancien zunächst keinen Anteil mehr hatte.
Dennoch aber ist ein wesentlicher Unterschied gegen die erste
Epoche der karolingischen Renaissance dadurch bedingt, daß jetzt
der Hof und die Hofschule keineswegs mehr die frühere Rolle
spielen ; wohl stehen sie noch mitten im geistigen Leben ; aber nicht
mehr sind sie es, die es wecken und befruchten, sondern von der
Peripherie aus, von den Klöstern und Bischofssitzen, wird es an den
Königshof gebracht. Seitdem ist auch im Westreiche der Klerus
der ausschließliche Träger der Bildung geworden... Wie er in seinen
Schulen durch das 10. und sogar durch das 11. Jahrhundert hin-
durch die Kultur jener Zeit bewahrt hat, darauf weist M. mit
wenigen Worten hin. Daß er diese Entwickelung uns darstelle, wird
ein allgemeiner Wunsch sein; denn die von ihm angedeutete enge
Verknüpfung der Renaissance des 12. Jahrhunderts mit dem karo-
lingischen Geistesleben scheint einer der Gründe für die Ueberlegen-
heit und den Siegeszug der französischen Kultur im 12. und 13. Jahr-
hundert und berührt eines der interessantesten Probleme unserer
mittelalterlichen Geschichte.
Von so weiten Ausblicken, welche die Einleitung eröffnet, führt
uns der Verfasser im ersten Buch in das Getriebe der kritischen
Werkstätten, in denen »die karolingischen Annalen< seit ihrer Aus-
gabe durch Pertz wieder und wieder behandelt worden sind. Sie sind
»der Ausgangspunkt der karolingischen Geschichtsschreibung, durch
Herkunft, Entwickelung, Form von allen Schriften der früheren
Zeiten unterschieden«. Dennoch wird, meine ich, trotz der ablehnen-
den Haltung Monods noch einmal die Frage erörtert werden müssen,
876 Gott. gel, Ans, 1901. Nr. 11.
inwieweit die Aufzeichnungen der angelsächsischen Ostertafeln, sei
es auch nur indirekt, durch Beda auf die spätrömischen Jahrbücher
zurückzuführen sind, denen sie mindestens in der Form eng verwandt
sind. Ueberhaupt kam es Monod in diesem Teile — abgesehen
von dem Kapitel über die »Annales royalese — zunächst nicht so
sehr darauf an, neue Gesichtspunkte aufzudecken oder kritische Er-
gebnisse zu gewinnen; ihn zeichnet vielmehr die ruhige Sicherheit
aus, mit welcher der bisherige Gang der Forschung zusammenge-
faßt, und der gesunde Sinn, mit welchem das im ganzen als zu-
treffend Erkannte hervorgehoben wird. Von dieser freiwilligen Be-
schränkung zeugen sowohl das dritte Kapitel über die Lorscher
Frankenchronik, über die trotz Waitz und Pückert noch nicht das
letzte Wort gesprochen ist, und der Anhang über den Poeta Saxo,
den Hüffer neuerdings in dem Agius von Corvei erkennen will, wie
namentlich das erste Kapitel über die kleinen Annalen (wesentlich
des 8. Jahrhunderts), die M. im Anschluß an Giesebrecht, Watten-
bach, Waitz nach den bekannten Hauptgruppen von S. Amand,
Lorsch (Laureshamenses, Mosellani), Murbach ordnet. Er geht dabei
auf den praktischen Zweck aus, für die Verwertung der Quellen
die Anleitung zu geben. Darum ist er auch in der glücklichen Lage,
eine Note additionelle über Kurze’s einschlägigen Aufsatz im Neuen
ArchivXX, der ihm erst nach Abschluß des ersten Kapitels zuging, mit
der amüsanten Wendung zu schließen : »nous nous trouverions égale-
ment imprudent de contredire ou d’adopter ces conclusions<. Aber
ist nın der Belehrung Heischende bei diesem Auswege Monods
irgend besser daran als bisher bei dem schwankenden Urteile Watten-
bachs? wer die karolingischen Annalen nach ihrem historiographi-
schen Werte und nach ihrer litterarischen Bedeutung würdigen will,
wird gezwungen sein, Stellung zu nehmen. Wie man aber über das
von Kurze aufgestellte, nicht immer einfache System denken mag,
ein Verdienst hat sein Versuch, die uns erhaltenen Annalen aus ein-
ander abzuleiten, unter allen Umständen : er schließt jeden Gedanken
aus, auf die geheimnisvollen allumfassenden Hofannalen von Arnold
und Bernays zurückzukommen, die Monod wieder in ausführlicher Kritik
zurückweist. Monod und, wie es scheint, auch Bernheim !) schrecken
vor den sechs Reihen verlorener Annalen bei Kurze zurück ; allein es
handelt sich dabei meist nur um verlorene handschriftliche Mittel-
glieder, keineswegs immer um neue Redaktionen oder gar Werke.
Allerdings hat Kurze selbst leider viel zu dem Mißtrauen beigetragen,
das seinen Ansichten begegnet; die Art, wie er für erhaltene und
1) In seiner Besprechung Monods, Histor. Vierteljahrschrift III, 99 ff
Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 877
verlorene Quellen des 8. Jahrhunderts mit gleicher Sicherheit Ent-
stehungsort und Verfasser zu nennen weiß (besonders Neues Archiv
XXV, 294 ff.), ist nicht geeignet, unserer quellenkritischen Arbeit
Freunde zu gewinnen. Aber der künftige Herausgeber der kleinen
Annalen in der Schulausgabe der Monumenta Germaniae wird sich
der schwierigen Aufgabe, Kurzes Ansichten durchzuarbeiten und über
sie hinaus vorzudringen, nicht entziehen dürfen ’).
Während M. sich für die kleinen Annalen des 8. Jahrhunderts
mit der Sichtung der früheren Untersuchungen begnügt, tritt er in
dem zweiten Kapitel über die »Annales royales« mit selbständiger
kritischer Forschung hervor, deren Ergebnis sich mit seiner, in der
Einleitung dargelegten Gesamtauffassung nahe berührt: die Reichs-
annalen (Ann. Laurissenses maiores = Ann. regni Francorum) sind
ein höfisches Werk, in der Umgebung des Kaisers geschrieben, um
das Andenken seiner Thaten zu bewahren, ein »journal des nouvelles
du palaise.. An dieser sich an Ranke anlehnenden und nochmals
gegen v. Sybel begründeten Anschauung wird heut niemand mehr
zweifeln; bei jeder Prüfung tritt deutlicher ins Bewußtsein, wie aus-
schließlich und durch alle Theile hindurch gleichmäßig das Interesse
der Jahrbücher an der Persönlichkeit des Herrschers haftet, wie
alle Ereignisse mit den Augen des Hofes angesehen werden. Von
den Jahren an, mit denen die Berichte selbständig und gleichzeitig
werden, verzeichnen sie nicht sowohl die Geschehnisse selbst als das
Eintreffen der Nachrichten darüber am Hofe; auch die Ordnung der
Erzählung wird hierdurch bedingt. Wenn dann Naturereignisse z. B.
zu 801. 815. 821 in den Rheingegenden aus eigener Kenntnis, aus
den übrigen Theilen des Frankenreichs nach Hörensagen aufge-
zeichnet werden, so dürfen wir auch um deswillen die Schreiber in
der Nähe der Herrscher, nämlich in der Aachener Pfalz suchen.
Dorthin als Entstehungsort weisen nun aber nicht nur die »Annales
regnie, sondern auch die sogenannten >Annales Einhardi«, ihre
Veberarbeitung; auch ihrem Verfasser ist der kaiserliche Hof der
gewisser Maßen selbstverständliche Mittelpunkt alles Geschehens ?),
und ihm, der jetzt allgemein als Niederdeutscher erkannt wird, liegt
doch die germanische Heimat »jenseits des Rheins<. Deshalb scheint
mir Monods Gedanke, die Ann. Einhardi als eine Privatarbeit den
>halbofficiellen« Jahrbüchern gegeniiberzustellen, nicht hinreichend
1) Bernheim a. a. O. steckt ihm allerdings ein ungleich bescheideneres Ziel.
2) Man beachte auch z. B. zu 798 die Ergänzung der Reichsannalen durch
die Worte Zburis legatue narravit,
878 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
begründet, zumal wenn man auch den Verfasser der Ueberarbeitung
unter den Männern sucht, welche der kaiserlichen Kapelle angehören
Dem Versuche, über die allgemeine, aber m. E. sicher zutreffende
Beobachtung hinaus die Verfasser der Reichsannalen zu bestimmen
und ibre Niederschrift in innigste Verbindung mit Vorgängen in der
königlichen Kapelle zu bringen, ist der vielleicht interessanteste,
gewiß aber auch der anfechtbarste Teil in Monods Etudes critiques
gewidmet. Er geht dabei natürlich von den Abschnitten aus, die
innerhalb der Annales regni zu erkennen seien, und scheidet dem-
gemäß, z. T. in Anlehnung an die bekannten älteren Arbeiten, vier
Hauptteile. Den ersten Verfasser läßt er, entsprechend der seit
W. v. Giesebrecht giltigen Annahme, um 788 das Werk einheitlich
entwerfen, weist ihm dann aber die Fortsetzung nur bis zum Jahre
791 zu; schon ungefähr gleichzeitig den Ereignissen seien die Jahre
792—801 hinzugefügt; vom Jahre 801 an sollen der Eintritt eines
neuen Schreibers und dessen tagebuchartige Notizen den Berichten
. bis 818 das Gepräge gegeben haben, wenn auch bei den Jahren 809
und 814 vielleicht die Verfasser wechselten‘). Der Schluß von
819—829 zeige den abweichenden Stil eines letzten Autors‘).
Nun ist 791 der Erzkaplan Angilram gestorben; von 792—801
teilen sich nach Monod in die Leitung der Kapelle Angilbert
und Hildibald, der seit 802 — nachdem Angilbert, wie M. ver-
mutet, sich endgiltig in seine Abtei S. Riquier zurückgezogen
hätte -- der Kapelle bis zu seinem Tode im Jahre 818 allein vorstand:
ihm folgte 819—829 Abt Hilduin von S. Denis. So bringen nach M.
die Jahre 792. 801. 818. 829 für die Reichsannalen einen Wechsel
der Verfasser, für die Kapelle einen Wechsel ihrer Vorsteher. Zwar
ist M. zu gewissenhaft, um aus diesem Parallelismus gradenwegs den
Schluß zu ziehen, daß die Erzkaplane die Verfasser der Reichs
annalen seien, aber »ohne sich positiv über die Personen der Autoren
aussprechen zu wollen«, vermutet er immerhin die Niederschrift des
Werkes unter dem mehr oder weniger directen Einflusse der Erz-
kaplane Angilram, Angilbert, Hildibald und Hilduin. Und an mehr
1) In der Begründung für diese Einschnitte von 809 und 814 ist Monod wenig
glücklich. Die Jahre 814—818 abzutrennen, veranlaßt ihn vor allem der eigentüm-
liche Gebrauch von circa und circiter „qui ne se remarque & aucune des années
precedentes“. Trotzdem begegnet er genau so schon 809 und 811 und — trots
Monods gegenteiliger Angabe — ist er auch in den späteren Jahren von 819bis
829 noch völlig gleichartig zu bemerken. Ueberhaupt ist in solchen, immer ge-
fährlichen Angaben M. nicht vorsichtig genug gewesen, und hierin liegt ein
Mangel seiner Arbeit. So soll auch conventus populs sus nach 818 nie vor
kommen, steht aber noch zu 825 wie zu 826.
2) Er sei vielleicht mit dem Schreiber von 809-813 identisch,
Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 879
als einer Stelle tritt doch deutlich der Wunsch ans Licht, ihnen
selbst (zumal Angilbert) auch eigenen schriftstellerischen Anteil an
den Jahrbüchern zuzusprechen, bis schließlich — wie M. in den Mé-
langes Havet begründet zu haben glaubt und auch Kurze zugestan-
den hat — wenigstens Abt Hilduin ausdrücklich als der Verfasser
des letzten Teils angesprochen werden kann. +»
Allen derartigen Vermutungen — die schon zu weit gehen
würden, selbst wenn Monods Voraussetzungen zuträfen — wird in-
dessen der Boden durch den Nachweis entzogen, daß die charakteri-
stischen Caesuren in den Reichsannalen nicht an den von M. be-
zeichneten Stellen, sondern zu andern Jahren zu bemerken sind. Bei
ihrer Festlegung ist, wie heut allgemein anerkannt wird, die Ueber-
lieferungsgeschichte der Annalen nicht zu verwerten; denn weder
zum J. 788, wo die von Kurze mit A bezeichnete Handschriftenklasse
endet, noch innerhalb des J. 813, wo die Klasse B abbricht, berech-
tigen innere Gründe, einen Wechsel der Verfasser anzunehmen. Wir
sind daher für die Entscheidung ausschließlich auf stilistische Mo-
mente angewiesen, und diese haben, seit Dünzelmanns Aufsatz im
Neuen Archiv II, für die verschiedenartigsten Einteilungsversuche
den Vorwand hergeben müssen, so daß man ihnen heut wenig Ver-
trauen entgegenbringt. Dennoch führen nur sie zu einigermaßen
sicheren Ergebnissen. Demjenigen nämlich, der das Ganze des Wer-
kes von 741—829 überschaut, heben sich mit voller Deutlichkeit
drei sprachlich unterschiedene Gruppen gegen einander ab. Die
erste, deren Merkmale Simson (Jahrbücher Karls d. Gr. I’, 657 Ex-
curs III) und Manitius (Mitteil. des Inst. für österreich. Geschichtsf.
XIII, 225) überzeugend zusammengestellt haben, umfaßt die Berichte
im Vulgärlatein, denen noch der letzte Absatz des J. 794 zugehört }).
Ihr folgen ausschließlich Nachrichten, deren Sprache schon den Einfluß
klassischer Schulung verrät; die Eigenheiten des Volksmäßigen
sind nahezu mit einem Schlage verschwunden; noch ist nicht alles
korrekt, aber leicht fließen die Sätze in schlichter, sachlicher Er-
zählung, die wohl zuweilen in volleren Perioden sich unmittelbar an
römische Schriftsteller anlehnt, aber doch noch keineswegs im hohen
Stile schwelgt: es ist die Zeit der karolingischen Frührenaissance,
1) Kurze’s Absicht (Neues Archiv XX, 40; vgl. die Schulausgabe der Ann.
regni Francorum 8. 96 N. 4), den ersten Absatz des J. 795 zur vorangehenden
Gruppe zu ziehen, scheitert m. E. an der starken Verwendung der relativen An-
knüpfung; auch kommt placitum noch 811, missus statt Jegatus noch 803 und
807 vor.
880 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
die aus den etwas persönlich gefärbten Jahresberichten von 795—807
zu uns spricht).
Daß aus der Erzählung des J. 808 ein neuer Geist entgegen-
weht, hat Dünzelmann richtig empfunden, wenn er auch den Wert
seiner eigenen Beobachtung dadurch gemindert hat, daß er schon
den ganzen Bericht von 807 dem neuen Schreiber zuweist, obwohl
die astronomischen Notizen und die Aufzählung der persischen Ge-
schenke durchaus der Art der vorangehenden Jahre entsprechen.
Erst die Sätze über die Sendung Burchards gegen die Mauren wird
man geneigt sein, für einen andern Verfasser zu beanspruchen, des-
sen Eintreten mit dem J. 808 — ich betone dies mit aller Ent-
schiedenheit — über jeden Zweifel erhaben ist. Der geschickte
Satzbau, die passende Verwendung der Participialkonstructionen, die
Fülle der Verbindungspartikeln (at z.B. kommt nicht vor 809 und
nicht nach 819 vor) bezeichnen den neuen Stil; ihn zeichnet der
ungleich reichere Wortschatz aus, und er ist durchtränkt mit Phra-
sen der römischen Klassiker; aber — er ist auch schon phrasenhaft.
Die in den früheren Zeiten nüchtern erzählten Thatsachen werden
mit eleganten, doch zumeist sachlich bedeutungslosen Wendungen
umkleidet *): Karl sendet 808 seinen Sohn cum valida manu, dieser
eilt quanta potuit celeritaie, dann, populatis circumquaque agris, kehrt
er zurück cum incolumi exercitu (vgl. z.B. 810 die Rüstungen ge-
gen König Gottfried). Selbstverständlich fehlt es der Sprache durch-
aus nicht an Berührungen mit derjenigen der früheren Jahre, ist
sie doch aus ihr in bewußter Weiterbildung entwickelt worden; aber
der Fortschritt ist so plötzlich und so durchgreifend, daß er nur
durch den Eintritt eines in neuer Schule erwachsenen Verfassers zu
erklären ist*). Grade das J. 808 enthält aber auch die vielberufe-
1) So irrig auch die Folgerungen von Dünzelmann, Manitius, Dorr (Neues Ar-
chiv II. VII. X) sind, so nützlich und dankeuswert ist das von ihnen zusammen-
getragene Material zur Stilvergleichung; das sei ausdrücklich betont.
2) Nur aus dem J. 808 seien noch verzeichnet: statwis per aliquot dies ın
litore habitis; cum magno copiarum suarum detrimento (copiae durchaus niemals
vorher gebraucht !); populartum fidet diffidentem — alles Wendungen, die dann
häufiger wiederkehren. Begreiflicher Weise begegnen solche klassischen Aus-
drücke besonders häufig in Kriegsberichten — weil vor allem für diese die klas-
sischen Muster vorlagen.
3) Ich verzichte hier auf eine Begründung im einzelnen um so eher, als die
Beobachtung, einmal gemacht, ganz selbstverständlich erscheint. Leicht kann
ein jeder sich überzeugen, indem er sich mit dem Stile der sog. Ann. Einhardi
vertraut macht. Dann wird er schon bei der Lectüre erkennen, daß in den Ann.
regni erst die Berichte von 808 an (resp. vom Schlusse von 807) in jeder Be
ziehung sprachlich den Ann. Einhardi verwandt sind, während die Sprache der
früheren Jahre nur eine Vorstufe für den Stil der Ueberarbeitung darstellt,
Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 881
nen, auch von Monod besprochenen Worte: pracerat tunc temporis
ecclesiae Romanae Leo tertius, aus denen v. Sybel zu Unrecht die
Abfassung des Jahresberichts nach Leo’s Tode 815 folgern wollte.
Wie seltsam wären diese Worte bei einem Annalisten, der von 795
—806 dauernd von eben diesem Papste Leo gehandelt hat; wie
leicht hingegen erklären sie sich, wenn ein Schreiber, der erst nach
dem J. 806 begann, hier zum ersten Male des Papstes gedachte!
So bilden m. E. die J. 794 und 807 die unverkennbaren und
sichersten Grenzen, welche die Sprache innerhalb der Reichsannalen
abzustecken erlaubt; bei den J. 795 und 808') bemerken wir die -
Thätigkeit neuer Verfasser.
Ob innerhalb der auf diese Weise gekennzeichneten Gruppen
741—794, 795—807, 808—829 noch kleinere Abschnitte bestimmt zu
gliedern sind, wird reiflicher Prüfung bedürfen. So zeigen die J. 792.
793 einen gewissen Fortschritt gegenüber den früheren Jahren, und
die irrige Wiederholung der Festangaben zu Beginn von 792 mag
in der That dazu führen, die Berichte von 792—794 dem ersten
Annalisten abzusprechen, so daß in dieser Begrenzung Monods An-
sicht nicht unbegründet erscheint. Andererseits ist auch in der
letzten Gruppe mit einiger Sicherheit ein Einschnitt zu machen.
Denn am Schlusse des J. 820 — doch noch nicht mit dem J. 819,
wie Monod (mit Rücksicht auf Hildibalds Tod 818) wünscht — dürfte
mit der eingehenden Schilderung der Naturerscheinungen ein anderer
Verfasser einsetzen, dessen Eigenart von Dünzelmann, Simson, Kurze
und Monod beschrieben worden ist. Dagegen halte ich es für un-
möglich, innerhalb der Jahre 795—807 einzelne Autoren zu schei-
den; und vor allem bin ich so wenig wie Kurze in der Lage, im
J. 801 irgend eine Aenderung in der Sprache der Jahrbücher zu
erkennen, die aus einem Wechsel der Schreiber erklärt werden
müßte. Darum sei schon hier darauf aufmerksam gemacht, daß die-
ser von Monod festgehaltene Haupteinschnitt ursprünglich überhaupt
nicht durch stilistische Erwägungen, sondern mit dem — unrichtig
beurteilten — Verhältnis der sog. Ann. Einhardi zu den Ann. regni
begründet worden ist. Für die ganze zweite Gruppe von 795—807
ist dadurch aber noch nicht die einheitliche Niederschrift durch ein
und denselben Mann positiv erwiesen. Vielmehr gilt für sie wie für
die Reichsannalen überhaupt eine andere allgemeine Betrachtung.
Wenn man nämlich ihre Entstehung am Hof als sicher annimmt
1) 808 scheint noch einmal die altüberkommene Wendung et inmutatus est nu-
merus annorum am Jahresschlusse gebraucht zu sein; danach verschwindet sie
endgiltig.
Geet, gel. Ans. 1901. Hr. 11. 58
882 Gött. gel. Anz 1901. Nr. 11.
und mit Ranke und Monod ihre dauernde Weiterführung aus den
Willen und Wunsche der Herrscher ableitet und wenn man die
Schreiber deshalb in der Hofgeistlichkeit der kaiserlichen Kapelle
sucht —, grade dann ist man keineswegs genötigt, größere Abschnitte
ausschließlich als das Werk einzelner bestimmt zu nennender Verfasser
anzusehen, grade dann liegt vielmehr immer die Möglichkeit vor
daß diese oder jene Eintragung aus zufälligen Gründen von diesem
oder jenem Angehörigen des vertrauten Kreises vorgenommen wor-
den ist, dem die Sorge für die Jahrbücher aufgetragen war.
Schon mit Rücksicht auf die hierdurch bedingte Unsicherheit ist
es bedenklich, einzelne hervorragende Persönlichkeiten wie die Erz-
kaplane, Einhard oder den von Kurze auf den Schild erhobenen
Riculf als Verfasser zu bezeichnen, zumal es an jedem sicheren
Zeugnisse für den einen oder den andern fehlt; selbst die Nennung
der Namen Fulrads (zu 755), Angilberts (zu 792) und Einhards (zu
806) ohne irgend welche nähere Angabe ihres Standes oder Amtes
beweist nichts, als daß die Reichsannalen in einem diesen hervor-
ragenden Männern nahestehenden Kreise aufgezeichnet worden sind.
Mag es wenigstens nicht unmöglich sein, daß Erzkaplan Hilduin an
dem letzten Teile der Annales regni 820—829 unmittelbaren An-
teil gehabt habe’), ein Beweis hierfür ist noch nicht erbracht:
denn alle Gründe Monods (selbst das Abbrechen der Annalen 829
vor dem Ausbruch der großen Verschwörung) bestätigen nur das
Eine, daß der Verfasser die Interessen des Erzkaplans teilte und
daß dieser selbst auf die Haltung des letzten Teiles von Einfluß
gewesen sein wird. Und in dieser Weise mögen auch die früheren
Vorsteher der Hofgeistlichkeit auf die älteren, von ihren Unter-
gebenen geschriebenen Jahresberichte eine gewisse Einwirkung aus
geübt haben. Monods weitergehende Behauptung aber, daß jede
Mal bei ihrem Amtsantritt auch die Verfasser der Reichsannalea
wechselten, hat der Prüfung nicht Stich gehalten. Weder 795 noch
vor allem 808 haben uns bekannte Vorgänge in der Kapelle de
Wechsel der Jahrbücherschreiber mit sich gebracht; und selbst 820 ist
er doch erst geraume Zeit nach Hilduins Amtsantritt erfolgt. An den
1) In dem bekannten Berichte über die Wunder des h. Sebastian zum J. 8%
mit dem vor allem Hilduins Autorschaft gestützt zu werden pflegt, heißt es:
quaedam tanti stuporis esse narrantur; ‘diese auch sonst bemerkbare Vorsicht
wo der Verfasser nicht als Augenzeuge schreibt, spricht mindestens nicht fü
Hilduin als Verfasser. — Keinesfalls ist übrigens, wie Kurze behauptete, Hilda
oder der letzte Verfasser der Ann. regni mit dem Schreiber des 1. Theiles de
Ann. Bertiniani identisch. In diesen herrscht eine, man möchte sagen, archi
stische Sprache.
Monod, Etudes critiques sur les sources de Vhistoire carolingienne. I. 888
von Monod vor allem hervorgehobenen Einschnitte mitten im J. 801
schließlich ist irgend eine Aenderung im Charakter und Stil der Jahr-
bücher überhaupt nicht nachweisbar.
Wesentlich auf Grund dieser Ergebnisse über die Abfassung der
Annales regni sind wir jetzt in der Lage, ungleich freier als die
bisherige Forschung über die Entstehung ihrer in den sogenannten
Ann. Einhardi vorliegenden Ueberarbeitung zu urteilen. In Bezug
auf sie steht Monod ganz auf dem Boden der älteren Gelehrten,
welche die Ueberarbeitung der Ann. regni nur bis zum J. 801 reichen
und deshalb sehr bald nach diesem Jahre verfaßt sein ließen. Eine
Bestätigung dafür fanden sie in der Thatsache, daß der Poeta Saxo
die Ann. Einhardi nur bis zum J. 801 benutzt habe; denn sie nah-
men an, daß dem Dichter eine ursprünglichere Gestalt der Ueber-
arbeitung vorlag als die uns überkommenen Hss. bis 829, eben weil
sie nur bis 801 reichte. Diesem bösen circulus vitiosus ist auch
Monod verfallen, trotzdem Kurze (Neues Archiv XIX, 330) seitdem
gezeigt hatte, daß die Quelle des Poeta Saxo den uns erhaltenen
Handschriften durchaus gleichartig und wie sie verderbt und schon
mit der Vita Karoli verbunden war. Daß sie mitten im J. 801 ver-
stümmelt abbrach, so daß sich der Dichter ihrer nicht weiter be-
dienen konnte, läßt natürlich irgend einen Rückschluß auf die Ent-
stehungszeit und Ausdehnung der Ann. Einhardi durchaus nicht zu.
So bleibt uns, um Auskunft darüber zu erhalten, nur übrig, die An-
nalen selbst zu befragen, indem wir uns vorläufig von allen hin-
sichtlich ihrer überkommenen Vorstellungen frei machen.
Den von Kurze unter dem Buchstaben E zusammengefaßten
Handschriften der Reichsannalen bis 829 ist gemeinsam, daß sie, so
weit sie vollständig erhalten sind, sich an die Vita Karoli Einhards
anschließen ') und daß sie die Annalen nicht in der ursprünglichen
Fassung bieten ; vielmehr sind die älteren Jahresberichte in den Hss.
der Klasse E sachlich und sprachlich umgearbeitet; erst die letzten
Jahre stimmen vollständig mit den in den Hss.-Gruppen C und D
überlieferten Ann. regni bis 829 überein. Das ist der Befund, von
dem jede Beurteilung ausgehen muß; denn da wir ihm zufolge die
Ueberarbeitung für sich allein überhaupt nicht besitzen, sondern sie
ausschließlich in der engen Verbindung mit dem Schlusse der Reichs-
annalen kennen, haben wir zunächst die Aufgabe, die Ueberarbeitung
aus dieser jede Kritik hindernden Vereinigung zu lösen; wir müssen
1) Wie Kurze zu folgern vermag, daß die Hs. E 9, von der wir nichts als
ein Bruchstück von 806—821 besitzen, ursprünglich nicht mit der Vita Karoli
verbunden war, ist unerfindlich.
D8 *
884 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
feststellen, wie weit sie in den Hss. der Klasse E überhaupt er-
kennbar ist und mit welchem Jahr in diesen die einfache Abschrift
der Reichsannalen beginnt. So klar die Aufgabe scheint, sie ist bis-
her nicht gestellt, geschweige denn gelöst worden; daß sie — wie
eine Reihe anderer wichtiger kritischer Fragen — aufgeworfen und
bestimmt beantwortet werden kann, ist erst eine Folge von Kur-
zes Arbeiten und seiner Schulausgabe der Ann. regni Francorum;
ein Verdienst, das um so entschiedener hervorgehoben werden soll,
je weniger ich mich den Ergebnissen seiner Untersuchungen und den
kritischen Voraussetzungen der m. E. verfehlten Ausgabe anschließen
kann.
Längst sind die Forscher darüber einig, daß die sachliche Be-
arbeitung der Reichsannalen mit dem J. 800 ihr Ende erreicht hat.
Aber ohne Mühe läßt sich an der Hand der neuen Ausgabe verfol-
gen, daß die sprachliche Feilung noch erheblich länger ihre Spuren
hinterlassen hat; sie ist durch das ganze Jahr 801 hin besonders
merkbar (keineswegs nur bis zu dem Satze imperator — perrezit,
wo die Benutzung durch den Poeta Saxo aufhört) und in den Be-
richten von 802—807 noch ebenso deutlich wie in den Jahren 808
—812). Möglicherweise dürfen wir das Wirken des Bearbeiters
noch im J. 815 erkennen?) ; jedenfalls aber fehlt vom J. 816 an
schlechterdings jede Spur von ihm: mindestens von 816 bis 829 ge-
ben die Hss. E durchaus nichts als einen Text der Annales regni.
Begnügen wir uns damit, aus diesem einfachen Sachverhalt vorerst
einen fast selbstverständlichen Schluß zu ziehen. Wir haben in den
Hss. der Klasse E zwei ganz verschiedene Bestandteile zu scheiden:
eine Ueberarbeitung der alten Reichsannalen, die wir bis in die
Jahre 812—815 wahrnehmen können, und eine nahezu völlig kor-
rekte Ueberlieferung der Annales regni Francorum etwa von 816—829.
1) Bei der Wichtigkeit dieser Behauptung stelle ich die wertvollsten Varian-
ten zusammen. 801: legatus predicti regis (S. 116 N. p); ad memoratun
regem (N. x); legatts suis (N. z) u.s.w. — 802: propter pacem (S. 117
N. c); venattbus indulgens (N. q, statt operam dedst), — 803: domni fehlt
(5.118 N. g). — 804: tnhsbttus (S. 118 N.1 statt cerritus); imperator autem (N.n).
— 805: venations vacans (S.120 N.y, statt operam dans vgl. zu 802). — 807:
in Aquense palatio (S. 124 N. u). — 809: Aldulfus videlicet (S. 128 N. t);
locum (S. 130 N. b, statt mintsterium). — 810: in memorato (S. 131 N. 0). —
811: domns fehlt (S. 135 N. i). — 812: Herioldi quondam regis (S.136 N.k);
domnt fehlt (N. y, vgl. 803. 811).
2) 815: infectum (S. 141 N. i, statt tnperfectum); exstrunit (S. 148 N. p,
statt construstt); doch wären hier vielleicht Einwürfe eines Skeptikers möglich,
der den Text von E gegen CD aufnehmen wollte, oder eines andern, der bier
nur Abschreibefehler der Hs. E sehen würde. Es ist für die Entscheidung der
Hauptfrage zunächst unerheblich.
Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. L 885
Erst jetzt dürfen wir zu der Frage vorschreiten, wann denn die
Ueberarbeitung bis etwa 812 entstanden sei. Allerdings ist der An-
schauung Monods und seiner Vorgänger, daß die sog. Ann. Einhardi
um 801 verfaßt seien, schon durch die Untersuchung und Gliede-
rung der Hss. E jeder Boden entzogen. Aber mit unsern neuen Er-
gebnissen ließe sich die von Kurze wiederholt energisch vertretene
Behauptung immerhin vereinigen, daß die Ueberarbeitung nicht vor
dem J. 830 begonnen sei. Ich sehe auch hier von jeder Erörterung
der vorgebrachten Gründe oder der angewandten Methode ab; die
Quellen selbst — die allein Grundlage historischer Erkenntnis bil-
den — sprechen ihre vernehmliche Sprache.
Der Wortlaut der Ann. Einhardi gestattet, ihre Entstehung in
dem Zeitraum weniger Jahre fest zu umgrenzen. Zum J. 799 er-
zählen sie von der Unterwerfung der Bretonen, deren »treulose Un-
beständigkeit« sie indessen bald wieder zum Abfalle trieb'); die
nächste Empörung aber, von der die Reichsannalen wissen , fand im
J. 811 statt. Ja, die Vermutung liegt nahe, daß erst nach 813,
nach dem Tode Karls der Ueberarbeiter ans Werk gegangen ist,
wenn man die rücksichtslose Schilderung der gegen Karls Herrschaft
gerichteten Empörungen und die in den Reichsannalen übergangenen
Niederlagen liest und wenn man bemerkt, wie dem Kaiser der Titel
domnus consequent entzogen wird?). Den terminus ante quem hin-
gegen liefert uns ein Satz, dessen Nichtbeachtung auch nach Kurzes
Ausgabe ganz rätselhaft erscheint. Zum J. 798 nämlich benutzen
die Ann. Einhardi die Erwähnung der Abodriten, um deren Feind-
schaft mit den Sachsen damit zu erklären, daß die Abodriten, seit-
dem sie einmal das Bündnis mit den Franken eingegangen waren,
immer ihre Bundesgenossen geblieben sind: nam Abodriti aucxiliares
Francorum semper fuerunt, ex quo semel ab eis in societatem re-
1) Videbatur enim, quod ea provincia tum esset ex toto subacta; et esset, nisi
perfidae gentis instabilitas cito id aliorsum more solito commutasset. Dünzel-
mann, Neues Archiv II, 493 behauptet zwar, ctto könne von einem Aufstande im
J. 811 nicht gesagt werden und nimmt deswegen eine sonst nicht überlieferte
Empörung vor 801 an. Zu diesem Auswege liegt aber kein Anlaß mehr vor.
Erst 800 huldigten die bretonischen Häuptlinge dem König (v. Simson, Jahrb. Karls
d. Gr. II, 202. 213). Auch erscheint eine Empörung nach zehnjähriger Ruhe
leicht demjenigen zu schnell erfolgt, der noch unter dem Eindruck dieser Em-
pörung steht.
2) Die seltenen Fälle, in denen er stehen geblieben ist, danken nur der Ab-
schrift aus der sonst immer geänderten Vorlage der Reichsannalen ihr Dasein.
Während auch in dem Abschnitt 801—813 Karl in E nie domnus heißt, ist das
Prädicat an der einzigen Stelle, wo es in der Redaktion BCD Ludwig beigelegt
wird, im J. 809 auch in E stehen geblieben.
886 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
cepti sunt. Aus den Reichsannalen erfahren wir nun, daß eben diese
Abodriten seit dem J. 817 zu Feinden der fränkischen Herrschaft
wurden; Ludwig hat von 817 an dauernd mit ihren Emporungen
zu schaffen '). Der Satz der Ann. Einhardi 798 kann deshalb schlech-
terdings nur vor dem J. 817 niedergeschrieben, die Ueberarbeitung
der Reichsannalen muß vor demselben J. 817 abgeschlossen, sie
wird vermutlich erst nach des großen Kaisers Tode begonnen wor-
den sein.
Das überraschende Ergebnis, daß die oben nachgewiesene nicht
bis 801, sondern bis 812—815 reichende Ueberarbeitung der Annales
regni schon vor dem J. 817 beendet wurde, ist ohne Schwierigkeit
mit dem Handschriftenverhältnis zu vereinigen und gewinnt durch
dessen befriedigende Erklärung erwünschte Bestätigung. Bereits
Kurze hat die enge Beziehung der Gruppen D und E unter den
Hss. der Reichsannalen bemerkt und zum Ausgangspunkt seiner
Aufstellungen gemacht. Sie ist indessen keineswegs auf die sachlich
erheblichen Zusätze zu den Jahren 785 und 792 über die Verschwö-
rungen sowie zum J. 813 über den Brand der Mainzer Brücke und
die Krankheit des Kaisers beschränkt; sondern sie tritt uns auch in
der wichtigen Ortsangabe Badenfkot zu 809 — wo B und C eine
Lücke für den Namen gelassen haben — und in einigen an sich un-
bedeutenden Lesarten bis zum J. 813 entgegen, in denen D und E
gegen B und C zusammenstehen?). Grade die letzteren schließen
es gänzlich aus, daß etwa D an allen jenen mit E übereinstimmenden
Stellen aus E abgeleitet sei; sie -stellen vielmehr sicher, daß
den Ann. Einhardi eine Handschrift der D-Klasse vorgelegen hat.
Andererseits hört nun grade mit dem J. 813 die Abhängigkeit der
E-Hss. von D auf’); für die J. 814—829 ist sie so wenig zu er-
1) v. Simson, Jahrb. Ludwigs d. Fr. I, 110.
2) 801: urbes montesque D. E (8.114 N.z). — 808 Nantharius abbas D. E
(S. 127 N. q). — 809: dommum fehlt D. E (S. 127 N. e). — 810: snterirent D.
E (S. 132 N. a). — 813: aquilonalem D. E (S. 138 N. d, statt aguslonem).
Grade durch diese ganz unerheblichen Varianten von D und E wird ausge
schlossen — was Monod notgedrungen vermuten mußte (S. 146 N. 1) —, daß die
Hss.-Klasse D von E abhängig sei. Was bei den sachlich erheblichen Zusätzen
zu 785. 792. 813 wenigstens möglich wäre, das ist bei diesen gleichgiltigen Kleinig-
keiten unmöglich. Wer will glauben, daß D — sonst eine Abschrift der Reichs-
annalen — grade nur diese unbedeutenden Varianten neben den Zusätzen aus E
herausgesucht und übernommen hätte ?
8) Die gegenteilige Behauptung von Kurze (Neues Archiv XIX , 323) ist
falsch. Nur ist zu 828 (S. 176 N. e) defect D. E gegen defecta est C, und zu
829 (S. 177 N. d) ex parte non modica D. E gegen C aufzunehmen, das aach
sonst nach Kurze’s Angaben an falschen Lesungen nicht arm ist.
Monod, Etudes critiques sur les sources de histoire carolingienne. I. 887
weisen !), daß vielmehr E als eine Vorlage von D gelten könnte,
wenn nicht vielmehr beide auf das über das J. 813 hinaus fortgesetzte
Original der Annales regni zurückzuführen sind. Aber auch inhalt-
lich bedeutet das J. 813 für die Gruppe D einen Abschnitt: nur bis
dorthin zeichnet sie sich durch wichtige Ergänzungen und einige
Aenderungen der Reichsannalen aus*); von 814—829 hingegen ist
D — wie E — nichts als ein nahezu völlig korrekter Text der Jahr-
bücher ohne irgend sachliche oder stilistische Eigentümlichkeit. Die
Urschrift der Klasse D wird daher zunächst nur bis zum J. 813
gereicht haben ; und sie muß es sein, die den vor 817 abgeschlossenen
Ann. Einhardi zu Grunde gelegt ist. Ja, der Gedanke liegt sehr
nahe, daß der Archetypus D eben deshalb angefertigt wurde, um
dem Verfasser der Ueberarbeitung ein Exemplar der Reichsannalen
in die Hand zu geben. Für einen solchen nur gelegentlichen Ge-
brauch zu einem bestimmten Zweck würde die geringe Verbreitung
der Fassung D aufs beste stimmen: die einzige vollständige Hs. D 1
stammt aus Worms; das verlorene Bruchstück von 771—829, die
Vorlage der Ann. Fuldenses (D 2) und der Niederaltaicher Hs. D3,
hat ohne Zweifel in Fulda gelegen; außerdem scheint D benutzt
nur für die Ann. Sithienses, die wegen ihrer vielbesprochenen unten
noch zu erörternden Beziehung zu den Ann. Fuldenses der Behaup-
tung nicht entgegenstehen, daß die Kenntnis von D auf das enge
Gebiet Worms-Fulda beschränkt geblieben ist — dem ja Lorsch und
Michelstadt zugehören.
Die Kenner der neueren Arbeiten über die karolingischen An-
nalen haben längst bemerkt, daß die bisher gewonnenen Ergebnisse
mit den von Kurze aufgestellten Ansichten unvereinbar sind. Mit
der Annahme, daß die Annalen unmittelbar nach dem J.813 die Ge-
stalt D erhalten haben, die er erst nach 829 entstanden sein ließ, und
mit dem Nachweis, daß bereits 817 die Ann. Einhardi vollendet
waren, die nach Kurze frühestens 830 begonnen sind, stürzt das ganze
kunstvoll errichtete Fundament seiner Ausgabe zusammen. Das
Verhältnis der Handschriften und die Entstehungsgeschichte der
1) Zu 820 (8. 154 N. g) hat C: Buyn; E: Bundium; D: Buynbundium.
Hier ist, wenn überhaupt ein Schluß zulässig ist, die Lesart von D als Contami-
nation, aber C so wenig wie E mit Kurze als Ableitung von D zu erkennen.
2) In D 1 ist am Schluß der Jahresberichte von 808—812 statt des früheren
et inmutavit se numerus annorum in mit der Jahreszahl nur im mit dieser ge-
setst. Am Ende von 813 und in allen folgenden Jahren fehlt es. Würde diese
Eigentümlichkeit auf den Archetypus von D zurückgehen, so gäbe sie einen
Grund mehr für seine Entstehung sogleich nach Karls Tode und seine Aus-
dehnung nur bis 818.
858 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 1L
Reichsannalen muß von neuem behandelt werden. Indessen sebe ich
hier vollständig davon ab, auf diese Fragen einzugehen, da eine aus
dem Straßburger historischen Seminar hervorgehende Dissertation des
Herrn Wibel sich eindringlich mit ihnen beschäftigen wird: mit Rück-
sicht auf sie habe ich mich auch in meinen Angaben über die Ge
schichte der Klasse D auf das für das Verständnis Unentbehrliche
beschränkt. Nur die Folgerungen für die Abfassung der Ann.
Einhardi müssen schon in diesem Zusammenhange gezogen werden.
Die Thatsache nämlich, daß eine noch das J. 813 umfassende
His. der D-Klasse in der Ueberarbeitung benutzt ist, begründet end-
giltig die oben ausgesprochene Vermutung, daß diese frühestens 814,
also erst nach Karls Tode, in Angriff genommen ist. Unmittelbar
nach seinem Ende ist der Gedanke lebendig geworden, das Werk,
das seine Thaten verzeichnete, in eine des Herrschers würdige
Sprache umzugießen. Der fortgeschrittenen Bildung des Hofes moch-
ten die älteren Theile fast barbarisch erscheinen, während allerdings
die späteren Jahresberichte mehr und mehr dem Geschmacke der
Zeit nahe kamen. Da war es nahezu selbstverständlich, daß eine
durchgreifende Umgestaltung, die notwendig noch einen großen Theil
der Berichte aus den neunziger Jahren umfassen mußte, sich bis zu
dem bedeutungsvollen Höhepunkt in Karls Regierung erstreckte: bis
zur Kaiserkrénung. Mit dem Ende von Karls Königszeit endet auch
die einschneidende Thätigkeit des Mannes, der die Bearbeitung der
Reichsannalen bis 800 fast zu einer neuen Schrift zu machen wußte,
während er für den letzten, vielleicht von den Freunden und Ge-
nossen geschriebenen Teil bis 813 sich mit verhältnismäßig geringen
Aenderungen begniigte. Daß er dabei einem eigentlichen Auftrage
nachkam, wird man nicht wohl behaupten dürfen ; aber daß sein
Werk rege Wünsche des höfischen Kreises zu befriedigen hatte,
wird derjenige leicht glauben, der sich erinnert, daß in denselben
Jahren zu Beginn von Ludwigs Herrschaft in eben demselben Kreise,
sei es in der Kanzlei oder zu S. Martin von Tours, die alten Marcul-
fischen Urkundenformulare in reines und gefälliges Latein umgewan-
delt worden sind.
Auch die Sprache hätte sich als weiteres Moment dafür ver-
werten lassen, daß die Ueberarbeitung nicht bereits 801, aber schwerlich
erst nach 830 geschrieben ist. Ich habe schon oben (S. 880) bemerkt,
daß vom J. 808 an der Stil der Ann. regni sich in charakteristischer
Weise dem Gebrauche der Ann. Einhardi nähert, und Dünzelmann
hat ganz mit Recht beider engste Berührung vom J. 816 an hervor-
gehoben. Wir werden jetzt vermuten dürfen, daß die zwischen 814
und 817 fertig gestellte Ueberarbeitung seit 816 am Hofe vor-
Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 889
lag!); und das bewunderte Werk ward wie eine Schrift der Klas-
siker von den Annalisten als Muster erhobener Sprache nachgeahmt.
An eine Identität des Ueberarbeiters mit einem der Fortsetzer der
Reichsannalen wird besser nicht gedacht; die zuletzt von Hiiffer in
seinen Korveier Studien zusammengestellten Eigenheiten begegnen in
keinem Abschnitte der Ann. regni; »ein Sachse am Hofe Ludwigs
führt in den sog. Ann. Einhardi das Wort«. Monod will nicht ohne
Grund den Verfasser unter den Geistlichen in der Umgebung des
offenbar mit besonderem Interesse begleiteten Grafen Theoderich er-
kennen, wihrend namentlich Hiiffer den sprachgewandten Schrift-
steller in Gerold, dem Kaplan Ludwigs d. Fr. sieht, auf den Martin
Meyer zuerst aufmerksam gemacht hat. Dieser Vermutung, die noch
die Entstehung der Ann. Einhardi nach 830 zur Voraussetzung
hatte, ist ihre Verschiebung auf den Zeitraum 814—816 nicht gün-
stig, da Gerold erst 876 starb. Sollte der, welcher in frühen Jah-
ren als Jüngling so hervorragendes geleistet hätte, nie wieder zur
Feder gegriffen haben? An Sachsen hat es am Kaiserhofe nicht ge-
fehlt; und so feinsinnig auch Hüffer für Gerold eingetreten ist,
einenBeweis für seine Autorschaft hat er nicht liefern können ”).
Wahrscheinlicher als die Annahme, daß die ausführlichen und z. T.
höchst wertvollen Ergänzungen der Ann. Einhardi bis zum J. 800
von einem Jünglinge herrühren, der von allen jenen Vorgängen
durchaus nichts selbst erlebt hatte, sondern nur durch Mitteilungen
anderer davon wußte, bleibt unter allen Umständen eine dahin zielende
Lösung, daß ein älterer Mann — vielleicht aus Theoderichs Um-
gebung — das Werk verfaßt hat, welcher mindestens noch einen
Teil des Berichteten mit eigenen Augen gesehen, mit eignen Ohren
den Legaten Eburis 798 nach der Rückkehr aus dem Kampfe von
der Niederlage der Sachsen hat erzählen hören. Darum ist aber
doch an Einhard, nach dem leider nun einmal die Ueberarbeitung
genannt ist, in keiner Weise zu denken, zumal er ja kein Nieder-
deutscher ist. Mit vielen Aelteren haben zwar noch Wattenbach
und Mühlbacher an ihm festgehalten, während zuletzt Kurze und
jetzt Monod ausführlich ihm jedes Anrecht darauf abgesprochen haben.
1) Der von Simson bemerkte Umstand, daß über die spanische Gesandtschaft
am Schlusse von 816 und, z. T. völlig gleich, am Anfang von 817 gehandelt
wird, könnte den Gedanken wecken, daß mit dem J. 816 etwa eine Originalhs.
der Reichsannalen endete und von dem J. 817 an der Originaltext in eine Hs.
eingetragen wurde, in welcher der frühere Text bis 816 nur abgeschrieben war.
2) Daß Agius, nach Hüffer ein Schüler Gerolds und der Poeta Saxo, nur
eine verstümmelte Hs. der Ann. Einhardi benutzen konnte (s. oben S. 883),
würde gradezu dagegen sprechen, daß Gerold diese verfaßt habe,
890 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
Ein selbständiges Urteil hierüber vermag nur der zu fällen, welcher
über das Verhältnis der sog. Ann. Einhardi zu Einhards Vita Karoli
sich eine feste Meinung gebildet hat.
Auch für diese neuerdings äußerst lebhaft erörterte Frage ist
die Entscheidung über die Abfassungszeit der Ann. Einhardi von
wesentlicher Bedeutung gewesen. Wem ihre Entstehung um 801
im allgemeinen als sicher galt, für den war es selbstverständlich,
daß sie als Quelle der nach Karls Tode geschriebenen Biographie
anzusehen seien; auch Monod hat deshalb diese Auffassung vertreten.
Kurze dagegen, der die Ueberarbeitung bis in die 30er Jahre hinaus-
rückte, mußte sie aus der Vita Karoli ableiten, die schon 821 im
Kloster Reichenau vorhanden gewesen sein soll. Gegen seinen >in-
direkten< Beweis aus der Entstehungszeit der Quellen wandte sich
Bernheim, der früher!) aus dem unmittelbaren Vergleiche beider
Schriften die Benutzung der Annalen in der Vita >direkt< bewiesen
zu haben glaubte. In ihrem Kampfe, der nicht so sehr um die Er-
gebnisse an sich wie um den Wert der beiderseitigen Beweisarten *)
geführt wurde, appellierte schließlich Bernheim in begreiflicher Un-
geduld an die »communis opinio< derer, die sich heut noch mit sol-
chen Dingen abgeben und die deshalb »nicht um die Frage herum-
zugehen, sondern öffentlich Zeugnis abzulegen« haben. Und da selbst
Monod von Kurze’s Ausführungen so beeinflußt worden ist, daß er
‚eine unzweifelhafte Lösung der Frage für unmöglich hält«, so ist
hier allerdings der Ort, mit der Entschiedenheit, die auf einer wohl-
begründeten Ueberzeugung beruht, zu erklären, daß Bernheim un-
bedingt das Rechte getroffen hat, wenn er die sog. Ann. Einhardi
als Quelle der Vita Karoli bezeichnet. Aber wichtiger als solche
Erklärung ohne werbende Kraft wird auch Bernheim der überzeu-
gende Beweis für seine Ansicht sein, selbst wenn dieser Beweis —
der von ihm so gering geachtete »indirekte« ist. Wiederum genügt
für die Entscheidung ein einziger Blick auf die Quellen selbst, auf
eben jene Stelle, die wir oben schon für die Entstehungszeit der
Ann. Einhardi verwerteten und die in der Vita Karoli bedeutungs-
voll verändert ist. Man vergleiche:
1) Historische Aufsätze dem Andenken an G. Waitz gewidmet. S. 73 ff, Ich
verzeichne die Litteratur über die »Frage«: Kurze in N. Archiv XXI, 61. —
Bernheim in Deutsche Zeitschr. f. Geschichtswiss. N. F. I. Monatsblätter S. 129 ff.
und Kurze ebenda S. 257 ff. — Bernheim in Histor. Vierteljahrschrift I, 161 ff.
— Kurze in Neues Archiv XXVI, 153 ff.
2) Nur gegen die methodologischen Auseinandersetzungen Bernheims hat sich
H. Bresslau im N. Archiv XXIV, 752f. ausgesprochen; sachlich stimmt auch er,
wie ich erklären darf, Bernheims Ansicht von der Priorität der Vita su.
Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 891
Ann. Einh. 798:
Nam Abodriti auxiliares Fran-
Vita Karoli c. 12:
Causa belli erat, quod Abodritos,
corumsemper fuerunt, ex quo qui cum Francis olim foede-
semel ab eis in socielatem recepti rati erant, assidua incursione
sunt. lacescebant.
So sicher es ist, daß die Ann. Einhardi vor dem Abfall der Abo-
driten, also vor 817 geschrieben sind, so unbestritten muß nach
diesen Worten die Abfassung der Vita Karoli nach ihrer Empörung,
also nach 817 sein. Der »indirekte« Schluß aus der Entstehungs-
zeit der Werke liefert also den Ausschlag gebenden Beweis dafür,
daß die Ann. Einhardi die Quelle der Vita gewesen sind; es ist das
Verhältnis, für welches außerdem — darum ist Bernheims Ungeduld
verständlich — schlechterdings alles spricht.
Niemand, auch Kurze nicht, dem die Ueberarbeitung trotz ihrer
späten Entstehung nach 830 mit dem J. 801 endet, hat je daran
gezweifelt, daß Einhard seine Nachrichten aus Karls Kaiserzeit den
Reichsannalen von 801—813 entnommen hat. Schon Simson, De
statu quaestionis sintne Einhardi necne sint... Annales imperii S. 40
hat die gleichartigen Stellen zusammengetragen, aus denen ich nur
die bezeichnendste hervorhebe :
Ann. regni (= Einh.) 813:
evocatum ad se apud Aquasgrani
filtum suum Hludowicum Aquita-
niae regem coronam illi inposutt
et imperialis nominis sibi consor-
tem fecit Bernhardumque nepotem
. regem appellari iussit.
Vita Kar. c. 30:
vocatum ad se Hiudowicum flsum
Aquitaniae regem... consortem sits to-
tius regni et imperialis nominis here-
dem constitutt imposttoque caps
eius!) diademate, imperatorem et
augusium *) iussit appellari.
Bei diesen Worten hat mit allen auch Kurze (Neues Archiv XXVI,
156) angenommen, daß der Biograph »die älteren Annalen wörtlich ab-
schreibt«. Wie steht es indessen mit den Ereignissen aus Karls
Königszeit, wo die Reichsannalen und ihre Bearbeitung wesentlich
auseinandergehen, die Vita Karoli sich aber im Ausdruck nicht mit
jenen, sondern nur mit dieser berührt? Ich wähle einige Sätze aus
dem Berichte des J. 787. Da heißt es:
Ann. regni: Ann. Einh.:
dum Capuam venisset, Areghisus Capuam Campaniae civitatem: ac-
dux reliquid Beneventum civitatem cessit ibique castris positis conse-
dit, inde bellum gesturus, ni me-
elegit XII obsides et tertium de- moratus dux ... praevenisset ...
1) Vgl. A. Einh. = A. regni 801: coronam capits eius inposutt.
2) Vgl. A, Einh, = A. regni- 801: imperator et augustis est appellatus.
892 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
Ann. regni: Ann. Einh.
cimum filium supradicti ducis no- bello abstinuit et minore ducis
mine Grimoaldum. filio nomine Grimoldo obsidatus
gratia suscepto maiorem patri re-
| misit. Accepit insuper obsides...
Vita Carolı c. 10:
Campuam Campaniae urbem accessit alque ibi positis castris bellum Bene-
ventanis, ni dederentur, comminatus est. Praevenit hoc duz gentis Ara-
gisus ..... Rex .. oblatos sibt obsides suscepit ... unoque ex filus
qut minor erat obsidatus gratia retento matorem patri remisit.
Hier wie an zahllosen andern Stellen aus der Geschichte Karls
vor der Kaiserkrönung hat der Wortlaut der Vita nicht die leisesten
Anklänge an die Reichsannalen; dagegen berührt er sich mit den
sog. Ann. Einhardi genau so eng wie bei den Ereignissen von 801 —813
mit den Annales regni. Und da will Kurze wirklich glauben machen,
daß der Biograph bis zum J. 800 seine Vorlage — das sind nach
Kurze eben die Ann. regni — zwar für den Thatbestand benutzt,
aber sorgfältigst jede wörtliche Anlehnung gemieden und sich mög-
lichst selbständiger Sprache beflissen habe, um eben dieselbe Quelle
vom J. 801 an mit der gleichen Sorgfalt wörtlich auszuschreiben
und sich möglichst in ihren Ausdrücken zu bewegen? solcher Sinn-
widrigkeit ist der einfache Schluß entgegenzuhalten, daß der Autor,
dessen Werk sich bis 800 genau so zu den Ann. Einhardi verhält
wie nach 800 zu den Ann. regni, und der diese nach übereinstim-
mender Ansicht vom J. 800 an ausgeschrieben hat, vor 800 eben
jene Ann. Einhardi als Quelle vor sich gehabt haben muß. Hier
greift jetzt entscheidend das Ergebnis unserer früheren Untersuchung
ein, der zufolge es eine Ueberarbeitung der Ann. regni bis zum
J. 800 für sich allein nie gegeben hat; sie ist vielmehr — zwischen
814 und 817 entstanden — von vornherein mit einer nur an einigen
Stellen stilistisch gefeilten Abschrift der Reichsannalen bis 813 ver-
bunden gewesen. Dieses Werk, für welches also die Vereinigung
einer Bearbeitung der Ann. regni bis 800 mit ihrer Abschrift von
801—813 charakteristisch ist, liegt uns von 741—813 in dem ersten
und ursprünglichen Teile der Handschriftenklasse E vor. Wenn daher
Einhard in seiner Biographie Karls grade bis 800 aus der Bearbei-
tung, von da an aber aus den Ann. regni selbst geschöpft zu haben
scheint, so löst sich uns dies merkwürdige Doppelverhältnis dahin
auf, daß er schon in seiner Vorlage beide in dieser Verbindung fand:
Einhard legte seinem Werk eine Hs. der Gruppe E oder, wenn wir
bei dem alten Namen bleiben wollen, die von 741—813 reichenden
Ann. Einhardi zu Grunde, die ihm die Geschichte Pippins und Karls
Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 893
überlieferten ; die eine und einzige Handschrift bot in ihrem ganzen
Umfang ihm den Stoff für seine Erzählung und das erfolgreich nach-
geahmte Muster für seine Sprache ’).
So stimmen, wie es sich bei richtigem Vorgehen gehört, »indirekter«
und >direkter< Beweis, jeder für sich fast entscheidend, dahin zusammen,
daß die Ueberarbeitung der Annalen die ursprüngliche, die Vita
Karoli die abgeleitete Quelle ist. Die Art, wie in ihr die Annalen
benutzt sind, hat Bernheim völlig zutreffend dargelegt ; ausdrücklich
mag noch hervorgehoben werden, wie durchaus Einhards Stil unter
dem beherrschenden Einfluß des Ueberarbeiters steht, auch da wo
er sachlich gar nicht mit ihm zusammenhängt *). Daß diese Abhän-
gigkeit durchaus nur durch umfangreiche sachliche und phraseologische
Excerpte aus den Annalen erklärt werden kann, wie Bernheim
meint, glaube ich nicht. Wenn Einhard sich eine annalistische Ta-
belle über die wichtigsten Daten aus Karls Leben angelegt hatte —
und ohne sie ist allerdings die in ihrer Art vortreffliche geistige Be-
wältigung des Stoffes (man vergleiche z. B. das Kapitel über die
Sachsenkriege) undenkbar —, dann war es ihm ein Leichtes, von
Abschnitt zu Abschnitt die entsprechenden Berichte der Annalen ein-
zusehen.
Ist nach alledem erwiesen, daß Einhard seine Vita Karoli auf
die Annales Einhardi (—813) gestützt und daß er sie erst nach 817
geschrieben hat, zumal das olim in c. 12 den Ablauf einer gewissen
Zeit seit 817 bedingt, so müßte das Werk doch schon vor 821/22
beendigt gewesen sein, wenn seine Erwähnung in dem bekannten
Reichenauer Bücherkatalog *) mit einer auf das J. 821/22 weisenden
Ueberschrift die Existenz der Vita et gesta Karoli zu Reichenau im
J. 821 so sicher beweisen würde, wie Kurze ohne jegliche Prüfung
hinnahm. Am Hofe wurde die Biographie spätestens im J. 824 be-
kannt. Denn dem Schreiber der Reichsannalen flossen bei der Schil-
derung des Ueberfalls der Basken Worte aus der Vita c. 9 in die
1) Inwieweit gelegentlich daneben die Reichsannalen (in der Fassung D?)
oder ihre »Ueberarbeitung von 805« benutzt sind, lasse ich vorläufig unerörtert,
2) Ich verzeichne einige aus der Fülle ausgewählte Beispiele. V.K. c. 2: qui et
claritate generis et opum amplitudine ceteris emimebant, vgl. Ann. Einh. 789: nam és
ceteris... et nobilitate generis et auctoritate senectutis longe praeminebat. — V. K.
c. 14: morte praeventus = A.E. 759; piraticam exercentes = A. E. 798. — V.
K. c. 18: honore consenuit = A.E. 774; c. 19: ne per olium torperent = A. E. 7%. —
V. K. c. 20 aegritudine simulata = A. E. 763. — Es wäre gewiß dankenswert,
wenn bei einer Neuausgabe der Vita die Masse dieser Entlehnungen, sei es in
Anmerkungen oder in einem Glossar, verzeichnet würden.
8) Becker Catalogi bibliothecarum n° 6. Wichtig ist der Vergleich mit der
Genfer Hs. n° 21, deren Verzeichnis Beer in Wiener Studien IX, 160 gedruckt hat.
894 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
Feder, und auch ‘sonst fehlt es seitdem nicht an Wendungen, die us
zeigen, daß Einhards Werk ebenso wie die Ueberarbeitung der Reichs-
annalen dem Verfasser ihres letzten Teiles erwünschtes Vorbild für
seine Sprache war.
Erst jetzt, nachdem wir die Hauptabschnitte der Ann. regni von
741—794. 795—807. 808—820 resp. 829 nach ihren Stileigentin-
lichkeiten geschieden haben, nachdem die Entstehung der Ann. Ein-
hardi von 741—813 aus dem Archetypus der Hs. D auf die Jahre
814—817 festgesetzt und die Abfassung der Vita Karoli unter Benutzung
der Ann. Einh. nach dem J. 817 entschieden ist, erst jetzt vermögen wir
selbständig an die Streitfrage heranzutreten, der Monod den letzten
Abschnitt seines zweiten Kapitels widmet: hat Einhard irgend
welchen Anteil an den Annalen? Monod lehnt seine Mitwirkung
sowohl an den Jahrbüchern selbst wie an der Ueberarbeitung gänr-
lich ab; wenn man ihm auch in dem Ergebnis beistimmen und in der
Verwerfung der späteren Quellenzeugnisse (auch der Translatio s.
Sebastiani) zur Seite stehen wird, so läßt sich doch nicht verkennen,
daß er sowohl Manitius und Dorr wie auch Kurze gegenüber, der
Einhard die Reichsannalen von 795—819 zuschreibt, mehr eine Me-
nung aufstellt als einen Sachverhalt begründet. Bei dem Versagen
aller gleichzeitigen Nachrichten läßt sich: ein Beweis für oder gegen
Einhards Mitarbeit nur aus dem Stil seiner sicher beglaubigten
Werke erbringen. Da schien nun zwischen dem hochbewerteten
Sprachkünstler der Biographie und dem schlichten Schreiber der
Briefe und der Translatio sanctorum Marcellini et Petri ein beträcht-
licher Unterschied, so groß, daß Dünzelmann auf den eigenartigen
Ausweg verfiel, zwei Gelehrte des Namens Einhard zu trennen und
die Schriften auf sie zu verteilen. Wenn wir aber der Vita Karoli
sorgfältig den Festschmuck abnehmen, den sie von den klassischen
Autoren und den Annales Einhardi erborgte, so begegnen wir auch
in ihr überall dem sachlich schlichten Wesen und der ungekünstelten
Sprache des gebildeten Mannes, von denen Einhards andere Schriften
zeugen. Dieses Vergleichsmaterial lehrt überzeugend, daß Einhard
weder mit der Abfassung der Reichsannalen in ihren letzten Teilen
von 808 an noch mit der Ueberarbeitung in den Ann. Einhardi das
Geringste zu thun gehabt haben kann. Aus beiden spricht die schon
zu voll entwickelte Blüte karolingischer Hochrenaissance, während
Einhards Stil noch den Charakter der früheren Epoche zeigt. Kam
er doch um 794 aus Fulda an den Hof'); und weil seine Ausbildung
1) Vgl. Kurse, Einhard 8. 9.
Monod, Etudes critiques sur les sources de l’histoire carolingienne. I. 895
in den nächsten Jahren durch Alchvin vollendet worden ist, so ist
seine Sprache allerdings derjenigen der Annalen von 795—807 ver-
wandt. Allein das beweist in jenen Zeiten neuerworbener Kenntnisse
und schulmäßiger Erziehung am Hofe nichts weiter, als daß Männer
von gleicher Bildung wie Einhard in den Jahrbüchern die Feder ge-
führt haben. Gewiß wird man nicht wie bei den späteren Jahren
und bei der Ueberarbeitung sagen dürfen, daß Einhard an dem Ab-
schnitt von 795—807 unmöglich irgend welchen Anteil hat nehmen
können, aber es fehlt einstweilen an jedem Zeugnisse dafür, und
seine Mitwirkung bleibt eine durch nichts gestützte und deshalb un-
fruchtbare Vermutung.
Durch die geringere Schätzung von Einhards stilistischen Fähig-
keiten und seine Ausschließung aus der Reihe der höfischen Annalen-
schreiber würden jetzt eine Reihe von Bedenken beseitigt werden,
die man früher gegen die Abfassung der Ann. Sithienses und des
ersten Teils der Ann. Fuldenses durch ihn erhoben hat‘). Neuer-
dings hat Kurze in seiner Biographie Einhards ihm wieder mit
großer Bestimmtheit, und nicht ohne Eindruck zu machen, beide
Jahrbücher zugeschrieben ;, während er aber noch beide als Quellen
der nach 830 geschriebenen Ann. Einhardi ansah, kommt jetzt nach
deren Einreihung in die Jahre 814—817 endlich und endgiltig
wieder die alte Anschauung zu Ehren, die für die Fuldischen An-
nalen zuerst Waitz in den Göttinger Nachrichten 1864 S. 58 ff. be-
gründet hat, daß die Ann. Sithienses wie die Fuldenses nicht Quellen,
sondern Ableitungen der Ann. Einhardi sind. Außerdem ist auch
durch Kurze noch nicht der — um mit Holder-Egger zu reden —
»trostiose« Streit um das Verhältnis der Ann. Sithienses zu den Ful-
denses aus der Welt geschaft. Wenn Kurze in der Ausgabe der Ann.
Fuldenses ein verlorenes, reicheres Exemplar der Ann. Sithienses
als Quelle jener annahm, so mag er sich des Mittelwegs erinnert
haben, auf den Waitz leider ganz umsonst in den Forschungen zur
deutschen Gesch. XVIII, 361 hinwies, ohne ihn allerdings in seiner
nicht glücklichen Polemik gegen Simson selbst zu verfolgen. Aber
wenn überhaupt irgend ein annalistisches Werk »mit Einhard in
Verbindung zu bringen ist«, so sind es trotz Kurze nicht die Jahr-
bücher von Fulda, sondern höchstens vielleicht jene knappe tabella-
rische Uebersicht, die uns in der Hs. von Sithiu zwar im ganzen
getreu, aber doch nur in mehrfach verderbter und wohl vorzeitig
abgebrochener Abschrift überliefert, die aber aus den Fuldaer An-
nalen vollkommener herzustellen ist.
1) Vgl. z. B. Wattenbach, Geschichtsquellen 1°, 227.
896 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
Mit diesem Ausblicke, der notwendig war, um hier die wesent-
lichsten Momente der Einhardfrage!) zusammenzufassen, treten wir
schon aus dem Rahmen der von Monod in dem vorliegenden Hefte
behandelten Probleme hinaus. So wenig aber der letzte Gedanken-
gang vorläufig zu verfolgen sein wird, so wenig werden wir einst-
weilen eine Fortsetzung der anregenden Studien des französischen
Gelehrten erhoffen dürfen : die Untersuchung der karolingischen Ge-
schichtsquellen des 9. Jahrhunderts wird für eine Zahl belangreicher
Fragen nicht eher wieder aufgenommen werden können, als bis
Hampe’s glücklicher Fund zu Durham der Forschung allgemein zu-
gänglich gemacht worden ist !). Erst die neue Hs.*), die im ganzen
eine schöne Bestätigung von Pückerts umsichtiger und vorsichtiger
Forschung zu liefern scheint, entzieht das Annalenwerk von 805
allen willkürlichen Constructionen und gewährt — um nur das Wich-
tigste zu erwähnen — den sicheren Boden für die Beurteilung der
Lorscher Chronik, der Chronik von Aniane, der Metzer Annalen.
So wird es kritischen Arbeiten zu den karolingischen Geschichts-
quellen in den nächsten Jahren nicht an interessantem Stoffe mangeln;
und es unterliegt keinem Zweifel, daß sie zu sicheren Ergebnissen
zu führen vermögen, die auch von allgemeiner Bedeutung sein
werden. Denn bei der geringen Teilnahme, deren sich in Deutsch-
land heut die Geschichte des Mittelalters im allgemeinen und kritische
Forschung im besonderen erfreut, ist es nicht überflüssig als einen
Vorzug von Monods gehaltvollem Buche hervorzuheben, daß es mit
seinem Nebeneinander der weitumschauenden Einleitung und der den
1) Leider sind in der falschen Voraussetzung, daß die Ann. Einhardi sowohl
die Ann. Sith. und die Fuld. wie die Vita Karoli benutzt hätten, die Uebereinstim-
mungen mit ihnen in der Neuausgabe der Ann. regni durch Petitdruck bezeichnet.
Der scheinbare Vorzug ist nun zum schweren Nachteil geworden. Noch pein-
licher ist die Verwendung des Sperrdruckes bei sachlicher Verwandschaft, aber
sprachlicher Verschiedenheit gegenüber jenen zu Unrecht als Quellen der Ueber-
arbeitung behandelten Schriften. Wie D. Schäfer schon zu einer Verwerfung des
Verfahrens (Hist. Zeitschrift 78, S. 35) gekommen ist, so hat auch mir Beob-
achtung in den Seminarübungen ergeben, daß die Art, wie die Sperrung ange-
wandt ist, für nicht ganz geübte Benutzer eher schädlich als nützlich ist und
auch den geübten die kritische Arbeit nicht erleichtert. Und nun ist obendrein
alle darauf verwandte ungeheuere Mühe umsonst, weil die kritischen Grundlagen
verkehrt waren! Bei einer Neuausgabe würde Petitdruck nur gegenüber den
wörtlichen Entlehnungen aus den Ann. regni und in den Anmerkungen Hinweis
auf die sachlichen Uebereinstimmungen mit andern Quellen, vor allem mit der Be-
arbeitung von 805, zu erwägen sein.
2) Dank der Güte der Centraldirection der Mon. Germanise konnte ich
Freund Hampe’s Text in Straßburg selbst einsehen ; später hatte Herr Wibel die
Freundlichkeit, mir seine Abschrift zur Verfügung zu stellen.
Leo Meyer, Handbuch der grieehischen Etymologie. Dritter Band. 897
Einzeluntersuchungen gewidmeten Kapitel bei allen Ergänzungen,
deren seine Schlüsse bedürfen, doch so recht klar macht, wie erst aus
der sorgsamsten Behandlung der einzelnen Bausteine das erfreuliche
Ganze eines Werkes ersteht. Die Aufteilung der früher allein für
Einhard beanspruchten Schriften an einen größeren Kreis von Ge-
lehrten am Kaiserhofe, die Aufdeckung der in den Reichsannalen so
ungemein deutlichen Fortschritte der klassischen Bildung, der Nach-
weis der innigen Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Werken
und hiermit des lebhaften geistigen Austausches — es sind Momente,
die nur in methodischer Forschung langsam erworben werden und
die doch dem Gesamtbilde erst die Wärme und die Mannigfaltigkeit
geschichtlichen Lebens verleihen. — _
Als G. Waitz vor 30 Jahren in diesen Blättern (1872 S. 903)
Monods, seines Göttinger Zuhörers und Genossen seiner Uebungen,
erste kritische Studien zur merowingischen Quellenkunde erfreut zur
Anzeige brachte, da hegte er den Wunsch, daß nun häufiger die
französischen Gelehrten solchen Untersuchungen sich widmen möchten,
damit »ihre und unsere Arbeiten in einander greifen und zusammen-
wirken«. Es deutet auf den Wechsel der Zeiten, wenn heut viel-
mehr die Hoffnung auszusprechen ist, daß die deutsche Geschichts-
wissenschaft auch in Zukunft und auch an den Universitäten Deutsch-
lands der kommenden Generation die Fähigkeit überliefern möge, sich
dauernd den ihrer Vergangenheit würdigen Anteil an der Feinarbeit zu
bewahren, die das Geistesleben unseres Mittelalters erschließen wird.
Straßburg i. E. Hermann Bloch.
Meyer, Leo, Handbuch der griechischen Etymologie. Dritter
Band. Wörter mit dem Anlaut y, ß, d, &, x, 9, & Leipzig, Verlag von
S. Hirzel. 1901. 488 Seiten in GroBoctav.
Außerordentlich rasch ist dieser dritte Band unseres Handbuchs
dem zweiten Bande nachgefolgt. Während dieser letztgenannte die
vocalisch anlautenden Wörter, insbesondere die mit dem Vocal « und
die mit seinen Diphthongen ac, ss, und os, sowie noch die mit dem
Vocal v und die mit seinen Diphthongen «v, sv und ov zum Ab-
schluß gebracht und dazu.noch die mit x (nebst £), x (nebst %) und
t anlautenden, umfaßt der neue dritte Band die mit den sogenannten
tonenden Explosivlauten y, B und d und dazunoch £, und außerdem
noch die mit den Aspiraten x, $ und ® anlautenden Wörter. So
bleiben für den vierten und letzten Band also nur noch die Wörter
mit dem Anlaut o, mit anlautenden Nasalen, also die mit » und g,
und außerdem die mit anlautenden @ und A übrig.
Gott. gel. Aus, 1901. Nr, 11. 59
898 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
Es ist für den Gesammtcharakter einer Sprache von nicht ge-
ringer Bedeutung, in welcher Weise die Gesammtheit der Wörter
und insbesondere derjenigen Wörter, die in unserm Handbuch als
die eigentlich etymologischen Kernwörter zusammengestellt worden
sind, sich nach ihrem verschiedenen Anlaut vertheilt. So bildet im
Griechischen die Gesammtzahl der vocalisch anlautenden Wörter un-
gefähr die Hälfte der Wörter mit consonantischem Anlaut, die
Wörter aber mit anlautenden « sind an und für sich weit zahl-
reicher, als die mit irgend einem andern, sei es vocalischem oder
consonantischem Anlaut. Es folgen dann erst der Reihe nach die
Wörter mit anlautendem x und x, die mit dem Zischlaut und die
mit #. Die dann folgenden Wörter mit anlautendem e sind ungefähr
halb so zahlreich als die mit anlautendem a. Auf die mit anlau-
tendem & folgen bald die mit anlautendem z, danach die mit anlau-
tendem o und die mit anlautendem d, die sich an Umfang ungefähr
gleichstehen. In etwas weiterem Abstande reihen sich die mit an-
lautendem 8 und die eben so zahlreichen mit anlautendem A an,
darauf die mit 9, mit z, mit y und mit $. Minder zahlreich sind
die Wörter mit anlautendem » und die mit g. Es folgen die mit
anlautendem 7, mit v und die mit dem zweilautigen a. Wieder
noch weniger zahlreich sind die mit anlautendem &, dem überhaupt
wenigst häufigen von allen Consonanten. Ihm schließen sich an
Häufigkeit des Auftretens im Anlaut die Wörter mit &ı und ov an,
danach die mit w, mit «v und mit ov und zuletzt die mit anlauten-
den ev.
In Bezug auf die äußere Einrichtung des Handbuchs ist kaum
noch etwas hinzuzufügen, doch mag noch angeführt sein, daß die
weiblich-geschlechtigen Wörter, die in der Regel in der auf gedehntes
& ausgehenden attischen Form aufgestellt zu werden pflegen, im Hand-
buch fast alle mit dem Auslaut 7 angegeben werden, nicht etwa,
weil so die altertümlichere Form anzusehen wäre, sondern weil wir
sie so im Homer, dem thatsächlich ältesten griechischen Sprachdenk-
mal, antreffen.
Es mag erlaubt sein, nun noch ein paar Bemerkungen anzı-
knüpfen, die sich auf eine Beurtheilung des ersten Bandes des Hand
buches beziehen, die mir zufällig unter die Augen gerathen ist und
wieder den Beweis liefert, wie unendlich viel weniger man von Re
censionsfabrikanten gewöhnlicherer Art lernt, als durch eigene Arbeit
und eigenes Nachdenken.
So wird getadelt, daß von Brugmanns >schl
von éxasovrego-s, die sich im Rheinischen Mus
bis 633) findet, nichts gesagt sei. Sie versucht
Leo Meyer, Handbuch der griechischen Etymologie. Dritter Band. 899
Adjectiv aus En-ava-sevesdaı — einer Verbalzusammensetzung, die
übrigens nirgends begegnet — zu deuten. Das ist vielmehr gar
keine Erklärung, sondern nur ein ganz und gar mißrathener Er-
klärungsversuch, der keiner weiteren Erwägung werth ist.
In Bezug auf dre&o ist von einer unberücksichtigten >richti-
geren Auffassung< die Rede, für die auf Brugmanns Grundriß (1°,
493) verwiesen wird. Da findet sich unter der Ueberschrift »Der
Vocalablaut (Vocalabstufung)« zusammengestellt »ai. öjas, Kraft,
Starke<, gr. at&m »ich mehre, steigere<, alb. aguma »Morgenrothe,
Morgen<, lat. augeo, auxilium ... gr. d[flé&o >ich mehrec, goth.
wahsjac . .., was alles doch zu wenig geordnet ist, als daß etymo-
logische Fragen dadurch gefördert oder gelöst werden könnten. Wie soll
überhaupt der Zusammenhang von altind. öjas mit «bEsıv gedacht sein?
Statt des letzteren wäre, wo sich’s um Etymologie handelt, vielmehr
das mediale &retssd«ı mit der älteren Bedeutung »wachsen, zu-
nehmen< zu nennen gewesen.
Die Deutung von ddvd« (die Betonung &Zavd« kann nicht ohne
Weiteres als unrichtig bezeichnet werden) aus einem alten avoavia
kann nur als eine ganz und gar unsichere bezeichnet werden, wie wir
deren überhaupt in überaus großer Fülle unerwähnt gelassen haben.
Die Erklärung von dxovev aus einem zusammengesetzten dx-
-ovg- »ein scharfes Ohr auf etwas habend<, auf die hingewiesen
wird, ist so ganz und gar absurd, daß sie keiner weiteren Erwägung
werth ist.
Bezüglich des Comparativs dusivov wird auf eine Bemerkung
Brugmanns (Griech. Gramm. Seite 200) hingewiesen, die da lautet
»Auch ausivov, yspsiov, wAgov hatten wohl [!] kein eigentliches
Comparativsuffix. dusivov hatte echten Diphthong & ... es lag
ein Stamm dusı-vo zu Grundec. Die Aufstellung dieser letzten
Form hängt völlig in der Luft und kann dadurch ohne weitere Er-
läuterung die Frage nach der Etymologie von dusivov nicht als ge-
fördert gelten.
Die Zusammenstellung von ddev- (bei Brugmann Griech. Gramm.
Seite 115) mit lat. ingven und schwedisch ink »Blutgeschwiir< hat
jedenfalls sehr viel Ansprechendes, aber was hat das zu schaffen
mit meiner Bemerkung zu dem Wort »dunkler Herkunft«. Ist die
zu Grunde liegende Verbalform nebst ihrer Bedeutung etwa nicht
dunkel ?
In Bezug auf das Wort &viavrds wird auf Brugmanns Gram-
matik, Seite 170, verwiesen. Da heißt es »Auf Grund derselben
Verbindungen erwuchsen die Adjectiva wie xgoc¢éonegos (xoéoxsgos)
nach xgd¢ éoxsgoy.... eviavrög (»Jahrestag«) auf Grund von IV} avrg
59 *
$06 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
nach der ansprechenden Deutung<. Vielmehr kann diese Deutung
auch unbesehen als ganz werthlos bezeichnet werden.
Ganz gewiß wird mein Handbuch der Griechischen Etymologie
gar manches Besserungsfähige und auch wohl ganz Verfehlte ent-
halten — wie sollte das auch anders sein bei seinem großen Umfang
und den unendlich viel schwierigen Fragen, die es in sich schließt
—, aber gegen so leichtsinnig hingeworfene Nörgeleien, wie die ar
geführten, wird es noch immer Stand halten und denen reiche Beleb-
rung bieten, die wirklich belehrt sein wollen. Herr Fr. Stolz, vo
dem die obigen Ausstellungen herrühren, sitzt auf sehr hohem Pferd,
aber er versteht doch nur sehr schlecht zu reiten; ihm gelingt es noch
nicht, Balance zu halten und bei jeder Volte liegt er im Sande.
Göttingen, November 1901. Leo Meyer.
Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters
Texte und Untersuchungen. Herausgegeben von Baeumker und Freib. res
Hertling.
Bd. III. Heft I. Domanski, B., Die Psychologie des Nemesiu
XX, 168. Preis 6,00 Mk.
Bd. II. Heft IV. Worms, M., Die Lehre von der Anfangslosig
keit der Welt bei den arabischen Philosophen des Orient
und ihre Bekämpfung durch die arabischen Theologen. (Mt
takallimün.) VIII, 71. Preis 2,50 Mk.
Münster 1900. Druck und Verlag der Aschendorfischen Buchhandlung.
Die Besprechung der beiden neuen Stücke der unter bewährte
Leitung sicher fortschreitenden Sammlung sei mit dem kleinere
Werk begonnen. Den Verfasser machten seine Studien über di
mittelalterliche Philosophie auf eine handschriftliche Abhandlung de
Averroes aufmerksam, welche den Nachweis zu liefern sucht, daß
die Ansichten der muhammedanischen Peripatetiker und der strexg-
gläubigen Theologen über die Entstehung der Welt im Princip ni
einander übereinstimmen. Es reizte ihn diese Abhandlung herauss-
geben, doch schien es notwendig, zuvor die betreffenden (der Ver-
fasser verwendet leider das entsetzliche »diesbezüglichen>) Lehren de
arabischen Philosophen und Theologen selbst vorzuführen. So bildet
dies hier die Hauptarbeit; der Text jener Abhandlung hingegen
wird, unter Voranschickung einer Inhaltsangabe, einfach veröffent-
licht. Bei der Erörterung der Stellung der Philosophen und Theo
logen zu jenem Problem hat aber Dr. Worms zugleich die allge-
meine Bedeutung der einzelnen Persönlichkeiten für die Geschichte
der Philosophie darzulegen gesucht. Es rechtfertigt sich das durch die
Beiträge sur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. III 1. 4. 901
Thatsache, daß die Frage der Anfangslosigkeit. der Welt bei den
Arabern nicht nur die Philosophen, sondern alle Gebildeten be-
schäftigte, und daß ihre Lösung den Hauptunterschied zwischen den
Philosophen und den Theologen bildete. Es wird aber diese Unter-
suchung mit so sicherem Ueberblick und so eindringender Klarheit
geführt, daß man ihr mit aufrichtigem Vergnügen und zu mannigfacher
Belehrung folgt.
Der erste Abschnitt handelt von Aristoteles und seinem Einfluß
auf die arabische Philosophie. Von größter Bedeutung für die Ge-
staltung dieses Einflusses war der Irrtum der Araber, die sog.
»Theologie des Aristoteles«e (ein Excerpt aus Plotins Enneade IV
bis VI) für echt aristotelisch zu halten und mit seinen Lehren aufs
Engste zu verweben. Was immer das eigene System des Aristoteles
bei den Fragen der Ewigkeit der Welt und des Verhältnisses Gottes
zur Welt an Lücken und Schwierigkeiten enthielt, das suchten sie
vermittelst der jene Schrift beherrschenden Emanationslehre mit
ihrer Einschiebung verschiedener Mittelwesen zwischen Gott und
Welt zu überwinden. Am wenigsten Raum hat Averroes dieser
Emanationslehre verstattet, wie er überhaupt die aristotelische Phi-
losophie von allen am besten verstanden und am treuesten interpretiert
hat. Wenn sich somit im allgemeinen die arabische Philosophie als
eine Verschmelzung des Aristotelismus mit dem Neuplatonismus aus-
nimmt, wobei auch die Grundanschauungen des Koran nicht ohne
Einfluß geblieben sind, so ist das nicht so zu verstehen, als ob jene
Philosophie lediglich an das gegebene Material gebunden bleibe und
gar nichts an Eignem leiste. Denn in Wahrheit hat sie, haben
namentlich Avicenna und Averroés in wichtigen Punkten aristotelische
Gedanken mit größerer Konsequenz weiter ausgedacht und damit
in die Bewegung der Philosophie thätig eingegriffen.
Der zweite Abschnitt behandelt die arabischen Philosophen des
Orients. Von Al-Kindi läßt sich nur vermutungsweise annehmen,
daß er sich zum Problem der Anfangslosigkeit der Welt ähnlich
stellte wie Aristoteles, wie überhaupt seine Philosophie noch zu sehr
das Gepräge eines bloßen Anfangs trägt und in die einzelnen Pro-
bleme noch nicht tief eindringt. Zum System erhoben ist der ara-
bische Aristotelismus erst durch Al-Färäbi. So vertritt er auch mit
voller Entschiedenheit die Lehre, >daß die Himmel ewig und nur
das innerhalb derselben Befindliche entstanden und vergänglich seic;
er stimmt hier nicht nur in ‘der Behauptung, sondern auch in den
Beweisen im wesentlichen mit Aristoteles überein; kein Wunder,
daß er sich seitens der Orthodoxen den Vorwurf eines Ungläubigen
und Ketzers zuzog. Er hat zugleich als der erste unter den ara-
902 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
bischen Philosophen eine vollständige Emanationslehre, die ihn
zwischen Gott und der Materie der sublunarischen Welt nicht weniger
als sechs Mittelursachen annehmen läßt.
Avicenna (Ibn-Sind) schließt sich gegenüber solcher Emanations-
lehre enger an Aristoteles an. Das Hauptverdienst dieses bis zur
Gegenwart sehr verschieden beurteilten Denkers liegt in der syste-
matischen Ordnung und strengen Verknüpfung, mit der er alle
Teile der peripatetischen Philosophie zu einem Ganzen verband und
in jene klare und übersichtliche Form brachte, in der sie auf die
Folgezeit überging. Eben darum haben Jahrhunderte aus seiner
Darstellung der Philosophie ebenso gern Belehrung geschöpft, wie
man sich aus seinem Kanon der Medicin Rat zur Heilung von
Krankheiten holte. Wenn er auch die aristotelische Lehre von der
Anfangslosigkeit der Welt teilt, so erscheint bei den Beweisen zum
ersten Mal in der arabischen Philosophie eine energische Weiter-
bildung und zugleich präcisere Formulierung aristotelischer Lehren.
Er hat im besonderen den Begriff der Privation hypostasiert und zu
einem selbständigen Princip gemacht; ferner hat er die Materie
zu einem gleichwertigen und gleich ewigen Princip neben Gott er-
hoben, damit aber den aristotelischen Dualismus von Gott und Welt,
von Geist und Stoff auf die Spitze getrieben. Mit Al-Färäbi stimmt
er darin zusammen, die Möglichkeit des Entstehens dem wirklichen
Entstehen nicht blos begrifflich, wie Aristoteles lehrte, sondern auch
zeitlich vorangehen, sowie nicht Gott selbst, sondern eine von ihm
emanierte erste Intelligenz die oberste Himmelssphäre bewegen zu
lassen.
Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit den arabischen Theo-
logen, den muhammedanischen Scholastikern. Es handelt sich hier um
die orthodoxe Schule der Mutakallimün (über den Wortsinn dieses Aus-
drucks waren schon bei den Arabern die Meinungen geteilt), welche
zunächst die freisinnigen Theologen, die Mutaziliten, bekämpfte und
allmählich verdrängte, später aber sich hauptsächlich gegen die ara-
bischen Aristoteliker wandte und ihnen gegenüber mit den eigenen
Waffen der philosophischen Dialektik die ‘orthodoxen Dogmen ver-
focht. Das hatte schließlich einen solchen Erfolg, daß die Philosophie
beim Volke gänzlich in Mißkredit geriet und die Philosophen im
Vortrag ihrer Lehren zu größter Vorsicht gezwungen wurden. Diesen
Orthodoxen galt selbstverständlich die Lehre des Koran von der
Weltschöpfung als ausgemachte Wahrheit, die aber sowohl durch
Widerlegung der entgegengesetzten Lehre als durch positive Be-
gründung rechtfertigt werden sollte. Die Methode, die Glaubens-
sätze durch philosophische Argumentation zu beweisen, wurde hier
Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. III 1.4. 908
zu einem System ausgebildet, ganz ähnlich wie das später in der
jüdischen und in der christlichen Scholastik geschah. Die Polemik
der arabischen Scholastiker hat die schwachen Stellen der Gegner
geschickt erspäht und nachdrücklich angegriffen ; es war namentlich
die Hypostasierung abstrakter Begriffe, wie der der Möglichkeit und
des Nichtseins, dieser übrigens schon in Aristoteles selbst angelegte
Grundfehler der Scholastik, welcher mit Recht gerügt und energisch
abgewiesen wurde. Diese Bewegung war freilich in den Anfängen
dürftig genug, sie konnte die überlegene Stellung der Gegner nicht
erschüttern, bis ihr ein hervorragender Vertreter in al-Gazäli (Algazel)
erstand, einem höchst eigentümlichen Mann, den Renan den »origi-
nellsten Geist der arabischen Schule« genannt hat. Eine zusammen-
hängende philosophische Ueberzeugung läßt sich seinen Schriften
nicht entnehmen, und es bleibt unsicher, wie weit er eine solche
überhaupt gehabt hat, da er, philosophisch angesehen, durchaus
Skeptiker ist; in der Art aber, wie er seine Skepsis verfochten hat,
liegt seine Eigentümlichkeit und seine Bedeutung. Er richtet u.a.
eine scharfe Kritik gegen das Kausalitätsprincip, indem er nur eine
zeitliche Folge, nicht eine ursächliche Verknüpfung der Thatsachen
gelten lassen will; jene Folge der Erscheinungen aber begründet
sich ihm nicht in einem Naturgesetz, sondern in dem Willen Gottes,
der ganz wohl auch die Gewohnheit durchbrechen und eine andere
Folge herbeiführen kann. So wird bis zu einem gewissen Grade
schon der Gedankengang Humes vorausgenommen. Auch die her-
kömmlichen Lehren von der Materie, der Bewegung, der Zeit wer-
den hart angegriffen, immer mit dem Bestreben, die subjektiv
menschliche Vorstellungsweise gegen die innere Notwendigkeit der
Dinge scharf abzugrenzen. Algazels Polemik gegen die Philosophie
hat thatsächlich eine so starke Wirkung geübt, daß nach ihm kein
namhafter Philosoph mehr im Orient aufgetreten ist; er selbst aber
hat sich schließlich dem mystischen Sufismus in die Arme geworfen,
um hier die Befriedigung zu finden, die ihm offenbar weder die
Philosophie noch die Theologie zu geben vermochte.
Der Anhang bringt die in hebräischer Uebersetzung vorliegende
Abhandlung des Averroés (nebst Inhaltsangabe), welche den Aus-
gangspunkt der Schrift von Dr. Worms bildete. Averroés sucht
eine Versöhnung zwischen den widerstreitenden Ansichten zu stiften
durch den Nachweis, daß im Grunde beide einig seien, und daß die
Ursache der Controverse lediglich die Anwendung eines homonymen
Ausdrucks für zwei von den Philosophen und den Theologen ver-
schieden aufgefaßte Begriffe seien. Beide seien einig, daß die Welt
weder aus etwas, noch in der Zeit, noch nach einem Nichtsein ent-
904 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
standen ist, sondern ihr Dasein allein einem ewigen Schöpfer ver-
dankt. Die Philosophen aber verstehen unter >geschaffen< solches,
das aus etwas, nach einem Nichtsein, ferner in Raum und Zeit und
durch einen Schöpfer hervorgebracht sei; da ihnen ein solcher Ge-
danke anstößig ist, so ziehen sie für die Welt die Bezeichnung
‚anfangslos« vor; die Theologen dagegen denken an eine Schöpfung
aus nichts, der weder ein Nichtsein, noch Raum und Zeit voran-
gingen. — So sollte, wie oft in der Geschichte der Philosophie,
durch begriffliche und sprachliche Distinction ein Gegensatz über-
wunden werden, der in Wahrheit unversöhnlich ist.
Von der Arbeit des Dr. Worms, die uns mit sicherer Hand und
überschauendem Blick durch ferne Welten und Zeiten führt, können
wir nicht scheiden, ohne dem Wunsch nach einer Weiterführung zu
den abendländischen arabischen Philosophen und der späteren jüdi-
schen Scholastik Ausdruck zu geben. Hat doch ein solcher Ver-
such, an einem einzelnen Centralproblem die Bewegung der Zeiten
aufzuweisen, einen eigentümlichen Reiz und Wert.
Nicht so völlig zustimmend können wir uns zu dem Werk von
Prof. Domanski verhalten, obschon wir auch in ihm eine schätzbare
Leistung begrüßen und im besondern den Fleiß wie die Gelehrsam-
keit bereitwillig anerkennen. Eine nähere Erörterung der Psycho-
logie des Nemesius ist sicher ein dankenswertes Unternehmen. Denn
wenn auch nach der vortrefflichen Behandlung des Gegenstandes in
Siebecks Geschichte der Psychologie jene Psychologie nicht wohl
mit Domanski »ein bisher unbebautes Feld« heißen kann, so fehlt in
Wahrheit eine selbständige Untersuchung , welche doch in verschie-
dener Beziehung ein wissenschaftliches Interesse hat. Hier erhalten
wir das erste System der Psychologie auf christlichem Boden; der
Bau konnte nicht anders als mit dem aus dem Altertum überkom-
menen Material ausgeführt werden; es ist nun anziehend zu ver-
folgen, woher dies entnommen und wie es zusammengefügt ist, zu
ermitteln, wie weit die christliche Denkart ihre Eigentümlichkeit
gegenüber der antiken zur Geltung bringt, wie weit sie im Gegen-
teil von dieser fortgerissen wird, auch wie weit sich hier der Ge-
sichtskreis des Psychologen ausdehnt und was ihm als Hauptsache
gilt. Zur Lösung dieser Aufgabe bedurfte es ebenso einer höchst
sorgfältigen Forschung wie überschauender Erwägungen. Das Erstere
hat der Verfasser vortrefflich geleistet, er zeigt die gleiche Kunde
der alten Autoren wie ihrer neueren Erklärer, er ist auf's Gewis-
senhafteste bemüht, die Quellen der einzelnen Lehren im Einzelnen
zu eruieren und in ihrem Zusammenfließen zu verfolgen. In dieser
Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. III 1.4. 908
Hinsicht hätten wir nur noch einen genaueren Aufweis der Be-
ziehungen des Nemesius zu seinen christlichen Vorgängern, nament-
lich zu Origenes und seiner Schule gewünscht. Was aber die prin-
zipielle Seite anbelangt, so wären schon der Form nach mehr über-
blickende und zusammenfassende Erwägungen von Vorteil gewesen.
In der Sache aber wird deshalb nicht die volle Schärfe erreicht,
weil der Verfasser, darin freilich in Uebereinstimmung mit dem
Hauptzuge der Scholastik, den Gegensatz und die Spannung zwi-
schen dem Christentum und dem Altertum unterschätzt und daher
das Charakteristische des Christentums zu wenig herausarbeitet. So
empfindet er nicht so stark wie wir das Problem, wie eine in ihrer
seelischen Tiefe wesentlich neue Lebensgestaltung mit der Psycho-
logie eben der Welt auskam, gegen welche sie ihre Selbständigkeit
durchzusetzen hatte. — Ferner erscheint in der Würdigung des
Nemesius und seiner Leistung insofern ein Schwanken, als der Ver-
fasser in seinem wissenschaftlichen Urteil die Grenzen und Schwä-
chen jener Leistung keineswegs verkennt, er zugleich aber die
Schätzung, welche Nemesius als christlicher Denker bei ihm genießt,
auch auf sein Werk ausdehnt und es damit höher stellen läßt, als
es nach seiner eignen Charakteristik verdient. Daß dadurch ein
merkwürdiges Schwanken der Beurteilung entsteht, mögen einige
Stellen darthun. S. XVIII wird die Thatsache anerkannt, daß in
dem nemesianischen Werk bald dieses, bald jenes System vorherrscht,
und daß »bei einem so stark ausgebildeten Synkretismus« >hin und
wieder Unklarheiten oder gar Widersprüche sich in dem Werke vor-
finden<. S. XVII aber heißt es: >So leitet ihm denn bei der Zeich-
nung des Bildes der Menschennatur die göttliche, geoffenbarte Lehre
gleichsam die Hand, ohne daß die Treue des Bildes darunter irgend-
wie leidet. Die christliche Religion giebt so für die ganze Darstel-
lung den Hintergrund ab, sie vermittelt gleichsam zwischen den
allerwärts hergeholten Lehrsatzen, bringt so Ordnung, Harmonie,
eine wohlthätige Ruhe und Sicherheit in deren Gewirre!< Sollte es
wirklich möglich sein aus »allerwärts hergeholten Lehrsatzen< eine
Harmonie herzustellen, versetzt ein Sichgenügenlassen mit einer der-
artigen Einigung nicht in die mittelalterliche Scholastik zurück , de-
ren Einheitsstreben befriedigt war, wenn nur kein direkter Wider-
spruch empfunden wurde? Wenn ferner Domanski das Werk als
ein geschickt abgefaßtes, nicht ganz vollendetes Kompendium be-
zeichnet, dem vornehmlich die Zeitlage mit ihrer Verwebung christ-
licher Ueberzeugungen und philosophischer Lehren eine Bedeutung
gebe, wie kann er dann in das vollténende Lob ausbrechen: »So
906 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
rankt sich denn die erste Anthropologie am grünen Stamme des
Christentums zur strahlenden Sonne der Wahrheit empor< (S. XVII)?
Können wir insofern die Denkweise des Verfassers nicht theilen,
die übrigens keineswegs eine Sache des bloßen Individuums ist, so
haben wir bereitwillig anzuerkennen, daß jenes Problematische in
das Specielle der Untersuchung kaum irgend störend eingreift, und
daß der historische Thatbestand mit großer Umsicht und Sorgfalt
dargelegt wird. Es gliedert sich aber die Arbeit in zehn Kapitel,
die das psychologische System des Nemesius unter fortlaufender Er-
örterung der Quellen vorführen. Bei dieser Quellenforschung ent-
stehen öfter recht complicierte Probleme, bei denen aber nur eine
eingehendere Erörterung etwas nützen könnte als uns hier möglich
ist. So begnügen wir uns mit einem raschen Ueberblick über das
Ganze und gestatten uns nur hier und da eine kleine Anmerkung.
Alle prinzipiellen Lehren vom Wesen und der Stellung der
Seele zeigen den vorherrschenden Einfluß Platos, in der näheren
Ausführung aber erhalten öfter andere Systeme das Uebergewicht.
Jener Einfluß geht so weit, daß Nemesius ausdrücklich und mit mo-
tivierter Abweisung entgegenstehender Lehren die Präexistenz der
Seele verficht. Ob er auch eine Seelenwanderung lehre, ist bei dem
Fehlen einer deutlichen Aussprache darüber Gegenstand des Streites.
Sehr entschieden hat Nemesius die Wanderung von Menschenseelen
in Thierleiber abgewiesen. Domanski glaubt ihm die Seelenwande-
rung überhaupt absprechen zu dürfen, kann dafür aber nicht aus-
drückliche Angaben, sondern nur Folgerungen vorbringen , die nicht
einwandsfrei sind. Uns scheint die große Energie, mit der Neme-
sius die Ausdehnung der Seelenwanderung auf die Thiere bekämpft,
vielmehr für ein Festhalten des allgemeinen Gedankens der Seelen-
wanderung zu sprechen. Man giebt sich nicht so viel Mühe eine
besondere Nüance zurückzuweisen, wenn man das Ganze verwirft.
Daß Nemesius aber sich nicht offen zur Lehre von der Seelenwan-
derung bekennt, erklärt sich einfach durch die Rücksicht auf seine
Umgebung; daß der fromme Bischof nicht der starke Held war,
um Zeitströmungen offen entgegenzutreten, das zeigt sein Verhalten
zu Aristoteles, den er (s. S. XVI) ausdrücklich erwähnt, wo er ihn
bekämpft, während er seinen Namen fast immer verschweigt, wo er
ihm ganze Abschnitte entnimmt; weshalb anders wohl als aus Rück-
sicht auf die Stimmung seiner Zeit, welche die Lehren des Arius
und Eunomius mit einer Hinneigung zu Aristoteles in Beziehung
setzte ?
Indem wir weiter die einzelnen Abschnitte durchlaufen, tritt in
lebendiger Anschaulichkeit das bunte Durcheinander der von Neme-
Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. III 1. 4. 907
sius benutzten Autoritäten hervor. Die Fassung des Zusammenseins
von Seele und Körper steht unter neuplatonischem Einfluß; bei der
Einteilung der Seelenvermögen wirken die verschiedensten Systeme ;
nach der physiologischen Seite hin überwiegt Galen, neben dem aber
auch Aristoteles stark benutzt wird. Bei der Lehre von den Affek-
ten spielen wieder die verschiedenen Schulen durcheinander, wenn
auch die Stoiker am meisten gewirkt haben dürften; auf sie dürfte
auch die für die höchste Stufe von Nemesius geforderte »Apathie<
zurückgehen. Diesen Begriff hätten wir gern zu den älteren Vätern
zurückverfolgt und zugleich seine gewaltige Macht über das Ganze
jener Zeit geschildert gesehen. — N.s Lehre vom Willen und von
der Willensfreiheit hat den engsten Anschluß an Aristoteles, nur ist
sie mit leiser Wendung nach der Seite der Wahlfreiheit verschoben,
wie denn die stoische Lehre vom Fatum mit besonderer Schärfe ab-
gewiesen wird. Vielleicht wäre für dies Problem eine genauere Be-
achtung des Alexander von Aphrodisias vorteilhaft gewesen.
Das Buch schließt mit einem Hinweis auf die bedeutende Stel-
lung, welche der Mensch in der Gedankenwelt des Nemesius ein-
nimmt. Augenscheinlich ist solche Erhöhung der Schätzung in er-
ster Linie eine Wirkung des Christentums und fließt aus dem neuen
Verhältnis zu Gott, aber auch eine Nachwirkung des Altertums ist
bei Nemesius unverkennbar, indem neben jenem Verhältnis auch die
geistige Kraft des Menschen in Wissenschaft, Kunst, Weltunter-
werfung begeistert gepriesen wird. So erweist jener bis zum Schluß
sein eifriges Streben zur Ausgleichung der beiden Welten.
Wir mußten zu Beginn verschiedene Bedenken gegen das Buch
erheben; um so mehr möchten wir zum Schluß die Solidität seiner
Forschung und die Fruchtbarkeit seines Fleißes ausdrücklich aner-
kennen.
Jena. | Rudolf Eucken.
Schlitter, H., Die Regierung Josefs II. in den österreichischen
Niederlanden. 1. Theil. Vom Regierungsantritt Josefs II. bis zur Ab-
berufung des Grafen Murray. Wien, 1900, Adolf Holzhausen. XI 297 8.
Die österreichische Historiographie hatte sich in der Zeit vor
ungefähr einem halben Jahrhundert mit einer gewissen Vorliebe der
Geschichte der Kaiserin Maria Theresia und ihrer Familie zugewendet.
908 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
Es war dies die Zeit, wo noch der Streit über die Frage, ob die
künftige Gestaltung Deutschlands in groß- oder kleindeutschem Sinne
erfolgen solle, Kopf und Herz Aller gefangen nahm; je mehr man
sich dazumal innerhalb der schwarzgelben Grenzpfähle für die grof-
deutsche Lösung der Frage entschied, um so lieber trat man an die
Geschichte jener bedeutenden Herrschergestalten heran, die, eine
jede in ihrer Weise, den Versuch gemacht haben, das vielsprachige
Oesterreich und seine verschiedenartigen Ländermassen unter ein
einheitliches deutsches Regiment zu bringen. Dazu kam noch, daß
eine Persönlichkeit wie die Josephs II. allen deutschen Kreisen
Oesterreichs — die streng klerikalen ausgeschlossen — in hohem
Grade sympathisch war, und Schriften über ihn immerhin auf eine
liebevolle Aufnahme in den Leserkreisen rechnen durften. In wis-
senschaftlicher Weise wurde freilich die Geschichte der Kaiserin
Maria Theresia mehr bearbeitet als die ihres Sohnes. Hieher ge-
hören die heute noch brauchbaren Arbeiten von Gelehrten wie Adam
Wolf, Alfred v. Arneth, G. Th. v. Karajan, Joseph Feil, Hock, Bi-
dermann u.a. Dagegen treten die Arbeiten über Kaiser Joseph
stark in den Hintergrund; was über seine Geschichte erschien, war
meist populär gehalten und schloß sich ganz an jene legendare Auf-
fassung von dem volksthümlichen und deutschfreundlichen Kaiser an,
wie sie sich durch die Arbeiten eines Pezzl, Cornova u. a. gebildet
hatte. Am beliebtesten war noch das kleine Handbuch von Grob-
Hoffinger. In wissenschaftlichem Geiste wurde die Geschichte Jo-
sephs II. nicht behandelt. Es wäre verlockend, der Frage nachzu-
gehen, warum dies nicht geschah. Wir dürfen hier nur bemerken,
daß in gleicher Weise heute die Geschichte der Gegenreformation in
Oesterreich das Stiefkind für Forschung und Darstellung ist, dem
die Mehrzahl der Historiker scheu aus dem Wege geht. Es traute
sich aber auch die Gegnerschaft gegen die legendare Auffassung der
Geschichte Josephs, eine Auffassung, die sich in den Zeiten der
Reaktion unter Franz I. und Ferdinand I. immer mehr verdichtet
hatte, nicht an das Tageslicht, und die Arbeiten Beidtels, so weit
sie damals schon vorhanden sein mochten, sind erst nahezu 40 Jahre
nach seinem Tode ans Tageslicht getreten. Der erste, der dieser
. legendaren Gestaltung der Geschichte Josephs II. in den Weg trat,
war Ottokar Lorenz, der 1862 sein Buch »Kaiser Joseph II. und die
belgische Revolution nach den Papieren des Grafen Murray< er-
scheinen ließ, eine Schrift, die damals wegen der eindringlichen
Kritik und scharfen Verurtheilung der Josephinischen Politik großes
Aufsehen erregte. Wenn man damals in den Kreisen der zünftigen
Historiker auch den Grundgedanken dieser Schrift, »daß Institutionen
Schlitter, Die Regierung Josefa Il. in den österreichischen Niederlanden. 1. 909
und Gesetze nur dann Aussicht auf Dauer und Erfolg haben, wenn
sie aus dem Volke selbst hervorgegangen sind<, als richtig aner-
kannte, es fehlte doch viel, daß die Historiographie dem Verf. auf
diesem Wege gefolgt wäre. Zum Theil lag ja das auch darin be-
gründet, daß die großdeutsche Idee kurz nachher ihre große Nieder-
lage erlitt und die historische Forschung in Oesterreich an anderen
Stellen einzusetzen begann. Nur die Tage des sogenannten liberalen
Aufschwungs in Oesterreich, die Jahre 1867 und 1868, als die liberale
Gesetzgebung des österreichischen Parlaments, über die man irr-
thümlicher Weise heute nicht gering genug denken kann, mit dem
Wuste der Reaktion aufzuräumen begann, ließen die Erinnerung an
die Zeiten Josephs II. wieder lebendig werden, und ein Minister
hielt es sogar für angezeigt, an der Stelle im mährischen Flachlande,
wo Joseph II. einstens mit eigener Hand den heute noch im Brünner
Museum aufbewahrten Pflug geführt hatte, eine hochbedeutsame
Rede zu halten. In der Literatur machte sich freilich zunächst nur
jene Richtung bemerkbar, die, den Tendenzen der Josephinischen
Zeit durchaus abhold, dessen MaGregeln nach allen Seiten bekämpfte.
Hierher gehören die verschiedenen Arbeiten eines Sebastian Brunner,
Albert Jäger u. a. Werke wissenschaftlichen Gehaltes über den
Josephinismus hat auch die große Jubelfeier des Jahres 1880 nicht
gezeitigt ; die Schriften, die damals dem Andenken des Kaisers ge-
widmet wurden, sind entweder nur ein sehr schwacher Auszug aus
älteren Werken mit ihrer tendenziösen Auffassung oder behandeln
endlich nur eine der vielen Seiten der Regierungszeit Josephs IL.,
wie z.B. die Arbeiten eines G. Frank, F. Kopetzky, Wilibald Müller,
Gerson Wolf, Lustkandl u.a. Ein richtigeres Bild über die Politik
des Kaisers hatte indes schon drei Jahre früher die akademische
Rede Alfons Hubers »die Politik Josephs II. beurtheilt von seinem
Bruder Leopold von Toscana<, gewährt, eine Arbeit, die schon als
einer der ersten Vorläufer der Jubiläumsarbeiten gelten konnte und
in gewissem Sinne eine Ergänzung fand in einer zweiten akademi-
schen Rede Hubers »Geschichte der österreichischen Verwaltungs-
organisation bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts (Innsbruck 1884).
Erst die Beidtelsche »Geschichte der österreichischen Staatsverwal-
tung unter der Regierung Josephs II. (1780 —1790)< bedeutet, aller-
dings nur im Zusammenhang mit den zahlreichen Berichtigungen, die
Huber der Beidtelschen Darstellung hinzugefügt hat, einen Fort-
schritt auf dem Wege unserer Erkenntnis dieser wichtigen Periode.
Freilich war es weder die Absicht dieses Buches, noch hatte sie auch
den Erfolg, etwa wie seiner Zeit O. Lorenz gewünscht hatte, an die
Stelle einer gänzlich mythischen Geschichtsüberlieferung die Grund-
910 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
lage eines wahrhaft historischen Bildes von der Regierung Josephs Il.
zu setzen. Vielleicht aber haben wir in dem Verfasser des vor-
liegenden Buches den künftigen Geschichtschreiber Josephs IL zu
sehen, der uns ein wahrhaft historisches Bild dieses Kaisers zu
zeichnen im Stande ist. Schlitter hat schon durch seine frühe-
ren Arbeiten seine Vertrautheit mit diesem Arbeitsstoff erwiesen.
Es darf hier an seine Ausgabe der Briefe der Erzherzogin Marie
Christine (1896), die ja vielfach auch noch in die eigentliche jose-
phinische Zeit zurückreichen, mehr noch an seine Werke über die
Reise des Papstes Pius VI. nach Wien und seinen Aufenthalt da-
selbst (Wien 1892) und Pius VI. und Joseph I. von der Rückkehr
des Papstes nach Rom bis zum Abschluß des Concordates (Wien
1894), an seine Arbeit über die Beziehungen Oesterreichs zu Amerika
in dieser Zeit, oder an die zugleich mit dem vorliegenden Buch er-
schienenen Briefe und Denkschriften zur Vorgeschichte der belgi-
schen Revolution (Wien 1900) erinnert werden. Auch seine Ar-
beit »Kaunitz, Philipp Kobenzl und Spielmann« (Wien 1899) fallt
noch zum Theil in dieses Gebiet. Dem Verf. stehen zudem als Be-
amten des ersten Archivs im österreichischen Kaiserstaat Quellen
erster Hand über diese Periode zur unbeschränkten Verfügung: so
darf man erwarten, daß der vorliegenden Arbeit, die ein kleineres
Gebiet aus der Geschichte dieser Periode behandelt, bald eine um-
fassendere folgen werde, für die auch vielleicht die größere Selbst-
beschränkung, die sich der Verf. bereits in der vorliegenden Schrift
auferlegt hat, gute Hoffnungen erweckt. Diese schildert uns Josephs
Regierung in den Niederlanden bis zur Abberufung des Grafen
Murray. Die letzten Zeiten der österreichischen Herrschaft in Belgien
hatten ja auch schon bisher in den Kreisen österreichischer Historiker
eine liebevolle Behandlung erfahren, und neben Borgnet, Gachard,
Delplace und Eugene Hubert muß H. v. Zeißberg genannt werden,
der auf diesem Gebiete Hervorragendes geleistet hat, und zwar sowol
in seinen Vorstudien zur Geschichte des Erzherzogs Karl als in seinen
Arbeiten über die deutsche Kaiserpolitik Oesterreichs, vornehmlich
in den beiden großangelegten akademischen Arbeiten »Zwei Jahre
belgischer Geschichte 1791—1792<. Auch Arneth hatte im letzten
Bande seiner Geschichte Maria Theresias (X, S. 198—234) den
Niederlanden noch eine eingehende Betrachtung gewidmet. Diese
reicht aber doch über das Jahr 1780 nicht hinaus. Jetzt erörtert
Schlitter in sieben umfangreichen Abschnitten die Verfassung und
Verwaltung der belgischen Provinzen beim Regierungsantritt
Josephs II, das Entstehen seiner Reformpläne, seine kirchlichen
Schlitter, Die Regierung Josepbs II. in den österreichischen Niederlanden. 1. 911
Reformen und die auf dem Gebiete der Verwaltung und Justiz,
die ersten Regungen und den Sieg der Opposition und die »Pré-
alables indispensables<. Gleich der erste Abschnitt gewährt eine
sehr lehrreiche, freilich nicht in allen Theilen gänzlich einwands-
freie Darstellung jener Zustände, die Joseph im Jahre 1780 vor-
fand; wir finden hier eine genaue Erörterung über die Befug-
nisse der Statthalter, des Ministeriums, des Staats- und Kriegs-
sekretariates, des Staatsrathes und (seit dessen Sinken) des geheimen
und des Finanzrathes, eine gute Darstellung über die Verfassung
und Verwaltung der einzelnen Provinzen, die Macht der Stände und
ihre Zusammensetzung, die Bedeutung von Adel und Klerus, endlich
über die Schäden der Verfassung, die vorzugsweise darin lagen,
daß die Stände veraltete Gebräuche und Institutionen in Schutz
nahmen, die Zusammensetzung der Tribunale den Bedürfnissen der
Gegenwart wenig entsprach und die Rechtssprechung im grellen
Gegensatz zu der aufgeklärten Richtung stand, die sich bald nach
1748 allgemein Bahn brach. Wie in den österreichischen Erbländern
sind es auch hier die Regierenden mehr als die Regierten, welche
die Lehren der französischen Encyklopädisten in sich aufnahmen.
Die Schwierigkeiten auf belgischem Boden Reformen durchzuführen,
waren nahezu unüberwindlich, da hier mehr wie in Oesterreich alle
Klassen der Bevölkerung ihr ganzes Heil in der Aufrechterhaltung
und der Unverletzlichkeit ihrer Privilegien erblickten. Die Lage
dieser Regierten hätte eingehend geschildert, ihre materiellen und
geistigen Zustände mehr hervorgehoben werden sollen, dann erst wäre
die Aktion der Regierung in die richtige Beleuchtung gerückt worden.
Die ruhige Art des Vorgehens der Kaiserin bei der Ein- und Durch-
führung der Reformen wird schon hier der nervösen überhasteten
Methode ihres Nachfolgers gegenübergestellt.e Die Reformen auf
dem Gebiete der Kirche, in der Verwaltung und Justiz sind ja be-
kannt: interessant ist immer die sachgemäße Art der Darstellung,
wie sie in Belgien aufgenommen wurden. Scharfe Streiflichter fallen
auch hier auf die Beziehungen Josephs zu Maria Christina und
ihrem Gemahl. Den kirchlichen Reformen lag die Absicht zu Grunde,
‚die katholische Kirche in seinen Staaten nach dem Muster der
gallikanischen umzuformen und sie der Vormundschaft des Staates
zu unterwerfen. Daß die Vorbedingungen zu einem derartigen
Vorgehen in Belgien weniger als im eigentlichen Oesterreich ge-
geben waren, liegt auf der Hand; wie dort, erregten auch hier
nicht die Reformen im größeren Stil wie das Toleranzedikt, die wider
die Exemption des Regularklerus u. s. w. sondern die kleinlichen
in Dinge des Cultus eingreifenden Maßregeln den meisten Wider-
912 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 11.
spruch. Mit Recht wird betont, daß sich Joseph und seine Rath-
geber nicht so sehr von ethischen als von wirthschaftlichen Rück-
sichten leiten ließen. Erstaunt hatte er bei seinem Aufenthalt sich
über die Vielgestaltung der Administration und den schwerfälligen
Gang der Rechtspflege ausgesprochen; auch hier sind seine Reformen
nicht minder durchgreifend als in den Erbländern: sie entsprangen
auch hier der Tendenz, daß die verschiedenen Provinzen somit auch
Belgien ohne Rücksicht auf ihre historische Individualität dem Ein-
heitsstaate angepaßt werden müssen. Die einzelnen Reformen werden
von Schlitter nach ihrer Genesis und ihrer Aufnahme im Lande ge-
würdigt und die Stadien der Opposition sowol gegen die Einführung
der politischen als auch gegen die kirchlichen Reformen bis zum
Sieg der Opposition betrachtet. Die Stellung, die Fürst Kaunitz zu
der Reformbewegung einnahm, tritt in der Darstellung Schlitters
mit aller Deutlichkeit hervor (S. 110).
Die stilistische Seite der Schlitter’schen Darstellung bietet
manchen Grund zu Bemängelungen, es fehlt nicht an ungewöhnlichen
Satzbildungen und vereinzelt auch an unnützen Wiederholungen.
Dadurch daß die Noten in den Anhang verwiesen wurden (was aber
doch für den Leser, der auch auf diese Rückscht nimmt, unbequem
genug ist) und dadurch, daß diese Noten meist sehr umfangreich
sind, konnte die eigentliche Darstellung von dem kritischen Apparat
einigermaßen entlastet werden. Zu loben ist endlich, daß das wirk-
lich Unbedeutende ausgeschieden ist. Im Anhang findet sich ein
Verzeichnis der benutzten gedruckten Literatur, das vielleicht noch
durch die eine und die andere Nummer zu ergänzen wäre.
Graz, im März 1901. J. Loserth.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Göttingen.
December 1901. No. (2.
Kunze, J., Glaubensregel, Heilige Schrift. und Taufbekenntnis.
Untersuchungen über die dogmatische Autorität, ihr Werden und ihre Geschichte,
vornehmlich in der alten Kirche. Leipzig, Dérffling u. Franke. 1899. XII
560 S. Ladenpreis 15 Mk.
(Schluß.)
Hilarius hat sich nun ferner auch von dem Gefühl nicht frei machen
können, daß im grunde die Berufung auf die Schrift zweifelhaften
Wert habe (ad Const. II 9 cf. Kunze 264). So preist er denn auch
(cf. Kunze 265) die gallischen Bischöfe glücklich, welche den voll-
kommenen und apostolischen Glauben im Bekenntnis ihres Bewußt-
seins bewahrten. Conscriptas fides huc usque nescitis (de synod 63;
cf. ad. Const. I 8). Dann wird man auch de syn. 7 unter der doctrina
apostolica, an welcher die fides zu bemessen seien, das alte Symbol
verstehen miissen. Derselben Berufung auf das Symbol, wenn es die
Wahrheit festzustellen gilt, begegnen wir in der Schrift de trin., u.
besonders in der schon erwähnten zweiten Epistel ad Const. Nicht
nur, daß Hilarius in der zuerst genannten Schrift immer wieder auf
das »Bekenntnis« zu sprechen kommt, welches man abgelegt habe, er
läßt auch sein großes Werk ausmünden in einen Hinweis auf das
Symbol: ut quod in regenerationis meae symbolo, baptizatus
in patre et filto et spiritu sancto, professus sum, semper obtineam
(cf. XII § 56). Kunze denkt hier (264 A. 2) nur an den Taufbefehl.
Hil. hat nun freilich in einer anderen auch von Kunze notierten -
Stelle de trin. II 5 seinen Ausgangspunkt von der Spendeformel ge-
nommen. Aber das berechtigt noch nicht zu dem Verfahren, Tauf-
formel und Schrift zusammenzustellen und auf grund dieser Zu-
sammenstellung zu behaupten, daß die eigentliche Norm für Hilarius
die heil. Schrift sei. Dann müßte man freilich, wenn man nicht an-
nehmen will, daß Hilarius am Schluß seines Werkes dem am Anfang
entwickelten Standpunkt widerspricht, mit Kunze unter dem symbo-
lum nicht das Symbol, sondern den Taufbefehl verstehen. Zu dieser
Deutung wäre man aber nur berechtigt, wenn die nächstliegende
nicht zu halten ware. Was wir bisher von Hil. kennen lernten,
widerspricht nicht diesem nächsten Verständnis des Begriffes symbo-
lum. Es wäre aber selbst mit jener Deutung nicht viel gewonnen.
Gött. gel. Ans. 1901. Nr. 12. 60
914 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
Denn Symbol und Taufbekenntnis gehören ja zusammen. Dann aber
widerspricht der Schluß des Werkes nicht der zu Beginn des zweiten
Buches befolgten Methode. Man kann demnach auch nicht auf grund
der Schrift de trin. bestreiten, daß Hilarius Symboltheolog gewesen
sei. Gegenüber den im Orient auftauchenden Bekenntnissen wurde ihm
auch das alte Taufbekenntnis noch besonders wertvoll. Namentlich
aber zeigt ad Const. II den Hilarius uns als Symboltheologen. Das giebt
auch Kunze unumwunden zu (265). Aus allem erhellt, daß als re-
gula für Hilarius noch das Symbol in Betracht kommt. Damit ist nicht
gesagt, daß er verlangt, daß jeder auf das Symbol sich stützen soll.
Hilarius sucht ja grade auch den Gebrauch von N. zu rechtfertigen, und
er weiß ja auch, daß man im Orient das alte Symbol nicht als reg.
fid. verwertet. Aber er wenigstens will die apostolicae doctrinae in-
demutabilis constitutio seinen Ausführungen zu grunde legen. Man
wird demnach nicht mit Kunze Hilarius als Uebergangstheologen be-
trachten dürfen. Er ist Symboltheolog. Er kann entweder nur eine
alte abendländische Tradition fortführen, oder eine neue Verwendung
des Symbols (Ku. 265) schon vollständig durchgeführt haben. Die
Art, wie Hilarius zu den gallischen Bischöfen redet und überhaupt die
Autorität des Symbols geltend macht, läßt nun allerdings nicht ver-
muten, daß er sich bewußt ist, ein novum zu vertreten. Man darf
eher geneigt sein zu der Annahme, daß er trotz der Methode, die
er im Orient kennen lernte, eine altabendländische fortführte. Das
würde es dann erforderlich machen, die vorhergegangene Entwicklung
ins Auge zu fassen.
Man gewinnt aber schon aus Zeugen des vierten Jahrhunderts
selbst eine völlig andere Schätzung des Symbols als man nach Kunzes
Darstellung erwarten dürfte. Ich denke, um von anderen zu schwei-
gen (cf. die exhortatio ad neophytos) an Priscillian, den Kuuze eben-
falls für die vorliegende Frage nicht berücksichtigt. Wenn ich recht
sehe, gedenkt Kunze nur einmal Priscillians, im Anschluß an Hahn
§ 53 (Ku. 269 A. 1). p. 286 A. 2, wo Kunze sich auf die gegen Ende
des fünften Jahrhunderts findende regelmäßige Bezeichnung der Schrift
als canon oder libri canonicı einläßt, werden wohl Rufin, Hieronymus,
Augustin u. a. genannt, aber nicht Priscillian, dessen tr. III fast auf
jeder Seite diese Bezeichnung bietet. Er hat die Sage von der Ab-
fassung des Symbols durch die Apostel nicht geteilt (tr. III 49; cf.
Zahn, R. E,* Art. »Glaubensregel«e p. 685,58 Kattenbusch II, 22).
Es konnte also diese Sage Pr. nicht veranlassen, dem Symbol hö-
heren Wert beizulegen. Trotzdem ist er vollkommen Symboltheolog.
Das zu erfahren ist um so interessanter, als er sein Symbol durch
Bibelsprüche illustriert und den Titel canon den scripturae beilegt.
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 915
Die Thatsache der Benutzung der apocrypha neben den scripturae
zeigt, daß der canon nicht als Lehrquelle gelten kann. Tr. III! be-
weist denn auch, daß es sich um die kirchliche Lesung handelt, (p. 44.
46. 47. 49. 51. 52. 56), um das plus legisse, nicht um die Frage der
dogmatischen Autorität. Im tr. II wird aber die fides catholica dem
Kanon gegenübergestellt (p. 42). Wenn aber canon und scripturae
zusammengehören, bedeutet die fides catholica das Symbol. Dies be-
stätigt der Anfang des Traktats (p. 34. 36) und p. 37 wird die Hä-
resie gradezu am Symbol orientiert (cf. tr. ID). Die Annahme einer
Anbequemung an römischen Standpunkt schließt tr. I aus (p. 31).
Als Spanier wird aber Priscillian altabendländische Tradition vertreten
(cf. Bachiarius und die exhortatio ad neophytos). Es muß demzu-
folge beanstandet werden, wenn K. sagt (277 cf. 281), daß erst mit
Augustin und Leo I. die bei Tertullian bereits angelegte, aber noch
nicht rein durchgeführte Gleichung : Taufsymbol = regula fidei, wirk-
lich erreicht sei. Diese Gleichung ist schon im vierten Jahrhundert
vorhanden gewesen.
Es läßt sich diese Behauptung auch noch aus der Stellung der
Pelagianer und aus gelegentlichen Aeußerungen des Vincenz v. Lerinum
erhärten. Die Pelagianer, deren dogmengeschichtliche Stellung über-
haupt am Zutreffendsten charakterisiert wird, wenn man sie als Ver-
_treter der altabendländischen Theologie betrachtet, haben im Wider-
spruch mit der Entwicklung seit 350, Symbol und Schrift, d. h. re-
gula fidei und scripturae von einander getrennt (cf. das Glaubensbe-
kenntnis des Coelestius Hahn ® § 210, Augustin de pecc. or. 5, das
Glaubensbekenntnis des Julian v. Eclanum M. P. L. 48, sıo secundum
regulam fidei et auctoritatem scripturarum). Thre eigene Theorie, die sich
mit der Schriftlehre nicht in Einklang bringen ließ, wollten sie wie
diejenige Augustins als eine Privatmeinung beurteilt wissen, über die
sich disputieren ließe, die aber nicht als häretisch gestempelt werden
dürfe (cf. das Glaubensbekenntnis des Pelagius Hahn, 292). Denn
sie werde durch das Symbol nicht verurteilt. Dann steht aber Pe-
lagius nicht am Anfang einer neuen Entwicklung (Ku. 280), sondern
noch innerhalb einer alten.
Auch Vincenz behandelt den Begriff regula Ade: als einen alt-
bekannten: tradita et recepta semel antiquitus credendi regula (Comm.
21,26 Ku. 290 Katt. II, 399). Dies Wort richtet sich gegen die
»Neuerer». An einer anderen Stelle wird die regula eingeführt als
die Größe, die man eben kennt (28,39 cf. Ku. 290. Katt. II 398).
Nun gehört allerdings Vincenz selbst nicht mehr in die oben be-
1) Vielleicht charakterisiert dieser Traktat überhaupt den Priszillianismus cf.
v. Schubert, Lehrb. d. KG.
60*
916 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
sprochene Entwicklung hinein. Es ist nicht korrekt, wenn Kunze
die verschiedenen Titel, die sich bei Vincenz finden, zusammenfabt
unter den einen Begriff der regula, der die Schrift unterstellt werde.
Denn Vincenz unterstellt auch das Symbol einer regula, wie er denn
überhaupt deshalb lieber von regulae spricht. Daß die alte regula
fidei auch dieser neuen regula unterstellt wird, das bringt Kunze nicht
deutlich genug zum Bewußtsein, wenn er auch bemerkt, daß V. den
Begriff der regula fidei nicht so eng mit dem Symbol verknüpfe,
als die römischen Bischöfe seiner Zeit (291), und darauf hinweist,
daß sein Commonitorium als Vorspiel des Tridentinum gewürdigt
werden müsse, damit zugleich einen neuen Maßstab andeutend, den
Vincenz geltend macht. Es hätte ausdrücklich darauf aufmerksam
gemacht werden müssen, daß er dem Symbol überhaupt kein rechtes
Interesse mehr entgegenbringt, daß er vielmehr im grunde nur die
Schrift im Auge hat, also auf dieneue im Abendlande aufgekommene
Methode eingegangen ist, diese nun freilich für unsicher erklärt und
in seinem bekannten Satze einen neuen Maßstab zur Interpretation
der Schrift (aber auch des Symbols) findet. Mit diesem Satz ist
aber ein neues Princip formuliert. Besonders instruktiv für diese
Entwicklung ist Isidor Hispalensis, der, was Kunze nicht beachtet
(306), ausdrücklich Symbol und regula fides unterscheidet und diese
bestimmt als: haec est post symbolum apostolorum certissima fides,
quam doctores nostri tradiderunt (de eccl. offic. II. c. 24). An diesen
großen Schulmeister des Mittelalters lehnt sich Hraban direkt an.
(cf. Studien zur Gesch. d. Theol. u. Kirche, Bd. IV Heft 2. Wiegand,
die Stellung des apostolischen Symbols im kirchlichen Leben des
M. A. I. 286.)
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die abend-
landische Entwicklung nicht genügend berücksichtigt ist. Das gilt
auch hinsichtlich Augustins, der nach Kunze einen zwiespältigen Ab-
schluß in der Entwicklung der regula herbeiführt (287), sofern er
mit der Kanonizität der Schrift wirklich Ernst gemacht habe, an-
dererseits aber auch der geistige Urheber des Athanasianums sei und
das Symbol über die Schrift, als von ihr unabhängig, stelle (288).
Die Ausführungen Kunzes über Augustin geben weder ein klares,
noch richtiges und erschöpfendes Bild. Das ist freilich auch keine
leichte Aufgabe. Es genügt nicht, einige Sätze Augustins aus einigen
Hauptschriften nebeneinander zu stellen. Man muß sich vielmehr
in die Eigenart seines geistigen Lebens, seines ganzen Denkens und
Empfindens versenken und zugleich seine Entwicklung im Auge be-
halten. Daß Kunzes Ausführungen über Augustin nicht befriedigen
können, ersieht man daraus, daß er im Zusammenhang der Stellung
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 917
Augustins zum Symbol und zur Schrift des Enchiridion mit keinem
Worte gedenkt. Später wird (304) eine für unsere Frage belang-
lose Notiz aus dem Enchiridion zitiert. Man muß nun allerdings Vorsicht
walten lassen, wenn man das Ench. zu grunde legen will, um die re-
ligiöse Gedankenwelt Augustins zu charakterisieren. Es ist eben nur
ein Enchiridion, mag es es auch nach Augustins Empfinden zum vo-
lumen angewachsen sein. Es bringt aber doch Verschiedenes nicht,
was Augustin persönlich wertvoll war. Es ist nur die confessio fides,
quae carnaliter cogitata lac parvulorum est (Ench. 30), ausreichend
dargelegt (cf. de trin. XI,2 M. P. L. VIH,967 und überhaupt diese
ganze Schrift; den Anfang von de fide et symbolo; enarr. in Ps. X 3,
M. P.L.IV, 60). Es wird freilich gesagt, daß eben dieselbe spiritaliter
consideruta atque tractata cibus est fortium (ib). Aber der Fortschritt
vom credere zum intelligere wird doch nur angedeutet, nicht ent-
wickelt. Von den letzten Augustin treibenden Gedanken empfangt
man aus dem Enchiridion doch nur eine unzureichende Vorstellung.
Diese Vorsicht hinsichtlich der Benutzung des Ench. ist aber doch
nur zu beobachten, wenn die Gesamtanschauung Augustins zu ent-
wickeln ist. Einfacher stellt sich die Sachlage dar, wenn man nach
den methodischen Grundlagen Augustins fragt. Da läßt sich das
Ench. wohl verwerten, wenn auch das Verhältnis des Symbols zur
Schrift nicht ausdrücklich dargelegt wird. Von einer Entwicklung
Augustins in dieser Frage kann man, wenn man absieht natürlich
von der manichäischen Periode Augustins, nicht reden. Das wird
dem nicht befremdlich erscheinen, der den Entwicklungsgang Au-
gustins sich vor Augen hält, sowie seine persönliche Eigenart und
die Zeitverhältnisse, in welchen er lebte. |
Kunze meint nun, schon der Sprachgebrauch Augustins ent-
spreche der Gleichung: Taufsymbol = regula fidei (277). Wenn
Augustin sodann sage: accipite . . regulam fidei, quod symbolum dici-
tur (de symb. ad. catech. I, 1), so sei dies eine Neuerung, die nicht
Nachfolge gefunden habe; denn fiir den liturgischen Gebrauch bleibe
der Name symbolum herrschend (ib). Das ist hier die einzige Notiz über
den Sprachgebrauch Augustins. Im vierten Kap. hat Kunze dasselbe
Zitat aus de symbolo gebracht und daran die Bemerkung ange-
schlossen, daß für Augustin der eigentliche Name des Bekenntnisses
symbolum oder confessio sei (72). Trotz de symbolo I, 1 dürfe man
aber nicht sagen, daß regula fidet und symbolum sich völlig decken.
Denn wenn Aug. das Symbol eine kurz gefaßte Glaubensregel nenne
(serm. 213), so sei es eben nicht die einzig mögliche Formulierung
derselben (73). Auf p. 289 wird noch die bekannte Stelle de doctr. chr.
Il] 2,2 zitiert. Das sind, so viel ich sehe, die einzigen belangreichen
918 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
Notizen, die Kunze über den Begriff regula fidei bei Augustin giebt,
der also mit dem der Schrift übergeordneten Symbol verknüpft ist.
Eine eingehendere Untersuchung zeitigt aber ein anderes Re-
sultat. Es finden sich bei Augustin zweifellos Aeußerungen, die re-
gula und symbolum zu einander in Beziehung setzen. Augustin hat
noch bis zuletzt mit seinen abendländischen Vorgängern und Zeit-
genossen dem Symbol den Titel regula beigelegt (Retr. II, 3). Diese
Thatsache kann man nicht durch den Hinweis darauf abschwächen
(Ku. 72), daß Augustin in der Schrift de agone chr., auf die sich
Retr. II, 3 bezieht, diese Bezeichnung nicht gebraucht. Das ist ganz be-
langlos. Augustin hätte sonst nicht in Retr. II,3 ohne jeden Kom-
mentar durch den Begriff regula fidei wiedergegeben, was er in der
Schrift de ag. chr. als fides catholica (symbolum) anführt (cf. Pris-
cillian). Es muß ihm der Titel regula für das Symbol ganz geläufig
gewesen sein. Die Belege für diesen Sprachgebrauch Augustins
lassen sich leicht vermehren.
Damit ist aber noch nicht viel gewonnen. Denn wenn Augustin
auch das Symbol regula fidei nennt, so thut er dies, weil er es als
Kompendium der Schrift betrachtet, weil es von ihr sein Licht em-
pfängt und mit ihr den Titel regula teilt. Daß Augustin die genuin
abendländische Auffassung vom Symbol nicht vertritt, zeigt seine
Auseinandersetzung mit den Pelagianern. Augustin argumentiert
selten vom Symbol aus. Zuweilen macht er das Symbolglied in
remissionem peccatorum geltend. Augustin hält überhaupt das Be-
kenntnis zum bloßen Symbol für bedeutungslos (Op. impf. IV, 7).
Seine Autorität ist die Schrift. Das ist sie gewesen, seitdem er vom
Manichäismus sich lossagte und die Anstöße, welche die Schrift
seinem Denken bot, durch die griechische Allegorese und den Neu-
platonismus zu überwinden gelernt hatte. Mit welchem Ernst er die
Schriftautorität anerkannte, zeigt die unmittelbar auf den Bruch mit
dem Manichäismus folgende Periode seines Lebens. Daß die Schrift
die Autorität in Glaubenssachen sein müsse, ist ihm fortan nicht
mehr zweifelhaft gewesen. Man versteht es dann auch, daß Augustin das
Symbol als Schriftsumme beurteilt (de symb. ad. cat.: tsta verba... per
divinas scripturas sparsa sunt, sed inde collecta et ad unum redacta).
Ob Augustin diese Schätzung von sich aus gewonnen, oder, was
nicht unwahrscheinlich ist (cf. Katt. I111), aus der explanatio des
Nicetas, mag auf sich beruhen. Augustin hat auch die Schrift selbst
regula fidei oder veritatis genannt und also neben dem abendländi-
schen Sprachgebrauch auch den morgenländischen sich angeeignet.
Man darf aber darum noch nicht von einem zwiespältigen Ab-
schluß reden (Ku. 287). Denn das Symbol ist von Augustin in die
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 919
Schrift hineingestellt. Es ist kein äußerliches Nebeneinander von
Symbol und Schrift, das wo möglich noch zu Ungunsten der Schrift
entschieden würde. Augustin hat vielmehr in seiner Gnadenanschau-
ung das einigende Band gefunden. Er kann darum auch das Sym-
bol urgieren und seinen Darstellungen der fides zu grunde legen.
In dieser Beziehung ist grade das Enchiridion, welches mehrfach das
Symbol als regula bezeichnet, instruktiv. Die Gnadenlehre, welche
Augustin in der Schrift gefunden hatte, ist auch im Symbol ent-
halten. Die ganze Anlage des Ench. verrät diesen Gedanken. Besonders
charakteristisch ist die Behandlung des dritten Artikels (der heilige
Geist ein donum dei); cf. auch de gr. Chr. et pecc. or. II, 34. So
treten die nach der Gnadenerfahrung einheitlich verstandenen Schriften
und das Symbol als regula fide in Kraft. Das ist eine innerliche,
große und freie Betrachtung, die nicht am Buchstaben sich an-
klammert und nicht in formalistischer Weise dem Gegner die ein-
zelnen Glieder des Symbols als ebenso viele, in ihrem Wortgefüge
geheiligte Gesetzesparagraphen vorhält. Eine lebendige und tief re-
ligiöse, aus der Schrift geschöpfte Grundanschauung macht wieder-
um das Symbol für die praktische Frömmigkeit lebendig und lehrt
es als ein Ganzes von erbaulichem Wert verstehen.
Nun hat allerdings Kunze die bekannte Stelle de doctr. chr.
III, 2,2 angeführt, um zu beweisen, daß die Schrift nach dem Inhalt
des von ihr unabhängigen Symbols zu bemessen sei. Augustin be-
spricht hier Joh. 1,1, einen Vers, der verschieden interpungiert und
darum auch verschieden interpretiert wurde. Ein richtiges Ver-
ständnis sei aber doch möglich. Denn wenn jemand nicht wisse,
quomodo distinguendum aut quomodo pronuntiandum sit, consulat regu-
lam fida, quam de scripturarum plenioribus locis et
auctoritate ecclesiae percepit, Aber gerade aus diesem
Relativsatz hätte Kunze erkennen können, daß Augustin dem Symbol
nicht jene Stellung zuweist. Der Satz besagt nichts anderes, als was
wir schon de symb. ad cat. über den Ursprung und das Verhältnis
des Symbols zur Schrift erfuhren.
Es ist aber in diesem Satz ein Moment enthalten, das noch
nicht berücksichtigt wurde und welches nicht unerwähnt bleiben darf.
Augustin weist hin auf die Autorität der Kirche. An einer anderen
sehr bekannten Stelle (c. epist. Man... . Fundamenti 6) hat er
geäußert, er würde dem Evangelium nicht glauben, wenn ihn nicht
die Autorität der Kirche dazu bewegte So scheint doch letztlich
die Kirche die regula zu sein, und man könnte hier an Vincenz von
Lerin. denken. Augustin hat auch sonst auf die Tradition und den
Väterbeweis Gewicht gelegt. Das bekunden wiederum seine anti-
920 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
pelagianischen Schriften. Man könnte also versucht sein, hier einen
Einfluß jener zweiten großen Gedankenreihe zu konstatieren, die im
vierten Jahrhundert siegreich vordrang, und auch gerade von Augustin
her frisches Leben erhielt. Aber Augustin hält doch nicht, wie Vin-
cenz, einen deutlichen und selbständigen Schriftbeweis für unmög-
lich. Und man darf den eben erwähnten Gedanken nicht verwerten,
wenn das Verhältnis von Symbol und Schrift bei Augustin entwickelt
werden soll. Wohl aber muß man auf diesen Gedanken aufmerksam
machen, wenn man Augustins persönliche Stimmung und Empfindung
charakterisieren will. Es ist Augustins Haltung doch nicht so frei
und innerlich, wie es nach dem oben Gesagten scheinen könnte.
Durch diesen Rekurs auf die Autorität der empirischen Kirche taucht
wieder ein Moment der Gebundenheit und äußeren Abhängigkeit bei
Augustin auf. Das ist ja grade das Interessante und Anziehende an
der Person und Entwicklung Augustins, daß man einen innerlich be-
gründeten Fortschritt bei ihm wahrnehmen kann, und daß trotzdem
ein äußerlich gefaßter Autoritätsgedanke ihn beherrscht, daß man
einer immer mehr sich vertiefenden christlichen Erkenntnis inne wird,
und daß er doch nicht die Fesseln abstreifen kann, die ihn mit seiner
Vergangenheit verknüpfen, daß mehrere, einander schließlich wider-
sprechende Gedankenreihen in seiner Person zusammengehalten wer-
den. Ihm imponierte die ganze ihm entgegentretende katholische
Kirche. Sich ihr anzuschließen, verbot ihm sein Wahrheitssinn, bis
der Neuplatonismus ihn gewonnen hatte. Nun hatte er beides, die
ratio und die auctoritas. Dann wurde er durch die Lektüre Pauli
der Gnadenlehre gewiß. Aber er vermochte sie nicht mehr rein
christlich auszuprägen, und das innere Erleben war nicht so stark,
daß es sich mit einer alles umgestaltenden und umbildenden Kraft
durchsetzen konnte. Darum erleidet auch der Autoritätsgedanke
keine Wandlung ; es bleibt die äußere Autorität so, wie sie einmal
gefaßt war, in Geltung, um so mehr, je mehr die neue Erfahrung
und Erkenntnis von einer dem Christentum fremdartigen Gedanken-
welt beeinflußt war. So steht hinter Augustins Anschauung von der
regula der Gedanke von der Autorität der Kirche, der seinem Em-
pfinden und seiner Stimmung die bestimmte Färbung verleiht. Mehr
darf man aber auch kaum behaupten. Man darf diesem Gedanken
kaum Einfluß gewähren auf die Definition dessen, was sich Augustin
unter regula vorgestellt hat. Man würde dann wiederum den In-
tentionen Augustins nicht gerecht. Die mit der Vorstellung von der
auctoritas der Kirche auftauchende Gefahr einer rein formalistischen
Verwendung der regula’) und einer sklavischen Abhängigkeit von
1) Vielleicht muß hier auch Augustins mehr weibliche, zu Sophistereiea
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 921
ihr hat Augustin aber vermieden einmal dadurch, daß er sie unter
die Beleuchtung der großen religiösen Idee rückte, welche seine
Gnadenlehre zum Ausdruck bringt, sodann dadurch, daß sein brennend
ungestümer Erkenntnistrieb und seine Abhängigkeit vom Neuplato-
nismus ihm ein »geistliches< Verständnis neben dem »fleischlichen«
ermöglichte, ein Fortschreiten vom credere zu dem doch mit einem
relativen Maß geistiger Freiheit verbundenen intelligere.
Das Gesagte wird begründen, warum ich Kunzes Darstellung,
soweit die behandelte Periode in Betracht kommt, nicht für zutreffend
halten kann. Wie ist nun aber über die vorhergegangene Entwicklung
zu urteilen? Es gilt hier über die Stellung des Irenäus und Ter-
tullian Klarheit zu gewinnen. Kunze geht davon aus, daß die herr-
schende Meinung dahin gehe, die regula fidei sei entweder das Tauf-
bekenntnis (Zahn) oder das interpretierte Symbol (Harnack, cf. Ku.
p. 15). In der Hauptsache urteile Kattenbusch ebenso. Man kann
aber doch nicht so unbedingt von einer herrschenden Meinung
sprechen. Schon Hase macht in seinem Handbuch der Polemik
(p. 78) auf einen Unterschied in der Stellung des Irenaeus und Ter-
tullian aufmerksam, wenn er die bekannten, von unsern protestanti-
schen Polemikern so oft schon gegen Rom zitierten Worte adv. haer.
DI, 1,1 als im Gegensatz zur Vorstellung Tertullians befindlich an-
führt. Auch Zahns Formulierung dessen, was regula fides in der
alten Kirche gewesen sei, ist elastischer, als Kunze oben zu erkennen
giebt. Freilich sagt Zahn (RE°a.a.O. 684,55ff), daß zunächst das
Taufbekenntnis Glaubensregel genannt würde. Dies »zunächst« deutet
schon auf eine noch folgende Korrektur hin. Wir erfahren denn
auch (p. 686, 33ff), daß dem Begriff Glaubensregel eine gewisse Ela-
stizität eignete, daß gelegentlich Irenaeus mit regula veritatis die
»weitschichtigeren Begriffe« praedicatio, fides, apostolorum traditio,
praeconium veritatis u. ähnl. ohne scharfe Unterscheidung abwechseln
lasse. Auch Tertullian habe den Begriff nicht scharf gegen die ge-
samte Predigt Christi und der Apostel abgegrenzt. Aber neben
dieser weiteren Anwendung komme immer wieder die engere und
nächste Bedeutung des Wortes zum Vorschein (686, 54). Vollends
Kattenbusch kann, sofern seine Stellung zu Irenaeus ventiliert wird,
nicht zu den Vertretern der »herrschenden Meinung< gerechnet
werden. Kunze deutet dies selbst an, freilich nur ganz im allge-
meinen und ohne dem Leser einen klaren Begriff von der wirklichen
Stellung Kattenbuschs zu geben (p. 15). Später (p. 100), wo Kunze
geneigte und einen gewissen Fanatismus begünstigende Naturanlage berücksichtigt
werden.
922 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
im besonderen die Stellung des Irenaeus untersucht, giebt er in einer
Anmerkung zu, daß sich jetzt »richtigeres< bei Kattenbusch finde
(II 26). Diese Anerkennung wird aber gleich durch die Notiz abge-
schwächt, daß Kattenbusch »grade für diese Stelle< die Gleichung
Taufsymbol = Wahrheitsregel festhalte. Kunze hätte aber doch voll-
ständiger die seinen eigenen Ergebnissen sich nähernde Position
Kattenbuschs würdigen können. Kattenbusch konstatiert ausdrück-
lich, daß, während im Morgenland der Titel Glaubensregel zunächst
auf die heil. Schrift gehe, im Abendland nur auf das Symbol, Ire-
naeus dagegen eine mittlere Haltung repräsentiere, da er beide
Maßstäbe kenne und sie z. T. in individueller Weise kombiniere
(II, 963). Dies Urteil konnte freilich Kunze noch nicht kennen; aber
die ihm bekannten Partieen des Buches von Katttenbusch besagen
doch dasselbe. Kattenbusch weist deutlich darauf hin, daß Irenaeus
unter dem Titel regula veritatis an zwei Stellen nur die Schrift ge-
meint habe (II.32). Ja, Kattenbusch nähert sich Kunze noch mehr.
Nicht bloß, daß er die Autorität der Schriften für Irenaeus unein-
geschränkt behauptet, und adv. haer. III, 15', mit derselben Tendenz
einführt (II, 40) wie Kunze (106 A, 3); er meint auch, daß Irenaeus
das Symbol formal doch als »erflossen< aus der Schrift beurteilt
haben könnte (II, 34). An einer anderen Stelle heißt es: »da die
Schriften die Wahrheit sind, so wäre also das Symbol als regula
oder xavwy sachlich angesehen zugleich die Summe der prinzipiellen
Gedanken der Wahrheit« (II 38). Auf der vorhergehenden Seite
will Kattenbusch, indem er II 40: mit III 117 kombiniert, »zuge-
stehen, daß Irenaeus wahrscheinlich das Syınbol als die Summe des-
sen, was die Schriften sine ambiguo lehren, betrachtet habe< (II 37;
cf. auch p. 36. p. 44). Wenn auch Kattenbusch kein endgültiges
Urteil abzugeben wagt, so bedeuten seine Ausführungen doch eine
große Annäherung an Kunze, der p. 120 behauptet, das Irenaeus
das Symbol als »summarischen Ausdruck der Schriftwahrheit< ge-
würdigt habe. Kunze hätte darum wohl auf diese Verwandschaft
seiner Ausführungen mit denen Kattenbuschs aufmerksam machen
können und nicht nötig gehabt, in einer Anmerkung, die dem Leser
in keiner Weise ein richtiges Bild von Kattenbuschs Untersuchungen
über die regula bei Irenaeus zu geben vermag, Kattenbusch ab-
zufinden. |
Aber ich sehe jetzt ab von dem Verfahren Kunzes gegen Kat-
tenbusch, um der Frage nachzugehen, wie es sich mit den Einzel-
ausführungen verhält. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren,
daß Kunze selbst seine eigentliche These nur mühsam durchzuführen
vermocht hat. Nur indem er die verschiedensten Aeußerungen, die
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 923
sich bei Irenaeus finden, zusammenfaßt und systematisierend kom-
biniert, wird es ihm möglich, jenen Begriff von der regula heraus-
zuarbeiten, den er seinen Untersuchungen als vorläufiges Ergebnis
vorangestellt hat. Im grunde hebt er diese These selbst auf. Frei-
lich will er das nicht Wort haben. Denn nachdem er des Irenaeus
Stellung zu den yeegai dargelegt hat, meint er, daß das gefundene
Resultat jenes frühere nicht aufhebe, wonach in der regula veritatis
das Taufbekenntnis zu erkennen sei (120). Wenige Zeilen später
aber lesen wir schon die Bemerkung, daß, wenn man dem Irenaeus
Konsequenzen ziehen wollte, man fast sagen könnte, die heiligen
Schriften seien für ihn der eigentliche »Kanon«. Das zeige sich
wenigstens dann, wenn einmal das gegenwärtige x/oevyu« der Kirche
dem Inhalt der Schrift gegenübergestellt werde (p. 120). Damit
ist aber ein Riß in das Gefüge der ursprünglichen These gekommen.
Gehen wir aber auf die Gedanken des Irenaeus im einzelnen ein.
Es ist nicht leicht, hier mit wenig Worten zu Irenaeus Stellung zu
nehmen. Will man ein umfassendes Bild von der regula des Ire-
naeus gewinnen, muß man mehr Gedanken berücksichtigen, als sei-
tens Kunze geschehen ist. So gründlich auch gerade Irenaeus von
Kunze befragt ist, so sind doch nicht alle Momente in Betracht ge-
zogen. Die systematische Kraft des Verfassers scheint stärker zu
sein, als die Fähigkeiten, ein allen Momenten gerecht werdendes,
historisch-psychologisches Bild zu geben. So hat Kunze dem Ra-
tionalisten Irenaeus keine Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist aber
der Rationalismus des Irenaeus keineswegs belanglos. Er ist ja im-
stande, eine veränderte Stimmung gegen die regula zu erzeugen.
Wer der Meinung ist, daß christliche und vernünftige Weltanschauung
Wechselbegriffe sind, daß das Symbol die vernünftigen Gedanken
überhaupt summarisch darstellt, daß auch die Schriften selbst lo-
gisch sind, dessen persönliches Empfinden wird nicht ganz von der
regula bestimmt sein. Es bleibt im Empfindungsleben wenigstens
eine Unterströmung, die gelegentlich sich über die regula hinweg-
setzen, oder das Gefühl der Unabhängigkeit von ihr wach halten
kann. Ist man Theologe, wird man zugleich es versuchen, diese
persönliche Stimmung wissenschaftlich zu rechtfertigen. Das be-
deutet natürlich keine geringe Gefahr. Andererseits kann nun auch
eine solche persönliche Haltung den Wert der regula erhöhen, wenn
entsprechende Umstände eintreten. Denn der Apologet wird um so
lieber auf die regula verweisen, je mehr er von ihrer Vernünftigkeit
überzeugt ist. So wird sein geistiges Leben sich mit den Gedanken
der regula fest verbinden. Das löst natürlich rückwirkend ent-
sprechende Gefühle aus und bewirkt eine besondere Schätzung der
924 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
empirischen regula. So kann der Rationalismus beides, Freiheit und
Gebundenheit, in einer Person zeitigen. Es erwächst aus diesem
psychologischen Prozeß eine eigenartige Pietät gegen die regula.
Diese Pietät wird durch eine andere gestützt, die andersartig
begründet ist und selbst, nicht auf eine einheitliche Wurzel sich
zurückführen läßt. Kunze hat den Begriff der zapddocıs bei Ire
naeus nicht ausreichend gewürdigt. Er hat ihn nicht unberücksich-
tigt gelassen. Aber er sucht doch den Begriff möglichst abzu-
schwächen und gewährt ihm keinen Einfluß auf die Bestimmung der
reguia. Indem er darauf hinweist, daß Irenaeus nur durch seine
Gegner dazu veranlaßt sei, Schriften und Tradition auseinander zu
halten (121), meint er, diese in »Hyperbeln< sich bewegende Er-
örterung nur unter dem Gesichtspunkt der Entkräftung der gegneri-
schen Instanz betrachten zu dürfen (122). Aber selbst dann be-
deutet doch die rd£ıs nagaddceng eine bedeutsame Beeinträchtigung
des Schriftprinzips. Ja, wenn Kunze sogar meint, in der Ueber-
lieferung hätte der ungebildete Christ das, was die Gebildeten
in und an der Schrift hätten (123), so läßt dies nicht bloß der Ver-
mutung Raum, daß Irenaeus den Schriftbeweis führt, weil die Gno-
stiker zuerst die Schriften für sich geltend machten, sondern Irenaeus
glaubt auch zweifellos, der Schriften entraten zu können, weil eben
die Ueberlieferung das Nötige bietet, also wenigstens für die Unge-
bildeten regula ist. Man darf dies nicht dahin wenden, daß nun eo
ipso die Schriften sich dieser Ueberlieferung beugen müssen. Es
kann sich zunächst nur um zwei parallele Glieder handeln. Dies
Absehen von der Schrift wird aber gefördert durch die Thatsache:
daß die Schrift selbst der rechten Auslegung bedarf (cf. Kunze p. 124),
daß darum der gewöhnliche Christ sich an die Kirche, an die Pres-
byter und Bischöfe halten muß (Ku. 125). Irenaeus denkt ganz ge-
wiß noch nicht römisch, und man mag mit Kunze dies zunächst nur
als einen »seelsorgerlichen Rat« ansehen (126). Damit ist aber die
Sache noch nicht abgethan. Denn wenn Irenaeus diesen Rat mit
innerer Wahrhaftigkeit geben sollte, konnte er es nur unter der
Voraussetzung, daß man auch anderswo den Wahrheitsmaßstab fin-
den konnte. Es ist aber doch mehr als ein bloß seelsorgerlicher
Rat. Denn Irenaeus fühlt sich und die großen, kirchlichen Zen-
tren noch in lebendigem Zusammenhang mit der Apostelkirche.
Man muß demnach wenigstens mit Unterströmungen bei Irenaeus
rechnen und kann zum mindesten nicht seine Anschauung in einer
glatten These zum Ausdruck bringen. Der Rationalist Irenaeus so-
wie der auf die große Masse der Ungebildeten sehende und im Zu-
sammenhang der historischen Tradition stehende Irenaeys kann die
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 925
Schrift zuriickstellen. Es treten Gedanken an den Tag, die ein
Schrifttheologe nicht teilen kann. Wird dies alles auf die Bestim-
mung dessen, was regula sei, Einfluß haben?
Man wird das schwerlich leugnen können. Kunze hat zwar
vollkommen Recht, daß die nackte Gleichung : Taufsymbol = regula
veritatis den Sinn der irenäischen Anschauung, oder, wie man
richtiger sagt, die ganze Anschauung des Irenaeus nicht wiedergiebt.
Es sind zweifelsohne Stellen bei Irenaeus nachweisbar, in welchen
unter regula veritatis an die Schrift gedacht ist. Kunze verweist
mit Recht auf III 15! (p.106, Marcus Eremita p. 184 A 2; cf. Kattenb.
II 32), oder auf die noch klarere Stelle IV 574 (p. 103 Katt. II 32),
wo die sermones dei, d. h. die Schrift, als regula veritatis bezeichnet
werden. Diese Stelle würde aber für sich betrachtet einen Sprachge-
brauch des Begriffs regula veritatis ergeben, der zur These Kunzes
nicht paßt. Aber bleiben wir im obigen Zusammenhang! Ist Irenaeus
so weit gegangen, jene Tradition, oder doch ein Stück der Tradition
unter dem Titel regula veritatis zu betrachten? Es ist nicht un-
wahrscheinlich, daß Irenaeus gelegentlich die zapadocıs überhaupt, die
über die Schriften hinausgeht (dagegen Kunze p. 118f), als regula
beurteilt hat, und es läßt sich mit zweifelloser Sicherheit behaupten,
daß Irenaeus das Taufsymbol, einen Teil der ¢raditio, als regula an-
gesehen hat.
Kunze hat die Worte des Irenaeus III 2ı (regulam veritatis de-
pravans) im unmittelbaren Anschluß an die jeden Zweifel über ihren
Sinn ausschließende, schon zitierte Stelle IV 574 behandelt (p. 103),
ist aber doch so vorsichtig, nur zu behaupten, daß die regula veri-
tatis mit den Schriften im innigsten Zusammenhang stehe. Nun
läßt aber der im folgenden auftretende Zusammenhang erkennen,
daß die Beziehung auf die Schrift allein den Begriff regula hier nicht
erschöpft. Man könnte zu der Annahme sich veranlaßt fühlen, daß
die von Irenaeus uns hier gebotenen Ausführungen gradezu die
These Kunzes erweisen. Irenaeus verweist ja im folgenden »Exkurs«
(Ku. p. 120) die Gnostiker auf die von den Aposteln herrührende
und durch die successio der Presbyter in den Kirchen bewahrte Tra-
dition. Diese Tradition ist nun inhaltlich scheinbar so charakteri-
siert, daß man an das Symbol denken könnte. Irenaeus schließt auch
diese Entwicklung über die Zraditio mit einem Hinweis auf das Sym-
bol, den ordo traditionis, den die Apostel der Kirche anvertrauten
und der sine charta vel atramento geschrieben, in den Herzen fest-
gehalten wird. Dann dächte also Irenaeus an Symbol und Schriften,
wenn er sich den Begriff regula vorstellt. Aber sie wären doch nicht
in der von Kunze vorausgesetzten Einheit und gegenseitigen Be-
ziehung auf einander regula. Es würde sich doch nur um Parallel
926 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12
glieder handeln. Nun aber ist es höchst unwahrscheinlich, dab
Irenaeus hier bloß an das apostolische Symbol gedacht hat. Der
Brief des Clemens gehört ja mit zur trad:tio und III 4') spricht
Irenaeus davon, daß die Apostel in die Kirche gleichsam wie in
eine reichhaltige Vorratskammer alle Wahrheit in größter Fülle nie
dergelegt hätten. Dächte Irenaeus nur an das Symbol, hätte er
sich doch sehr plerophorisch ausgedrückt. Erst zum Schluß, wo er
von den ältesten Kirchen, die in ununterbrochenem Zusammenhang
mit den Aposteln stehen und eben deswegen auch unbedeutende
Fragen entscheiden können, absieht und auf die gläubig gewordenen
Barbaren den Blick richtet, gedenkt er ausdrücklich des Symbols,
das allen gemeinsam ist und völlig ausreicht, um gegen jede Ketzerei
zu immunisieren und die Häresie als solche zu erkennen. So denkt
also Irenaeus hier, wo er von der regula veritatis ausging, nicht blob
an die Schriften, sondern ebensowohl an die Tradition und das Syn-
bol. Dann muß man aber einen Sprachgebrauch und Gedankengang
konstatieren, der sich der These Kunzes nicht einfügen läßt.
Andere Stellen lassen auch nicht die These Kunzes als richtig
erscheinen. Ich denke besonders an I 120 (Mass I %). Die Stelle
ist zu bekannt, als daß ich sie hier auszuschreiben nötig hätte.
Kunze entnimmt aus dieser Stelle das Ergebnis, daß die heil. Schrif-
ten ganz wesentlich unter den Begriff der Wahrheitsregel fallen,
ohne daß doch ausgeschlossen sein solle, daß derselbe auch zugleich
das Taufbekenntnis meine (103; cf. p. 75). Das Deminutiv ompe-
cov erklärt er daraus, daß Irenaeus nur an die hellen Hauptstellen
der Schrift als regula denke (120). Von diesem Deminutiv aus hat
man aber andererseits (Wohlenberg, Th. L. Bl. 1900 Nr. 3) gegen
Kunzes Auffassung Einspruch erhoben und lediglich an das Taufbe-
kenntnis gedacht. Aber weder Kunze noch sein Rezensent sind be-
rechtigt, aus der Wahl des Wortes owucrıov bestimmte Schlüsse zu
ziehen. Kattenbusch weist (II 30 A. 7) unwiderleglich darauf hin,
daß mit dem Begriff ooudrıov die deminutive Bedeutung nicht ver-
bunden zu sein brauche. Das ist nichts befremdliches. Dem Philo-
logen ist es eine bekannte Thatsache, daß im späteren Griechisch
und Lateinisch die Deminutivendungen ihre ursprüngliche Bedeutung
verloren haben. Ich verweise nur auf die Entwicklung liber, libellus,
libellulus. Man muß also vom Begriff owuarıov absehen. Dagegen
ermöglicht der Nebensatz dy did tod Paxtiopnerog elAngey ein rich-
tiges Verständnis des Begriffs xavov rijg dAndeius. Man kann nur
an das Tautbekenntnis denken. Kunze meint allerdings auf den
späteren Gebrauch, den Täuflingen die Schriften zu nennen, auf-
merksam machen zu müssen. Aber zunächst beweist er doch nicht,
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 997
daß bereits zur Zeit des Irenaeus jener Brauch üblich gewesen sei.
Er meint vielmehr aus dieser Bemerkung des Irenaeus erschließen
zu dürfen, daß man auch zu seiner Zeit dies Verfahren kannte. Und
jetzt wird wiederum die Bemerkung des Irenaeus eine Stütze für
die These Kunzes. Sodann fand doch nur eine traditio evangeliorum
statt. Mehr vermag auch Kunze p. 208 nicht festzustellen. Katten-
busch weist ferner überzeugend nach (II 27), daß Irenaeus unter dem
xevov tig dAndeiag hier kein Buch, sondern eine Lehrsumme meint.
Irenaeus hätte sich doch auch recht ungeschickt ausgedrückt, wenn
er den Gedanken, daß dem Täufling die Schriften genannt wür-
den (Kunze a. a. O.) in die Worte kleidet : dca Bantiouarog elAnger.
Aber Kunze behauptet (102), daß Irenaeus »zum Ueberfluß« es
selbst noch sage, daß er an die Schriften denke: td piv é& tay
yeapay Övöuara ... Erıyvooera. Aber auch diese Auslegung scheint
mir nicht das Richtige zu treffen. Es wird vielmehr von einem
xavey gesprochen, der dem Besitzer es möglich macht, ein rechtes
Verständnis der Schriften zu gewinnen. Auf Grund dieses xavdyv
kann man die Schriftlehre der Gnostiker als schriftwidrig erkennen.
Wenn Irenaeus in diesem Zusammenhang die yeagal als xavay ris
dAmdeiug hingestellt hätte, hätte er ja keinen Maßstab gegeben.
Denn um das Verständnis der Schriften dreht sich ja hier grade der
Streit, um den wahren Sachverhalt. Darauf führt ja auch der von
Irenaeus gegebene Vergleich. Auf p. 75 steht auch Kunze sehr
stark unter dem Eindruck, daß Irenaeus hier an das Symbol gedacht
habe. Es werde gewiß, daß für Irenaeus »die Wahrheitsregel we-
sentlich im Taufbekenntnis gegeben war; denn von ihm gilt vor
allem, daß es der Christ dvd roü Bantiouarog elAnpevc. Man kann
also hier nicht an die Schriften denken, sondern nur an das Symbol.
Begrifflich ist die Schrift nicht in den Titel der regula eingeschlossen.
Dann ist aber der xavay ng dAnfstag ein Maßstab für die Wahr-
heit, nicht eine Richtschnur, welche die Wahrheit giebt (Kunze
p. 8). Bedenkt man nun noch, daß Irenaeus das Symbol als den
ordo traditionis in seiner Unabhängigkeit von den Schriften
betrachten konnte (ob wir die betreffenden Partien seines Werkes
als Exkurs anzusehen haben oder nicht, ist irrelevant), so läßt sich
Kunzes These in ihrer ganzen Schärfe nicht durchführen. Natürlich
ist damit nicht gesagt, daß das Symbol- und Schriftprinzip einander
wirklich gegenüberstehen. Das ist ausgeschlossen. Sie laufen einander
aber doch wenigstens parallel. Irenaeus kann, da er auch die Schrift
als xavov tig aAndeieg beurteilt, natürlich wieder Beziehungen
zwischen Schrift und Symbol herstellen, Beziehungen, die, wenn auch
nicht auf eine klare Formel gebracht, doch seine Empfindungen leb-
928 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
haft bestimmen. Andererseits hat er aber Symbol und Schriften von
einander unabhängig machen, ja sogar das Symbol als eine regula
hinstellen können, welche den wahren Sinn der Schrift eröffnet.
Daß der Genitiv im Wortgefiige xav&v ns dAndelxg mit Richt-
schnur für die Wahrheit übersetzt werden darf, läßt sich auch sonst
aus Irenaeus belegen.
Man kann demnach die Anschauung des Irenaeus von der regula
nicht auf eine einheitliche Formel bringen. Man möchte am ehesten
vermuten, daß Irenaeus über das gegenseitige Verhältnis von Schrift
und Symbol nicht sonderlich reflektiert hat, überhaupt eine große
Freiheit hinsichtlich der regula hat walten lassen. Es kreüzen sich
in seiner Person verschiedene Gedanken und Stimmungen, die s0-
wohl das durch die in der Kirche vorhandene Hochschätzung der
Schriften und durch ihre Verwertung seitens der Gnostiker vorbe-
reitete Bibelprinzip fördern konnten, als auch grade eine Betonung
des Symbols und eine damit verbundene Isolierung desselben als
regula einzuleiten imstande waren. Man darf gewiß, um dies zu
verstehen, auch daran erinnern, daß Irenaeus sowohl von Asien wie
von Rom gelernt hat, daß also neben der ganz persönlichen, indivi-
duell-psychologischen Haltung noch ganz bestimmte, historische Ein-
fliisse sich geltend gemacht haben. So hat Irenaeus die Schriften
als regula bezeichnen können, aber auch das Symbol, und man kann
bemerken, daß das Symbolprinzip, welches wieder ins Traditions-
prinzip übergeht, nicht im Hintergrunde steht. Sein Rationalismus,
seine apologetischen Interessen, sein Traditionsgedanke, sein Ueber-
zeugtsein von der Schwierigkeit des Schriftsinns, sein auch die un-
gebildeten Christen umspannender und auf die von den Zentren der
apostolischen Mutterkirchen entfernt wohnenden, gläubig gewordenen
Barbaren sich richtender Blick, alles dies mußte ihm das Taufbe-
kerntnis als zur regula besonders geeignet erscheinen lassen. Es
konnte von Irenaeus aus eine biblische Strömung im Abendland sich
verbreiten; es konnte aber auch von demselben Irenaeus aus eine
Entwicklung gefördert werden, welche mit rücksichtsloser Konsequenz
als regula das Symbol betrachtet. Daß die Glaubensregel bei Ire-
naeus auch als Erweiterung des Symbols erscheint, kann nicht gegen
diese zweite, bei Irenaeus konstatierte Gedankenreihe geltend ge-
macht werden. Denn Irenaeus hat ja unbedingt das Taufsymbol
schon regula genannt (I Is). Man kann hieraus, worauf Zahn mit
Recht aufmerksam macht, nur folgern, daß dem Begriff der Glaubens-
regel eine gewisse Elastizität anhaften konnte (die freilich für die
spätere Entwicklung nicht bedeutungslos ist), daß aber neben dieser
weiteren Verwendung immer wieder die engere und nächste Be
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 929
ziehung des Wortes zum Vorschein komme (RE? a. a.O. 686 s«. ss).
Das Bekenntnis, die Formel ist die Grundlage der regula. Es ist ja
auch selbstverständlich, daß das für das innere Leben der Kirche
so wichtige Symbol auch gegen die Häretiker als regula gebraucht
wurde (cf. Kunze 314). Wenn Kunze meint, daß die Elastizität der
Glaubensregel daher stamme, daß der Schriftenkanon noch nicht ab-
geschlossen sei, so hat er dafür den Beweis nicht erbracht. Man
kann nirgends ein bestimmtes Verhältnis zwischen den erweiter-
ten, und zwar bei demselben Autor verschieden erweiterten Glau-
bensregeln und einem grade auf die vorliegende Erweiterung be-
züglichen Schriftenkanon nachweisen.
Daß das Symbol, und nicht die Schrift, oder Symbol und Schrift,
regula ist, gilt vollends von Tertullian. Kunze sagt (p. 169), daß
auf den ersten Blick seine Ausführungen, zumal in de praescr. haer.
kein anderes Verständnis zu gestatten scheinen, als das hergebrachte.
Aber dies Verfahren, ohne die Schriften gegen die Häretiker vor-
zugehen, sei eine Neuerung (169), veranlaßs grade durch Hoch-
schätzung der Schrift und praktische Motive (170). Tertullian habe
darum auch die Schriften nicht aus dem Begriff der regula ausge-
schieden (173. 174). Den Hauptbeweis findet Kunze in de pr. c. 36.
Mich hat die Beweisführung Kunzes nicht zu überzeugen ver-
mocht. Es soll von vorn herein zugegeben werden, daß Tertullian
die Schriften nicht hat geringschätzen wollen. Aber das entscheidet
noch nicht die Frage, ob Tertullian die Schriften als tauglich, regula
fidei zu sein, angesehen hat. Es hat Kunze zweifellos Recht, wenn
er von einer Neuerung bei Tertullian redet (cf. Marc. Erem. 184 A 2).
Man kann nicht Irenaeus und Tertullian neben einander stellen. Daß
hier Differenzen sind, hat schon Kattenbusch ausführlich zu zeigen ver-
sucht (II 76). Ich kann die Neuerung aber nicht mit Kunze darin er-
blicken, daß Tertullian das Bekenntnis und die Schriften von einander
getrennt hat, — das ist ja schon auf grund des bei Irenaeus Ge-
sagten unmöglich — ; das Neue liegt vielmehr darin, daß Tertullian
einen schon von Irenaeus geübten Brauch prinzipiell begründet (cf.
Katt. 1177; vielleicht auch Harnack DG° I 328/29, 331). Nicht die
Trennung von Schrift und Symbol überhaupt ist das Neue, sondern
die ausschließliche Geltendmachung des Symbols als regula fides und
die damit zusammenhängende Reservierung der Schriften allein für
die kirchlichen Christen. Tertullian will thatsächlich das Symbol
als regula fidet verwendet sehen. Aus de spect. 4 (in aquam in-
gressi christianam fidem in legis suae verba profitemur) erkennt man,
daß der Wortlaut des Symbols die regula ist. Glaubensregel und
Taufbekenntnis sind wirklich identisch (cf. de pr. 13. 21. mart. 3
Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 61
930 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
pud. 18 u. 6.). Es ist dies kein ungenauer Sprachgebrauch de
Tertullian, sondern seine wirkliche Meinung. Der Hinweis auf die
mannigfachen Erweiterungen der regula (Kunze p. 173) ist belanglos.
Denn derselbe Tertullian, welcher die regula fidei an verschiedenen
Stellen in verschiedener Form dem Leser vorführt, sagt doch, daß
die regula fider una omnino est, sola immobilis et irreformabilıs (de
virg. vel. c. 1). Er hat also auch dort, wo die erweiterte regula
fide: auftaucht, an die feste Formel gedacht. Um beides zu ver-
stehen, muß man sich den Juristen Tertullian und den temperament-
vollen, leidenschaftlichen Afrikaner und Schüler des Irenaeus ver-
gegenwärtigen. Die Identität beider Größen erhellt auch daraus,
daß Tertullian das sacramentum fidei, d.h. das Symbol, als regula
fides hinstellt (de pud. 18 u. 6.).
Kunze hält es aber (p. 218) für einen methodischen Fehler,
wenn man, wie bisher durchgängig geschehen sei, den formalen Be
griff regula identifiziere mit dem besonderen Inhalt. So habe man
sich zu der Meinung verleiten lassen, daß die regula wenigstens eine
Lehrformel sei. Aber Kunze hat selbst (p. 15) gesagt, daß man
sich »irgend eine Lehrsumme« unter diesem Begriff vorgestellt habe.
Und wenn sich bei Tertullian die Gleichung: Symbol = regula vor-
findet, muß man davon auch für die Definition der regula Gebrauch
machen. Es ist nur die Frage gestattet, ob Tertullian etwa das
Symbol in dem Sinne wie Augustin regula genannt habe. Das ist
aber nicht der Fall. Denn daß die Schrift nicht in den Begriff
regula eingeschlossen ist, kann man aus de praescr. ersehen. Mit c. 15
hebt an, was man als die Neuerung Tertullians bezeichnen kanı.
Es hat T. aber schon vorher mit wünschenswertester Deutlichkeit
seiner Ueberzeugung Ausdruck verliehen. In c. 14 tritt das Symbel
vor die Schrift. Tertullian möchte überhaupt die eingehende Be-
schäftigung mit der Schrift vermieden sehen. Denn die ezercitatw
scripturarum wurzelt im Grübelgeist und in der Ruhmsucht. Fide
tua te salvum fecit, non exercitatio scripturarum. Von dieser fide
aber heißt es: in regula posita est, habet legem et salutem de obse-
vatione legis. Kunze hat, soviel ich sehe, diese wichtige Partie hier
nicht berücksichtigt. Man kann aus diesen Sätzen, die ja noch nicht
direkt gegen die Häretiker gerichtet sind, eine recht lebhafte Em-
pfindung von Tertullians Stellung zur Schrift und zum Symbol ge
winnen. Alles Forschen, welches über die regula hinausgeht (und
Tertullian denkt vornehmlich an die Schriftforschung), ist ctwriositas
und gloria. Tertullian bliebe am liebsten bei der einfachen regula:
er kann doch nicht alles Forschen verbieten. Dann gilt aber der
Grundsatz, daß die »egula, d. h. das Symbol, nicht verletzt werden
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 931
dürfe. Wenn man die c. 14 sich findende Wertung des Symbols er-
wägt, kann man nur annehmen, daß Tertullian überhaupt auf die
Schriften als regula sich nicht einlassen kann, daß das Forschen in
und nach der Schrift ihm persönlich unbequem ist. Seine religiösen
und wissenschaftlichen Interessen haften am Symbol, das ihm als
sacramentum fidei gilt. Es ist dann nur natürlich, daß auch gegen
die Häretiker das Symbol ins Feld geführt wird, daß es regula fidei
wird (pud. 18). Grade diese Wertung des Symbols als sacramentum
fides und als regulu fidei scheint mir eine wichtige Instanz gegen
Kunzes Auffassung zu sein. Es konnte aber dieser Gebrauch des
Symbols um so leichter eintreten, je intensiver Tertullian von der
Unzuverlässigkeit der Schriften im Kampfe gegen die Häresie über-
zeugt war. Wer die Worte sprechen kann: ergo non ad scripturas
provocundum est, nec in his constituendum certamen, in quibus aut
nulla victoriaaut incerta aut parum certa (de praescr. 19),
für den kann die Schrift als regula nicht in Betracht kommen. So
schreibt man nicht aus einer augenblicklichen Stimmung heraus oder
bloß im Hinblick auf einen speziellen Fall. So kann Tertullian nur
schreiben, wenn er wirklich völlig durchdrungen ist von der Unmög-
lichkeit, auf grund der Schrift die Häretiker zurückzuweisen. Es
wäre darum höchst auffallend, wenn Tertullian trotzdem die Schrift
in die regula eingeschlossen hätte. Er hätte dann sowohl seine
eigene Position wieder unsicher gemacht, als auch seinen juristischen
Sinn und seine primär am Symbol haftende Frömmigkeit (cf. seine
Ausführungen über das Gebet des »Christen«e und »Nichtchristen<)
verleugnet.
Kunze meint nun des weiteren, daß Tertullian diese regula fidei,
d.h. eine feste Formel, gar nicht von Christus überliefert sein lasse,
wie es den Anschein haben könnte (de pr. 9. 13. apol. 47 de pr. 37).
Denn Tertullian denke nur an den trinitarischen Taufbefehl. Er
sage ja auch de cor. 6: dehinc ter mergitamur amplius aliquid
respondentes, quam dominus in evangelio determinavit. So rücken
also Schrift und regula einander bereits nahe (173). Aber mußte
denn die ganze Formel von Christus wörtlich mitgeteilt sein, wenn
die Gleichung regula = Taufbekenntnis Gültigkeit besitzen soll?
Das ist nicht Tertullians Meinung gewesen. Das von Kunze aus
apol. 47 zitierte Wort spricht gegen Kunze. Denn es heißt: die
regula veritatis komme von Christus, ¢ransmissa per comites ejus. Es
genügt Tertullian ferner, daß die regula ab initio evangelii decucurisse
(adv. Pr. 2). Es hat auch Christus neben der institutio im Taufbe-
fehl einen anderen Weg der Mitteilung eingeschlagen. Er hat z.B.
seine Jungfrauengeburt »gezeigt<: natum me ostenderam ex vir-
61*
982 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
gine (de pr.44). So kann Tertullian die Formel auf Christus zurück
führen, ohne doch die wörtliche Mitteilung der Formel dure
Christus behaupten oder das amplius aliquid respondentes ein
schränken zu müssen. Eine Annäherung der Schrift an die regul
findet nicht statt.
Ich kann nun nicht hier alle von Kunze behandelten Stelle
beleuchten. Ich beschränke mich auf die Hauptbeweisstelle de pr. 3
Kunze stützt sich vornehmlich darauf, daß der Begriff der hier aut
tretenden institutio dieselbe Sache meine, die sonst der Titel regul
wiedergebe, und daß die Worte: legem et prophetas cum evangelict
et apostolicis litteris miscet. Inde potat idem, eam aqua signat et
die Schrift mit in die regula einrechnen (177). Man kann Kunz
hier insofern entgegenkommen, als die hier sich befindenden Wort
Tertullians die frühere Gleichung: regula = Taufbekenntnis wenig
stens verschleiern. Aber Tertullian scheint doch zunächst nur a
die Formel zu denken. Anders kann man das Wort: contesserar
nicht verstehen. Die Kirche Roms hat, was sie gelernt und gelehr
hat, mit der afrikanischen Kirche unter eine tessera gebracht, db
unter eine Marke. Der Ausdruck fordert die Beziehung auf ein
Formel. Man findet auch mehrfach bei Tertullian die Vorstellung
daß grade das Symbol das Einheitsband ist, mögen auch kurz vor
her ethisch-praktische Größen genannt sein. De pr. 20 beruht di
rechtsgültige apostolische Einheit auf der ¢raditzo des Symbols. Aehn
lich heißt es adv. Marc. 1Vs: apud universas (sc. ecclesias) quae ..
de societate sacramenti confoederantur. Wir dürfen darum auc
de pr. 36 an das Symbol denken, zumal dasselbe unmittelbar darau
kurz angedeutet wird. Aber T. bleibt ja dabei nicht stehen. Mi
den Worten legem et prophetas etc. geht er ja über die bekannte
Grenzen der regula hinaus. Es wäre jedoch höchst auffallend, went
Tertullian auch die Pflicht des Martyriums unter dem Titel de
regula fidei eingeführt hatte. Wohl aber versteht man, wie ic
durch Kattenbusch es bestätigt gefunden habe, den Hinweis au
diese Pflicht, wenn von der regula disciplinae die Rede ist (cf
Kunze 452). Dann erkennt man als die Absicht Tertullians, gegeı
die Häretiker in möglichst umfassender Weise Stellung zu nehmen
Nicht erst die regula fide, schon die regula disciplinae ist aus
reichend, um das Verwerfungsurteil über die Häretiker auszusprechen
Denn die Häretiker entziehen sich dem Martyrium. De genere con
versationis, heißt es ja in derselben Schrift, qualitas fAdei aestimar
potest. Doctrinae index disciplina est (de pr. 43). Aber die dis
ciplina gehört doch nicht mit zur fides (cf. Kunze 459/460). Apol. 2
wird Beides neben einander gestellt. Dann darf man auch an unse
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 988
rer Stelle nicht schlechthin von der regula sprechen. Man muß die
regula fide: und disciplinae auseinanderhalten. Wenn aber Tertullian
in unserem Zusammenhang auch der regula disciplinae gedenkt, wird
man annehmen müssen, daß die regula disciplinae dort einsetzt, wo
die Gedanken aufhören, die wir sonst bei Tertullian als zur re-
gula fidei gehörig kennen lernten. Dann gehören aber die Schriften
zur regula disciplinae Während die Häretiker — und Tertullian
wird besonders an Marcion denken, cf. c. 37 — das A. und N.T.
auseinander reißen, ist das nicht in Rom geschehen. Die folgenden
Notizen zeigen, daß Tertullian vornehmlich Liturgisches im Auge
hat. Er wird also hier an die Lesung alt- und neutestamentlicher
Perikopen im Gottesdienste gedacht haben. Dann hat aber Ter-
tullian durch den im folgenden auftretenden Begriff institutio gar
nicht dieselbe Sache bezeichnen wollen, die er sonst regula nennt
(Ku. 176). Tertullian zählt hier alle Momente auf, die die Häre-
tiker zu richten geeignet sind. Die Häretiker verstoßen gegen die
regula fide und regula disciplinae Wenn Tertullian nun sagt: inde
potat fidem, und dabei gewiß an die Schriften denkt (andere Aus-
legungen erscheinen mir gezwungen), so ist deswegen noch nicht
die Schrift zur regula fide erhoben oder der regula fidei zugerech-
net. Es zeigt dieser Zusatz nur die auch sonst zu konstatierende
Verehrung, die Tertullian für die Schrift hegte; man versteht
diesen Zusatz um so leichter, als allem Anscheine nach Tertullian
an den erbaulichen Charakter der Schriften sich erinnert hat.
Eine andere Frage ist es, ob die Schrift als regula fide: zu gelten
habe. Das folgt weder aus diesen Worten noch aus dem ganzen
Zusammenhang. Die übrigen Ausführungen dieser Schrift Tertullians
(cf. bes. c. 14) verwehren diese Annahme. Man wird darum bei
der hergebrachten Meinung von der regwla Tertullians bleiben müssen,
die Ku. noch in seinem Aufsatz NKZ 97 p. 565 zu teilen scheint.
So giebt also die These Kunzes kein zutreffendes Bild von der
vornicänischen Entwicklung im Abendland. Es ließe sich dies noch
durch weitere Belege bestätigen. Es könnte auch auf Novatian hin-
gewiesen werden, der Tertullian näher steht, als Kunze meint. Ich
muß mich aber mit dem Gesagten begnügen und kann nur noch
kurz einige weitere Punkte besprechen.
Nach der Begründung der eigentlichen These wendet sich Kunze
der Frage nach dem Ursprung der Glaubensregel zu. Auch hier
scheint mir Kunze seine Position gegenüber Kattenbusch und Harnack
unnötig zu verschärfen. Wir sind auf das lange und interessante
achte Kapitel angewiesen.
Kunze spricht gleich zu Beginn seinen starken Gegensatz gegen
984 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
die »neuere Theologie< aus (313). Der Begriff regula fides sei neu,
in der Kirche als nachgnostisch, weil antignostisch zu betrachten.
Die Kirche habe aber nicht das N.T. und das Bekenntnis geschaffen,
als sie sich der Gnostiker erwehren mufte. Die neuere Theologie
meine, die Kirche habe notgedrungen sich zu diesen Neuschöpfungen
entschlossen, um »>mit einem Schlage< dem Streite ein Ende zu
machen (313). Kunze bringt den Satz, den er bekämpfen will, auf
die Formel: der neutestamentliche Schriftenkanon und das Bekennt-
nis sind Schöpfungen der katholischen, insbesondere der römischen
Kirche (313/14). Das sei »auch« der Grundgedanke der Dogmen-
geschichte Harnacks (314). Nach Kunze sind aber N.T. und Be-
kenntnis da gewesen, »ehe man sie zum Kanon erklärte« (315).
Man könne diese Norm »mehr unreflektiert<« besessen haben (316),
aber ein unerprobtes novum seien sie nicht gewesen. Daß solches
Nachaußen-Kehren der Norm natürlich eine gewisse materiale Ver-
änderung mit sich im Gefolge habe, ändere daran nichts. Auch aus
der gnostischen Litteratur erkenne man die Haltlosigkeit der mo-
dernen Anschauung (316/17 cf. die Anmerkung über Harnack 317;
ferner 384, 414, 436). Falsch sei es auch, wenn man sage, die
Kirche sei in der Aufstellung der regula fidei nur dem Gnostizismus
nachgefolgt (318).
Im folgenden (cf. die Inhaltsübersicht) begründet Kunze diese
Gedanken. Es ist zu bedauern, daß Kunze seinen, wie ich von vorn
herein betonen will, wertvollen Untersuchungen, die auch einen ge-
wissen natürlichen Blick für das wirkliche oder vermutliche Ge-
schehen bekunden und auch die Mängel der Zahnschen Auffassung
zu vermeiden suchen, eine so scharfe polemische Zuspitzung gegen
eine sogenannte »neuere Theologie« gegeben hat, die schon durch
diese Bezeichnung zensuriert wird. Denn diese Bezeichnung ent-
hält schon ein dogmatisches, absprechendes Urteil über die Gesamt-
haltung des Gegners. Diese Verurteilung wird verschärft durch die
letzten Ausführungen über die »neuprotestantische Position<. So
hat Kunze den Gegensatz, der zunächst eine rein historische Frage
betrifft, auf das dogmatische Gebiet hinübergespielt und im Leser
sofort ein ungünstiges Vorurteil wider die gegnerischen Resultate
erweckt. Aber ich will von dieser Zensur absehen und damit rech-
nen, daß Kunze seine und Zahns historischen Forschungen nicht zur
‚neueren Theologie« zählt. Selbst dann ist die Bezeichnung zu be-
anstanden. Kunze läßt den Leser im Unklaren darüber, wer denn
zu dieser neueren Theologie gehört. Zunächst verweist er auf Har-
nack, der »>auch« in Betracht komme. Später wird Jülicher ge-
nannt (420), mit dem zusammen ein anderes Mal Krüger erwähnt
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 985
wird. Daß auch Kattenbusch derselben Kategorie zugezählt wird,
kann man nur aus des Verfassers allgemeiner Haltung erschließen.
Ausdrücklich gesagt wird es hier nicht. Nun ist es aber durchaus
unangebracht, diese Forscher unter einen derartig umfassenden, ab-
sprechenden Gesamttitel zu bringen. Es sind nicht unerhebliche Diffe-
renzen vorhanden. Das bestätigt Kunze indirekt wenigstens dadurch,
daß er sich eigentlich nur mit Harnack, und nicht mit der neueren
Theologie auseinandersetzt. Kunze hätte verschiedentlich auf Jüli-
cher verweisen können, ohne seine eigene Position aufzugeben. Das
geschieht aber nicht. Mit sehr viel größerem Rechte hätte Kunze
sich gegen Hilgenfeld wenden können, der aber mit keiner Silbe er-
wähnt wird.
Was nun Kunze in diesem Kapitel über das Bekenntnis sagt,
deckt sich weithin mit dem, was Kattenbusch behauptet, freilich in
zerstreuten Notizen, aber doch in Notizen, die Kunze bereits vor-
lagen. Sie sind ihm entgangen; er verweist wenigstens, soviel ich
sehe, nirgends darauf. Ich konstatiere aber gern diese nahe Be-
rührung Kunzes mit der »neueren Theologiee. Kattenbusch meint
nämlich ), der Gnostizismus und Marcionitismus hätten den Anlaß
geboten, das Symbol zur regula zu erheben (II 82). Das Symbol
ist also vor dem Gnostizismus schon in der Großkirche gewesen.
Kunze seinerseits meint, daß nur der Begriff regula neu sei (313,
388). An einem anderen Orte sagt Kattenbusch, es müsse, als die
Häresie gefährlich geworden sei, die Schätzung der Symbolformel
in der Gemeinde so groß gewesen sein, daß niemand mehr es habe
versuchen können, ihr blos negativ gegenüber zu treten, wenn er
nicht sich seines Einflusses auf die Gemeinden habe begeben wollen.
So nur begreife man es, daß ein Marcion und Valentin sich mit ihr
glaubten abfinden, sie anerkennen oder nachbilden zu müs-
sen, wenn sie die Konkurrenz mit der katholischen Kirche aufnehmen
wollten (II 328). Kurz vorher hat Kattenbusch die Vermutung aus-
gesprochen, daß die Valentinianer, wohl klüger als ihr Meister,
irgendwie R pro forma in Gebrauch genommen hätten (II 326 cf.
II 58 A. 5). Neben Tertullians bekanntem Satz: communem fidem
affırmant, glaubt Kattenbusch auch Irenaeus III 15: zum Beweise
heranziehen zu dürfen (II 27), Von »Neuschöpfungen« gegenüber
der Gnosis kann also in keiner Weise die Rede sein. Was Kunze
in längerer Auseinandersetzung zu beweisen sucht, hat Kattenbusch
1) Von der Hauptdifferenz in der Bestimmung der regula Ades muß ich hier
natürlich absehen und auf meine obigen Ausführungen verweisen. Kunze be-
bandelt auch in diesem Kapitel Schrift und Symbol gesondert, ohne deswegen
seine Hauptthese aufgeben zu wollen.
936 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
hier schon angedeutet. Damit soll nicht gesagt sein, daß Kunze nur
ausführlich begründet, was Kattenbusch hier streift. Eine Differenz
zwischen Kattenbusch und Kunze bleibt bestehen. Denn Kattenbusch
ist geneigt anzunehmen, daß die Gnostiker neben dem kirchlichen
Symbol noch ein eigenes besessen und gebraucht hätten. Katten-
busch meint, daß Valentin selbst in seiner Weise als regula
eine Formel aufgestellt habe, ein Gedanke, den Kattenbusch na-
türlich nicht so ausbeutet, als sei dem Valentin die Großkirche
ihrerseits in der Aufstellung eines Bekenntnisses gefolgt. Er er-
kennt vielmehr an, daß Valentin durch die Großkirche zu einer
eigenen Bildung veranlaßt sei. Hinsichtlich der Valentinianer aber
meint Kattenbusch, daß sie auch das großkirchliche Symbol irgend
wie hätten gelten lassen und es vielleicht pro forma rezipiert hät-
ten, so jedoch, daß die Möglichkeit, ein eigenes Symbol zu besitzen,
nicht ausgeschlossen sei (II 58 A. 5).
Die in fortwährender Auseinandersetzung mit Harnacks An-
schauung von den regulae der Gnostiker verlaufende Untersuchung
Kunzes hat nun das Problem wesentlich geklärt. Kunze weist nicht
ganz mit Unrecht darauf hin, daß die an verschiedenen Orten sich
findenden Ausführungen Harnacks über das Symbol klarer hätten
sein können. (p. 317 A. 1 heißt es recht scharf: »ich sehe mich
außer stande, diese widersprechenden Ansätze zu vereinigen«). Frei-
lich scheint Kunze anzunehmen (318 A. 1, 320, 321), Harnack sei
der Meinung, die Gnostiker hätten überhaupt zuerst ein Symbol
aufgestellt. Das ist ein Mißverständnis. Harnack sagt nur, es
trete uns bei den Gnostikern zuerst der überlieferte Komplex des
christlichen xrovyu@ als Lehrbekenntnis (regula fidet) ent-
gegen (DG I 243 A. 1). Kunze selbst kann auch keine direkte
Aussage Harnacks für die ihm zugeschobene Ansicht anführen (Kunze
321). Was Harnack DG I 321, 324 A. 1, 326 schreibt, widerlegt
diese Ansicht. Immerhin sind aber von Harnack Sätze formuliert,
die seine wirkliche Anschauung zunächst nicht deutlich erkennen
lassen. Doch scheint mir die Bemerkung RE? Bd. I 7526s seine
wirkliche Ansicht zu verraten; die »Widersprüche« in seinen Aus-
führungen sind demnach, zumal wenn man das obige Mißverständnis
Kunzes berücksichtigt, nicht so groß, wie Kunze sie hinstellt. Da-
gegen hat Kunze mit guten Gründen die These von den regulue
der Gnostiker widerlegt und den Beweis erbracht, daß schon die
Gnostiker das kirchliche Taufbekenntnis gehabt haben. In dieser
Richtung sind auch die Aufstellungen Kattenbuschs zu korrigieren,
die ja ohnehin schon sich mit denjenigen Kunzes sehr nahe be-
rühren.
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 937
Ich muß aber doch noch auf die Ausführungen Kunzes zurück-
kommen. Kunze hatte den Satz Harnacks beanstandet, daß die
Gnostiker zuerst ein Lehrbekenntnis aufgestellt hätten. Wie
dieser Satz zu verstehen sei, hatte ich schon angedeutet. Sind nun
aber die Entwickelungen Kunzes so sehr verschieden von dem, was
als das richtige Verständnis jenes Satzes Harnacks gelten muß?
Kunze kommt an einer anderen Stelle (360) auf diesen Satz Har-
nacks zurück, nachdem er bewiesen hat, daß das Lehrbekenntnis
der Gnostiker mit dem gemeinen Taufbekenntnis identisch war.
Kunze weist hier den Satz Harnacks in jeder Beziehung zurück.
Es müsse, sagt er, noch schließlich hervorgehoben werden, daß die
Gnostiker nie dies Bekenntnis oder überhaupt eine feste Formel als
Lehrautorität für sich oder gegen ihre Bestreiter angerufen hät-
ten‘). Sie hätten sich damit gedeckt, aber nicht ihre Lehre davon
abgeleitet. Die Autorität, aus der sie argumentierten, sei die Schrift
gewesen. Später aber äußert sich Kunze anders (382). Er
meint, der Irrtum, als ob die Gnostiker ein apostolisches Bekenntnis
und N.T. geschaffen hätten, habe doch einen gewissen Schein der Be-
rechtigung. Zunächst nämlich sei es richtig, daß wirklich die
Gnostiker sich als erste auf die kirchliche Lehrüberlieferung, ins-
besondere auf das Taufbekenntnis berufen und an ihm ihre
Lehre zu legitimieren versucht hätten. Im ganzen trete dies zurück
gegen das andere, daß in der That bei den Gnostikern zuerst ein
überlieferter neutestamentlicher Schriftbeweis vorliege. Mit Recht
habe Harnack darauf hingewiesen. Mit dieser Aeußerung stimmt
überein, was Kunze am Anfang des Kapitels (313 ; cf. 388) über die
regula fidei in der Kirche sagt. Der Irrtum also, den Kunze hier
bekämpft, ist nicht der p. 360 behauptete. Er sagt vielmehr das-
selbe, was er p. 360 gegen Harnack bestritten hatte. p. 360 heißt
es, die Gnostiker hätten nie das Bekenntnis gegen ihre Bestreiter
angerufen. Hier lesen wir, die Gnostiker hätten sich als erste
insbesondere auf das Bekenntnis berufen. Und Kunze weist sogar
auf Harnack hin. Denn der Hinweis auf Harnack kann sich dem
ganzen Zusammenhange nach nicht bloß auf die Stellung der Gno-
stiker zur Schrift beziehen. Kunze will ja den Schein der Berech-
tigung des ganzen Irrtums aufdecken, der auch die falsche An-
sicht vom Bekenntnis der Gnostiker enthält. Was Kunze hier ab-
lehnt, ist die Meinung, als hätten die Gnostiker das Bekenntnis ge-
schaffen. Das ist aber weder von Harnack noch von Kattenbusch
behauptet worden. Es reduziert sich also die Differenz zwischen
1) Die Sperrungen stammen von mir,
988 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
Kunze und der »neueren Theologie« hinsichtlich des Taufbekennt-
nisses und seiner Geltung bei den Gnostikern auf ein Minimum.
Was nun den neutestamentlichen Kanon betrifft, so bekämpft Kunze,
verschiedentlich auf Heinrici verweisend, die These, daß er eine
Schöpfung der altkatholischen Kirche sei. Die antignostische Kirche
habe weder diesen Kanon geschaffen, noch pseudoapostolische Schrif-
ten fabriziert, oder ältere Schriften zum Zwecke der Kanonisierung
dazu umgestempelt (385, 389, 313). Die strenge Abgeschlossenheit
des Kanons, die man zuerst bei Marcion finde, gehöre nicht zum
Wesen des Kanons (404). Das Plus des kirchlichen Kanons an
apostolischen Schriften gegenüber dem marcionitischen sei nicht
einem antimarcionitischen Interesse entsprungen (405). Das N. T.
sei also eine vorgnostische Größe, eine positive Bildung des Christen-
tums (427).
Es hat dies aber m. E. auch Niemand unter den von Kunze
bekämpften Forschern geleugnet. Kunzes scharfe Antithese gegen
die »neuere Theologie« rührt hier z.T. nur daher, daß er die hier
entwickelte Geschichtskonstruktion (denn mehr als eine solche kann
man hinsichtlich der Entstehungsgeschichte des Kanons ebensowenig
geben wie hinsichtlich derjenigen des Symbols) sich nicht in ihrem
vollen Umfang vergegenwärtigt hat. Besonders Jülichers Darstel-
lung der Geschichte des Kanons, die ja schon die ' Kontroverse
Harnack-Zahn voraussetzt, hätte Kunze weit mehr berücksichtigen
können, als geschehen ist; er hätte namentlich gegen Jülicher sich
viel entgegenkommenderer verhalten können. Denn die Differenzen
zwischen Kunzes und Jülichers Position sind nicht so groß, wie sie
Kunze erscheinen läßt. Ich brauche ja nur an Jülichers bekannte
These von der Bedeutung des Gnostizismus und Montanismus für
die Kanonbildung zu erinnern. Die Kirche hat nach Jülicher un-
bewußt, nicht nach Grundsätzen gehandelt. Von einem großen Aus-
scheidungsprozeß könne so wenig die Rede sein, daß vielmehr großer
Konservatismus geherrscht habe. Man habe sich an das Altherge-
brachte gehalten und nur fallen gelassen, was absolut nicht gehalten
werden konnte. Nach 200 habe man lediglich die im Vergleich zu
der früheren geringfügige Aufgabe gehabt, die Verschiedenheiten in
der Zählung auszugleichen und das Apostolische vollständig zu er-
halten (312. 314. 316. 317; cf. v. Schubert, Lehrb. d. K. G. Bd. I
p. 214). Dies letzte behauptet auch Kunze (430), dessen Ueber-
zeugung, daß die Zeit der Schöpfungen so wie er sie eben ver-
steht, vor 150 liege, dem nahe kommt, was Jülicher p. 316 ent-
wickelt (cf. auch Holtzmann, Einleitung? p. 119. 122).
Aber Kunze setzt sich ja wesentlich mit Harnack auseinander.
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 939
Wie ist seine Differenz mit Harnack zu beurteilen? Es wäre auf-
fallend, wenn Harnack die Entwicklung vor 150 gar nicht, oder
höchst unzureichend gewürdigt hätte. Dieser Schein kann nur da-
durch entstehen, daß Harnack besonders die Tischendorf-Zahnsche
Anschauung zurückweist, und daß er, was Kunze unbeachtet läßt, in
seiner Dogmengeschichte keine Entstehungsgeschichte des neutesta-
mentlichen Kanons geben, sondern nur einige Gesichtspunkte heraus-
heben will (I 337 A. 2). Er verweist ja ausdrücklich auf die Ein-
leitungen von Holtzmann und B. Weiß (ib.). Harnack läßt es trotz-
dem nicht an Andeutungen fehlen, welche in der Richtung der von
Kunze vertretenen Gedanken liegen. Nicht nur, daß er von vorn
herein darauf aufmerksam macht, daß die Vorstellung von der voll-
kommenen Identität dessen, was die Gemeinden als christliche Ge-
meinden besaßen, mit der Lehre und den Anordnungen der Zwölf-
apostel bereits in der ältesten heidenchristlichen Litteratur nach-
weisbar sei (I 320, cf. I 150 ff.); wir lesen auch, daß der Umfang
der Leseschriften, der sich für Polycarp feststellen lasse, dem spä-
teren Homologumenonkanon sehr nahe komme (I 341 A.). Die
Kirche schloß sich an die Leseschriften, welche in gottesdienstlichem
Gebrauch waren, an und nahm nur auf, was sie auf grund der
Ueberlieferung für authentisch apostolisch hielt (I 345). Die Samm-
lung apostolisch-kirchlicher Schriften unterschied sich ihrem Umfang
nach nicht so auffällig von der Zahl der schon seit mehr als einem
Menschenalter in den Gemeinden bevorzugten und am meisten ge-
lesenen Schriften. Darin liege es gewiß begründet, daß man die
Neuerung kaum empfunden habe. Man schloß sich an die alt-
hergebrachten Leseschriften an. Das Neue war, daß die noch
nicht abgegrenzte Gruppe von Leseschriften auf eine geschlossene
Sammlung reduziert worden war (I 348 und ib. A. 1; cf. 342 über
das »geschlossene« N. T. des Irenaeus und Tertullian; cf. auch Harnack
d. N. T. um 200 p. 111 p. 50). Daß Harnack auch nicht geneigt
ist, die Bedeutung der gnostischen Krisis fiir die Kanonsbildung zu
überschätzen, und also der These Jülichers sich nähert, daß er
andererseits die Bedeutung der gottesdienstlichen Vorlesung fiir kri-
tische Ausscheidung, Abgeschlossenheit und Stabilität in einer zu-
sammenhängenden Darstellung der Bildung des N. T.s wohl hervor-
heben würde, darf man aus dem p. 337 Gesagten erschließen, sowie
aus dem Umstande, daß er Bousset, die Evangelienzitate Justins,
heranzieht. Vielleicht hätte Harnack diese Momente stärker betonen
können, da ja, wie Kunzes Verfahren zeigt, Mißverständnisse mög-
lich sind, die auch Wohlenberg in seiner Rezension des Kunzeschen
940 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
Werkes zu teilen scheint. Nötig ist es freilich nicht. Der Zahn-
Harnacksche Streit zeigt ja deutlich genug, worauf es ankommt.
Andererseits finden sich bei Kunze Aeußerungen, die in der
Richtung dessen liegen, was die »neuere Theologie« über die Be-
deutung des antihäretischen Kampfes für die Geschichte des Kanons
entwickelt. Trotzdem bleibt bei Kunze eine nicht unerheb-
liche Differenz bestehen, die ihn wiederum trotz Anerkennung des
Neuen, das der gnostische und antimarcionitische Kampf gebracht,
der Tischendorf-Zahn’schen Auffassung nähert, dadurch freilich auch
den Gegenstand seiner Polemik verschleiert und den Eindruck des
Widerspruchsvollen erweckt. Die irreführende Polemik Kunzes gegen
die neuere Theologie wird man daraus erklären müssen, daß Kunze
verschiedentlich nicht scharf zu unterscheiden scheint zwischen den
neutestamentlichen Schriften als dem aus christlichen Schriften be-
stehenden Lesegut der Gemeinden zur Erbauung und der Erhebung
dieser Schriften zu einem dem A. T. gleichgestellten, für die ganze
Kirche geltenden Kanon, d. h. eben N.T., dessen Inhalt darum auch
natürlich scharf abgegrenzt wird gegen alle sonstigen Aeußerungen
des christlichen Geistes. Doch vergißt Kunze ja das Neue in der
Position der antignostischen Väter nicht (427 ff). Hatte er p. 313
(cf. 315) die Ansicht zurückgewiesen, als habe sich die Kirche not-
gedrungen zu den Neuschöpfungen entschlossen, um »mit einem
Schlage< dem Streite ein Ende zu machen, so giebt er p. 340 doch
soviel zu, daß »mit einem Schlage« durch die Abgrenzung und Ver-
festigung der apostolischen Litteratur sich die Lage geändert habe.
Was man früher unreflektiert besessen habe, werde jetzt nach außen
gekehrt, aus der Sichel ein Spieß geschmiedet. Das N. T. sei nicht
als »Kanon« geschaffen. Es sei ursprünglich das heilige Gotteswort,
das sich die Gemeinde zum Zweck der Erbauung zu Gehör ge
bracht habe (437). Die Bildung und Sammlung des N.T. sei eine
zunächst kultische gewesen (412) und falle vor das Aufkommen der
Häresie, gegen die man nicht ein unerprobtes novum, sondern das
Altbewährte als Norm aufgestellt habe (316). Das Neue der anti-
gnostischen Väter bestehe also darin, daß man das apostolische
Christentum bewußt von dem eigenen unterscheide (383, 427, 428,
438) und daß mit der Verwendung des N.T. als Kanon eine ge
wisse Verfestigung seines Bestandes gegen früher notwendig sich
eingestellt habe (429). Was den ersten Punkt betreffe, so sei die
Kirche hierin den Gnostikern und Marcion »notgedrungen nachge-
folgt«. Kunze giebt auch die Richtigkeit des Harnackschen Satzes
zu, daß die Gnostiker die ersten gewesen seien, welche einen ausge-
führten neutestamentlichen Schriftbeweis gegeben hätten (382). Es
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 941
muß also doch Kunze zwischen dem N. T. als kultischer Größe und als
Kanon unterscheiden. Wenn aber erst die antignostischen Väter das
N.T. als Kanon verwerteten (429), dann ist der neutestamentliche Ka-
non nicht eine Schöpfung der vorgnostischen Kirche, um so weniger, als
Kunze selbst zugiebt, daß die gnostische Krisis eine materiale Neue-
rung im Gefolge hatte. Daß es jedoch vor dem Kanon neutesta-
mentliche Schriften gegeben, welche kultische Bedeutung hatten,
hohes Ansehen genossen, und an Umfang fast dem späteren Kanon
gleich kamen, bestreiten die Gegner Kunzes keineswegs (cf. Harn.
I, 348 u. Kunze 315/16 ; 430). Man könnte auch den Umstand für
belanglos halten, daß Kunze nicht von neutestamentlichen Schriften,
sondern vom N.T. redet, welches vor dem Kanon dagewesen sei
(313). Denn Kunze giebt ja zu, daß bei den das N.T. als Kanon
verwertenden antignostischen Vätern eine sowohl formale als mate-
riale Neuerung nachweisbar sei. Daß ihr N. T. überall ganz fest ab-
gegrenzt gewesen sei, behauptet auch niemand. Harnack meint ja
auch, daß dieser Prozeß in den verschiedenen Gebieten der Kirche
in verschiedenem Tempo sich vollzogen habe (I. 357). Darnach
würde sich der Gegensatz Kunzes und seiner Gegner als verschwin-
dend klein darstellen. Wir kämen zu demselben Resultat, wie schon
oben, als wir Kunzes Stellung zum Taufbekenntnis besprachen; zu
dem Ergebnis nämlich, daß die eigentliche These Kunzes gar nicht
kontrovers sei.
Man hat aber doch die Empfindung, daß eine Differenz vorhan-
den sein muß, wenn Kunze immer wieder von dem N.T. redet,
welches vor dem Kanon dagewesen sei. Daß dem so ist, erfährt man
deutlich am Schluß des Kapitels. Denn hier wendet sich Kunze
wider die gegenwärtig herrschende Ansicht von der Bildung des
N.Ts., nach welcher zunächst nur Herrenworte mit Ausschluß der
apostolischen Worte als Instanz neben das A.T. getreten seien (440.
431). Diese Differenz wird freilich von Kunze wiederum vergrößert
(440 A, 1). Denn sowohl Harnack als Jülicher erkennen an, daß der
>Kanon< der beiden Paulus nachfolgenden Generationen größer ge-
wesen sei als der des Paulus. Man habe neben der Schrift und den
Herrenworten in den Aposteln eine dritte Autorität besessen, den
idealen Kanon der Apostel (Jül. 283; Harn. 1,150, 153 Al, 156 A,
349 u. 6.). Kunze begründet nun seine Stellung nicht näher, sondern
betrachtet sie lediglich als eine Folgerung aus der These, daß das N.T.
bis an die Grenze des von ihm behandelten Zeitraumes als apostolische
Schriftensammlung gegolten habe. Aber Kunze giebt doch selbst
in abstracto die Möglichkeit zu, daß auch andere Motive maßgebend
gewesen sein können (p. 112 A. 2), und es ist von vornherein nicht
942 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
richtig, wenn Kunze von einer Verhältnisbestimmung der beiden Be-
griffe Kanon und N.T. ausgeht, der zufolge der Kanon das gegen
die Häretiker gewendete N.T. ist, sodaß also das N.T. da war, ehe
man es zum »Kanon< erklärte. Denn kanonische Schriften sind solche,
die keine édgcora, sondern wpıoueve sind. Es kann dafür wiederum auf
Priscillian verwiesen werden, der vom numerus canonicorum librorum
spricht (ed. Schepss p. 51). Das kultische Bedürfnis schon verlangt den
»Kanon«. Andere Faktoren kamen fördernd hinzu. Wenn nun aber
Kunze verlangt, man müsse von der gegenwärtig herrschenden An-
sicht aus zu zeigen haben, wann und wodurch veranlaßt man in vor-
gnostischer Zeit dazu gekommen sei, jene angeblich frühere Position
zu verlassen, so wäre dies ja zunächst nicht nötig. Es könnte ja
vorläufig genügen, zu zeigen, daß wirklich jene Position vorhanden
ist. Man hat aber doch hinreichend sich bemüht, die Gründe aufzu-
decken, die eine Wandlung verursachten. Daß wirklich der neu-
testamentliche Kanon, der ja auch nach Kunze nicht bloß der Kultus-
geschichte angehört (437 A. 2), stufenförmig entstanden ist, darüber
lassen die auf uns gekommenen Zeugnisse keinen Zweifel aufkommen.
Für diese Annahme treten auch die Ergebnisse der vergleichenden
Religionswissenschaft ein, auf die ich hinweisen darf, da Kunze selbst
einmal, freilich in anderem Zusammenhang, religionsgeschichtliche
Analogieen heranzuziehen nicht verschmäht (378 A.1). Ich kann na-
türlich nicht die Instanzen auch nur annähernd anführen, die Kunzes
Anschauung als irrig erweisen. Wenn Kunze aber meint, daraus,
daß man die neutestamentlichen Aussagen nicht gegen die eigenen
abgrenzte, sondern mit ihnen verflocht, folge nicht, daß man ein
N.T. noch nicht besessen habe, so heißt das doch die eigentliche
Streitfrage umgehen. Denn es gilt ja grade darüber Klarheit zu ge-
winnen, wann die Kirche eine dem A.T. gleichwertige neue Schrift
besessen habe. Daß in der von Kunze vorausgesetzten Zeit Unter-
schiede vorhanden sind, beweist die verschiedene Stellung zu den
Herrenworten und denjenigen der Apostel. Auf eine aus verschie-
denen Gründen so unsichere Quelle wie Polyc. ad Phil. 12: sich zu
stützen (p. 439. cf. dagegen Polyc. ib. 3, 2), ist um so bedenklicher, als
Kunze selbst einräumen muß, daß Polycarp sich mit dem Glauben
der sbayysiuodusvor tic axdotodo: eins wußte (438). Mehr alsge-
legentliche Ansätze und Vorstufen zum >Kanon« wagt auch Kunze
nicht zu behaupten. Damit geht er aber schon auf die Frage-
stellung seiner Gegner ein. Was Kunze p.419 über Justins Stellung
zu den Briefen bietet, ist weniger ein stringenter historischer Be-
weis, als vielmehr eine Reflexion über den von Zahn geschilderten
Thatbestand, deren Richtigkeit erst zu erweisen wäre. Kunzes Er-
Kunze, Glaubeusregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 943
örterungen können nicht die Annahme modifizieren, daß für Justin
die Briefe etwas anderes bedeuten, als die Evangelien, oder richtiger,
der Inhalt der Evangelien. -Wenn Kunze aber überhaupt Justin nur
einen alttestamentlichen Kanon haben läßt, so berücksichtigt er die
Thatache nicht, daß für Justin die Adyıa xvedov dieselbe Autorität
besitzen, wie das A.T., daß Justin von der Verlesung der Evangelien
(nicht der Briefe) im Gottesdienste ausdrücklich berichtet, daß er
Jesu Wort schon als ein geschriebenes zitiert und daß das von
Kunze entwertete yeypantaı (in dial. 49), welches Mtth. 17,13 ein-
führt, nicht ein Herrenwort, sondern eine historische Notiz zum In-
halt hat. Es werden formell auch nur die Evangelien zitiert; auch
die Zitationsformel : &v td evayyedim zeigt, daß für Justin die Evan-
gelien bereits eine für sich bestehende feste Größe ausmachen.
Vollends sind die Acta scilit. mart., die Kunze hier ebenso wenig
beriicksichtigt, wie die Schrift de aleatoribus, ferner Tatian, Serapion,
die Bezeichnung drdaroAog für den Briefteil des N.T., Theophilus,
‘die apostolischen Constitutionen, Dionys v. Corinth und selbst der
Heide Celsus u. a. m., Instanzen, deren Bedeutung erst vollständig
entwertet werden müßte, ehe man Kunzes Anschauung auch nur für
wahrscheinlich halten könnte.
Die Schlüsse, die Kunze sodann aus der Stellung der Gnostiker
und Marcions zum N.T. zieht, und welche namentlich gegen Harnacks
Annahme sich richten, daß die Kirche besonders die Apostelgeschichte
ihrem Kanon eingefügt habe, sind m. E. unzutreffend. Besonders
hier möchte man fragen, was denn eigentlich das N.T. sei. Kunze
scheint hier wieder Zabns Auffassung zu teilen, während er doch
sonst den Kampf gegen die Gnosis als einen die Entwicklung för-
dernden Faktor mit in Betracht zieht, und nicht lediglich durch das
Herkommen und die Gewohnheit das N.T. entstanden sein läßt.
Kunze hatte ja ausdrücklich die Bildung des N.T. nicht lediglich
der Kultusgeschichte zuweisen wollen. Daß aber die acta schon
früher zum N.T. gehört haben, in dem Sinne, wie Harnack diesen
Begriff versteht, hat Kunze nicht bewiesen. Daß die acta als solche
eine alte und zum größten Teil zuverlässige Schrift sind, leugnet
Harnack ja nicht (I. 348A). Es handelt sich aber um ihre kano-
nische Schätzung, die erst am Ende des zweiten Jahrhunderts nachzu-
weisen ist. Dies widerlegt Kunze aber nicht. Es giebt doch auch
zu denken, daß die Apostelgeschichte in der heiligen Sammlung keine
Vorstufe hat. Kunze fruktifiziert zu sehr die Aeußerung Harnacks
über das antimarcionitische Buch im Kanon, wenn er meint (410),
es habe sich für die Kirche gar nicht darum gehandelt, sich pauli-
nischer Gedanken zu erwehren. Denn Harnack hebt vornehmlich
944 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
den apostolischen Traditionsgedanken hervor, der an der Apostelge-
schichte seine Stütze finde. Dies Prinzip, und zugleich die Gedanken
über das Bischofsamt darf man nicht übersehen. Die Apostelgeschichte
sicherte die historischen Zusammenhänge mit der urchristlichen Zeit,
die Marcion radikal beseitigt hatte. Die Gründung der Kirche über-
haupt — und dies Moment, von Tertullian geltend gemacht, von
Kunze selbst angeführt (410), muß gegenüber der Kirchengründung
Marcions beachtet werden — und der apostolischen Gemeinden und
damit die Theorie von der successio war grade in einer Zeit, wo die
persönlichen lebendigen Beziehungen zu der apostolischen Zeit zu
schwinden begannen, die Apostelgeschichte zu beweisen geeignet, die
zugleich Paulus und die Urapostel, zu denen emporzuschauen man ge-
wohnt war, in Frieden mit einander zeigte, entgegen Marcions Be-
hauptung. So lassen sich an Tertullian wohl die Motive für die erst
jetzt nachweisliche kanonische Schätzung der acta erkennen. Sehr
beachtenswert ist doch auch die Bemerkung des can. Mur. Wenn
Kunze meint, die von Harnack zitierten Stellen Tertullians adv.
Marc. I, 20, IV, 2—5 nähmen überhaupt nicht Rücksicht auf die
Apostelgeschichte, so geben sie doch ein Bild von den herrschenden
Ideen jener Zeit; adv. M.V 2, de pr. 22 muß aber auch Kunze be-
rücksichtigen. Hier wird aber grade die Apostelgeschichte gegen
Marcion ausgespielt. Kunzes eigene Worte (410) zeigen, wie wichtig
die Apostelgeschichte Tertullian im Kampfe gegen die Häretiker, be-
sonders Marcion war. Denn wenn es sich auch nur um die Recht-
fertigung des Apostolats Pauli handelt, wie Kunze annimmt, so will
doch Tertullian seinen Geger Marcion nötigen, die Apostelgeschichte
anzuerkennen, um Paulus anerkennen zu können. Dann wäre aber
Marcion überwunden. Kunzes Exegese ist darum nicht imstande,
die Worte Harnacks >nur wer die Apostelgeschichte anerkennt, hat
ein Recht, Paulus anzuerkennen«, zu widerlegen oder abzuschwächen.
Doch ich breche ab. Es ist unmöglich, auf alles Detail einzu-
gehen. Kunzes Ausführungen über den Ursprung des N.T. haben
mich wenig befriedigt. Sie sind zu summarisch gehalten, um alle
Bedenken, die gegen seine Anschauung auftauchen, verscheuchen zu
können. Sie geben ein zu unvollständiges Bild von der Position der
Gegner; die Arbeiten von Weiß und Holtzmann sind ebenso wenig
genannt, wie diejenigen Hilgenfelds. Es wäre auch zu wünschen ge-
wesen, daß Kunze seine Position gegen Zahn klar abgegrenzt hätte,
von dem er sich doch nicht bloß in Einzelheiten unterscheidet. Die
eigentliche Frage, auf die es ankommt, hat Kunze nicht scharf for-
muliert. Wenn Kunze die formale und materiale Neuerung, welche
die Auseinandersetzung mit den Häretikern zur Folge hatte, hervor-
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 945
hebt, damit also die Zahn’sche Anschauung verlassend, die den
Gnostizismus und Montanismus ausdrücklich ausscheidet als die Ent-
_ wicklung fördernde oder bedingende Faktoren (G.K. I. 435), und
doch behauptet, daß das N.T. eine vorkatholische, positive Bildung
auf dem Boden des Christentums sei, so sind hier Zahnsche Gedanken
mit solchen, die in der von Harnack vertretenen Richtung liegen,
derartig mit einander verknüpft, daß es zu keiner rechten Klarheit
gekommen ist und Widersprüche nicht ausgeschlossen sind. Geht
doch Kunze einmal auf die Problemstellung seiner Gegner ein! Für
Harnack spitzt sich die ganze Frage über die Geschichte des neu-
testamentlichen Kanons zu in die Frage nach der Wandlung, welche
das Interesse der Kirche an den von früh an ihr gehörenden neu-
testamentlichen Schriften erfuhr. Es handelt sich also um die Frage,
wann und wodurch veranlaßt die Kirche ein dem A.T. an Dignität
gleiches N. T. erhielt. Nur so versteht Harnack den Begriff N.T.;
daß Sammlungen heiliger Schriften zum Zwecke der Erbauung der
Gemeinde von frühester Zeit an bestanden, behauptet er mit Zahn.
Darum wird er so wenig wie irgend ein anderer Vertreter der
»neueren Theologie« sich von den Ausführungen Kunzes getroffen
fühlen, oder auf grund seiner Ausführungen seine Position aufzugeben
sich genötigt sehen.
Ich habe in dem bisher Gesagten fast nur meinem Widerspruch
gegen Kunze Worte verliehen. Ich könnte auch noch auf Kunzes
Darlegung der Stellung Luthers zur Schrift mich einlassen, die mir
ebenfalls von Kunze nicht richtig und umfassend genug gewürdigt zu
sein scheint. Ich beschränke mich aber auf das Gesagte. Die Vor-
ziige der Kunzeschen Arbeit habe ich am Anfang meiner Bespre-
chung hervorgehoben. Worin ich aber Kunze beipflichte, brauche
ich nicht eingehend zu entwickeln. Man darf es schon für verdienst-
lich halten, daß Kunze seine eigentliche These überhaupt vorgelegt
und durchzuführen versucht hat. Denn sie kann doch lebhaft die
Ueberzeugung erwecken, daß der Begriff regula fidei ein Problem
stellt, das durch Zahns und Harnacks Formulierung nicht erschöpfend
gelöst wird. Kunze hat aber auch besonders in seinen dem Ursprung
des Taufbekenntnisses und dessen Stellung bei den Gnostikern ge-
widmeten Ausführungen stichhaltige Ergebnisse gebracht und die
Sachlage geklärt. Ich zweifle nicht, daß diese Erkenntnis sich durch-
setzen wird. Durch Kunzes Arbeit hat auch die Annahme, daß man
im Orient schon früh ein nicht bloß trinitarisches Taufbekenntnis
besessen hat, eine neue und sorgfältige Begründung erfahren; Kunzes
Arbeit könnte ein neuer Beweis dafür sein, daß die Frage nach dem
Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12. 62
946 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
Ursprung des Taufbekenntnisses doch wohl in der Richtung gelöst
werden muß, die Caspari angebahnt hat. Die Erörterungen Kunze
können aber doch noch nicht als abschließende betrachtet werden,
zumal Kattenbusch selbst in den letzten Partieen seines Buches Zu-
geständnisse gemacht hat, welche die weitere Diskussion wünschens-
wert machen. Das kann hier nicht geschehen; Kunze selbst hat ja
auch die Frage nach dem Ursprung des Taufbekenntnisses nicht
ausdrücklich zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht. Man
wird sich vornehmlich der Frage nach dem Vorhandensein eines
Symbols in Syrien und Aegypten annehmen müssen. Hier liegt ein
noch nicht befriedigend gelöstes Problem vor. Das Symbol des
Marcus Eremita, das Kunze als neuen Zeugen fiir das altkirchliche
Taufbekenntnis betrachtet, ist von geringerer Bedeutung als eine
eingehende, speziell die Symbolfrage beriicksichtigende Untersuchung
der aig. KO und des durch diese KO gestellten litterarkritischea
Problems. Kunze ist auf diesen Punkt in seinem Buch nur ber
läufig eingegangen, ohne selbständige Untersuchungen zu bieten.
Auch dem Unternehmen Zahns, aus der Didascalia ein Symbol
wiederherzustellen (NKZ 1896 p. 26), wagt Kunze nicht unbe
dingt beizupflichten (68), wenn er auch dazu geneigt ist (68. 242).
Viel wäre gewonnen, wenn das von Rahmani edierte Testamentum
Domini wirklich aus der Zeit stammte, in die es der Herausgeber
versetzt, oder wenn wenigstens die Canones Hippolyti echt wären.
Daß Rahmani Recht hätte, wird aber kaum jemand behaupten wol-
len. Das verbietet unter vielem anderen auch die Anschauung vom
descensus, die an Cyrill Cat. 14 erinnert. Eine eingehende Unter-
suchung des TD, die Funk in der theologischen Quartalschrift 1900
in Aussicht stellte, ist jetzt in den Forschungen zur christlichen
Litteratur und Dogmengeschichte erschienen. Auf grund der ver-
schiedenen Vorarbeiten von Funk, Kattenbusch, Achelis, Zahn, Har-
nack, Kunze (cf. auch seinen Aufsatz in NKZ 1897: Ein neues Symbol
aus Aegypten) könnten darum jetzt die speziellen Fragen nach dem
Symbol in Aegypten und Syrien, resp. Palästina und Vorderasien
mit Aussicht auf Erfolg erörtert und bestimmte Ansätze Katten-
buschs weiter verfolgt werden. Ist er doch der Ueberzeugung, dab
der Kirche Vorderasiens, soweit sie unter dem Einfluß von Ephesus
und Smyrna gestanden, am Ende des zweiten Jahrh. sehr wahrschein-
lich ein Symbol besessen (II 185), und daß es vor dem Nicänum ein
Symbol wie R in Palästina gegeben habe (II 192). Er ist »jetzt
mehr geneigt zu glauben<, daß er »die Spuren, die auf ein nicht
bloß trinitarisches Taufbekenntnis in Kappadocien führen, unter-
schätzt habe« (II 738). Es sei möglich, daß man in Antiochien ein
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. 947
Symbol nur antisamosatenisch redigiert (U 737) und daß man in
Aegypten dies nicht mitgemacht habe. Die Didascalia purior werde
ein Symbol wie R oder Ant. voraussetzen, und Kattenbusch meint,
er hätte die Doxologie AK VlIso, die wirklich beweiskräftig sei für
die Annahme, daß der Verf. ein Symbol gekannt habe, brauchen
können, um den Nachweis zu stützen, daß formell R auch den orien-
talischen Symbolen zu grunde liege (II 207). Wenn Kattenbusch
hier aber immer noch auf R reflektiert, so lesen wir II 618, daß
das Maß von Uebereinstimmung zwischen Ignatius und R auffallend
sei, und er erkennt in dieser Uebereinstimmung einen Beweis für
die Einheitlichkeit der religiösen Stimmung in der Kirche überhaupt.
Und während er I 370 betont hatte, daß man es R nicht absehen
könne, woher es stamme, meint er II 959 A. 2, er sei, falls seine
Hypothese, daß R die Mutterform aller Symbole sei, leichter sich
durchführen lasse, wenn man an Antiochia denke, immer noch für
diese Hypothese zu haben, und er wünscht, daß diese Antiochia-
hypothese einmal aufgegriffen und gründlich bearbeitet werden
möchte. Kunze hat doch nur Clemens und Origenes eingehender
behandelt und auch hier nicht alle Instanzen und Eventualitäten
berücksichtigt. Es wäre eine lohnende Aufgabe, hier noch einmal
einzusetzen und die Lücke auszufüllen, die Kunzes immer verdienst-
liche Arbeit hier noch übrig gelassen hat. Es müßte sich dann
wohl herausstellen, ob bei dem heutigen Quellenstande ein ent-
scheidendes Urteil gewagt werden könnte. Kunzes Arbeit hat in
mir immer mehr die Ueberzeugung gefestigt, daß man, wenn über-
haupt die Frage nach einem bestimmten Ursprungsgebiet des Sym-
bols gestellt werden darf, an den Orient zu denken genötigt ist.
Freilich müßte man dann die Annahme des besonderen, von Katten-
busch vorausgesetzten kunstvollen Aufbaus des Symbols fallen lassen.
Diese Annahme wird aber nicht bloß durch morgenländische Zeug-
nisse unsicher gemacht, sondern auch durch abendländische (cf. Ter-
tullian de cor. 3; de bapt. 6). Eine andere Frage ist diejenige nach
der Geltung und Bedeutung des Symbols. Auch Kunzes Stellung-
nahme gegen Harnack in der das Athanasianum betreffenden litterar-
kritischen Frage halte ich für berechtigt.
Aber ich schließe. Ich bin dessen gewiß, daß man Kunze für
seine Arbeit, wenn auch manche Ergebnisse zu sicher vorgetragen
werden und sogar die Hauptthese zu beanstanden ist, doch danken
wird. Er hat mit sicherem Blick ein Problem als solches erkannt,
und seine auf das morgenländische Gebiet und die Gnostiker sich
erstreckenden Untersuchungen haben eine vorhandene Lücke ausgefüllt
und über unsichere Punkte Gewißheit verschafft. Vielleicht wird
62*
948 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
auch Kunzes Arbeit den Anlaß zu weiteren Monographieen geben,
und so dem Verfasser reichen Dank eintragen für seine mühsamen
Untersuchungen.
Kiel. Otto Scheel.
Wrede, W., Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein
Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums. Göttingen, Vandenhoeck u.
Ruprecht, 1901. XIII u. 291 S. Preis 8,00 Mk.
Unter allen Umständen ein verdienstliches Buch und ein tapferes
Buch! Jenes, weil es die Forschung auf einer Station, die für Viele
schon zu einer Endstation geworden schien, nicht ausruhen läßt;
dieses, weil es erfreulichste Selbständigkeit des Urteils verrät und
weder der traditionellen noch der kritischen Richtung unserer heu-
tigen Theologie zu Gefallen geschrieben ist, wohl aber mit dem be-
stimmten Bewußtsein, darum zunächst allseitig als ein Stein des An-
stoßes erfunden zu werden. Auch der Unterzeichnete, als Vertreter
der gleich im ersten Kapitel (»Vorläufiges über das Gesamtbild der
messianischen Geschichte Jesu« S. 9—22) angegriffenen kritischen Po-
sition, hat es kein Hehl, daß er zwar belehrt, aber keineswegs be-
kehrt worden ist. Um so dankbarer ist er für die gebotene An-
regung zur Revision seiner Annahme, die er im Allgemeinen wohl
als bekannt voraussetzen darf; sie ist mit der S. 9f. 109. 122 skiz-
zierten wesentlich identisch.
Es würde zu weit führen, wenn diese Anzeige den methodisch
correct mit am Detail gemachten Beobachtungen anhebenden und
erst am Schlusse, im Rückblick auf sorgsamst angesammelte Resul-
tate synthetisch verfahrenden Gang der Untersuchung befolgen
wollte. Der Wiener Feine hat im »Theologischen Literaturblatt«
(S. 505—510. 521—524) ein ausführliches Referat gegeben, verbun-
den mit einer Kritik, welcher ich widersprechen muß, wo sie dem
Verf. zustimmt, dagegen meist zustimmen, wo sie ihm widerspricht.
Hier begnüge ich mich mit einer knapp umrissenen Skizze des Bil-
des, wie es sich unter den Händen des Verfassers gestaltet hat, und
mit Hervorhebung derjenigen Züge darin, welche an seiner Einheit-
lichkeit und Haltbarkeit Zweifel zu erwecken geeignet sind. Dinge,
welche der Verf. nicht berührt hat, lasse ich bei Seite liegen, eben-
so aber auch die im Hintergrunde schwebende Anschauung von der
negativen Stellung Jesu zum Messiasgedanken (S. 207. 221f. 226.
229. 235). Darüber ließe sich in der hier gebotenen Kürze kaum
etwas Verständliches sagen. Außerdem ist auf diesen Punkt bereits
Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. 949
Oscar Holtzmann, der in seinem »Leben Jesu< (1901, S. 50—55)
eine nach meinem Dafürhalten wesentlich richtige Auffassung der
»Wendepunkte< vertritt, zu sprechen gekommen in seiner Beleuch-
tung des Wredeschen Buches in der »Zeitschrift für neutestament-
liche Wissenschaft« (S. 265—274).
Den ältesten Evangelientext, den wir kennen, bietet nach un-
serm Verf. Marcus (S. 5f.). Schon die Akoluthie der einzelnen Pe-
rikopen, im Vergleich mit den Seitenreferenten betrachtet, beweist
es (S. 148f.). Aber derselbe Vergleich mit Matthäus und Lucas
oder gar mit Johannes zeigt auch zur Genüge, wie viele und wie
tiefgreifende Aenderungen in der Zeichnung des Lebensbildes Jesu
nachher noch stattgefunden haben. Es besteht lediglich kein Grund
zu der Annahme, daß es vorher anders gewesen sei (S. VI. 89. 208.
274); ja der Inhalt desjenigen Evangeliums, welches für uns Heu-
tige die früheste Gestalt der Niederschrift darstellt, läßt gar keine
Zweifel an einer ihr schon vorangegangenen Entwicklung der Ueber-
lieferung übrig. Man denke nur an gruppenweise Zusammenstellungen
nach einer gewissen Sachordnung wie 2, 1—3,6 und Anderes (S. 16 f.
120 f. 123) oder an offenbare Dubletten, welche gleichwohl als ver-
schiedene Ereignisse gelten wollen (S. 7). Wer solches geschrieben
hat, kann zwar im Besitz einer ganzen Reihe von geschichtlichen
Vorstellungen, schwerlich aber eines lückenlos zusammenhängenden
Wissens, einer durchaus klaren Anschauung vom geschichtlichen Auf-
treten Jesu und eines innerhalb desselben stattfindenden Fortschrittes
gewesen sein (S. 12f. 21. 122f. 129 f. 148).
Von diesen Voraussetzungen, die mir nur in ihren letzten Sätzen
einer Modification bedürftig erscheinen, macht nun der Verfasser
Gebrauch, um gewisse auffällige und mehr oder weniger rätselhafte
Erscheinungen in der Berichterstattung des Marcus, sofern sie
darauf angelegt scheinen, Jesu ganzes Auftreten in einen Schleier
des Geheimnisses zu hüllen, zu verstehen und zu erklären. Die
betreffenden Beobachtungen sind unter dem Titel »Die Selbstver-
hüllung des Messias« (S. 22—81) zusammengefaßt. Es handelt sich
dabei hauptsächlich um das den Dämonen zugeschriebene Witterungs-
vermögen, kraft dessen sie in Jesus erstmalig den Messias be-
grüßen (S. 22f.), um das ihnen mit einer gewissen Consequenz
entgegentretende Verbot, dieses ihr Wissen in die Oeffentlich-
keit zu bringen (S. 33 f.), ferner um die Darstellung der Parabel-
rede als einer exoterischen Belehrung, die den Zweck habe, einen
esoterischen Bestand, das »Geheimnis des Gottesreiches< , welches
doch nur in der Messianität selbst bestanden haben soll, dem Volke
unzugänglich zu erhalten (S. 42f. 54f.), und noch besonders um
950 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
den beim Abstieg von dem Berg der Verklärung den Jüngern ge-
gebenen Befehl 9,9, »Niemanden zu erzählen, was sie gesehen,
außer wenn der Sohn des Menschen von den Toten erstanden wäre«
(S. 40f. 68f.). Es gibt — darin besteht das Resultat dieser Unter-
suchung — keine in sich verständliche, vor Allem keine einheit-
liche Erklärung dieser Erscheinungen außer der Annahme einer für
die gesammte Berichterstattung maßgebenden theologischen Vor-
stellung, wornach Jesu Messianität während seines Erdenlebens über-
haupt Geheimnis bleiben, die Entschleierung aber erst mit der Auf-
erstehung erfolgen sollte (S. 66 f. 79 f.). Dies also der dogmatische
Einschlag, von welchem der Aufzug einer sehr dürftigen Vorstellung
vom wirklichen Leben Jesu bei Marcus durchzogen erscheint (S. 130).
Die unentratsame Ergänzung zu dem gewonnenen Ergebnis lie-
fert eine Abhandlung, welche unter der Ueberschrift »Die Verbor-
genheit trotz der Offenbarung< (S. 81—114) die Stellung der Jünger
zunächst zu den Leidens- und Auferstehungsweissagungen, dann aber
auch überhaupt zu dem Messiasgeheimnis beleuchtet. Hier besteht
das Schematische in der Darstellung des Marcus und zugleich das
geschichtlich Unbegreifliche darin, daß jenen gegenüber im Gegen-
satze zum Volk Jesus sich fortwährend offenbart, aber mit diesen
seinen Offenbarungen, so deutlich und unmißverständlich sie immer
gegeben sein mögen, den Seinen auch stets gleich verborgen bleibt
»vermége einer inhärenten Unfähigkeit zu verstehen und zu glau-
ben« (S. 171). Die große innere Verschiedenheit der 9 zu diesem
Zweck verwendeten Stellen hat übrigens Oscar Holtzmann mit Recht
betont (S. 272f.), wie er auch die directe Beziehbarkeit der Stelle
3, 27 auf die Messianität bestreitet (S. 267). Hauptsache bleibt, daß, wie
ein »Riickblick auf Marcus< (S. 115—149) zeigt, selbst das Petrus-
bekenntnis eine Epoche im Leben Jesu, wie die heutige Kritik sie
mit wenigen Ausnahmen (über die beiden Weiß vgl. S. 12. 252.)
hier findet, nicht bedeutet, also auch kein »Richtmaaß« liefert, mit
welchem sich Ordnung im Leben Jesu schaffen ließe (S. 21). Das
Bekenntnis ist im Gegensatze nicht zu einem früheren Erkenntnis-
mangel der Jünger, sondern zum Nichterkennen Anderer zu ver-
stehen (S. 118). Marcus kann für die Frage, wann Jesus den Jün-
gern als Messias bekannt geworden ist, gar kein Interesse gehabt
haben (S. 115). Denn ihm zufolge ist das Geheimnis während des
ganzen Lebens Jesu stets das gleiche, und auch die Jünger stehen
ihm immer gleich gegenüber (S. 120).
Nachdem ein erster Abschnitt in der angedeuteten Richtung das
Marcus-Evangelium zurechtgelegt hat, behandelt ein zweiter (S. 150
Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. 951
—206) die spätern Evangelien, wobei sich herausstellt, daß die An-
schauung des Marcus sich bei Lucas und besonders bei Johannes
(S. 179f. 232 f., was ich hier, wo es sich um Marcus handelt, uner-
örtert lasse) noch deutlicher erhalten hat, als bei Matthäus, der na-
mentlich zuweilen höhere Begriffe vom Jüngerverständnis an den
Tag legt (S. 157f. 242 f.).
Ein dritter Abschnitt betitelt sich: »Geschichtliche Beleuchtung<
(S. 206—251). Die mit besonderer Deutlichkeit in der Apostelge-
schichte 2, 36 und im Römerbrief 1,4 erhaltene Anschauung des Ur-
christentums, wornach Jesus während seines irdischen Lebens der
Messias gar nicht war, sondern es erst mit und seit der Auferstehung
geworden ist (der >futurische< Sinn des Messiastitels S. 227), so
daß nicht sowohl seine Wiederkunft, als vielmehr seine zukünftige
Ankunft (xegovoia) als Messias das Ziel der Hoffnung bildet (S. 214f.),
zog, da Jesus doch um diese seine Bestimmung wissen zu müssen
schien, die weitere Anschauung nach sich, daß er es während seines
irdischen Lebens wenigstens in geheimer Weise gewesen sei (S. 217 f.).
So ist die geheime Messianität aus der künftigen hervorgegangen
(S. 227. 241). Demgemäß wird, da Jesus, wenn er sich als Messias
wußte, dies doch auch zeigen und offenbaren mußte (S. 242), für
die Evangelisten schon das Erdenleben Jesu zu einem messianischen,
mit beweiskräftigen Wundern und erfüllten Weissagungen ausge-
statteten. Es entsteht ein neuer, ein spezifisch christlicher Messias-
begriff (S. 218), woraus sich als unabweisbare Folgerung die Unge-
schichtlichkeit aller damit zusammenhängenden Züge ihrer Darstellung
von selbst ergibt. Zu diesen frei erfundenen Zügen (S. 234) gehören
vorweg die Messiasrufe der Dämonen (S. 31f.) und die ihnen gel-
tenden Verbote (S. 47 f. 123), ebenso die ganze Parabeltheorie
Marc. 4, 10—13 (S. 60f. 65), die Weissagungen vom Leiden, Sterben
und Auferstehen (S. 84—90. 99f. 263—274) und Wiederkommen
(S. 219f.) und die ihnen geltende Schwerhörigkeit der Jünger (S. 95.
104), weiterhin aber gerade auch das Petrusbekenntnis (S. 217.
238 f. 267). Von Anderem, was Marcus mitteilt, steht das ohnehin
fest. >Was er von der Taufe Jesu, von der Auferweckung der
Jairustochter, von den wunderbaren Speisungen, von dem Meer-
wandeln Jesu, von seiner Verklärung, von der Unterhaltung des
Engels mit den Frauen am Grabe berichtet, und manches Andere
sonst, glaubt ihm kein Theologe, so wie er es berichtet« (S. 7, vgl.
auch S. 71f. 90f. 106. 111 f.).
Den Schluß bilden einige Excurse (S. 252—286), deren letzter
den wenigen »Vorgängern« gilt, welche der Verf. für seine Grund-
anschauung nachträglich aufzutreiben vermocht hat. Zu ihnen hätte
952 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12
er auch den Züricher Kreyenbühl rechnen können, sofern dieser
theologisierende Philosoph in seinem Buche »Das Evangelium der
Wahrheit< I, 1900, S. 195 f. eine Ansicht vertritt, welche in dem-
selben Zürich erstmalig ein Theologe begründet hatte, den unser
Verf. ganz besonders schätzt und hervorhebt : Volkmar. Wenn die
sem gleichwohl eine zusammenhängende Ausführung über das Mes-
siasgeheimnis, um dessen Herkunft er sich nicht bekümmert habe
(S. 284), abgesprochen wird, so läßt sich ein solches Urteil im Hin-
blick auf das hier allein berücksichtigte Werk von 1870, bzw. 1576,
rechtfertigen, während das spätere, 1882 erschienene Buch »Jesus
Nazarenus und die erste christliche Zeit<« doch in der Hauptsache
dem gründlicheren Nachweis gewidmet ist, »daß Jesus erst nach sei-
nem Kreuz als der Christus gefeiert worden ist, niemals in seinem
irdischen Leben« (S. 150, vgl. S. 153f.), speziell auch nicht von
Petrus (vgl. auch das frühere Werk S. 448. 736 f. und dazu Wrede
S. 238f.). Nur beiläufig will.ich hier übrigens bemerken, daß mir,
wenn Jesus vor seinem Tode seinen Jüngern weder als Messias ge-
golten, noch Hoffnungen auf glänzende Restitution erweckt hat, die
Entstehung des Glaubens an seine Auferstehung, die so rasche Ueber-
windung der Furcht, die Sammlung der Jünger nach der Flucht
um so rätselhafter werden.
Im Unterschied von unserm Verf. kann Volkmar, wenn auch
zögernd, nicht umhin, wenigstens als letztes, vom Hohepriester pro-
vociertes Wort Jesu gelten zu lassen, was Marc. 14, 62 berichtet
wird, während unser Verf. dieses Bekenntnis (S. 221), sowie den
messianischen Einzug in Jerusalem (S. 40. 44) nur zu den Beweisen
dafür zählt, daß es eine Tradition mit öffentlicher Messianität Jesu
schon vor der Entstehung des Marcus gegeben habe (S. 237). Spe-
ziell soll die Frage des Hohepriesters 14, 61 beweisen, daß schon
Marcus den >Sohn Gottes<« und ebendamit auch den Messias meta-
physisch und supernatural gedacht habe, weil nur dann in ihrer Be-
jahung durch Jesus eine Gotteslästerung gefunden werden konnte
(S. 74f. 77). Bezeuge doch auch Dalman >in seinem so belehren-
den und tüchtigen, nur freilich einer geschichtlichen Anschauung von
der evangelischen Ueberlieferung allzusehr ermangelnden Buche«
die Unmöglichkeit einer Anklage auf Gotteslästerung blos wegen Ih-
anspruchnahme des Messiastitels (S. 75).. Aber was Dalman (Worte
Jesu I, S. 257f.) beibringt, beweist in Wirklichkeit vielmehr, daß
auf Grund des rabbinischen Rechtes Jesus wegen Lästerung über-
haupt nicht hätte verurteilt werden können. Vollends der von dem
Leipziger Theologen selbst für sagenhaft gehaltenen Geschichte von
dem Verhalten der Rabbinen gegenüber dem Bar Kozima ist keinerlei
Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. 953
Tragweite beizumessen bezüglich dessen, was hundert Jahre zuvor
in Wirklichkeit geschehen konnte, wenn es sich darum handelte, einen
verhaßten Feind zur Ehre Gottes so rasch als möglich aus dem
Wege zu räumen. Die Probe, auf welche hin man den Bar Kozima
wegen mangelnder Kriterien der Messianität verurteilt haben soll,
war ja im Falle Jesu schon gemacht und zu seinen Ungunsten aus-
gefallen, wie der Augenschein darthat: der von den Seinen Ver-
lassene, gefangen, hülflos dem Tod entgegen Sehende brauchte nicht
mehr erst durch ein weiteres Verfahren als Pseudomessias entlarvt
zu werden. Im Uebrigen darf ich jetzt auf das verweisen, was ich
zur Erledigung des Falles anderswo beigebracht habe (Hand-Com-
mentar zum N.T. I, 1. 3. Aufl. 1901, S. 101f.). Dalman arbeitet
eben hier ziemlich erkennbar in apologetischem Interesse, wie auch
die gewaltsame Art beweist, womit alle Spuren eines theokratischen
Sinnes des Titels »Gottessohn« im Neuen Testament ausgetilgt werden
(S. 224f.). Auf der apologetischen Fährte geht er ferner zweifellos
da einher, z.B. wo die Unzuverlässigkeit der beiden überlieferten
Genealogien nichts gegen die Thatsächlichkeit der Davidischen Ab-
kunft Josephs beweisen (S. 263), oder wo die Ablehnung des Titels
»Guter Meister« keineswegs so gemeint gewesen sein soll, als ob
nach der Aussage Jesu nur Gott gut im absoluten Sinn heißen dürfe
(S. 277) — eine Machenschaft, deren Wert und Motive Wernle
(Die synoptische Frage S. 142f. 146) im voraus treffend beur-
teilt hat.
Erstens also steht für mich wenigstens fest, daß die Verurteilung
Jesu nur auf Grund messianischer Ansprüche erfolgen konnte (vgl.
S. 68), welchen man vor dem römischen Statthalter die nahe liegende
politische Wendung zu geben wußte. Anders ist der Prozeß Jesu
und das damit gegebene Allergewisseste, der Tod am Kreuze, nicht
zu begreifen. Selbst wenn das entscheidende Wort vor dem hohen
Rat mit der etwa zu erweisenden Ungeschichtlichkeit des ganzen
Auftritts hinfällig würde, würde doch schon der demonstrative Ein-
zug in Jerusalem genügt haben, um die Anklage wirksam zu ma-
chen. Die wenigen angeführten sind übrigens die einzigen Stellen
des vorliegenden Werkes, welche auf diesen für mich entscheiden-
den Punkt Bezug nehmen.
Ebenfalls nur an den anzuführenden wenigen Stellen gelegentlich
berührt oder höchstens gestreift ist die Bitte der Zebedäussöhne
und ihre Verbescheidung seitens Jesu (S. 46. 93. 106. 158f.). Hier
nämlich dürfte (trotz S. 272f.) Weinel wesentlich im Recht sein,
während ich nicht einsehe, wie man die Worte über den Leidens-
weg, welche die Pointe des Ganzen darstellen, für erfunden erklären
954 Gott. gel. Anz, 1901. Nr. 12.
kann, ohne damit zugleich die Geschichtlichkeit der ganzen Perikope
10,35—45 in Frage zu stellen (S. 274). Anlaß zu Zweifeln gibt
höchstens die Schlußwendung zum Lösegeld 10,45 (S. 83). Sollte
der geschichtliche Kern aber auch nur in der Bitte der Jünger um
die Ehrenplätze im Reiche bestehen, so ist solche doch nur von der
sichern Voraussetzung aus zu begreifen, daß sie in ihrem Meister,
zu dessen Rechten und Linken sie sitzen wollen, den messianischen
König vor sich haben. Dann aber kann auch nicht mehr gegen die
herkömliche Auffassung des Petrusbekenntnisses geltend gemacht
werden, >daß Petrus an dieser Stelle eine Erkenntnis zeigt, die er
oder seinesgleichen sonst nicht verraten< — ein »Widerspruch«, der
‚aus dem Evangelium in keinem Falle fortzuschaffen« sei; nur
»direct« habe Marcus von den Jüngern niemals gesagt: »sie wußten
nicht, daß er der Messias sei« (S. 119); ihre Unfähigkeit, den Mei-
ster zu begreifen, sei nach dem Petrusbekenntnis nicht geringer als
vorher, und dieses bleibe somit bei Marcus ohne jede Folge (S. 116).
Aber mehr noch! Es muß nun auch dem Marcus mindestens eine
gewisse Fühlung mit dem wirklichen Hergang in so weit zugestanden
werden, daß er die in Frage stehende Perikope keineswegs an je-
dem beliebigen Ort, also eventuell auch vor dem Petrusbekenntnis,
hätte anbringen können. Dafür glaube ich auf ziemlich allgemeine
Zustimmung rechnen zu dürfen und sehe darin nicht etwa blos ein
richtig weisendes Geschmacks- oder Gefühlsurteil, sondern Wirkung
eines Gesamteindrucks, welchen die Marcusdarstellung auch da hinter-
läßt, wo man sich gegen das, von unserm Verf. oft und mit Recht
hervorgehoben, Irrationelle, Vieldeutige und Widerspruchsvolle der
Einzelheiten durchaus nicht verschließt. Was bedeutet gegenüber
dem unmittelbar an das Petrusbekenntnis angeschlossenen xat Fe&aro
(auf welchen Ausdruck an sich allerdings kein Gewicht zu legen ist,
vgl. S. 20 f. 92 und Dalman S. 21f.) didaoxeıv avdrods bre det tov
vlov Tod dvdonnov woAAd nadelv 8,31 und den Wiederholungen
dieser Stelle (sie stehen S. 123 »naturgemäß« nahe vor dem Ende),
gegenüber den dem Jakobus und Johannes, sowie dem Weib in Betha-
nien gemachten Eröffnungen bezüglich des Todesgeschickes dann noch
das vor jenem Bekenntnis ganz vereinzelt stehende Wort vom schei-
denden Bräutigam, mit welchem unser Verf. die entgegenstehende
Auffassung aus dem Felde zu schlagen gedenkt (S. 19 f. 83. 120)?
Mag nun aber auch dem späteren zepensie 8, 32 nicht gerade not-
wendig eine Beziehung auf frühere dunklere Leidensworte zukommen
(S. 20. 100), so nimmt doch die Schlußpointe xal tréte vnoTevoovov
Ev éxelvy tf hucoe 2,20 ähnlich dem Spruche vom Kreuztragen den
Standpunkt jenseits des Kreuzes und weist möglicher Weise auf die
Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. 955
schon sehr früh (Sıdayy 7,8) aufgekommene Stite des Fastens am
Kreuzesfreitag hin, an welchem »der Bräutigam weggenommen
wurde<. So gerade der vom Verf. (S. 283f.) einer unverdienten
Zurücksetzung entrissene Commentar von Volkmar (S. 182), aber
auch Holsten (Die synoptischen Evangelien 1885, S. 18) und mit
prophetischer Wendung Swete (The gospel according to St. Mark
1898, S. 43), während B. und J. Weiß diese Lösung zwar verwerfen,
dafür aber, da auf die Frage der Pharisäer 2,18 schon 2,19 eine
vollständig genügende Antwort erteilt, die 2, 10 unmotiviert darüber
hinauslangende Beziehung auf den Tod Jesu durch allegorisierende
Parabeldeutung eingetragen sein lassen; vgl. auch Jülicher, Die
Gleichnisreden Jesu II, 1899, S. 186f. und besonders Hollmann,
Die Bedeutung des Todes Jesu, 1901, S. 16f., welcher diesen Punkt
vollständig erledigt. Ich sollte fast glauben, daß auch unser Verf.,
wenn er von einer andern Seite her auf das Wort vom scheidenden
Bräutigam und dadurch motivierten Fastenbrauch gestoßen wäre, Kein
Bedenken getragen hätte, die Geschichtlichkeit seiner Form minde-
stens in der zurückhaltenden Art Weizsäckers (Untersuchungen über
die evangelische Geschichte 1864, S. 475) in Frage zu stellen. Und
überdies »Niemand weiß, wann Jesus Mc. 2, 19f. gesprochen hat«
(Jülicher S. 186). Keim wenigstens verlegt es in die spätere Zeit
(Geschichte Jesu von Nazara II, S. 364. 561).
Und nun endlich die Stelle 8, 29 selbst, die unser Verf. ledig-
lich als Parallele zu den besprochenen Dämonengeschichten verstehen
will (S. 118). Gewiß ist sie so schmucklos als nur möglich hinge-
stellt (S. 78), aber doch immerhin so, daß sie in Gegensatz zu den
8,28 aufgeführten Urteilen der Menge tritt: Du bist uns mehr, als
den Anderen, also kein Täufer, kein Elias, kein gewöhnlicher Prophet;
es bleibt nur der Messias selbst übrig. Und eben dies ist er bei
Marcus bisher für keinen Jünger gewesen. Wir haben also doch
eine Epoche< (S. 115), »eine Entscheidung des Petrus« vor uns:
diesem Befund ist darum, daß von keiner Freude oder Ueberraschung
Jesu berichtet wird (S. 117), nichts abzudingen. Unser Verf. steht
bei dem, was er hier über Marcus urteilt, zu sehr unter einem
ihm erst von Matthäus her zugewachsenen Eindruck. Nur ganz
richtig ist es zwar, wenn er in Matth. 16, 17—19 lediglich einen
Zusatz des ersten Evangelisten erblicken will (S. 161). Zugleich
aber (S. 117) findet er es bemerkenswert und zieht Schlüsse daraus,
daß »der Bericht des Marcus von dem Makarismus Jesu schweigt«.
‚Würde er schweigen wenn es darauf ankäme, das Bekenntnis als
eine große That des Jüngers zu feiern ?« Auch sonst spielt die ar-
gumentatio e silentio eine große Rolle; so gleich S. 14: »Marcus
956 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
schweigt«. Aber von einem bedeutsamen Verschweigen dessen, was
Matthäus bietet, kann doch nur etwa vom Standpunkte Hilgenfelds
und Holstens die Rede sein, welche den Marcus zum Nachtreter des
Matthäus machen. Dagegen bedeutet es für unsern Verf. einen fal-
schen Gesichtswinkel, wenn er die schlichte Darstellung des Marens,
deren geschichtliche Wertung überdies 8,27 schon durch »ein geo-
graphisches Datum von bemerkenswerter Eigentiimlichkeit< (S. 239)
nahe gelegt wird, darnach bemißt, daß hier etwas nicht steht, was
doch erst Matthäus hinzugesetzt, Marcus also auf keinen Fall mit Be-
dacht ausgelassen hat.
Möglich wäre es nun, daß Marcus, wie das bei Matthäus gewiß
ist, den Auftritt schildert, ohne seine Bedeutung völlig erkannt und
durchdacht zu haben (S. 116). Unser Verf. aber geht in Verfol-
gung dieser Möglichkeit im Einzelnen viel zu weit. Denn ganz von
ungefähr kann die Ordnung der Marcus-Darstellung nicht entstanden
sein (S. 13). »Er hat die Consequenz seiner Darstellung nicht ge-
zogen. Deshalb folgt nicht, daß er überhaupt keine Vorstellung
von der fraglichen Entwicklung hatte< (S. 16). Vielmehr wußte er
zweifellos, was er that, wenn er die Gleichnisse 4, 1—34 in früheren,
das Gleichnis 12, 1—12 in späteren Zusammenhang brachte; und
nicht minder, wenn er Wunderheilungen in größerer Menge nur in
der ersten Hälfte seines Buches, dagegen nach dem Aufbruch 10.1
nur noch eine einzige, die vor Jericho geschehene, gleichsam als
letztes Auflammen der Kraft, anbrachte ; wenn er Zukunftsweissagur-
gen gegen Ende sich häufen und in der großen eschatalogischen
Rede gipfeln ließ. Unzulässig also erscheint mir die Behauptung,
Marcus stelle überhaupt nur Stücke nebeneinander ; es sei darum
nicht angängig, zwei Stücke, die bei ihm aufeinander folgen, in eine
innere Verbindung unter sich zu bringen (S. 132); sein Gedanke
würde es erlauben, das Petrusbekenntnis statt im 8. Cap. auch vorher
im 2. oder nachher im 12. zu bringen (S. 120), und dergleichen. Viel-
mehr hat B. Weiß ganz Recht, wenn er die Nachricht 6,14, daß
Jesu Name am Hofe des Herodes bekannt wurde, mit der zuvor 6,7
berichteten Aussendung der Jünger in die benachbarten Ortschaften
Galiläas in Verbindung bringt. Marcus hat das »mit keiner Silbe
angedeutet« (S. 132); er hat beide Stücke insofern >nicht erkennbar
verbunden« (S. 42). Aber er hat ebensowenig ein Wort über die
Zusammenhänge verloren, die obwalten zwischen jener Aussendung
und der '6, 30 berichteten Rückkehr, oder zwischen der Thatsache.
daß Jesus 1,16 den Simon und Andreas berufen und 1, 29. 36, 2,1.
3,20 ständiges Quartier in ihrem Hause genommen hat, oder daß
seine Verwandten 3, 21 ihren eigenen Wghnort verlassen und 3,31
Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. 957
vor dem Hause Jesu angetroffen werden, oder daß er 7,6—13 mit den
Führern des Volkes bricht, 7,24 sich in das Heidenland begiebt und
9,30 nur noch incognito in Galiläa verweilt (solches gehört nach
S. 34f. 37f. 80f. 111. 134 f. freilich nur wieder in das Kapitel vom
verborgenen Messias ; ich denke darüber wie Oscar Holtzmann S. 271,
Leben Jesu S. 58. 273), daß er 11, 15—18 zum Aerger der Tempel-
wächter Messiasrecht am heiligen Ort übt und 11, 27.28 von diesen
zur Rede gestellt wird, kraft welcher Vollmacht er solches thue. Da
zwischen beide Auftritte außer einem Tageswechsel auch der Befund
des verdorrten Feigenbaumes und verschiedene Reden Jesu über die
Macht des Glaubens und Gebetes und über die Pflicht der Vergebung
und Versöhnlichkeit fallen, hätte wohl bei dem raeür« 11, 28 ein aus-
drücklicher Hinweis auf die schon weiter zurückliegende Tempelthat
erfolgen müssen, ehe die in unserem Werke geübte rigorose Methode
uns berechtigen sollte, eine Combination zu bilden, die sich im Uebrigen
doch Jedem geradezu aufdrängt, der es sich als Historiker gestattet,
vereinzelten Notizen einen Pragmatismus des Geschehens zu entlocken.
Wir lesen: »Jesus macht zwar seinen Jüngern gegenüber aus
seinem Leiden und Auferstehen kein Geheimnis, aber es bleibt ihnen
ein Geheimnis». Die Lösung der Antinomie liege in dem Gedanken:
»Nachher, von der Auferstehung an fällt’s ihnen wie Schuppen von
den Augen«. Solches sei freilich nur »stillschweigend hinzugedacht«
(S. 95). Marcus hat diese Gedanken in seinem Evangelium nicht
wirklich ausgesprochen« (S. 113). Mit Recht findet diese letzte Bemer-
kung Feine (S. 522) auffallend bei einem Verf., welcher gleich an-
fangs gegen jede Methode protestiert, die den Evangelisten Gedanken
und Leitmotive subintelligiert, wozu sie selbst sich nicht bekennen
(S. 2f.). Indessen erkennt ja unser Verf. z. B. eine psychologische
Divination als zulässig an, wo sie »zwischen festen Punkten die not-
wendige Verbindung herstellt« (S. 3). In der Hauptsache sind seine
Gegner doch wohl gerade auf diesem Wege zu finden gewesen. Mag
es darum auch dem Evangelisten kaum je darum zu thun sein, psy-
chologische Motive und Eindrücke zu fixieren (S. 27), so kann man
einem historischen Verfahren, welches gleichwohl solche Zusammen-
hänge annimmt und damit experimentiert, darum allein noch nicht
die Diagnose stellen, es kranke an »psychologischer Vermutung« (S. 3,
vgl. S. 29f.).
Ein Beispiel! Mag im Marcusevangelium noch so viel Unsicher-
heit herrschen bezüglich der breiten Mitte des öffentlichen Wirkens
Jesu, so stehen sich doch als Niederschläge fester Erinnerungen ge-
genüber die letzten, in Jerusalem zugebrachten Tage (7. oder 10.
bis 15. Nisan) und der Anfang, der 1,21—38 mit unanfechtbarer
958 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
Anschaulichkeit geschilderte Sabbat, an welchem Jesus erstmalig
öffentlich auftritt. Dadurch, daß seine Rede in der Synagoge durch
den Aufschrei eines Besessenen unterbrochen worden, dieser aber so-
fort der Ueberlegenheit des ihm sieghaft entgegentretenden Redners
weichend zur Ruhe gebracht war, erwacht in Jesus ein Bewußtsen
um diese seine persönliche Macht über gebundene und _ gestört
Seelenzustände ; in seiner Umgebung aber lodert sofort mächtig der
Glaube an übernatürliche Erlebnisse auf, und kaum ist der Sabbat
vorüber, so belagert man schon den unvermutet gefundenen Pro-
pheten mit Ansprüchen und Zumutungen. Eine solche Rolle ent-
sprach nun aber dem ursprünglichen Sinne der Mission, mit der sich
Jesus betraut wußte, wenig. Erbebend vor den Zumutungen, welche
die von der Wundersucht lebende Menge an ihre Führer und Helden
stellt, verläßt er mitternächtlicher Weile das Haus seines Jüngers
und flieht in die Einsamkeit. Petrus aber wird das gewahr, »ver-
folgt ihn< und holt ihn ein. Die jetzt noch folgenden Heilthaten,
bei welchen, soweit sie geschichtlichen Untergrund erkennen lassen,
der Glaube der Geheilten das Beste zum Gelingen that (ausdrücklich
notiert 5, 34. 6, 5. 10, 52), charakterisieren sich als einem im Grunde
widerstrebenden Programm (8, 12) abgerungene Siege des sich nie
versagenden, wohl aber überall zu Hülfe, Rettung und Dienstleistung
drängenden Mitleidstriebes (6, 34), dem übrigens keineswegs immer
auch ein Erfolg lohnte (6,6). Darf ein solcher Befund als Kern der
evangelischen Wundersage angenommen werden, so fällt jede Ver-
anlassung zu der Annahme weg, diese Heilungen seien »messianisch
gemeint«, und eine Beweiskette mit dem Satze zu schließen: »Hat
nun Jesus seine Wunder als Kennzeichen seiner Messianität gedacht,
so kann er an dem Schlusse, er sei der Messias, keinen Anstoß ge-
nommen haben; d.h. die Verbote bei einzelnen Wundern werden un-
begreiflich< (S. 47).
Endlich aber fragt man sich doch wohl auch, ob und wie eine
Quellenschrift zu Stande gekommen sein sollte, deren ganzer Gehalt,
Zweck und Charakter nichts als eine fortgesetzte complexio opposi-
torum wäre. »Marcus muß seinen Christus sich verbergen lassen,
und doch muß er überall nachweisen, wie er sich als solcher offen-
bart; denn sonst hätte er wenig zu erzählen gehabt« (S. 192). Ist
ein solches Verfahren überhaupt zu begreifen ? Was ist von einem
Christus zu halten, der sich fortwährend ebenso geflissentlich offen-
bart, wie sorgsamst verhiillt? Zur Beschwichtigung unserer Zweifel
werden wir auf eine Uebergangszeit verwiesen, wo der Trieb, das
irdische Leben Jesu zu einem messianischen zu machen, schon mäch-
tig wirksam war, derjenige aber, welcher es in solcher Richtung be-
Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. 959
schrieb, für seine Person noch unter dem mindestens gleich mächti-
gen Bann und Zwang einer älteren Anschauung stand, die jenen Trieb
hemnte (S. 145. 228). Dem Evangelium haften somit in dauernder
Weise die Mängel seiner Geburtsstunde an; es ist dann das, wir
dürfen wohl sagen: unglückselige, Produkt einer Zwangslage, die an
sich unerträglich, nur für einen Moment andauern konnte (S. 242).
Eine solche Anschauung bringt allerdings den Vorteil ein, daß der
Verf. sich zur unentwegten Durchführung einheitlicher Leitmotive
schon bei Marcus, und darum auch bei den von ihm abhängigen
Späteren, keineswegs verpflichtet weiß (S. 15. 124—129. 152f. 159.
162f. 168. 177. 179. 191f. 201f. 238). »Wirkliche Consequenz war
hier nicht möglich« (S. 126). Auf Schritt und Tritt zeigt es sich,
»daß die Anschauung nicht überall zur Herrschaft gekommen ist.
Bei ihrer Künstlichkeit ist das ganz natürlich« (S. 109). Der Verf.
hat aber als Gelehrter zu viel Achtung vor allem Thatsächlichen,
als daß ihm eine gewisse Unsicherheit, die dadurch seiner ganzen Be-
urteilung des Problems zuwächst, entgehen könnte. Er giebt auch
diesem Gefühl mehr als einmal offenen Ausdruck. Dann darf er
aber auch der entgegenstehenden Beurtheilung der Marcus-Erzählung
nicht zumuten, daß sie ein auf jeden Einzelfall anwendbares Schema
darzubieten, ein dem Erzähler auf allen Stationen seines Berichtes
mit gleichmäßiger Bestimmtheit vorschwebendes Programm nachzu-
weisen im Stande sei (vgl. S. 46). Marcus kann von vorzeitigen
Messiasproclamationen auf Seiten der Dämonischen, von lang beob-
achteter Zurückhaltung auf Seiten Jesu als von feststehenden That-
sachen gewußt haben, ohne darum in der freien, durch keine Ueber-
lieferung an die Hand gegebenen (S. 146) Darstellung einzelner Fälle
den wirklichen Thatbestand zu trefien. Trotz der Ablehnung, welche
der Verf. für den fraglichen Gedanken bereit hat (S. 30), könnte das
1,34. 3,11.12 angebrachte Verbot möglicher Weise Nachwirkung
der geschichtlichen Thatsache 1, 23—27 sein (Oscar Holtzmann S. 269).
Und wenn er für das bis zum Auftritt vor Cäsarea Philippi gewahrte
Incognito des Messias keinen Grund namhaft macht, so folgt daraus
nicht einmal, daß er sich der Ursache einer solchen Erscheinung
nicht bewußt gewesen sei, auf keinen Fall aber, daß dem daraus zu
erkennenden Pragmatismus des Lebens Jesu keine objective Realität
beizumessen sei (S. 115f. 148). Die beiden vielbesprochenen Aus-
nahmen 2,10. 28 zeigen nur, daß hier entweder Antecipationen statt
haben oder »daß Marcus den Titel & vildc rod dv@emxov eigentlich
nicht mehr als messianischen Namen empfindet« (S. 17f). Freilich
darf man an diese »Titel« heutzutage nur erinnern, um sich zu dem
Geständnisse gezwungen zu sehen, daß das »Leben Jesu« für uns
960 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
mehr als je zuvor Problem geworden ist. Auch unser Verf. will
darum >nur Fragen aussprechen« (S. 53) und weiß sehr wohl, daß
viele davon mit Sicherheit nie zu beantworten sein werden (S.32).
»Man betrachte diese Erörterungen als einen Versuch« (S. 229).
Aber auch unter diesem Gesichtspunkte aufgefaßt, werden sie sicher-
lich noch weitere und hoffentlich fruchtbare Verhandlungen hervor-
rufen.
Straßburg i. E. H. Holtzmann.
Poetae Lyrici Graeci collegit Theodorus Bergk editionis quintae
part. I vol. I, Pindari earmina recensuit Otto Schroeder. Leipzig 1900,
8°, VI, 514 S. mit einer Lichtdrucktafel M. 14.
Aeußerlich erscheint diese Ausgabe als Teil einer Neuauflage
der poetae lyrici graeci Theodor Bergks, aber sehr mit Recht ist
bei dem Spezialtitel Bergks Name fortgelassen worden, denn was
uns Schroeder bietet, ist keine Umarbeitung des bekannten Bergk-
schen Pindar, sondern ein von Grund aus neuerrichtetes, selbständiges
Werk. In schöner Pietät hat Schroeder aus der Arbeit seines Vor-
gängers grade den Teil wörtlich abgedruckt, der seinerzeit am
meisten Widerspruch gefunden hat und nun durch die Entdeckungen
der letzten Jahre so glänzend bestätigt ist, die Auseinandersetzung
über die Pytliadenrechnung, sonst ist beiden Ausgaben fast gar
nichts gemein als eine Aeußerlichkeit und zwar eine bedauerliche,
nämlich die unübersichtliche Verbindung der kritischen Anmerkungen
mit den exegetischen.
Durchaus verschieden von Bergk ist zunächst Schroeders im
ersten Teil der Prolegomena begründete Stellung zur handschrift-
lichen Ueberlieferung. Hatte jener sich mit einem bequemen Eklek-
ticismus begnügt, so hat Schroeder die Mühe nicht gescheut, fast alle
besseren Handschriften neu zu collationieren, eine Mühe, die reiche
Frucht getragen hat. Die von ihm schon Philol. LVI. S. 78ff. mit-
geteilte Erkenntnis, daß A nicht der einzige Vertreter der ambrosi-
anischen Klasse ist, sondern daß ihr vor allem auch die Parisini C
und V angehören, ist der weitaus wichtigste Gewinn, den die Kritik
der Pindarhandschriften seit Tycho Mommsen erzielt hat. Auch in
dieser Richtung bezeichnen die Ausgaben von Boeckh — Mommsen
— Schroeder die drei Hauptetappen der Pindarforschung im 19 ten
Jahrhundert, alle andern Pindarausgaben, auch die Bergks, stehen
hinter diesen Leistungen zurück. Ein glänzendes Zeugnis für die
Pindari carmina rec. Otto Schroeder. 961
Tiefe und Weite von Schroeders Wissen legt der zweite, beschei-
den »observatiunculae grammaticae< genannte Teil der Prolego-
mena ab. In 100 Paragraphen werden die verschiedensten gramma-
tischen Fragen, besonders solche des Dialekts und der Orthographie
mit ebenso viel Gelehrsamkeit als Scharfsinn behandelt. In diesen
grammatischen und den, seltsamerweise als Appendix gegebenen,
metrischen Untersuchungen tritt der aus Bakchylides fiir Pindar zu
ziehende Gewinn besonders stark hervor. Es war ja ein Gliicksfall,
der Schroeder von vornherein einen beträchtlichen Vorsprung vor
seinem letzten Vorgänger sicherte, daß er den neugefundenen Rivalen
Pindars voll ausnutzen konnte, während Christ seine Arbeit wenige
Monate vor der Entdeckung des Papyrus abgeschlossen hatte, aber
man muß doch sagen, daß hier das Glück den rechten Mann be-
günstigt hat. Trotz aller Bereitwilligkeit umzulernen, von der seine
letzte Erklärung über die Pythiadenrechnung (Hermes XXXVI, 107)
ein schönes Zeugnis ablegt, würde der Nestor der deutschen Pindar-
forscher doch kaum mehr den neuen Besitz für seine Ausgabe voll
verwertet haben.
Neben Bakchylides sind vor allem die Inschriften und die an
sie anknüpfende moderne :Litteratur in weitestem Umfange für die
grammatischen Untersuchungen ausgenutzt. Als Dank für vielfältige
Belehrung möchte ich anmerken, daß $ 57 unter den Zeugen für
die richtige Form KiAvreıunorex die einzige Inschrift auf Stein, die
Theaterurkunde aus Magnesia A.M. XIX. S. 97 = Kern, Inschriften
von Magnesia No. 88c einen Platz verdient hätte. In der Uebertra-
gung orthographischer oder grammatischer Besonderheiten aus den
Inschriften in den Pindartext scheint mir Schroeder mitunter zu weit
zu gehen, er verleugnet da gelegentlich den conservativen Zug, der
seiner Textbehandlung sonst eigen ist. Ob es z. B. geraten ist,
gegen die Handschriften zd4ı P. XII, 26 und dxpordAı O. VII, 49 zu
schreiben, bezweifle ich, und noch weniger berechtigt scheinen mir
die Formen fjgoe P.III,7, feoes P. IV 58, fr. 133, 5, Yeoag P. I, 53,
neoiaıg N. VU,46;, die Handschriften schwanken an keiner Stelle '),
die Formen mit © sind nicht fortzuleugnen (few. O. VI, 33, foma
O.11,2, N.IX, 10), da liegt es doch viel näher, die metrische Ver-
kürzung des » als eine der epischen Sprache entlehnte Freiheit an-
zusehen, die graphisch nicht zum Ausdruck kommt, zumal auch das
von Schroeder angeführte aus guter Zeit stammende Epigramm von
Priene (Kaibel 774,4) das wahrt.
1) Auch fr. 133,5 = Plat. Men. 81,C ist fomeg überliefert, was Schroeder
anzumerken versäumt hat.
Gots, gel. Ans, 1901. Hr. 18, 63
962 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12,
Nach einem kurzen dritten Kapitel de fastis Panhellenicis, das
unter anderem Bergks Pythiadenberechnung enthält, folgt als vierter
Abschnitt der Prolegomena der wichtige index carminum. Im An-
schluß an die überlieferten Ueberschriften der einzelnen Gedichte
werden vor allem die chronologischen Fragen knapp, aber doch ein-
gehender als in Bergks entsprechender Liste erörtert. Daß Schroeder
hier die ars nesciendi mit feinem Takte übt, manches Datum nur
mit Fragezeichen giebt und bei den meisten nemeischen und isth-
mischen Gedichten auf Jahreszahlen ganz verzichtet, das wird ihm
jeder Dank wissen, der den täuschenden Glanz von Gaspars chrono-
logischen Luftschlössern als eitel Blendwerk erkannt hat. Schroeder
hat die Siegerliste von Oxyrynchos erst in den Nachträgen ver-
werten können, und es ist ein gutes Zeichen für die Solidität seiner
Arbeit, daß der neue Fund nur wenige Berichtigungen nötig machte.
Wohl die überraschendste Belehrung, die der Papyrus brachte, ist
die Bestätigung des ambrosianischen Ansatzes vonO X, XI auf 476,
während Schroeder wie fast alle Neueren*) den Sieg des Agesidamos
mit den Vaticani auf 484 datiert hatte. Es scheint fast, als sei
Pindar Ol. 76 (476) zum ersten Male -bei den olympischen Spielen
anwesend gewesen, wenigstens läßt sich kein olympisches Gedicht
mit Bestimmtheit der früheren Zeit zuweisen. Roberts (Hermes
XXXV, 183) vorsichtig ausgesprochenen, von Schroeder gebilligten
Vorschlag *), das durch die Siegerliste aus seiner scheinbar sicheren
Stelle (Ol. 76) verdrängte vierzehnte olympische Gedicht Ol. 73 (488)
anzusetzen, kann ich trotz der für ihn sprechenden palaeographischen
Gründe nicht für gesichert halten; meinem subjektiven, freilich un-
maßgeblichen Gefühle nach fände das entzückende Gedicht Ol. 79
(464) einen angemesseneren Platz.
Nicht genügend berücksichtigt hat Schroeder m. E. die Angabe
der Siegerliste über den Wagensieg des Psaumis. Nach wie vor hält
er im Anschluß an Boeckh daran fest, daß O.IV und V beide denselben
Sieg mit dem Maultiergespann feiern, den er 456 anzusetzen geneigt ist.
Boeckhs ganze Beweisführung stützte sich auf die Annahme, daß die
Scholiasten den Sieg mit dem Maultiergespann in den Listen ver-
zeichnet gefunden und aus falscher Interpretation von O V,6 die
1) Christ entscheidet sich in seiner großen Ausgabe für 476, aber in der
kleinen steht bei O. X und XI 484 ohne Vorbehalt, während die anhangsweise
aus der großen abgedruckten fasti Pindarici angeben 484 »aut potius 476«.
2) Mit Entschiedenheit hat Gaspar Essai de chronologie Pindarique S. 50
sich für Roberts Ansatz erklärt, zurückhaltender äußert sich Lipsius in dem über-
aus lehrreichen Aufsatz Berichte der sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften
1900 8. 8.
Pindari carmina rec. Otto Schroeder. 963
Siege rede/nno und xEAntı hinzugefügt hätten. Seit wir bestimmt
wissen, daß die Sieger der dxıivn in den Olympioniken - Listen
fehlten, ist Boeckhs Hypothese diese Stütze entzogen, wer seine Fol-
gerungen nicht aufgeben will, muß mit Schroeder annehmen, daß die
Scholiasten irrtümlich ein undatierbares Lied für einen Maultiersieg
(0. IV) auf den unter Ol. 82 verzeichneten Pferdesieg bezogen hätten.
Die Angaben der Scholien werden aber im Allgemeinen durch die
neue Liste so gut bestätigt, daß wir ihnen ein so starkes Versehen
nicht ohne schwerwiegende Gründe zutrauen dürfen. Einen solchen
Grund sieht Schroeder nach Boeckhs Vorgang in dem Gebrauch des
Wortes öye« IV, 10, das für den Maultierwagen charakteristisch sein
soll, aber dagegen führt Gaspar sehr richtig (S. 157) P. IX, 11 ins Feld,
denn die #sdduare« dbyea des Apollon hat sich Pindar zweifellos mit
Rossen, nicht mit Maultieren bespannt gedacht. Ich halte es dem-
nach fiir sicher, daß O.1V auf den Wagensieg des Psaumis von 452
geht, ob der in O.V gefeierte Maultiersieg mit Grenfell-Hunt und
Lipsius in die vorangehende oder mit Robert und Gaspar in die
folgende Olympiade zu setzen ist, bleibt unsicher, doch scheint mir
für Roberts Ansatz außer den von ihm (S. 182) angeführten Gründen
der V,21 vorgetragene Wunsch zu sprechen, Psaumis möge Iloosı-
Öavinıoıv Innos Enitspndusvov YEpev yeas ev Pumor Es Teisv-
tov, vidv, Pavuı, nwopıorausvov; Psaumis war schon grau, als er
seinen Wagensieg errang (O. IV 24), vier Jahre später ist er ein Greis.
Ueber die Echtheit oder Unechtheit des &v rofg édagéorg fehlenden,
aber doch schon von Aristarch (schol. 1,20 und 54) commentierten
Gedichtes äußert sich Schroeder zurückhaltend »carmen non id est,
quod ab omni suspicione facile se exsolvat«; durch die Scheidung
der beiden Siege des Psaumis ist ein Hauptgrund zu seiner Ver-
dammung beseitigt '), und ich möchte doch fast glauben, daß wir ein
echtes, wenn auch unbedeutendes Werk Pindars vor uns haben.
Bedenken erregen die für Pindar auffallend glatten Rhythmen, aber
in Sprache und Stil haben auch seine Verurteiler nichts Unpindari-
sches nachweisen können, und bei einem Vergleich mit Bakchylides
scheint mir jetzt sein Pindarischer Charakter noch deutlicher hervor-
zutreten. Gottfried Hermanns Verteidigung (Opusc. VIII,99 ff) halte
ich im Wesentlichen für zutreffend. Das andere einen Maultiersieg
feiernde Lied O. VI setzt Schroeder mit Bergk 472 an, während die
meisten Neueren, wie Wilamowitz, Christ, Lipsius, Gaspar sich mit
Boeckh für 468 erklären. Am entschiedensten spricht meines Er-
1) Jurenkas eingehende Analyse beider Gedichte (Wiener Studien XVII1 ff.)
arbeitet beständig mit der Voraussetzung, daß beide Lieder einen Sieg angehen,
63*
964 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12,
achtens für den früheren Ansatz der von Schroeder nicht hervorge-
hobene Umstand, daß Hieron 468 das Epinikion für den lange
ersehnten Wagensieg in Olympia nicht Pindar, sondern Bakchylides
übertragen hat. Es erscheint mir kaum denkbar, daß der stolze
Aigeide in eben dem Augenblick von Hieron rühmen sollte V. 96
advAoyoı O& wv Aveal uoAnal re yıraoxovrı, wo der Herrscher seine
süßtönenden Lieder verschmähte und den verachteten Nebenbuhler
vorzog. Die Einsicht, daß die Tyrannenherrlichkeit der Deinomeniden
in Syrakus nicht allzu sicher begründet, und das Bürgerrecht in
Orchomenos ein nützlicher Rückhalt für den Notfall sei, konnte der
kluge Seher auch schon 472 haben, denn schon damals krankte
Hieron an unheilbarem Leiden und schon damals wird die Unfähig-
keit seines praesumtiven Nachfolgers Eingeweihten kein Geheimnis
gewesen sein.
In der Datierung der beiden Schmerzenskinder der Pindarfor-
schung P. II und UI folgt Schroeder mit gutem Grunde Bergk, wenn
er auch den Jahreszahlen 475 und 474 ein vorsichtiges Fragezeichen
beifügt. In der Erörterung des Eingangsscholion zu P. HI macht er
aber eine Anmerkung, deren Tragweite eine Besprechung erheischt.
Zu den Worten Kaddiuayog dt Neusaxdv fügt er in Klammer hinzu
unde conicias tam Callimachum odas quasdam inter xexwpıouevas
rettultsse. Wenn Kallimachos dies Gedicht an den Schluß des Buches
der Nemeoniken stellte, weil er es auf keines der großen Festspiele
beziehen mochte, dann hat er bereits die Arbeit geleistet, die jetzt
allgemein dem Aristophanes von Byzanz zugeschrieben wird, die
Ordnung des gesammten Pindarischen Nachlasses nach bestimmten
Kategorien. Ich halte es für sehr bedenklich, durch diese Hinter-
thür das Gespenst der doppelten Pindarausgabe wieder einzulassen,
das seit Hillers Entlarvung des Suidas-Index (Hermes XXI, 357) und
Wilamowitz’ schönen Ausführungen über Aristophanes’ Thätigkeit
(Herakles' I, 138 ff.) aus der Wissenschaft beseitigt schien. Bei der
Zähigkeit, mit der die antike Grammatik das einmal Geleistete fest-
hält, ist es höchst unwahrscheinlich, daß eine Kallimacheische Pindar-
ausgabe von Aristophanes durch eine andere wesentlich nach den-
selben Gesichtspunkten angeordnete ersetzt worden wäre; hätte
Kallimachos eine systematische Einteilung der pindarischen Gedichte
gegeben, so würden wir das zweite pythische Gedicht noch heute da
finden, wo er es einordnete, unter den nemeischen. Ich meine, wir
müssen uns dabei beruhigen, daß Kallimachos das Gedicht wirklich
für ein nemeisches gehalten hat, seine Gründe können wir nicht er-
raten, und da sein Urteil zweifellos falsch ist, soist es auch von ge-
ringem Interesse, sie zu kennen.
Pindari carmina rec. Otto Schroeder. 965
Dem fünften und letzten Abschnitt der Prolegomena, den ganz
knappen fasti Pindarici sähe man gern die fünf vitae Pindari oder
wenigstens die drei wichtigeren, die Christ in seiner kleinen Ausgabe
abdruckt, beigefügt.
Der Text des Dichters erfüllt sodann durchaus die hohen Er-
wartungen, mit denen wohl jeder, der die Prolegomena durchge-
arbeitet hat, an ihn herangeht. Schroeder bewährt alle jene Eigen-
schaften, welche die schwierige Aufgabe von dem Herausgeber ver-
langt, sicheres Sprachgefühl, feines rhythmisches Empfinden, innige,
durch langjährige Arbeit erworbene Vertrautheit mit des Dichters
spröder Eigenart, Kenntnis der ausgedehnten einschlägigen Litteratur
und vor allen jenen schwer zu lehrenden kritischen Takt, der die
Ueberlieferung stets achtet und doch niemals Sklave des Buch-
stabens wird. Ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich behaupte,
daß gegenwärtig niemand, weder in Deutschland noch im Ausland,
eine bessere Ausgabe des Dichters hätte machen können, lange Jahre
wird sie die sichere Grundlage aller künftigen Pindarforschung bilden.
Der wichtigste principielle Fortschritt ist wohl die durch Bakchy-
lides vermittelte Erkenntnis, daß die Freiheit der Responsion auch
bei Pindar viel größer ist als man früher glaubte. Es galt, wie
Schroeder selbst in seinem schönen Vortrag auf der Bremer Philo-
logen-Versammlung sagte, den Text »vorsichtig abzukorrigieren«,
da zeigte es sich denn, daß an zahlreichen Stellen der Text ganz in
Ordnung ist, wo man seit der Zeit der Byzantiner durch Conjec-
turen den Sinn schädigte, um das Metrum zu retten. Ein sehr
charakteristisches Beispiel ist O VI 100: warég’ edurjdoco Arcade’
"Agxadiag geben alle Handschriften, die Paraphrase lautet xaradv-
xévta thy Zrdupniov ndAıv, es kann auch kein Zweifel sein, daß
der Sinn das Participium aoristi verlangt, aber dennoch ist die Con-
jectur der Byzantiner Asizovr’ allgemein angenommen), Boeckh er-
wähnt sogar die Lesart der guten Handschriften gar nicht, nur weil
man die Vertretung des Epitrits durch den Choriambus für unzu-
lässig hielt. Es ist interessant zu beobachten, wie Schroeder in dem
Principe, die durch sichere Beispiele belegbaren metrischen Frei-
heiten überall da anzuerkennen, wo keine inhaltlichen oder sprach-
lichen Gründe zu einer Textänderung nötigen, im Verlaufe seiner
Arbeit fester geworden ist: P. XII 24 lautet in den Handschriften
suxA da Anoccdayv pvacriig’ dyavav die Formen evxdéa und dya-
xA&a mit kurzem a sind bei Pindar noch an 8 Stellen nachzuweisen
1) Nur Bergk, so viel ich sehe, hat mit seinem feinen Sprachgefühl das An-
stößige des Praesens empfunden, aber dann nach seiner Weise den Teufel durch
den Beelzebub austreiben wollen.
966 . Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
(vgl. Schoene de dialecto Bacchylidea S. 273), dennoch hat man hier
seit dem alten Erasmus Schmid stets dem Metrum zu Liebe eval
geschrieben. Schroeder schlägt in den Prolegomena S. 25 zweifelnd
evxdeéa vor, im Text aber giebt er das überlieferte edxAd«, das ist
methodisch richtig und von Bedeutung, statt eine bei Pindar sonst
unbelegbare Form eines vielgebrauchten Wortes gegen die Hand-
schriften einzuführen, muß man die metrisch zulässige Vertretung
des Epitrits durch den Choriambus gelten lassen.
In der Aufnahme von Conjecturen ist Schroeder zurückhaltend,
und zwar gegen seine eigenen noch mehr als gegen fremde, wenige
Herausgeber würden es sich z.B. versagt haben N. I, 66 die schöne
Vermutung élormeey in den Text zu setzen. Auch in dem Apparat
wird aus der gewaltigen Conjecturenfülle, die das letzte Jahrhundert
gezeitigt hat, nur eine bescheidene Auswahl mitgeteilt, daß von
Bergk besonders viele, auch ganz verfehlte, angeführt werden, it
eine berechtigte Pietät gegen den Vorgänger. Bei der verhältnis
mäßig starken Berücksichtigung, die Hartungs oft willkürlichen Eir-
fälle gefunden haben, ist es mir auffallend, daß Schroeder einen sei-
ner Vorschläge nicht erwähnt, der durch die Scholien gestützt wird
und meines Erachtens eine sichere Verbesserung bedeutet: N. 1,63
heißt es, wenn die Götter mit den Giganten kämpfen, dann, so sagte
Teiresias, BeAeov Und dızalaı xelvov gadipay yale xepuiposcta
xduav das pflegt man zu übersetzen, unter dem Schwirren seiner
Pfeile werde ihr (der Giganten) glänzendes Haar von Erde besudelt
werden, und seit Dissen (bei Boeckh) ist öfter auf Hor. c. I, 15, 19
serus adulteros crinis pulvere conlines als Parallele hingewiesen wor-
den. Die alte Paraphrase versteht den Vers anders xal ry xdunr
adbrig mv gadiuny ovupvonoesda. ti IG Ovußnicera, und dem
Paraphrasten folgend will Hartung Taée schreiben. Das scheint mir
unbedingt geboten, denn die Berührung mit der Mutter Erde be
sudelt nicht, am allerwenigsten ihre Kinder die Giganten, hätte Pin-
dar den von den Neueren gesuchten Gedanken ausdrücken wollen,
so hätte er statt yai« ein Wort wie xövıg gebraucht, was die angeb-
liche Parallelstelle des Horaz ja auch bietet. Die zunächst befremd-
liche Wendung, daß im Gigantenkampfe der Mutter Erde ihr glän-
zendes Haar besudelt werden wird, nämlich vom Blute ihrer Kinder.
versteht man leicht aus der bildlichen Tradition. Das ergreifende
Bild der zwischen den kämpfenden, blutenden Leibern ihrer Söhne
flehend auftauchenden Gaia ist uns jetzt besonders durch den per-
gamenischen Gigantenfries vertraut, aber das Motiv ist weit älter,
die früheste mir bekannte Darstellung auf der herrlichen Schale des
Aristophanes (Wiener Vorlegeblätter I, 5) wird nach Graefs Uater-
Pindari carmina rec. Otto Schroeder. 967
suchungen (Arch. Jahrb. XII S. 65 ff.) noch zu Pindars Lebzeiten
entstanden sein.
Im Ganzen gewinnt man auch aus Schroeders Ausgabe den Ein-
druck, daß Pindar für die Conjecturalkritik kein günstiger Boden
ist, die leichteren Fehler der Ueberlieferung sind durch die Arbeit
vieler Generationen von Moschopulos bis Wilamowitz meist geheilt
und den wirklich schweren, schon in die voralexandrinische Zeit
zurückreichenden Schäden gegenüber versagen unsere Heilmittel nur
zu oft. An 17 Stellen, wenn ich recht gezählt habe, zeigt das omi-
nöse Kreuz an, daß auch Schroeder an der Herstellung oder Er-
klärung verzweifelt, nicht wenigen für hoffnungslos gehaltenen Ver-
sen hat er durch feinsinnige Auslegung geholfen. Seine Erklärungen
sind in ihrer Knappheit oft schwer zu verstehen, aber stets scharf
durchdacht und eigenartig. Nicht selten teilt er seine Auffassung
einer schwierigen Stelle auch in der Form der griechischen Para-
phrase mit, die dann immer in Gedanken und Wendungen echt
Pindarisch anmutet, aber mitunter doch, wie mir scheint, von der
Erbsünde moderner Pindarforschung, der Hyperexegese, nicht frei ist.
Was Pindar eventuell sagen könnte und anderswo auch wirklich ge-
sagt hat, wird den paraphrasierten Versen bisweilen etwas gewalt-
sam abgepreßt. Es sei mir gestattet ein Beispiel mitzuteilen. Die
vielbehandelten Verse P. II 52 ff.
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rıaıvdöusvov‘ to nAovrelv Ot ody TÜrg adtpoV Goplas KQLOTOY.
tv ÖL odgpa wv Eysıs Ehevdioa goevl nenagelv,
novtav,. Ups axoddav uly svoregavay dyviav xal otgatod.
ef O€ tig
Nön ucekrecot ve xal negl ripe Adve
60 Eregdv uv dv’ ‘EdAdda tev ndpoıds yevéodar bxégregor,
xavva woanide madapovel xeved.
paraphrasiert Schroeder folgendermaGen: &u& Ysvyeıv yor} iv tov
xaxnyogray éxydoay sogiay, un Ev dungavig (dumydvodı xdeor
Archil. 66, 1 B*, wevdag auaydvov Bacch. I, 33) dıayav Bapvidyoıg
EyGeor aAovriio (xtiBdyddy rıva nAoürov maivoyr cl. dors un pddvm
xvotveroe Bacch. II, 68)° 1d 6% scopats dvdsiv xganiow xdtpov
nagaddytog (cf. etiam O. IX") 28, P. 1 41) ägıordg gore xdodrog
1) gedruckt steht X; die sonst so sorgfältige Ausgabe ist nicht ganz frei
von Druckfehlern. |
968 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
(xeax(dov xlobrog Emped. 300 St... ot dd, & Pasıleo, ro zier
relv ooplas vapas éevdsitas Eysıs Eievdsademı (ef. P. V 121.
Sollte Pindar wirklich seine Gedanken so künstlich verhüllen? Vom
ersten bis zum letzten Satz hat Schroeder überall den Begriff sogie
eingeschoben, der doch nur einmal V. 56, und da wie ich fürchte,
in ziemlich niedrigem Sinne, vorkommt. Sicher scheint mir vor
allem, daß von Hieron nicht die Bethätigung eines xAdtros 6ogia;
verlangt wird, sondern ganz ausschließlich von seinen äußeren Glücks-
gütern die Rede ist. An Ehren und Besitz übertrifft er alle Hel-
lenen, die je gelebt haben, darum kann und soll er seinen Reichtum
freigebigen Sinnes bethätigen. Auch bei Archilochos handelt es sich
einzig um materielle Fragen. Seine Tadelsucht hat ihn in Darftig-
keit gebracht — so faßt es ja auch Schroeder auf — und er mästete
sich, wie Pindar mit nicht ganz edlem Hohne auf den ihm gewiß
wenig sympathischen großen lonier sagt, nur mit seinen bitten
Zankworten. Da Anfang und Schluß des ganzen Abschnittes sich
nicht mit geistigem, sondern mit äußerem Besitz beschäftigen, darf
man meines Erachtens auch dem xdovrety des Zwischengliedes kei-
nen ideellen Sinn unterschieben, wie es schon die antiken Gramma-
tiker zum Teil versucht haben und Schroeders grade hier außer-
ordentlich freie Paraphrase es wiederum will. Ich verstehe »reich
zu werden aber, mit des Schicksals günstiger Fügung ist der Weis
heit bestes Teile. Wenn ein solcher Gedanke des Dichters unwür-
dig genannt wird, so will ich nicht widersprechen, aber daß nur
diese Auffassung zugleich den Worten gerecht wird und für den gan-
zen Abschnitt einen klaren Gedankenfortschritt ergiebt, halte ich für
sicher. >Von Schmähreden muß ich mich fern halten, denn dem
Archilochos hat seine scharfe Zunge nur Armut gebracht, ich aber
weiß den Wert des Wohlstandes zu schätzen; du, o Hieron, kannst
ihn am leichtesten gewähren — schon darum mag ich es mit Dir
nicht verderben«. Das klingt in dieser Form allerdings cynisch —
wohlweislich spricht auch der Dichter die letzte Folgerung nicht aus —
aber es ist wenigstens logisch. So sehr Pindar grade in diesem Gedicht
seinen Freimut bewährt, so wenig kann man doch leugnen, daß der
Dichter auf äußeren Wohlstand einen sehr großen Wert legt;
Reichtum, Schönheit, Siegesruhm sind ihm N XI 13 ff. die drei
Dinge, die des Sterblichen höchstes Glück ausmachen, und ähnliche
Gedanken kehren oft wieder. Weil uns Modernen diese Hoch-
schätzung des Reichtums im Munde eines Dichters befremdet, will
man sie auch bei Pindar nicht recht dulden. Hat es doch auch nicht
an Versuchen gefehlt, die ganz offene Ermahnung Hierons zur Frei-
gebigkeit am Schluß des ersten pythischen Gedichtes durch künst-
Pindari carmina rec. Otto Schroeder. 969
liche Auslegung abzuschwächen. Ein Satz dieser Mabnung scheint
mir auch bei Schroeder nicht ganz in Ordnung zu sein. Auf die
klaren Verse 89 ff.
evavdel Ö’ Ev Öpy& xaguevav
einep te Yılsls dxody ddslav atsl xAvsıv, un aduvs Alav da-
RAVES °
ele. 6’ homeg xvBegvdrag dvijo
loriov dveudsv.
folgt unmittelbar eine Warnung, die bei Schroeder lautet un doAo-
dis, b plas, xéodeory surednioıs!). Das übersetzte Boekh ne capiaris,
o amice, facetis astutiis und so viel ich sehe, haben alle ihm darin
zugestimmt, daß Hieron hier. vor gewandten, habgierigen Höflingen
gewarnt werde, die ihn dem Dichter zu entfremden suchten ; aus
dem letzten Teile von P. II sind diese Leute ja bekannt. Eine ganz
andere Auffassung vertritt die alte Paraphrase u} dodmOyjs, & mopos-
gılgorare ‘Idgmv, ti Eydpordın prdoxegdeca, und es scheint mir ein-
leuchtend, daß sich eine Warnung vor der eigenen Gewinnsucht, die
Hieron treibt, den Beutel geschlossen zn halten, viel natürlicher in
den Zusammenhang einfügt als die Hereinziehung der Hofleute.
Dann muß man freilich nicht evredéxAocg schreiben, sondern was der
Paraphrast offenbar gelesen hat, &vrodrioıs. Thatsächlich ist évrec-
r£Aoıs die Lesart erster Hand des Parisinus C, der im ersten py-
thischen Gedicht so oft allein das Richtige bewahrt hat. Das Ad-
jectivum &vroaneiog ist noch an einer andern Stelle bei Pindar
überliefert. P. IV 105, wo alle guten Handschriften es geben und
Mommsen es mit Recht in den Text aufgenommen hat; in den
Scholien, die daneben die von den Herausgebern meist bevorzugte
Lesart &xredneAov kennen, wird es erläutert 6 &v to Evroaneln.
Diese Bedeutung paßt meines Erachtens vortrefllich in den Zusam-
menhang des ersten pythischen Gedichtes, es wäre ein Gewinn, des-
sen sich Hieron zu schämen hätte, wenn er es vorzöge 'moAbv éy
ueydom nAodrov xaraxevparg Eysıv, statt die Dichter reichlich zu be-
denken, deren Lied ihm die Unsterblichkeit sichert.
Die eben besprochene Stelle giebt mir Anlaß, noch auf eine
Eigentümlichkeit der Schroederschen Ausgabe einzugehen, die ich
nicht gut heißen möchte, auf die allzu große Wortkargheit. Im kri-
tischen Apparat lesen wir zu V. 92 »& gids xégdeow sürpamekoıg
vett (vie. C* all)<, das ist in diesem Falle zu wenig. Abgesehen
1) sörgdreloıg für das metrisch unmögliche évreawélorg hat Buecheler bei
Boehmer vorgeschlagen, früher suchte man durch Umstellung und gewagte Eli-
sionen zu helfen,
ogo. . Gdtt. gel. Ans. 1901. He. 18. ©
davon, daß die Trennung der ersten Hand von C von den veteres
befremdet — denn grade in diesem Gedicht steht doch C neben D
unter den veteres voran —, wäre eine genauere Angabe über die
alii sehr am Platze. Nach Christs Ausgaben muß man nämlich an-
nehmen, daß auch in D von erster Hand évyrgaxédorg geschrieben ist,
bei ihm lautet die adnotatio critica »® pide xégdeory Evrpaxktloıs
(evrg. corr. man. rec.) CD«e. Vermutlich hat Schroeder bei der
Collation festgestellt, daß in D niemals évtgaxdiorg gestanden hat’),
aber dann hätte er das doch grade im Hinblick auf den letzten Vor-
ginger deutlicher ausdrücken können, etwa in der Form © gie xzp-
dsouv evroanédorg C® DE, &vre. C* FJM. Es scheint fast, als habe
der Verleger auf möglichste Raumersparnis gedrängt, auch die er-
klärenden Anmerkungen sind oft von wahrhaft lakonischer Kürze
und durch ungewöhnlich kühne Wortabkürzungen auf den engsten
Raum zusammengedrängt. Diese allzu große Knappheit ist des-
wegen zu beklagen, weil sie Anfängern die Benutzung der Ausgabe
so sehr erschwert. Ich habe es bei der Vorlesung dieses Sommer:
beobachtet, wie ratlos oft befahigte und fleißige junge Studenten den
Schroederschen Anmerkungen gegenüberstanden.
Auffallend ausführlich sind gegenüber der sonstigen Knapphei
die Anmerkungen zu manchen Fragmenten, die zu fr. 72—74 beige
brachte mythographische Gelehrsamkeit z.B. ist ja gewiß an sich
wertvoll, aber sie hängt doch mit Pindar nur locker zusammen
Daß die versprengten Reste der übrigen Dichtungen mit derselbe:
Liebe und Sorgfalt behandelt sind wie die Epinikien, brauche ic
kaum zu betonen. Erfreulich ist es, daß Schroeder endlich mit de
Durchführung der Aristophanischen Ordnung Ernst gemacht un
deshalb die voraristophanische Benennung oxdd:a, die Christ nocl
beibehielt, unterdrückt hat. Zu einer andern weniger glückliche
Neuerung haben Bakchylides’ Gedichte den Anstoß gegeben. Wei
dessen Dithyramben in dem Papyrus Titel tragen wie ’4vrnwogid«
N ‘Eddvys dnelınaıs, ’Hidsoı 9 Oncevs u.s.w. hat Schroeder auch fü
einige Gedichte Pindars, Titel erfunden, NidBng y&uoı heißt bei ihn
ein Paian, Orion und Semele zwei Dithyramben. Diese Willkiir schein
mir bedenklich, denn erstens stammen doch die Bakchylideische
Titel gewiß nicht vom Dichter, sondern von den alexandrinische
Grammatikern, und dann sind die entsprechenden Namen, die etw
Pindars Gedichte von den Gelehrten erhalten haben, aus den Frag
menten wirklich nicht mehr zu erraten. Grade der Titel, den Schroe
1) Schon Mommsen war dieser Pankt zweifelhaft, er schreibt x. évroasdle
CDs? FJM.
Pindari carmina rec. Otto Schroeder. 971
der ohne Klammer oder Fragezeichen giebt NidBng Yduoı, beruht nur
auf dem Satze des Plut. de mus. 15 IIivdagog 6° év xotow En}
tots NidBys yauoıs yet Avdıov kpuoviav modroy didaydivar. Ein
anderes Fragment zeigt, daß in demselben Paian die Zahl der Nio-
biden auf 20 angegeben war, aber aus diesen 2 Einzelheiten ist doch
über den Hauptinhalt oder gar über den Titel des Gedichts nichts
zu ermitteln.
Kurz fassen kann ich mich über die Appendix de metro dacty-
loepitritico, die wohl besser ihren Platz in den Prolegomena ge-
funden hätte. Ihren wesentlichen Inhalt hat Schroeder schon auf
der Bremer Philologenversammlung mitgeteilt und damals allseitige
Zustimmung gefunden (vgl. Verhandlungen der 4östen Philol.
Vers. S. 52 ff.). Die besonders von Blass längst verfochtene durch
Bakchylides bestätigte These, daß die sogenannten Daktyloepitriten
nichts sind als eine Abart »jenes erstaunlich elastischen im Schema
viersilbigen und sechszeiligen Metrons< wird durch die sorgfältige
Zusammenstellung aller vorkommenden Formen und aller Frei-
heiten der Responsion in ihnen zur Evidenz gebracht. Auch die
widerspänstigste Reihe, in der scheinbar der daktylische Charakter
so klar hervortritt _w_w_w_ _, muß sich der jonischen Mes-
sung —w — | w— |w__ fügen, weil ihr einmal J. V,41 der in-
haltlich unantastbare Vers Méuvova yadxotgay’ tig yao éodov (TY-
Aepov redeev) —w — | w— | _u_ —!") entspricht. Wie weit auf
die Bildung dieser Pseudodaktylen echte daktylische Verse einge-
wirkt haben, ist schwer zu entscheiden, auch ist es mir sehr zweifel-
haft, ob ihre grundsätzliche Verschiedenheit noch im Bewußtsein der
attischen Tragiker lebendig war. Wenn Sophokles die Parodos des
Aias beginnt 172ff. "H od oe Tavgondia Ards “Agremis, © ueydin
pers, & pateg aloydvag euic, so hat er den ersten Vers doch
wohl sicher daktylisch gemessen. Nicht ganz glücklich scheint es
mir, daß Schroeder der Kürze halber die Epitrite in seinen Schemata
einfach als retardierte Ioniker bezeichnet. Gewiß hat ein retardier-
ter steigender Ioniker dieselbe Form wie der Epitrit _ v — —, aber
wenn dieser Form nun wieder entspricht wu __ (P. 117 Kıllkıov
»oe&pev), dann ist es doch klar, daß die erste Silbe nicht als retar-
dierte Kürze, sondern als echte Länge aufgefaßt werden muß.
Ich kann die Besprechung nicht schließen ohne an den Heraus-
geber eine Bitte zu richten: Daß Schroeder den Pindar so gut ver-
steht wie nur ganz wenige unter den Lebenden, das zeigt seine Aus-
gabe, möchte er nun dies Verständnis auch weiteren Kreisen zu-
1) Genau dieselbe Form als regulärer Vers P. IX str. 7.
972 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
gänglich machen g/Jog éagxémv. Eine von ihm herausgegebene
Auswahl der wichtigsten Gedichte mit möglichst ausführlichem Com-
mentar in der Art von Kaibels Elektra oder Heinzes Lucrez II
wäre eine höchst willkommene Gabe für alle, die dem großen Aigéiden
nahe gekommen sind oder ihm nahe zu kommen wünschen.
Greifswald. A. Körte.
Herrmann, M., Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. Entstehung
und Bühnengeschichte. Nebst einer kritischen Ausgabe des Spiels und unge-
druckten Versen Goethes sowie Bildern und Notenbeilagen. Berlin, Weid-
mannsche Buchhandlung 1900. VI, 293 S. Preis 8 Mk.
Wir haben zu viel Fortschritte in der Erfassung künstlerischen
Schaffens im allgemeinen, der Arbeitsweise des jungen Goethe im
besonderen gemacht, als daß wir noch, um nur ja recht viel äußer-
lich Biographisches anzubringen, dem Litterarisch-Aesthetischen gar
zu wenig gerecht werden möchten«. Mit wahrer Freude habe ich
diesen Satz gelesen, den Herrmann (S. 4) am Eingange seiner Stu-
die niederschreibt, mag er auch zur Thatsache machen, was heute
doch noch selten mehr als frommer Wunsch ist. Allein er deutet
auf eine unleugbare Wandlung, die sich im Betrieb der Litteratur-
geschichte während der letzten Jahrzehnte vollzogen hat. War man
früher, und nicht nur in Sachen des jungen Goethe, bemüht, Er:
lebtes und Modelle um jeden Preis nachzuweisen, heute wird man
sich mehr und mehr bewußt, daß solche »Biographenphilologie< nicht
ausreicht, ein Kunstwerk und seinen Künstler zu erfassen. Wir
wollen jetzt ergründen, wie eine Form im Bewußtsein ihres Schöpfers
zustande gekommen ist; wir schneiden drum nicht das Band entzwei,
das des Dichters Leben und seine Dichtung verbindet; wir treiben
nicht einseitig technische Studien. Aber uns fesselt heute mehr die
Frage, was der Dichter aus dem Ueberkommenen (sei’s Stoff oder
Form) gemacht, als die Erkundung der stofllichen Vorlage, die ja
immer als Vorbedingung bestehen bleibt, nicht mehr indes zum
Selbstzweck sich erheben darf.
Den Gegensatz ‘von Einst und Jetzt auf diesem methodologi-
schen Felde klarzustellen, dürfte nicht leicht ein besseres Paradigma
zu finden sein, als Goethes »Jahrmarktsfest von Plundersweilern«.
Vor etwa zwanzig Jahren hat die »Biographenphilologie« einen Berg
von Studien um die Dichtung aufgehiuft. Mit großem Scharfsinn
sind Wilmanns, Scherer, R. M. Werner u.a. der Frage nachgegangen,
Herrmann, Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. 973
welche Persönlichkeiten den einzelnen Figuren der Dichtung zu-
grundeliegen. Ein heutiger Betrachter kann sich dem Eindruck nicht
entziehen, daß all diese Deutungen, oder fast alle, näherer Prüfung
nicht standhalten, und daß über all diese Deutungen das Kunst-
werkchen selbst verloren geht oder, besser gesagt, der künstlerische
‘Gesichtspunkt seiner Bewertung. »Wir brauchen uns heute<, sagt
Herrmann, >nur zu vergegenwärtigen, wie Goethe gearbeitet haben
müßte, wenn jene Art des Kommentierens zu Recht bestehen sollte;
er müßte eine große Anzahl meist recht salzloser Porträtepigramme
und an den Haaren herbeigeholter litterarischer und persönlicher
Anspielungen in mühsamer Verstandesarbeit an einen Faden gereiht
haben, der an sich nicht die geringste künstlerische Bedeutung hat«.
Die künstlerische Bedeutung des Stückes will Herrmann er-
forschen. Die Aufgabe zu lösen, muß er weit ausgreifen; drum ist
seine Studie so umfangreich geworden. Ob ihm während der Unter-
suchung nicht doch das leicht hingetuschte Werkchen Goethes zu
viel Gewicht gewonnen hat? Fast möchte es scheinen. Geistreich
gewiß ist es, wie er (S. 1) >Jahrmarktsfest< und »Faust« zusammen-
stellt. Naives Empfinden wird jedoch stets gegen solche Bindungen
sich wehren, ebenso gegen ein Buch von dem Umfange des vor-
liegenden, wenn es einer so kurzatmigen Dichtung gewidmet ist.
Ein Körnchen Wahrheit wird, hier wie immer, in dem Ausspruch
des gesunden Menschenverstandes sein. Und wäre es nur das Eine,
daß Herrmann mit geringen Zusätzen seine Studie der Erhellung
aller Farcen des jungen Goethe hätte dienstbar machen können.
Der Gelehrte freilich darf nie und nimmer einer wissenschaft-
lichen Arbeit ihren allzugroßen Umfang vorwerfen. War ja doch
hier auch noch einiger Schutt wegzuräumen. —
Nicht Biographenphilologie, sondern Erforschung der künstleri-
schen Bedeutung ist Herrmanns Ziel. Was von den Aufstellungen
seiner Vorgänger bestehen bleibt, faßt er am Schlusse des ersten
Kapitels — das Buch bietet noch ein zweites — zusammen.:
Der letzte Abschnitt des ersten Kapitels, »Kleine Geheimnisse<
(S. 145—161) betitelt, tritt, nachdem zur Erläuterung der Form des
»Jahrmarktsfestes« alles Erreichbare gethan ist, an die Frage heran,
die den bisherigen Interpreten so viel zu schaffen gemacht, und die
so viel unnützen Verbrauch kritischen Scharfsinns bedingt hat:
»Steckt im »Jahrmarktsfest«< außer dem Allgemein-Symbolischen und
dem Typisch-Charakteristischen auch noch greifbare Charakteristik
individueller Natur?< »Enthält das Stück epigrammatische Anspie-
lungen auf einzelne Persönlichkeiten ?«
Unzweifelhaft wird angespielt auf den »Teutschen Merkur« und
974 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
auf Schlossers »Katechismus für das Landvolk« (S. 146). Dann lehrt
uns Caroline Flachsland (S. 151), daß in Mardochai »Leuchsenrings
Person aufgefiihrt< ist. Im Uebrigen scheidet Herrmann strenge
zwischen dem »Jahrmarktsfest< einerseits und Dichtungen in der Art
des »Concerto dramatico< und des »Neuesten von Plundersweilern< an-
dererseits. Hier findet sich nirgends schlichtes Abbild der Wirklich-
keit, sondern groteske Satire; dort herrscht typisierender Natura-
lismus. Diese Typen des »Jahrmarktsfestes< hat ferner nicht Goethe
geschaffen : Herrmann hat ihre Geschichte auf den vorhergehenden
Seiten seines Buches geschrieben. Diesen Typen hat Goethe vielleicht
zu einer Art Privatspaß etwa die Lieblingsredensart eines Freundes
in den Mund gelegt, vielleicht hat er gelegentlich witzig auf ein Er-
lebnis eines Gesellschaftsgenossen angespielt. Von den bisherigen
Deutungen aber könnte zur Not nur die Beziehung -des Milchmäd-
chens auf Caroline Flachsland einleuchten. Weiter vorzudringen,
Weiteres zu lüften, das Goethe vielleicht hineingeheimnißt hat, fehlt
uns heute jedes Mittel. Wir verfallen auf diesem Wege nur in den
Fehler Friedrich Nicolais, der in seiner Recension des Stückes den
Schattenspieler für Herder erklärt. Schon R. M. Werner hat
überzeugend nachgewiesen, daß diese Deutung chronologisch un-
haltbar ist.
So Herrmann! Goethe selbst sagt freilich im 13. Buch von
Dichtung und Wahrheit« von dem »Jahrmarktsfest« : Unter allen
dort auftretenden Masken sind wirkliche, in jener (Frankfurter) So-
sietät lebende Glieder oder ihr wenigstens verbundene und einiger-
maßen bekannte Personen gemeint. Herrmann nimmt hier einen Ge-
dächtnisirrtum des alten Goethe an (S. 6ff); und mehrfach im Ver-
laufe seines Buches sucht er die Annahme zu begründen, daß
Goethes Zeugnis völlig wertlos sei. Allein verfällt er hier nicht
ebenso — freilich im entgegengesetzten Sinne — einem Versehen,
wie die Biographenphilologen ? Liegt hier nicht auch eine Einseitig-
keit vor?
Für die Forschung stellt sich das Problem — wie mir scheint
— lediglich so: sind wir in der Lage, die Masken zu deuten oder
‚nicht ? Ich stimme Herrmann vollständig zu, daß eine peinlich ge-
wissenhafte Prüfung nicht mehr Deutungen ergiebt, als jene oben an-
geführten; wenigstens mit unseren heutigen Mitteln. Allein die
Möglichkeit, daß da oder dort noch eine Anspielung versteckt ist,
muß zugegeben werden. Und thut das Herrmann nicht wirklich ?
Nur dürfen wir uns bei der litterarhistorischen Untersuchung des
Werkchens nicht auf den Deutungsversuch beschränken, dessen
Schwierigkeit schon aus Goethes eignen Worten erhellt: Der Sinn
Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 975
des Räthsels blieb den Meisten verborgen, Alle lachten, und Wenige
wußten, daß ihnen ihre eigensten Eigenheiten eum Scherse dienten.
Ich gebe Herrmann vollkommen Recht, wenn er mit der Hypothesen-
lust seiner Vorgänger aufräumt, die nicht sahen, daß wir hier nichts
wissen können. Ebendeshalb aber behaupte ich die Möglichkeit,
weiterer >kleiner Geheimnisse<; sie zu leugnen, hieße wiederum Be-
stimmtheit auf einem Gebiete suchen, auf dem wir zur Bestimmtbeit
nicht gelangen können. Diese Möglichkeit läßt Herrmanns Bemühen,
die künstlerische Bedeutung des Werkchens zu ergründen, völlig un-
angetastet. Im Gegentheil sehe ich in solchem Bemühen die eigent-
liche Aufgabe der Forschung ; und auch die lösbare.
Denn daß das »Jahrmarktsfest«e noch etwas mehr ist, als eine
Sammlung von Epigrammen, diese Thatsache geht unzweideutig aus
Goethes Worten hervor. Bezeugen sie doch, daß auch ohne Kenntnis
der hineingeheimnißten Spitzen ein künstlerischer Genuß schon bei
seinem ersten Auftreten möglich war. Soll dieser künstlerische Ge-
nuß lediglich auf der erheiternden Vorführung ulkiger Jahrmarkts-
typen beruhen ? Den tieferen Sinn der Dichtung hat schon Tieck,
freilich dunkel genug, angedeutet, als er 1828 in seiner umfang-
reichen Confession »Goethe und seine Zeit< bemerkte : »Wie meister-
haft ist das Jahrmarktsfest, ohne in diese Absicht [ein eigentliches
Drama zu sein] auch nur einzugehen. Hier fügt sich Episode an
Episode, um so ein humoristisches, possenhaftes Wesen durchzu-
führen, das eben weil es so menschlich und in der innern
Absicht so edel und weder bitter noch gemein ist,
durch eine poetische Magie trefflich in eine geistige Einheit zu-
sammentritte (Kritische Schriften II, 208). Klingt es nicht wie eine
Interpretation dieser von Herrmann allerdings nicht benutzten Stelle,
wenn er (S. 145) sagt: »Die Abschilderung des bunten Markt-
treibens ist nicht etwa in erster Reihe Selbstzweck, wie das auf dem
Theater bei der Behandlung dieses Stoffes der Fall ist, der zu kleinen
Späßen, muntern Intriguen, überraschenden Effekten für Aug und
Ohr genug Gelegenheit bietet; die rasche Folge der Erscheinungen
auf dem Jahrmarkt ..., das bunte Durcheinander der Käufer und
Verkäufer, das sich dem Dichter aus Anregungen der Wirklichkeit
und der Kunst ergeben hat, ist vielmehr das Symbol für das
Ab und Auf des Lebens geworden«. |
Also ein humoristisches Weltbild im kleinsten Formate! Gewiß
hat, wer dieses Resultat wiedererobert, einen mächtigen Schritt über
die »Biographenphilologie« hinaus gethan. Merkwürdig aber, wie
Herrmann, sobald er an den Nachweis dieser Beobachtung geht,
976 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
sofort die gleiche Hypothesenlust sich gestattet, die er den Biogra-
phenphilologen mit Recht verweist.
Der erste Abschnitt des ersten Kapitels, »Schöne Raritäten«
(S. 11—44) hebt mit der Behauptung an, daß die Dichtung nicht
einheitlich sei. Er scheidet die beiden Acte des eingelegten Esther-
dramas, die zwischen beiden Acten liegenden Verse und das die
Dichtung eröffnende Gespräch zwischen Doktor und Marktschreier
aus. Diese Partieen sind in vierhebigen Reimpaaren geschrieben, im
Gegensatz zu den übrigen Jahrmarktscenen, die im Wesentlichen
dreihebig gehalten sind. Bei diesen findet Herrmann »zarte Filigran-
arbeit<, in jener eine >derbe, massige Manier«. »Dort ein leichtes
Andeuten, ein rasches Vorüberhuschen ; hier scharfe und kräftige
Striche und ein behaglicheres Verweilen<. Und sofort schließt er
weiter: »Auch hier ist es schon klar, welcher von beiden Bestand-
teilen der ältere sein muß: die derben Partieen sind zum größerem
Teile entbehrliche Zugaben, die zarten dagegen ergeben für sich
schon ein fast lückenloses Bild des Jahrmarktsfestes«.
Ist das nicht wieder einmal eine »Eilfahrt ins Land des All-
wissenkonnens< ? Mich erinnert wenigstens solche kühne, auf me-
trischen Eigenheiten rasch fortconstruirende Art an bedenkliche Wag-
nisse der Faustphilologie. Ich frage: hat Herrmann auch nur den
Schatten eines Beweises erbracht, daß die von ihm getrennten Teile
aus verschiedener Zeit stammen? Ich kann nicht einmal die stili-
stische Antithese zugeben: ich finde da wie dort derbe Manier, da wie
dort bald scharfe kräftige Striche, bald behagliches Verweilen. Doch
selbst, wenn wir die stilistische Antithese zugäben, genügt sie, eine
chronologische Hypothese zu begründen ? Gewiß nicht. Und eben-
sowenig Herrmanns Beobachtung, daß nur das Eingangsgespräch und
der Anfang der Esther Personenüberschrift haben (Doktor Medikus.
Marktschreyer. — Kaiser Ahasverus. Haman). Gewiß stehen diese
Ueberschriften am Anfang der beiden Teile der sogenannten jüngeren
Partie; aber warum stehen sie nicht auch am Anfang des zweiten
Actes der Esther oder am Anfang der zwischen den beiden Acten
der Einlage sich abspielenden Scene? Ich kann hier nur Inconse-
quenz und Flüchtigkeit Goethes sehen, unmöglich aber in solchen
Argumenten einen Beweis der Hypothese erblicken.
Hermann freilich sucht alsbald von der hypothetischen älteren
Partie zu ihrer Conceptionsstelle einzudringen. Und weiter begegnen
wir kühnsten Combinationen. Um das folgende zu verstehen, muß
man festhalten, daß der Dichter von Anfang an ein Weltbild geben
wollte.
Das »Ursymbol der Dichtung, das hinter all den später ausge-
Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 977
stalteten Einzelheiten sich birgt«, findet Herrmann in einem Guck-
kasten oder Raritätenkasten (S. 13). Von der Partie, die Herrmann
zur älteren macht, sagt er, sie »gleicht einer einzigen Jahrmarkts-
sehenswürdigkeit ; es ist wie einGuckkasten, in dem die Figuren
lebendig geworden sind und in raschem Vorüberziehen Zeit gefunden
haben, an Stelle des eintönig erklärenden Guckkastenmannes sich
selbst jede mit einem kurzen Sprüchlein vorzustellen«.
Raritätenkasten, erklärt das von Herrmann (S. 16) herange-
zogene Zedlersche Universallexikon (XXX Sp. 91), ss¢ ein Kasten,
in welchem diese oder jene alte oder neue Geschichte im Kleinen und
durch dazu verfertigtes Puppenwerk, so gezogen werden kann, vorge-
stellt wird. Es pflegen gemeine Leute, so mehrenthetls Italiäner von
Geburth, mit solchen Kasten die Messen in Deutschland eu besuchen,
auf den Gassen herum zu lauffen und durch ein erbärmliches Geschrey :
schöne Rarität! Schöne Spielwerck! Liebhaber an sich eu locken, die
vors Geld hineinsehen.
Auf den ersten Blick sieht man, daß die Form, die nach Herr-
mann Goethes Spiel ursprünglich haben sollte, in diesen Rahmen
gar nicht mehr passt. Das sei denn gleich aus einer Verwertung des
Guckkastenmotivs erwiesen, deren Herrmann nicht gedenkt. Im
41. Litteraturbrief bespricht Lessing die »Schilderungen aus dem
Reiche der Natur und der Sittenlehre< von Dusch. In der »Fort-
setzung< dieses Briefes vom 31. Mai 1759 (Hempel IX, 155 f.) heißt
es: Der Genius kömmt endlich mit dem Herrn Dusch in den Tempel
selbst. Und nun machen Sie Sich fertig, ...in den seltsamsten
Raritätenkasten zu gucken! »Zwei mächtige Flügel eröffneten
den Eingang durch ein langes Gewölbe, das auf beiden Seiten auf
marmornen Säulen ruhte. Zwischen diesen standen in ihren Fächern
die Bildsäulen der größten Philosophen, die durch ihre Bemühungen
die wichtigsten Wahrheiten aufgeheitert hatten. Einige in der Tracht
der Chaldder« etc. Ist das nicht lustig? Hier ftehen_die Bildsäulen
der Philosophen, die draußen in dem Vorhofe lebendig herumliefen.
Lessing durchwandert an Duschens Hand den Tempel; er fährt dann
fort: Aber ist das schon die ganze Natur, die uns der Dichter hier
im Kleinen vorstellen will? O nein! Er zieht daher auch weis-
Lich in seinem Kasten ein neues Fach. »Indem eröffneten
sween mächtige Flügel eine weite Aussicht aus dem Tempel in ein un-
absehbares Feld. Merke auf, sagte mein Führer eu mir, und betrachte !«
— Der natürliche Savoyard: Vous alles voir ce que
vous alles voir! Hiha! — Was giebt es denn nun eu be-
trachten?, Da repräsentiret sich: »eniblößte Hügel, die ihr Inneres
aufdecken: Erdarten, Mineralien, Steine, Metalle< etc. Und abermals
Goes. gel. Ans. 1901. Hr. 18. 64
578 dött. gel. Anz, 1901. Nr. 12.
repräsentiret sich: »die schönste Gegend, ein ebenes Thal, mit m-
zähligen Kräutern und Blumen aus allen Himmelsgegenden geschnrückt«.
Und abermals repräsentiret sich ... Noch einmal und noch ein
zweites Mal wirft Lessing die Anapher dem Recensierten entgegen,
dann bricht er ab: O verzweifelt! Ich wollte meinen Herren noch
das ganze Thierreich repräsentiren; aber Sie sehen, das Licht
gehtmirindem Kasten aus... Nicht ein Haar besser läßt
Herr Dusch seinen Genius in allem Ernste abbrechen, weil »eine
Priesterin, in weißen Atlas gekleidet, an den Altar tritt und neuen
Weihrauch in die helleren Flammen gießi«. — Der Guckkasten
wirdnun su einem Marionettenspiele. — Es kömmt
noch eine Gestalt dazu... Und noch eine dritte... Und
eine vierte... Diese Drei warfen sich vor die Stufen des Altars
auf ihr Antlite, indem die Priesterin mit sum Himmel gefalteten Han-
den niederkniete.
Ich finde die Stelle für uns hier sehr interessant, nicht nur wegen
der litterarischen Verwertung des Guckkastenmotives. Vielmehr
spielt sich bei Lessing dieselbe Verwandlung von einem Guckkasten
in ein Spiel ab, die Herrmann für Goethe beanspruchen möchte.
Aber wie wenig genügt einem Lessing, um diese Wandlung anz-
nehmen! Sobald die Figuren zur Action übergehen, ist für Lessing
kein Guckkasten mehr da. Ich frage: welche Form müßte die Ur-
conception des »Jahrmarktsfestes< gehabt haben, um in den Rahmen
eines Guckkastens zu passen? Nicht nur die von den vorgeführten
Gestalten gesprochenen Worte, nein, die geringfügigste Action hätte
den Guckkasteneindruck zerstört. Schon von diesem Gesichtspunkte
aus ergiebt sich, daß Herrmann für die Urconception etwas Unmög-
liches verlangt: Raritätenkastenfiguren, die eigentlich Marionetten
sind. Ein Guckkasten aber, der zum Marionettenspiele wird, ist kein
Guckkasten mehr, sondern ein Marionettenspiel. Keine der von
Herrmann mit großem Finderglücke zusammengetragenen Guckkasten-
dichtungen hat eine dramatische Form.
Herrmann indeß wendet viel Fleiß und viel Scharfsinn auf, seine
These zu erweisen. Nach meiner Ansicht leider vergebens.
Im »Prolog« zum » Neueröffneten moralisch-politischeu Puppenspiel«
(W.A.XV1 3,57) heißt es: Ach schau sie, guck sie, komm herbei De
Papst und Kaiser und Klerisei. Diesen Prolog möchte Herrmann (S. 14)
— kühn genug — weniger auf das ganze »Puppenspiel«, als auf sei-
nen ersten Teil, das »Jahrmarktsfest« beziehen ; die citierten Worte
würden die angekündigte Dichtung in die Nähe des Guckkastens
rücken. Denn sie sind nichts anderes wie eine Lieblingswendung
der ihre Raritäten anpreisenden Guckkastenleute. Freilich vermissen
Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 979
wir sie in den von Herrmann aufgefundenen Guckkastendichtungen.
Allein am 10. September 1770 schreibt Goethe an Engelbach: Jeder
hat doch seine Reihe in der Welt, wie im Schönerraritätenkasten. Ist der
Kayser, mit der Armee vorübergezogen. Schau sie, Guck sie, da kommt
sich die Pabst mit seine Klerisey. Augenscheinlich waren also Goethe
die Worte im gedachten Sinne geläufig. Allein ich kann mich nicht
überreden lassen, daß eine Dichtung, in deren Prolog (wenn er wirk-
lich als solcher und nicht als Prolog des ganzen »Puppenspiels<
gelten soll) beiläufig die Wendung eines, seine Raritäten anpreisen-
den Guckkastenmannes mit unterläuft, ursprünglich als Raritäten-
kastendichtung gedacht sein müsse.
Freilich bringt Goethe einen Raritätenkastenmann nicht auf die
Bühne. Es ließe sich also annehmen (wenn wir in Herrmanns Ge-
dankengang uns versetzen), Goethe habe ihn absichtlich verbannt,
um nicht einen Raritätenkastenmann in einer Raritätenkastendichtung
auftreten zu lassen. Solche Witzchen lägen der Romantik näher als
dem jungen Goethe. Allein Herrmann selbst belehrt uns, daß der
Schattenspielmann den Guckkastenmann in unserem Stückchen ver-
trete (S. 40f.). Seine Produktion ist auf der Bühne leichter darzu-
stellen, als die des Genossen vom Guckkasten. Daß nämlich beide
Künste von Einem gelegentlich ausgeübt worden sind, belegt Herr-
mann aus einer Dichtung von 1798, die den Refrain des Goetheschen
Schattenspielmanns Orgelum, Orgelei, Dudeldum, Dudeldei (Goethe: Or-
gelum orgeley dudeldumdey) bietet, in der ferner Goethes Worte
Lichter weg! mein Lämpchen nur anklingen. Auch radebricht Goethes
Schattenspielmann wie ein Guckkastenmann. Wenn nur die ange-
zogene Dichtung von 1798 nicht selbst von Goethe abhängig ist!
Herrmann macht allerdings wahrscheinlich, daß es nicht der Fall ist.
Immerhin bliebe die Thatsache, daß statt eines Guckkastenmannes ein
Schattenspieler bei Goethe erscheint, noch kein ausreichender Beweis
für die Hypothese.
Ich fasse zusammen: 1) Herrmanns Vermutung, Goethe habe
ursprünglich eine Art dramatisierter Guckkastendichtung geplant,
widerspricht der Thatsache, daß. Guckkastendichtungen (wenigstens
soweit Herrmann uns mit ihnen bekannt macht) niemals dramati-
sche Form haben, ja durch den Uebergang zur dramatischen Form
ohne Zwischenstufe zu Marionettenspielen würden. 2) Die Verse des
»Prologes« geben keinen zwingenden Beweis. 3) Der Schattenspiel-
mann, der den Guckkastenmann in Goethes Spiel ersetzt, scheint
nicht durch die ursprüngliche Absicht einer Guckkastendichtung be-
dingt zu sein.
Herrmann sucht indeß nach ‚weiteren Stützen für seine Hypo-
64 *
980 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
these ; auch sie erweisen sich bei näherer Prüfung als unhaltbar.
Er vermutet, daß Goethe zur Zeit, da er die Wendung von über-
lebter Gespreiztheit zur Andacht für das Unbedeutende durchmachte,
nicht nur Puppenspiel und Volkslied, sondern auch den Guckkasten
und sein Lied ernst zu nehmen beginnt (S. 16 ff). Er liest insbe-
sondere aus den oben citierten Worten an Engelbach heraus, daß
dem jungen Goethe »zum ernst erfaßten Symbol des unaufhaltsamen
Flusses im Weltenlauf und im Schicksal des Einzelnen< ward, >was
den andern »Gebildeten< der Zeit ein Sinnbild der Lächerlichkeit
ist<. Wie im Volkslied Misachtetes, wird ihm im Puppenspiel und
Guckkasten Ver achtetes lieb und wert. Ohne Zweifel — das ist
vom Verf. hinreichend belegt (S. 35f) — hat das aufgeklärte 18.
Jahrhundert für den Guckkasten nur ein Lächeln der Verachtung
übrig und nennt in diesem Sinne Dinge, die man herunter und lächer-
lich machen wolle, Schöne Raritäten, schöne Spielwerke (Zedler a. a. 0.),
Allein ich sehe in den von Herrmann angeführten Aeußerungen
Goethes keine Verklärung des Begriffes Raritätenkasten : der Brief
an Engelbach ist — wie mir scheint — durchaus humoristisch ge-
halten und verwertet das Wort im ironischen Sinne ; ebenso wie, noch
in der Zeit überlebter Gespreiztheit, die Verse, die Goethe in das
Stammbuch von Friedrich Maximilian Moors am 28. August 1765 ge-
schrieben hat (Der junge Goethe I 85), oder wie das Gedicht von
Johann Benjamin Michaelis, das kurz nach Goethes Abgang in Leipzig
(24. November 1768) erschien. Und endlich Herrmanns Hauptstiitze;
die oft citierte Stelle des Aufsatzes »Zum Shakespeares Tag«: Shake-
speares Theater ist ein schöner Rarstäten Kasten, in dem die Geschichte
der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaaren Faden der Zei
vorbeywallt. Hier scheint ja wirklich die symbolische Verwertung des
Raritätenkastens durchaus ernst und respektvoll zu sein. Herrmann
selbst gesteht zu (S. 43): »Eine so übererhabene Stellung freilich hat
das Motiv nicht lange behaupten können«, und er stellt den Brief
Goethes an Betty Jacobi (W. A. IV 2, S. 118f.) daneben, in dem es
wieder ganz ironisch heißt : Unterdessen guckt man in einen Schöne-
raritätenkasten, wenn man keine Oper haben kann. Allein ist in dem
Aufsatze »Zum Shakespeares Tag< das Symbol wirklich so erhaben
gefaßt? Ich glaube nicht; wenn ich näher zusehe, bleibt nur die eine
Thatsache bestehen, daß Shakespeare, der schwärmerisch geliebte, mit
einem Raritätenkasten in einem Atem genannt ist ; dies aber nicht ge-
rade, um Shakespeare ein besonderes Compliment zu drechseln, und von
einem Jüngling, der sich nicht scheut wie Lawrence Sterne Erhabenstes
und Niedrigstes zu verbinden. Den citierten Worten (Shakespeares
Theater ist ein schöner Raritätenkasten ..) folgt der Satz: Seine Plane
Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 981
sind, nach dem gemeinen Stil su reden, keine Plane, aber seine Stücke
drehen sich alle um den geheimen Punckt, (den noch kein Philosoph
gesehen und bestimmt hat) in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die
prätendierte Freyheit unseres Willens, mit dem nothwendigen Gang
des Ganzen zusammenstösst. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich an-
nehme : man hat bisher in diesen Worten allgemein das Bekenntnis
gesehen, daß Goethe damals den Künstler Shakespeare unter-
schätzt hat. Er giebt den dramatischen Techniker Shakespeare
preis, wie es theoretisch vor ihm Gerstenberg, praktisch er selbst im
»Gottfried von Berlichingen«, theoretisch und praktisch nach ihm
Lenz gethan hat. Gegen die Theorie, Shakespeares Dramen seien
nur ein schöner Raritätenkasten, sendet Herder 1773 in den Blättern
»Von deutscher Art und Kunst< seinen Shakespeareaufsatz in die Welt
und macht den Briten zum Bruder des Sophokles (vgl. R. Haym, Herder
nach seinem Leben und Wirken I 435 ff). Goethe aber — so darf,
was er sagt, aus der Rhetorik des Sturmes und Dranges füglich in
Prosa umgesetzt werden — Goethe behauptet: »Shakespeares Theater
ist zwar nur ein schöner Raritätenkasten; aber ein Raritätenkasten,
in dem nicht Puppen an dem sichtbaren Faden des Guckkasten-
mannes, sondern die Geschichte der Welt an dem unsichtbaren Faden
der Zeit vorbeiwallt<; d. h. vom Standpunkt künstlerischer Form
steht es nicht höher als ein Raritätenkasten, aber sein Gehalt ist
weit tiefer. Und mit gleicher Einschränkung geht es weiter: »Seine
Plane sind zwar keine Plane, aber seine Stücke drehen sich ... .<
Ich sehe hier nur dies: ein junger Sturm- und Drangkerl, der mit
Sterneschem Humor Höchstes und Niedrigstes zusammenwirft, greift,
seine Bewunderung für Shakespeares Ideengehalt auszudrücken, zu
scharfen Contrasten: hie Raritätenkasten, dort Geschichte der Welt;
hie Planlosigkeit, dort der »geheime Punct<. Eine besondere Wert-
schätzung des Raritätenkastens kann ich aus diesen übertreibenden
Antithesen, die mehr preisgeben, als nötig ist, nicht herauslesen ?).
Also auch vom Standpunkte einer neuen künstlerischen Bewer-
tung des Guckkastens scheint mir Herrmanns Beweis nicht erbracht.
Der Umweg aber, den nach seiner Ansicht die Entstehung des Jahr-
marktsfestes gemacht haben soll, ist umsoweniger glaublich, als —
wie er (S. 111ff.) selbst ausführlichst darthut — Dramen, die einen
Jahrmarkt zum Gegenstand haben, längst und in reichster Auswahl
vor Goethe geschrieben worden sind. Und wenn Herrmann, um die
1) 8. 283, in den Nachträgen, meint Herrmann, Minor habe (Studien zur
Goethephilologie. Wien 1880 S. 8ff.) die ernste Erfassung des Raritätenkastens
durch Goethe hervorgehoben. Ich kann nicht erkennen, welche Worte Minors
hier gemeint sein sollen.
983 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
Wandlung von einer Guckkastendichtung zu einem Drama begreiflich
zu machen, sich (S. 43) auf Schönborns Wort beruft, daß Goethen da-
mals sich alles gleich ins Dramatische verwandelt habe, so sehe ich
nicht ein, warum sich der Stoff des »Jahrmarktsfestes« nicht sofort ins
Dramatische verwandelt und den Umweg durch eine problematische
Guckkastenconception genommen haben soll’).
Neben all den Argumenten, die Herrmann vorbringt, bleiben
mir nur zwei Sätze bestehen : 1) Goethe liebt es damals, in Sternes
humoristischer, Höchstes und Niedrigstes verbindender Weise den
Weltlauf mit einem Raritätenkasten zu vergleichen. 2) Goethe will
im »Jahrmarktsfest< den Weltlauf symbolisch darstellen. — Einen
zwingenden Schluß kann ich aus diesen Praemissen nicht ziehen.
Sehr begreiflich, daß Goethe im »Prolog<, eingedenk seiner Absicht
ein Weltbild zu geben, wieder einmal die Wendung des Raritäten-
kastenmannes zur Ankündigung verwendet. Liegt ja, was er anzu-
kündigen hat, eine Jahrmarktsdichtung, dem Milieu des Raritäten-
mannes nicht so fern. Als typische Erscheinung wird dieser zwar
nicht im »Jahrmarktsfest< auftreten, aber wenigstens der ihm ver-
wandte Schattenspielmann, der dramatisch besser verwertbar ist.
Das ist jedenfalls viel einfacher und natürlicher, als daß ein Schatten-
spielmann in einer Guckkastendichtung vorkommen soll. Ja über-
haupt, welche Züge einer Guckkastendichtung blieben denn der
sogenannten älteren Partie noch anhaften? Kaiser, Papst und
Klerisei stecken doch bestenfalls nur im Estherdrama, das Herrmann
der jüngeren Partie zuschreibt; der älteren verbleiben nur die Jahr-
marktsgestalten Tyroler, Bauer, Nürnberger, Wagenschmeermann
u. 8s. w. Und da soll der Fortschritt von der ersten Conception zu
der späteren Fassung in dem Hinzutreten des Jahrmarktsmotivs
liegen ? Nach Herrmanns eigner Scheidung gerechnet, enthält aber
grade die ältere sog. Guckkastenpartie die Jahrmarktsleute, die
jüngere, auf der Jahrmarktsform aufbauende aber so etwas, wie
Kaiser, Papst und Klerisei.
Ich kann also nur annehmen, daß Goethe von Anfang an eine
dramatische Jahrmarktsdichtung geplant habe. Was für Herrmann
zweite Phase der Entstehung des Stückes ist, ‘die Conception eines
Jahrmarktsdramas, das stellt sich in meinen Augen als Urconception
der ganzen Dichtung dar. Sehe ich indes von jener Hypothese ab,
1) Ganz unverständlich bleibt mir Herrmanns Bemerkung (S. 15). »Da (in
dem Briefe an Engelbach) also haben wir die gesuchten Worte, so lange klingt
das Guckkastenmotiv schon im Dichter, bis nach Straßburg zurück haben wir
den ersten Keim des späteren »Jahrmarktsfestes« zurückzuverlegen«e. Aber Goethe
hat doch schon weit früher Raritätenkasten und Leben verglichen!
Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 988
so kann ich fast allem Folgenden bestens zustimmen. Sobald wir, im
zweiten Abschnitt des ersten Capitels, »Jahrmarkt und Messe<
(S. 45—59), das Gebiet jener Hypothese Herrmanns verlassen, stehen
wir sofort auf sicherem Boden, die Gelehrsamkeit des Verf.s kann
sich ruhig entfalten. Vielleicht sucht Herrmann allzu ängstlich nach
dem Jahrmarkt, der unserer Dichtung zugrunde liegt, um ihn zu-
letzt (S. 49) in Darmstadt und für den 30. November 1772 festzu-
legen. Waren nicht vielmehr die verwerteten Jahrmarktstypen dem
Dichter von Kindesbeinen an geläufig? Um so vorsichtiger und
kritischer stellt er sich gegen die Verwertung der Briefstelle an
Kestner vom 14. April 1773 (W. A. IV 2 8.79): Wir haben einen
Teufels Reiter hier, und Comödien und Schatten und Puppenspiel, das
könnt ihr Lotte sagen; hätt’ ich ihr all gewiesen wenn sie kommen
wäre, nun aber — wärs auch gut — Schattenspiel Puppenspiel. Mit
Recht weist Herrmann die »an äußere Uebereinstimmung sich hal-
tende Biographenphilologie< ab, die in diesen Worten, vielleicht
einer Reminiscenz an Wetzlarer Jahrmarktsfreuden, die Quelle zu
Deutungen fände, wie: Plundersweilern ist Wetzlar, der Amtmann
ist Vater Buff u.s.w. Ebenso vorsichtig wird die Identität des
Wagenschmeermanns und des Gießener Schmid abgelehnt, trotzdem
jener sich ankündigt: Ya! ya! Ich und mein Esel sind auch da,
während von diesem Goethe an Kestner schreibt (W. A. IV 2 S.51):
Als ein wahrer Esel frißt er die Disteln ... und schreit dann sein
Critisches I! a! ob er nicht etwa dem Herrn in seiner Laube bedeuten
möchte: ich binn auch da. An dieser Stelle bekennt der Verf. sich ent-
schieden gegen die Parallelstellenphilologie und betont, daß mehr oder
minder wörtliche Uebereinstimmung zweier Stellen in verschiedenen
Goetheschen Werken noch lange nicht ihre gleichzeitige Entstehung
beweist, daß wir vielmehr zunächst einmal über eine systematische
Behandlung dieses Gesamtproblems verfügen müssen, ehe wir in
Einzelfällen urteilen. Die obencitierte Parallele möchte allerdings auch
er zu chronologischen Zwecken henutzen, ebenso die Anspielung des
>Jahrmarktsfestes< (V. 336 ff.) auf den — wie Herrmann meint —
angekündigten, aber noch nicht veröffentlichten »Teutschen Merkur«.
Kühner scheint es mir, wenn Herrmann die Uebertragung des Be-
grifis eines Jahrmarkts aufs litterarische Gebiet im Kreise Goethes
und Mercks chronologisch, und zwar auf den Herbst 1772 festlegen
und auch auf diesem Wege ein Mittel der Datierung gewinnen
will, während er gleichzeitig sehr vorsichtig die mit verwandter
Terminologie arbeitende Recension der Frankfurter Gelehrten An-
zeigen vom 20. October 1772 (DLD 7/8 S. 556 f.), die Scherer für
Goethe beansprucht hatte, mit triftigen Gründen Goethe abspricht,
984 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
Im dritten Abschnitt des ersten Capitels, »der Einfluß des Hans
Sachs« (S. 60—110), konnte Herrmann sein bestes Können zeigen. Ich
sehe von seiner (auf jener mir unglaubhaften Zweiteilung des Stückes
ruhenden) Vermutung ab, daß die »zarten, kurz andeutenden Stellen
der eigentliche Kern des Spielse dem December 1772 und Januar
1773, »die deutlich hanssachsmäßigen Scenen< dem Februar und
März angehören (S. 63).
Herrmann scheidet innerhalb der eigentlichen Jahrmarktsdar-
stellung »Zentrumscenen< und »Peripheriescenen<, die stetig ab-
wechseln und vergleicht diese Technik dem »zweiten Revuetypus< des
Hans Sachs, der sich nicht mehr (wie die ältesten Fastnachtsspiele
Nürnbergs) mit bloßer Aneinanderreihung unverbundener Monologe
begniigt. Er constatiert einen Einfluß von Hans Sachsens »Schönbart-
spruch« vom 27. Januar 1548 auf den Untertitel (»Schönbartspiel«)
des >Jahrmarktsfestes<, auf das Streben, einzelnen Erscheinungen
der Revue einen verborgenen Sinn zu leihen, endlich auf die
dreihebigen Verse des Stückes; ferner, daß Goethes Hans Sachs-
studien in Darmstadt beginnen, und daß er dort die spätere Nürn-
berger Folioausgabe und den Kemptner Quartdruck von 1612 ff. be-
nutzt hat. Dagegen machen Herrmanns Untersuchungen wahrschein-
lich, daß Goethe zu dem eingelegten Estherdrama nicht durch die
Bearbeitungen des Nürnbergers gekommen ist, sondern wohl durch
ein auf die englischen Comödianten zurückzuführendes Stück, das
Goethe vielleicht einmal auf einem Jahrmarkt spielen sah. Hans
Sachs hat wohl nur zur Ausgestaltung beigetragen, vor allem in der
Scenenführung, wenigstens des ersten Actes; dann in der Costüm-
losigkeit, mit der Goethes Mardochai von Herrenhut und Herren-
hag redet.
Von Hans Sachs ab führt auch die Untersuchung des Goethe-
schen Knittelverses (S. 86 fl... Ohne auf das Detail der statisti-
schen Studie einzugehen — ich verweise auf Köster, der diesen
metrischen Beobachtungen nicht zustimmen kann (vgl. DLZ. 1901
Sp. 283) — bemerke ich nur, daß Herrmann aus metrischen Gründen
zu der Annahme kommt, Gryphius sei mit der Einlage seines »Peter
Squentz< formal und stofflich Goethes Vorbild. Da wäre einerseits
Minors Behauptung, der moderne Knittelvers sei gar nicht auf Hans
Sachs, sondern auf Gryphius zurückzuführen, glänzend bestätigt
(S. 97), andrerseits festgestellt, wie Goethe zu dem Drama im Drama
kommt. Ueber diese Rahmenform hätte ich gern Ausführlicheres ver-
nommen. Nahe lag es ja sicherlich, einem Jahrmarktstücke ein zwei-
tes Drama einzufügen. Denn dramatische Aufführungen gehören zu
den stehenden Nummern der Jahrmarktbelustigung. Unter den äl-
Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 985
teren Jahrmarktdramen, die Herrmann später anführt, findet sich
etwa (S. 117f.) ein Stück von Ferdinand Felix Ellensonn, das —
wenn anders ich den Titel richtig interpretiere — eine »Comoedie
in der Comoedie< enthält. Immerhin hat Goethe hier sein erstes
Drama im Drama geliefert. Und auch ohne den Nachweis, daß
Gryphius mit seinem »Peter Squentz«< eingewirkt hat, müßte da
an den »Sommernachtstraum< erinnert werden. Die Shakespeare-
sche Art, Stücke ins Stück zu versetzen, das Schauspielwesen auf
die Bühne zu bringen, hat bekanntlich der Romantik besondere
Freude gemacht. Und so begreifen wir die große Vorliebe der Ro-
mantiker für Goethes »Jahrmarktsfest«, das sie freilich fast aus-
schließlich in seiner späteren Form nur kannten. Oben konnte schon
ein Wort Tiecks citiert werden, das seine Vorliebe für das Stück
bezeugt; Haym (»Die romantische Schule« S. 97) vergißt nicht, den
Einfluß zu bemerken, den das »Jahrmarktsfest« auf den jungen
Dichter geübt hat. Anderes sei später erwähnt. Herrmann hat
dieser Nachwirkung des Stückes sein Augenmerk nicht geschenkt ;
er erwähnt nur einmal beiläufig Chamisso (S. 170), dessen »For-
tunat« an einer Stelle von der späteren Gestalt des Stückes ab-
hängig ist. Ich habe (Euphorion IV 144) gezeigt, wie dieses Ab-
hängigkeitsverhältnis durch die romantische »Sprachlehre<« von
Tiecks Schwager Bernhardi (1803) bedingt ist, der seinerseits nicht
versäumt, ein Wort zur Empfehlung des »Jahrmarktsfestes< zu
sagen.
Den metrischen Vergleich fortsetzend (S. 99) möchte Herrmann
erhärten, daß auch, was das Verhältnis der metrischen Accente
innerhalb des Verses zu den prosaischen Satzaccenten der gleichen
Wortgruppe betrifft, Goethe in Manchem Gryphius näher stehe als
Hans Sachs, während die Verwertung des Enjambements das umge-
kehrte Verhältnis zeigt.
Auf sprachstilistischem Gebiet (S. 164) erinnert an Hans Sach-
sens Brauch die Unterdrückung des Personalpronomens ; im Einzel-
nen weist sich da allerdings ein anderes Bild. Obendrein hat Goethe
sie schon längst geübt. Mit Recht sucht Herrmann die Quelle des
Goetheschen Brauches nicht in der Juristensprache. Allein auch
Luther, die Schriftsteller des 16. Jahrhunderts überhaupt und das
Volkslied scheinen mir nicht die eigentlichen Muster. Vielmehr
dürfte schon der Frankfurter Dialekt und das Streben des Stür-
mers und Drängers, seine Sprache dialektisch zu färben, hier am
stärksten gewirkt haben. Auch Köster hat (a.a.0.) auf das Sach-
senhäuser Deutsch hingewiesen. Wiegerne läßt ferner Frau Aja das
Personalpronomen fallen. Diese Eigenheit des »böotischen Dialekts«
986 Gott. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
haben Lichtenberg und Nicolai in ihren Parodien des Goetheschen
Stiles nicht vergessen (vgl. Erich Schmidt, Richardson, Rousseau
und Goethe S. 276 ff.).
Juristendeutsch hingegen und wiederum nicht Hans Sachsisches
erblickt Herrmann in der Vorliebe für Verba auf -ieren (S. 109).
Ich meine, die Frage ist zu compliciert, um sie so rasch zu beant-
worten. Sicher gehört die Vorliebe für diese Verba zu den charak-
teristischen Eigenheiten von Goethes Stil, auch auf seiner Höhe.
Schon 1808 hat Fr. Schlegel in der großen Recension der ersten vier
Bände von Goethes Werken (Heidelbergische Jahrbücher S. 145 ff.
= Kürschners Deutsche National-Litteratur CXXXXII 369 ff.; insbe-
sondere S. 402 ff.) unter den Fremdworten der »Lehrjahre< eine
Menge solcher Verben festgestellt. Und doch dürften sie im »Jahr-
marktsfest< und im »Meister<« kaum auf eine Quelle zurückgehen ;
jedenfalls ist dort eber an Hans Sachs zu denken, als hier. Sie ge-
hören auch nicht zu den Programmpunkten der Sturm- und Drang-
sprache, wie etwa die Auslassung des Personalpronomens. Lenzens
Aufsatz »Ueber die Bearbeitung der deutschen Sprache im Elsaß,
Breisgau und den benachbarten Gegenden« (in Tiecks Ausgabe II
321) möchte sie allmählich durch nationale Wörter ersetzt wissen ;
ja er fragt, sicher ohne an Hans Sachs zu denken : »Sollten unsere
alten Schriftsteller... für ähnliche Umstände keinen Namen gehabt
haben ?<
Im Einzelnen habe ich zu diesem Abschnitte noch zu bemerken:
S. 62 citiert Herrmann die Briefstelle an Kestner vom 11. Fe-
bruar 1773: Ehstertage schick ich euch wieder ein ganz abenteuerlich
novum. (W. A. IV 2, S. 64). Er weiß sie auf etwas anderes als
das >Jahrmarktsfest< nicht zu deuten. Scherer (QF. XXXIV 15)
hat die Stelle auf das »Concerto dramatico< bezogen; andere —
so weit ich mich erinnere — auf den Götz.
S. 79 wirft Herrmann die Frage auf, ob das eingelegte Esther-
spiel als Puppenkomödie gedacht war, um sie in längerer Erörte-
rung zu verneinen. Sein Hauptargument ist — soviel ich sehe —,
daß der Gesamttitel des »Neueröfneten moralisch-politischen Puppen-
spiels« nicht stichhaltig sei: »Sollte man sich thatsächlich das ganze
Jahrmarktsfest als eine Vorstellung auf dem Puppentheater vor-
stellen, dann würde damit der besondere Marionettencharakter des
Estherspiels so gut wie ausgeschlossen sein — denn Puppenspiel im
Puppenspiel wäre ein Ding der Unmöglichkeit, würde von nieman-
dem mehr richtig: eben als Puppenspiel begriffen werden; der eine
Spaß würde den andern aufheben<. Ich sehe nicht ein, warum nicht
Rahmen- und Estherspiel beide mit Marionetten gespielt werden
Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 987
könnten; das wäre dann eine Uebertragung von menschlichen Schau-
spielern auf Puppen, hier wie dort. S. 99 holt sich Herrmann einen
weiteren Beweis aus »Peter Squentz<, der natürlich nichts mit Ma-
rionetten zu thun hat. Thatsächlich wurde einerseits das Stück in
seiner späteren Gestalt zu Ettersburg durchaus von Menschen dar-
gestellt, während andrerseits der Gesamttitel des »Neuerdfneten ...
Puppenspiels< die Möglichkeit zuläßt, Rahmen- und Estherspiel von
Puppen spielen zu lassen. Freilich dürften dann die Puppen des
Rahmenspiels nicht zu glauben scheinen, daß sie ein Puppenspiel
vor sich hätten. Das Ganze wäre in die Puppenwelt versetzt.
Der vierte Abschnitt des ersten Kapitels »Theater und bildende
Kunst« (S. 111—144) bringt endlich die litterarischen Voraussetzungen
der Form des Jahrmarktspieles. Da ich nicht glaube, daß Goethes
Conception von einer Guckkastendichtung zu einem Drama sich ent-
wickelt habe, vielmehr annehme, daß sich auch hier dem jungen
Dichter gleich Alles ins Dramatische verwandelte, sähe ich gerne
diese Dinge an etwas früherer Stelle des Buches behandelt. Doch
freuen wir uns lieber der Fülle des Gebotenen! Weiterbauend auf
einem von Minor zuerst betretenen Boden (ADA. XIII 174 f.; vgl.
Herrmann S. 113 Note 1) bringt der Verf. für die Zeit von 1618
bis 1798 nicht weniger als 32 Jahrmarktdramen zustande, italieni-
sche, Jesuitenstücke, französische, deutsche (insbesondere aus Ham-
burg und Wien); freilich kann er nicht für alle auch den Druck
nachweisen, so nicht für einen »Jahrmarkt von Rumpelsdorf<, der
etwa 1769 gespielt worden sein dürfte (S. 113 f. 119. 132), und der
vielleicht manches Licht auf Goethes Dichtung werfen könnte.
Es liegt mir fern, hier Nachträge bieten zu wollen. Hinweisen
will ich aber auf ein »Ballet pantomime«, betitelt »Die Tyrolische
Kirchweihe«, das Kurz-Bernardon am 31. Juli 1766 zu Nürnberg
aufgeführt hat (vgl. Ferdinand Raab, Johann Joseph Felix von Kurz
genannt Bernardon. Frankfurt a. M. 1899 S. 156). Es mag wohl
unserem Stoffkreise angehören. Ferner macht mich A. Baragiola
auf das beliebte Stück von Alberto Nota (1775—1847), »La fiera«,
aufmerksam. Es wurde von Karl Blum deutsch bearbeitet als »Der
Ball von Ellerbrunn< (1835; vgl. Goedeke 3, 936 N. 51); Blums
Lustspiel, das sich auf dem Titel ausdrücklich auf Notas Dichtung
bezieht, zeigt allerdings nur mehr äußerst wenig Jahrmarktselemente.
Es ist in Reclams Universalbibliothek (N. 601) allgemein zugänglich.
Herrmann gibt in knappster Form eine Analyse und Charakteri-
stik der Jahrmarktstücke und deutet an, was Goethe von ihnen, die
ihm wenigstens in ihrer typischen Form geläufig waren, gelernt ha-
ben kann. In gleichem Sinne verweilt er bei den bildlichen Dar-
/
988 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 12.
stellungen von Jahrmarktscenen (Hogarth, Chodowiecki u. s. w.), end-
lich bei der Bilderlitteratur der sogenannten »Ausrufe<; auch hier
finden sich Typen, die bei Goethe wiederkehren (Bauer mit Besen,
Milchmädchen).
An dieser Stelle sei riihmend hervorgehoben, wie sehr einzelne
von Herrmanns Ausführungen durch die zehn, dem 18. Jahrhundert
entstammenden Abbildungen an Klarheit gewinnen. Raritätenkasten-
mann und Schattenspieler, noch mehr der Bauer mit den Besen oder
die Savoyarden werden uns durch die graphische Darstellung weit
lebendiger, als durch irgendwelche lange Beschreibung. Deisch, Gabler,
Drouais und, wie die Zeichner alle heißen, sie haben einem besse-
ren Verständnis der Dichtung wesentlich vorgearbeitet.
Für das zweite Kapitel des Buches, »Bühnengeschichte«, be-
gnüge ich mich mit Andeutungen. Der erste Abschnitt behandelt
»Goethes Bearbeitung« (S. 165—200); zunächst die Aufführungen,
die 1778f. zu Ettersburg stattfanden. Eine bequem benutzbare
Grundlage zu einem Vergleich der verschiedenen Goetheschen Fas-
sungen bietet Herrmann im »Anhang< (S. 237—266), wo er die
1774 gedruckte Fassung und im Apparat die Abweichungen der
Handschriften von 1778 wiedergiebt. »Der junge Goethe< hatte nur
die Form von 1774 abgedruckt, die Weimarische Ausgabe indes
war von der Ausgabe letzter Hand ausgegangen; ihr Apparat —
sagt Herrmann — mit allen seinen Varianten ermöglicht weder
eine Reconstruction der ältesten gedruckten Form, noch der Hand-
schriften von 1778. Herrmann benutzt von diesen Handschriften im
Wesentlichen nur eine (Mi), zieht die beiden anderen Hs und H;,
die er (vgl. S. 177) auf eine verlorene Handschrift *Hg.s zurück-
führen möchte, nur gelegentlich heran. Den Nachdrucken der ersten
Fassung entnimmt Herrmann nur 19 Abweichungen, von denen 13
mit Hı stimmen; vielleicht hat man also der Weimarer Aufführung
ein Nachdruckexemplar zugrunde gelegt. Die Textgeschichte nach
1778 ist nicht berücksichtigt.
Rasch mustert Herrmann (S. 168 ff.) die Aenderungen von 1778:
Die etwa 50 Verse, um die das Eingangsgespräch von Doktor und
Marktschreyer vermehrt wird; Herrmann findet Anklänge an Dide-
rots naturalistische Bühnenlehre und Anspielungen auf das Gothai-
sche Hoftheater. Die Streichung der Anspielungen auf den Land-
katechismus und auf die Flachsland. Die Umwandlung des Esther-
dramas. Die Satire auf Leuchsenringsche Empfindsamkeit entfällt,
wohl um nicht nach >Lila« und nach dem »Triumph der Empfind-
samkeit< ein drittes Mal das gleiche Thema im selben Jahre zu
Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 989
bringen. Für zeitgeschichtlich - persönliche tritt rein litterarische
Satire ein, Parodie der regelmäßigen Alexandrinertragödie, als ob
solche Dramatik typisch für das Repertoir der niedersten Komö-
diantenbanden wäre, wie Herrmann einwendet. Er sieht übrigens
in dem neuen Estherfragment nur eine Parodie der klassizistischen
Tragödie überhaupt, nicht eine Parodie von Racines Esther. Un-
bewußt stimmt er da mit einem beachtenswerten Zeugen überein.
Schon Wilhelm Schlegel sagt (Sämmtliche Werke X 93): »Die Ge-
schichte der stolzen Vasthi hat wohl nie jemandem im Ernste tra-
gisch geschienen, außer herrschsüchtigen Frauen oder geplagten
Männern, weil die wohlmeinende Absicht des Ahasverus wenig Er-
folg für sie gehabt zu haben scheint. Aber die That der Esther ist
wirklich einmal als Trauerspiel bearbeitet, um einen andächtigen und
ausschweifenden Hof zur Abwechselung auch von der Bühne herab
zu erbauen. Die Piété pries Ludwig den Vierzehnten in einem präch-
tigen Prolog dazu, und damit die Demoiselles de Saint-Cyr Ge-
legenheit hätten ihre Geschicklichkeit in geistlichen Liedern anzu-
bringen, und Madame de Maintenon zugleich unter dem Bilde der
Esther geschildert werden könnte, mußte diese, der doch Alles auf
die Geheimhaltung ihrer Geburt ankam, eine ganze Schar junger
Jüdinnen im Königlichen Pallast in der Religion ihrer Väter er-
ziehen. Konnte die tragische Muse trotz all ihrer Würde sich ent-
halten zu lächeln, wenn ihr Racine dergleichen Dinge zumuthete ?
In der That, mancher Zug seines Trauerspiels würde mit geringer
Veränderung oder Verstärkung in der Esther, woraus auf dem Jahr-
markt zu Plundersweilern einige Scenen vorgestellt werden, einen
ganz schicklichen Platz finden. Wer kennt nicht diese unvergleich-
liche Posse? Wer muß nicht jedesmal über die herzbrechenden Ge-
spräche zwischen dem Kaiser Ahasverus und seinem Minister Haman,
zwischen Esther und ihrem Hofjuden Mardochai, von Neuem lachen ?«
Wie Herrmann vermißt auch Schlegel augenscheinlich die Verwer.
tung von »ein paar besonders zum Spott einladenden Scenen Ra-
cines<. Auch in den Wiener Vorlesungen wird Racines Name von
Schlegel gelegentlich des »Jahrmarktsfestes« nicht genannt; sie reden
nur von »Goethes meisterlicher Parodie des französischen Trauer-
spiels< (a.a.O. VI 415).
Mit Recht lehnt Herrmann auch ab, daß beim Ahasverus der
neuen Fassung an Friedrich den Großen zu denken sei. Im Ganzen
stellt er einen theatralischen Fortschritt fest; der geheime Sinn der
Dichtung sei indes bedenklich angetastet.
Weiterforschend kann Herrmann den Beweis erbringen, daß das
»Jahrmarktsfest«e in der neuen Bearbeitung >fdrmlich eine Oper<
$90 «Gat. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
geworden ist (S. 183), vielleicht im Wettbewerb mit Gotters komi-
scher Oper >Der Jahrmarkt«, die seit 1776 auf dem Gothaer Re-
pertoir stand. Er möchte sogar (S. 184) an einer Stelle Einfluß
Gotters auf die Bearbeitung von 1778 annehmen. Herangezögen
wird jetzt (S. 186) die von der Herzogin Anna Amalia herrührende
Composition des >Jahrmarktsfestes< (eine Probe: S. 268 ff.), und sie
leitet unsern glücklichen Entdecker zu dem auf dem Titelblatte sei-
nes Buches angekiindigten ungedruckten Versen Goethes; es sind
sieben weitere Strophen des Bänkelsängerliedes, freilich recht schwer
deutbare (S. 191f.; vgl. S. 195).
Von der weiteren Nachgeschichte der Dichtung erwähnt Herr-
mann im Wesentlichen nur die Aufnahme in die »Gesammelten
Schriften< (1789), verweilt einen Augenblick bei dem »Neuesten von
Plundersweilern< und endlich ausführlicher bei J. D. Falks »Jahr-
markt zu Plundersweilern« (1800). Gelegentlich der letzten Dich-
tung bemerkt Herrmann: »Der Umstand, daß ein großer Theil der
humoristischen Wirkung auf die Benutzung der Goetheschen Worte
gestellt ist, beweist, daß man damals beim Publikum auf eine Ver-
trautheit mit dem Wortlaut des Jahrmarktsfestes rechnen durfte,
die uns heute ganz abhanden gekommen ist<. Ich glaube oben
ınehrfach belegt zu haben, wie geläufig der Romantik das Stück
war, aus dem sie gelegentlich auch citiert. Und da wir wieder bei
der Romantik angelangt sind, sei noch eine Bemerkung gestattet.
Die von mir angeführten Worte W. Schlegels über Racines Esther
und das »Jahrmarktsfest«< stehen in der Recension von F. W. Got-
ters >Schauspielen« (Leipzig 1795) und beziehen sich auf dessen
»Vasthi, ein Lustspiel in einem Akte« und »Esther, ein Schauspiel in
sechs Akten<; Schlegel meint Goethes Estherfragment (natürlich
die zweite Fassung) habe >»unstreitig unseren Dichter zu einer sol-
chen Bearbeitung dieses Gegenstandes in einem ausgeführten Schau-
spiele Veranlassung gegeben<. Er verfolgt die Verwandtschaft der
Dichtungen Goethes und Gotters, nicht ohne einschränkend hinzu-
zufügen: »Die komischen Farben sind in jenem Bruchstücke einer
Haupt- und Staatsaktion weit stärker aufgetragen, als in der vor-
liegenden Tragikomödiec. Immerhin verdient Gotter eine Stelle in
der Nachgeschichte unseres Stückes.
Der zweite Abschnitt des zweiten Kapitels mustert die »Moder-
nen Aufführungen« (S. 201—231). Nicht weniger als zehn Bear-
beitungen kann Herrmann fiir die Jahre 1866 bis 1899 nachweisen.
Seine vergleichenden Studien lehren, daß fast alle diese Gestaltungen
mehr oder minder von der Redaktion Emil Pohls abhängen, die
1867 in Berlin (Wallnertheater) aufgeführt und ebenda gedruckt
Herrmann, Jahrmarktsfest in Plundersweilern. 991
worden ist. So Bulthaupts Arbeit (S. 216; vgl. S. 221), so die von
Franz Wallner (S. 219); ja selbst die Berliner Studentenaufführung
von 1899 konnte sich dem bindenden Muster Pohls nicht entziehen,
wenn sie auch von der zähen Bühnenüberlieferung sich zu emanci-
pieren suchte. Diese jüngste Bühnengeschichte des Stückes wirft
manch interessantes Licht auf deutsche Regiekunst und- Unkunst.
Merkwürdig, wie da der »Dramaturg der Klassiker<, Bulthaupt, des-
sen Wesen Herrmann fein und scharf umschreibt, ganz und gar zum
Werkzeug des Theaters wird, der Goetheschen Urform am fernsten
rückt und mit auffallendem Atavismus ganz in das Fahrwasser der
vorgoetheschen Jahrmarktsdramen einlenkt. Solchen Versuchen gegen-
über, die Goethes Werk im Ausstattungstrubel ersticken, möchte
Herrmann »bei einer künftigen Goethefeier wagen, die halb scherz-
haften, halb ernsthaften Geheimnisse der Goetheschen Seele vor
einem Parkett von Königen der Litteraturgeschichte im modernsten
Maeterlinkstile schemenhaft vorüberziehen zu lassen< (S. 231). —
Zum Schlusse darf ich wohl versichern, daß ich trotz einigen
Einwänden Herrmanns Buch für eine treflliche Bereicherung der
Goethelitteratur halte. Es hat zur Erklärung und Deutung des
Stückes, wie zu seiner Geschichte so umfängliches Thatsachenmaterial
zusammengetragen, daß es unseres besten Dankes wert bleibt.
Bern, 28. 9. 1901. Oskar Walzel.
Studia Sinaitica No. IX/X. Select narratives of holy women from the
Syro-Antiochene or Sinai Palimpsest as written above the old Syriac Gospels
by John the Stylite, of Beth-Mari Qauün in a. D. 778. Edited by
Agnes Smith Lewis M.R.A.S. (I) Syriac text. (II) Translation. London
1900. Sh. 21 und Sh. 7. 6 d.
Der im J. 1892 von Mrs. Lewis im Sinaikloster entdeckte und
zwei Jahre später von ihr publicierte syrische Evangeliencodex ist
bekanntlich ein Palimpsest, dessen oberer, aus der zweiten Hälfte des
8. Jahrhunderts stammende, Text eine Collection von 14 Legenden
heiliger Frauen repräsentiert‘). Diese werden nun in den beiden
vorliegenden Heften der »Stud. Sin.< fast vollständig in Text und
Uebersetzung mitgeteilt, nämlich die Legenden der Eugenia, Maria,
Euphrosyne, Onesima, Drusis, Barbara, Maria, Irene, Euphemia,
1) Vgl. darüber schon die Einleitung zur Ausgabe (»The Four Gospels in
Syriace etc., 1894) p. VI, und dazu Wellhausen in den Nachr. d. K. G. d.
Wissensch. zu Göttingen (1895, p. 1 ff.). Auch Lewis’ Catalog der Hss. des Ka-
tharineuklosters (Stud. Sin. I) p. 43 ff.
992 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
Sophia; außerdem die Legende von Cyprian und Justa, Fragmente
aus Ephraems Hymnen über das Paradies, und das Susanna-Apo-
kryphon. Nur bei den vier übrigen Legenden der Theodosia, Theo-
dota, Pelagia und Thekla hat sich die Herausgeberin auf die Mit-
teilung der Varianten zu den bereits vorhandenen Texten Assemanis,
Gildemeisters und Wrights beschränkt. Die »Apologie des Glau-
bens« wird übergangen, da sie schon in »The Four Gospels« (p. VIII ff.)
publiciert worden ist; dafür teilt F. C. Burkitt in zwei Anhängen
noch einige Stücke des untern, ursprünglichen Textes mit: ein
Fragment des griechischen Johannesevangeliums und Fragmente der
syrischen Thomasakten.
Mrs. Lewis’ Fleiß und augenscheinliche Genauigkeit ist auch in
dieser Ausgabe unverkennbar, jedoch sind es zwei Umstände, die
deren Wert einigermaßen in Frage stellen. Daß ungefähr die
Hälfte der Legenden, darunter gerade die umfänglichen, bereits
von Bedjan in seinen Acta martyrum et sanct. publiciert ist, erfuhr
Mrs. L. erst während der Drucklegung ihres Buches, ließ sich aber
dadurch nicht stören, da sie die Herausgabe der sinaitischen Texte
einmal versprochen, und da Bedjan >evidently« die Hss. des Brit.
Mus. zu Grunde gelegt habe, die ja zum größten Teil jünger seien
als die sinaitische. Ein Blick in Bedjan würde indes gezeigt haben,
daß jene Hss. vielmehr z. Th. älter, und vor Allem sehr oft weit
besser sind als die ihrige, und die Herausgeberin hätte bald die
Notwendigkeit eingesehn, Bedjans Ausgabe, so unkritisch sie ist,
genau zu berücksichtigen und eventuell auf die Originale, soweit sie
im Brit. Mus. sind, zuriickzugehn. Das wäre ihrer Arbeit sehr zu
Gute gekommen ') und würde dem Benutzer die Vergleichung zweier
unzulänglicher Ausgaben erspart haben, die durch den im Ganzen
doch recht öden Inhalt der meisten Legenden nicht erleichtert wird.
Mußte aber einmal der vorhandene Apparat ignoriert werden, so
hätte dem Sinaiticus doch mit den nötigen Sprachkenntnissen an
mancher verdorbenen Stelle nachgeholfen werden können, und hiemit
kommen wir auf den andern Punkt, in dem die Ausgabe nicht be-
friedigt. Da Mrs. L. nicht Philologin ist, können wir es nicht ta-
deln, daß sie von allerlei sprachlichen Eigentümlichkeiten der Hs.
keine Notiz nimmt, und drücken auch bei manchem bedenklichen
»sic< gern ein Auge zu; aber die ungenügende Vertrautheit mit der
1) Die Fälle, wo Sin. das Richtige hat, sind nicht selten, so z.B. p. 5, 13
x) „20 (Bedj. 8/50); 13,5 p ‚ausıyo (Bedj. ‚aun.oyyo); aber viel häufiger ist
das Umgekehrte (wie z.B. 24,4 v. u. Md: l. mit Bedj. DS). Pag. 88, 15 ist
der Text unvollständig und wird durch Bedjan 5, 414, 10—18 ergänzt. Auf die
Einzelheiten einzugehn, ist hier nicht der Ort.
Studia Sinaitica No.°IX/X. 998
der Grammatik, die sich auf Schritt und Tritt äußert, überrascht nicht
wenig '). Man merkt, daß es der verdienten Dame diesmal an dem Bei-
stand eines gelehrten Semitisten gefehlt hat. Uebrigens hätte eine
kritische Ausgabe natürlich auch der vorhandenen griechischen Texte
nicht entraten können. Da solche bereits von Andern namhaft gemacht
worden sind ?) und über den Inhalt der (z. Ih. eng verwandten) Le-
genden Ryssel in der »Theol. Ltz.« referieren wird (s. »Dtsche Ltz.<
1901, col. 774), so beschränke ich mich hier auf einige Einzelbemer-
kungen. Zur syrischen Barbaralegende stimmt viel besser als die
Bearbeitung des Symeon Metaphr. (Migne, P. Gr. 116, 301 ff.), die von
Wirth, Danae (1892) p. 105 ff. edierte Recension; trotz der oft geriig-
ten Mängel ist sie zur Verbesserung der syrischen Uebersetzung von
Nutzen (z.B. in den geographischen Namen). Uebrigens sind unser
syrischer Text und der Bedjans zwei selbständige Uebersetzungen
des Originals, die sich u. A. dadurch unterscheiden, daß der Sin.
gern echt aramäisches Sprachgut verwendet, wo der andere griechi-
sche Wörter verwendet oder aus der Vorlage übernimmt?) —
Der griechische Text von Irene ist ebenfalls von Wirth, a.a.O.
p. 116 ff., publiciert *). — Wrights Ausgabe der Thekla-Akten er-
1) Einige Belege. Defective Schreibweisen wie ‚g2-, ‚0,2 »zeugten, nannten
miche (p. 222, 1 etc.) sind ihr unbekannt und werden an den Rand verwiesen.
Desgleichen die ältere Orthographie ams »sie (f.) gingen hinause, QS »gingen
hineine u.8.w. (89, 16; 90,9 und oft). Nicht einmal die in dieser Hs. über-
wiegend häufige Zusammenschreibung der enklitischen Formen der Personal-
pronomina der 1. und 2, p. mit dem Participium besteht vor ihr und wird durch-
weg durch die andere Schreibung ersetzt (p. 142. 150. 180 u.s.w.). Das KW. 21a
>du kannst« p. 51,5 ist ihr so unerträglich, daß sie daraus trotz des nun ent-
stehenden Unsinns Awa) macht. U.s.w. Demnach wundert man sich nicht
mehr, wenn das doch ziemlich häufige Qe) in OJ geändert wird (&ydv), und
noch viel weniger, wenn die Form „NS statt des gewöhnlicheren „ASS als Fehler
- betrachtet wird; Payne Smith verzeichnet sie eben nicht, und was Lagarde,
G. Hoffmann u. A. darüber mitgeteilt, scheint der Herausgeberin unbekannt ge-
blieben zu sein.
2) Von Riedel im »Theol. Literaturblatte 1901, col. 249 f. (und vgl. meine
Nachweise in den GGA. 1895, p. 665). Dort, wie bei Ryssel in der »Dtsch. Ltz.<
a.a.Q., findet sich auch das Genauere über die Parallelen bei Bedjan nach Band
und Seite.
8) ‘“Hisobwodig gibt Sin. durch Jana du, wieder, bei Bedj. gAasa; fa-
daveioy in Sin. Km AS (p. 102,8 etc.), Bedj. „AD.
4) Allerlei Versehen, die eigentlich auch ohne weitere Hilfsmittel hätten ver-
mieden werden können, wäre durch Benützung dieses griechischen Textes sicher
vorgebeugt worden. gLo) (Eidains, Var. Ed@disog) und gpa} (Anuüs) figu-
rieren in der Uebersetzung, die ich übrigens nur ganz selten eingesehen habe,
als >Eutelese und »Amose, Ampelianos als »Appellianus<. Ferner ja.jao (Kv-
Gott gel. Ans, 1001. Mz, 18. 66
994 Gött. gel. Ans. 1901. Mr. 12.
fährt, wenn man den textkritischen Apparat berücksichtigt, durd
den Sin. (Appendix II) nur selten eine Verbesserung (z. B. p. 297
wo für “ans (Wright) “asaao} bzw. „anıaao}); eine kleine Lücke
159,2 Wr. wird durch Sin. 300, 5 v.u. ergänzt. Für Jsas;| Wr.
159, 12 hat Sin. 301,6 Je; ; also ist jenes, wie übrigens von vor
herein zu vermuten war, Diminutiv davon: »die Blättchen«. — Aw
den im Ganzen sehr unerheblichen Varianten zu Pelagia ed. Gike-
meister sei das richtige $.) (p. 308, 11) erwähnt : >» Halsbänder, pe-
vyıdarac, nicht »Giirtel< (les). — Vollends nichtssagend sind die
»Varianten« zu Theodosia und Theodota; und auch die zu de
Thomas-Akten. Schade, daß auch hier wieder der gnostische Hymns
fehlt; er muß durch irgend einen glücklichen Zufall in jene andere
Hs. gekommen sein, ohne ursprünglich dahin zu gehören. — Ungen
vermißt man bei den stark verstiimmelten Fragmenten der Ephraem-
schen Madrasche den Hinweis auf die römische Ausgabe III 578—
581. — Auf die Legende von der Hure Theodota folgt in der Hs.
die Susanna geschichte. Diese war zwar der syrischen Kirche
schon früh bekannt (Ephraem spielt einmal auf sie an), wurde aber
nicht in den Kanon recipiert; dafür scheint sie sich einer ähnliches
Wertschätzung erfreut zu haben wie jene christlichen Frauenlegenden,
in deren Umgebung sie sich auch sonst wol in Hss. findet'). Mrs.
Lewis hat, als sich die Varianten zum Waltonschen Text allzusehr
häuften, mit Recht vorgezogen, den Text vollständig zu drucken
(App. I), aber ohne eine Uebersetzung beizufügen. Es ist eine
selbständige Uebersetzung des Theodotion, doch hat sich der Ueber-
Betzer stellenweise an andere syrische Versionen gehalten, wie die
wörtlichen Uebereinstimmungen mit der von Lagarde edierten zeigen
(vgl. besonders v. 42fl.). Ob und in welchem Umfange die zabl-
reichen größeren und kleineren Abweichungen von Theodotion einer-,
und von den andern syrischen Versionen andererseits auf Ueber-
lieferung beruhen, oder aber als Freiheiten unseres Uebersetzers zu
betrachten sind, ist nicht genauer zu bestimmen, ehe einmal das
hs. Material zu dem Apokryphon vollständig gesammelt ist”). Al
Ansatz einer Paraphrase sind die Worte in V. 21 »und die ihrer
grcexs}) als »Curicac. — fj Jans p. 126,2 soll heißen >I shall suffer« (1) lies
)) aa0 (nlsıcheica). — Pag. 128, 10 ist mit dem Griechen zu lesen GoWsaxn
ovyxnacBedoos; die Conjectur good) Aad) ist zudem sinnlos.
1) So in Brit. Mus. Add. 14652.
2) Für die syrische Ueberlieferung ist schon die junge, aber gute nestoris
nische Berliner Hs. No. 73, die Bäthgen in ZATW 8, p. 198 ff. beschrieben und
Bezold für die »Schatzhöhle«e benutzt hat, von Belang. Sie steht im Ganzen in
der Mitte zwischen Lagardes Text und Walton’, hat aber auch mancher
'Eigentümliches.
wu
Studia Binaitica No. IX/X. 908
Vernunft Beraubten kannten nicht das Wort Gottes: <Ich lasse den
Unschuldigen in seiner Unschuld bestehn und den Schuldigen in
seiner Schuld>« (vgl. Ez. 18,20) zu verstehn, und vielleicht auch
der Wortlaut in V. 10: »sondern wie die Thiere des Feldes waren
sie brünstig und schauten beide nach ihr aus<. Daß der Name von
Susannas Vater Lass geschrieben wird, ist nicht befremdlich. Mit
Rücksicht darauf, daß in betreff der griechischen Ursprache neuestens
wieder etwas reserviertere Stimmen verlauten (vgl. schon Lagarde,
Mitth. 4, 362), mag bemerkt werden, daß die Wiedergabe der Paronoma-
sieen in V. 54 ff., 58 f. durch unsern Uebersetzer für die Sache selbst
irrelevant ist. Auffällig ist das sonst dem Syrischen ganz fremde Wort
Janas xiayıd Piga (V. 18), talm. tate (OSB) die einzige derartige
Erscheinung in diesem Apokryphon, wogegen sich eine größere Anzahl
von Formen und namentlich Orthographieen, die im Edessenischen nicht
oder nur ganz vereinzelt vorkommen und ins Jüdisch- und Christlich-
Aramäische hineinspielen, sich in den verschiedensten Partieen der
Handschrift finden'.. So Jwas »Fallstrick«e (85) = syr. us
(are); al (219, 1) Gr (auch christl.-pal.) = wif. Das Impf.
‚nos weist nur das edessenische Praefix auf, im Uebrigen ist es
unedessenisch. Von Orthographicis: „ao »zusammenziehen< (76, 6) =
TOP as, aber syr. mao; „all! (sic) (96, 12) für mm]; Li;
(= Los;ass) 108, 14, adpoof (99,6) für agi, -uheol (104, 17)
für ft; obaion »mit ihren Fingern« (103, 9) u. dgl.m. Ferner
starke Anwendung der Vocalbuchstaben, wie in uu. >opfere«
(Imp.) 105,15; oof »führe sie hinein« 86 ult; „oluu} >setzt
mich ab« (6,19); „Las >du machst« (292), und umgekehrt defec-
tive Schreibweise wie as3} (215,3; 217,11) = ansi{ »waren auf-
geregt<. Alles dies, sowie ;aaxMoi} »vierzehn« (152,3; 163, 9 f.),
Sumlo = o3Lv0 ‚ihr Blick< (212, 5) u. Ae. zeigt, daß dem Schrei-
ber die edessenische Schulorthographie nicht ganz vertraut war.
Gern braucht er endlich auch.Formen wie 630} »fessle sie!« (86, 10),
&oas) >sie umarmt sie« (23,5 v.u.), die ja auch in alten edesse-
nischen Hss. vorkommen, wogegen solche wie &wuaas »schlägt sie<
(die Stelle kann ich im Augenblick nicht wiederfinden) hier als
Schreibfehler zu betrachten wären. Lexikalisch ist die Ausbeute
ziemlich gering. Neben wspAmeanr (8. Brockelmann) kommt auch
seme vor (5,5. 6,19f. 7,4. 15,14f. 16,3. Bedjan überall
); über ßear&pviov vgl. Useners Pelagia p. 54. (kYo0a
bekanntlich Einmal im Midr. Tanchüma). — eas. >Mantel« (83, 1.
91,8) ist wol identisch mit !;sa= Jud. 8,27; Bedjan hat dafür das
1) Aebnliches weist auch schon die untere Schrift des Palimpsestes auf, vgl.
Wellhausen a.a. 0.
996 Gött. gel. Anz. 1901. Nr. 12.
gewöhnliche ass. — Von den beiden Formen *mpmsx und xmems
»Hammer« war bisher im Syrischen nur die erste belegt; hier findet
sich 107,16 {Aayjp20. — Nozass »zusammengerollt« (v. der Schlange)
128, 8; vgl. {xoxo »Ring« bei den Lexicogr.!) — weyojo;8 xedodog
178,2, vgl. GGA. 1895, p. 689.
1) Auch im Journ. Asiat. IX, tom. 7 (1896), p. 108,3 v.u. ist Maul) in
DNS,DL) zu ändern.
Göttingen, 17. Juni 1901. Friedrich Schulthess.
Budge, W., The earliest known coptic Psalter. London, Kegan Paul,
Trench, Trübner & C°, 1898. XIV u. 154 S. Preis 15 Sh.
Die jüngst erschienene mustergültige Publication der Berliner
Handschrift des sahidischen Psalters von Alfred Rahlfs!) gemahnt
mich, eine schon längst übernommene Anzeige der Ausgabe des sa-
hidischen Psalters von Budge, dem Keeper der ägyptischen und as-
syrischen Abteilung des British Museum, zum Abdruck bringen zu
lassen.
Der englischen Ausgabe liegt eine Papyrushandschrift zu Grunde,
die zu Anfang des Jahres 1897 von dem Herausgeber in Aegypten
für das British Museum erworben wurde. Nach den leider unvoll-
ständigen Mitteilungen über den genauen Fundort wurde der Papyrus
in den Ruinen eines koptischen Klosters in Ober-Aegypten und zwar
innerhalb einer Steinkiste , sorgfältig verpackt in grobe Leinewand,
zusammen mit einer andern wichtigen Handschrift, die 10 vollstän-
dige Homilien verschiedener Verfasser enthält, von Fellahen gefunden.
Daraus erklärt sich auch die wundervolle Erhaltung der Papyrus-
handschrift, denn noch niemals habe ich eine so tadellos erhaltene
Handschrift gesehen wie diese, so daß man dem Herausgeber für die
Erwerbung dieses wertvollen Schatzes nur Glück wünschen kann.
Genau in demselben Zustande, wie einst das Ganze der Erde über-
geben wurde, ist es uns aufbehalten; noch umschloß der alte Ein-
band in Leder das Ms. Das Ms. selbst umfaßt 156 Blätter in der
Größe von 11°/« zu 8'/¢ engl. Zoll, die Blätter sind paginiert und
stichisch auf einer Columne zu 31—32 Zeilen beschrieben. Schon in
alter Zeit war der Papyrus am Anfang wie am Ende beschädigt, so
daß die ersten 11 Blätter und zwei Schlußblätter ersetzt werden
mußten; andere Blätter wurden restauriert, wie die beiden der Aus-
1) Abhandlungen der Königl. Gesellschaft d. Wissenschaften z. Göttingen,
philol.-hist. Klasse, N. F. Bd. IV, Nr. 4.
Badge, The earliest known coptic Psalter. 997
gabe beigegebenen Faksimiles deutlich veranschaulichen. Das Ori-
ginal datiert der Herausgeber auf Anfang des VII. oder Ende des
VI. Jahrh.
Nach der Praefatio ging die Absicht des Herausgebers dahin,
to reproduce correctly the text of this venerable codex as far as
possible, alle kritischen Untersuchungen dagegen iiber das Verhilt-
nis des koptischen zum griechischen Text wollte er den Theologen
tiberlassen. Kann man diese Beschrankung nur lobenswert finden,
so muß man auf der andern Seite mit lebhaftem Bedauern consta-
tieren, daß die Publication, was Correctheit des Abdruckes anbe-
trifft, nicht einmal den bescheidensten Ansprüchen genügt; deshalb
hat Rahlfs nicht zu viel gesagt, wenn er über diese Publication das
Urteil fällt, daß sie »mit anerkennenswerter Schnelligkeit, aber oft
unerlaubt mangelhaftem Verständnis« geschehen sei. Der Heraus-
geber hat sich sogar davon dispensiert geglaubt, die Septuaginta bei
manchen Stellen einzusehen, er hat vielmehr die englische Uebersetzung
des Alten Testamentes zu Rate gezogen, wie Rahlfs S. 28 Anm. 1
bei der Zählung von Psalm 147 treffend nachgewiesen hat. Sonst
würde der Herausgeber auch das »sic« bei dem doppelten Noyoesuy sırar
Ps. 33, 1 vermieden haben, da hier keine Dittographie vorliegt.
Schlimm steht es insbesondere mit der Worttrennung, die der
Herausgeber nach dem Vorgange von Peyron, Lagarde und Ciasca
vorgenommen haben will. Denn die Confusion ist sehr häufig eine
so große, daß der Text in sinnloser Weise entstellt ist und dem
Anfänger im Koptischen Schwierigkeiten bereitet. Z. B. trennt der
Herausgeber regelmäßig falsch den Plural von zazseszrzeey, näm-
lich Ps. 91,9 menarxe eycenararo, Ps. 105, 42 a neyzıze eyoAıhe,
Ps. 109, 1 iinensıze eypan. Ferner Ps. 149, 7 noyrbap Ritpeenoc
st. fioyrka off figeenoc; in der Ueberschrift von Ps. 151 eqsanfoa
Te mewrepeqauge st. eqgsankoA fivane Mrepeqasme; Ps. 151, 7
aig iiveqane st. alqit vegane; Ps. 127,4 esc pennTreg nazıcaoy st.
esc ponnTe quazıcaoy; Ps. 118, 63 YHne oyon st. Yan eoyon;
Ps. 95,7 anıoy eooy st. ans oyeooy; Ps. 93,8 ficodsd Sanevitony
st. fico? ds netiont.
Unzweifelhaft liegen hier wie in den zahllosen andern Fallen
einfache Druckfehler vor, denn die auf Schritt und Tritt im ganzen -
Texte vorkommenden Incorrectheiten lassen sich nur auf einen be-
denklichen Mangel an Akribie zurückführen. Eine Vergleichung mit
dem Original war mir freilich nicht möglich, m.E. gar nicht nötig,
denn man kann auch so mit Sicherheit constatieren, daß das ganze
Ms. von einer peinlich sorgfältigen Hand geschrieben ist, die sich in
jeder Hinsicht vorteilhaft von dem Schreiber der Berliner Hand-
998 Gott. gel. Ans. 1901. Nr. 12.
schrift unterscheidet. Deshalb stellte der Abdruck an den Heraus-
geber als einzige Aufgabe nur diese, sich einer gleichen Correctheit
zu befleiZigen. In einigen Fällen hat Budge sogar versucht, den
Text zu corrigieren, aber ist stets in die Irre gegangen. In Ps. 9, 27
bietet das Ms. mai epe seygranpo seep, der Herausgeber liest nai
e[ex]pe Teqzanpo auep. e[er]pe st. ef re]pe ist natürlich ein Druck-
fehler, aber diese Verbesserung des Textes war unnötig, da auch
die Berliner Hs. an dieser Stelle ganz correct epe bietet. In Ps. 43, 21
giebt Budge “ple]nr, indem er dabei vergessen zu haben scheint,
daß der Buchstabe & für ne steht, so daß die Hinzufügung des ¢
sinnlos ist. |
Zur Illustration der ganzen Arbeitsweise mögen folgende Bei-
spiele genügen:
Ps. 2,8 B. arrı Sisody atnan, 1. arıı Gimof Tat nam,
Ps. 3,2 B. ge, 1. ze.
Ps. 4,3 B. pi npawg, |. ott nrpaum.
Ps. 4,8 B. ze, |. ae.
Ps. 7,11 B. fizegopsn, 1. Aregopen.
Ps. 7,12 B. agcur%, 1, agcewaT.
Ps. 7,16 B. negpıc, 1. megsce.
Ps. 8,4 B. xnanay, 1. Yuanay.
Ps. 8,5 B. npume, |. npuwarxe.
Ps. 8,7 B. ama, |. anna.
Ps. 9,11 B. nneqofinge, |. tineqoinye.
Ps. 9,16 B. neghsry, 1. nepAnye.
Ps. 9,22 B. epey, l. epooy.
Ps. 9,23 B. üregpyen, |. nregpyiKH.
Ps. 9,31 B. aqn¥ eneqgpo, |. aqnre neqgo.
Ps. 9, 32 B. iionan, |. filigree.
Ps. 14,4 B. Sioogq, ]. aiarog.
Ps. 15,2 B. fiaarason, ]. fitaarason,
Ps. 16,4 B. ra raps, 1. saranpo.
Ps. 16,5 B. fireyrım, ]. fineyrıa.
Ps. 17,14 B. agreney, 1. agqriiney.
In derselben Weise ist der Text in der Mitte wie am Ende
durch Druckfehler verunziert. Ich will noch folgende Stellen an-
führen, um den vollgültigen Beweis zu liefern:
Ps. 119, 2 B. gencoroy, 1. gencno Toy.
Ps. 121,3 B. epexe euneroxn, |. epe TecneTogcH.
Ps. 124,4 B. neranoyg, |. nernanoyg.
Ps. 125,1 B. Zimeqaooc, |. auneqAacc.
Ps. 127,1 B. expgoorve, 1. erpgoze.
Quellenbuch zur Schweizergeschichte. 990
Ps. 127, 2 B. finengsce, ]. ttrenosce.
Ps. 128, 5 B. sun, 1. sas.
Ps. 128,6 B. mati, 1. mas.
Ps. 131,6 B. anoitirg, |. ancitrg,
Ps. 131,9 B. foyasrasocyna, |. Hopasmasocyna.
Ps. 131,12 B. nenagarooc, |. cenagarooc,
Ps. 131, 14 atoyauc, |. aioyauye etc. etc.
Angesichts dieser Publication kann ich an den Herausgeber nur
den Wunsch richten, daß er bei der Veröffentlichung der zweiten
von ihm erworbenen Handschrift, die zum teil unbekannte Homilien
enthält und zugleich an das Verständnis des koptischen Textes viel
größere Anforderungen stellt, mit besonderer Akribie zu Werke
gehen möge, denn der correcte Abdruck koptischer Texte ist für
das Studium der Sprache dringend notwendig.
Berlin, 25. October 1901. Carl Schmidt.
Quellenbuch zur Schweizergeschichte, für Haus und Schule bearbeitet von
Dr. Wilhelm Oechsli. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Zürich,
Schultheß u. Co., 1901. Vil u. 675 S. 8°.
Das »Quellenbuch« war 1886 ein erstes Mal erschienen, 1893
ein Ergänzungsband, »mit besonderer Berücksichtigung der Kultur-
geschichte«, als »neue Folge« hinzugefügt worden. Das Vorwort zu
dieser zweiten Auflage durfte mit Recht betonen, wie sehr die Noth-
wendigkeit der neuen Auflage beweise, >daß das Buch eine wirkliche
Lücke in der schweizergeschichtlichen Litteratur ausfüllt und daß die
Anlage des Ganzen zweckentsprechend iste. Zwar hatte 1885 die
Vorrede zur ersten Auflage hervorgehoben, das Werk erhebe nicht
den Anspruch darauf, wissenschaftlichen Zwecken zu dienen, und es
verdanke seine Entstehung lediglich pädagogischen Motiven — der
Verfasser war damals noch Lehrer der Geschichte am Winterthurer
Gymnasium —, es wolle ein Hülfsmittel für den historischen Unter-
richt und ein belehrendes und anregendes Haus- und Volksbuch sein.
Allein die Zusammenstellung und die Auswahl ist eine so geschickte,
und es ist soviel weiter abliegendes, nicht leicht erreichbares Mate-
rial herangezogen, daß auch in den Kreisen der Fachwissenschaft
diese Sammlung beachtet zu werden verdient.
Diese zweite Auflage unterscheidet sich von der ersten darin,
daß der Band jetzt mit dem Jahre 1815 schließt, während in der
ersten Ausgabe die neue Bundesverfassung von 1874 das letzte Stück
gewesen war. Dagegen ist das Verzeichnis, das jetzt 233 Nummern
— einige mit zahlreichen Unterabtheilungen (z.B, Nr. 24 Aus dem
1000 Gott. gel, Anz. 1901. Nr. 12,
Habsburgischen Urbarbuch, Nr. 113 Ausländische Urteile über die
Schweizer des 15. und 16. Jahrhunderts, Nr. 161 Der Bauernkrieg
von 1653) — in sich schließt, um 93 Stücke, in Haupttiteln und
Unterabtheilungen, bereichert worden.
Die Anordnung ist die gleiche, wie in der ersten Auflage, streag
chronologisch, mit Uebertragung fremdsprachlicher Stücke in das
Deutsche, auch — nach gemachten Erfahrungen bei der praktische
pädagogischen Verwendung, nicht ohne Widerstreben — der älteren
deutschen Stücke in moderne Form. Die verschiedenartigsten Ms-
terialien, Abschnitte aus Geschichtschreibern — die » Vorgeschiehtec
beginnt mit Herodots Schilderung der den schweizerischen Pfabl-
bauten analogen Anlagen im See Prasias und mit der Vorführung
der Gaesaten zum Jahre 225 a. Chr. durch Polybios —, historische
Lieder, Urkundliches, Verträge, dann besonders die Freiheits- ud
Bundesbriefe, Gesetze, Proclamationen, Briefe und Reden, noch maa-
ches Weitere, sind zusammengestellt.
Die Bereicherungen der neuen Auflage vertheilen sich ziemlich
gleichmäßig über die vier Abschnitte — Vorgeschichte (bis auf das
11. Jahrhundert), Bildung der Eidgenossenschaft, Zeit der Glaubeas-
trennung, die Zeit seit 1798 — und sind wieder, gleich dem Grundstock,
sehr gut ausgewählt. Einige dieser Beifügungen erscheinen hier über-
haupt zum ersten Male. So ist Nr. 152, der Vorschlag des Cardinals
Borromeo von 1570 für die Absendung eines Nuntius nach der Schwe
und für die Gründung eines Collegiums der Gesellschaft Jesu =
Luzern, aus einer noch nicht erschienenen Publication übersetst;
Nr. 159, die Beschlüsse über die Abschließung der regimentsfähiges
Burgerschaft in Bern, Mitte des 17. Jahrhunderts, Nr. 162, der Be
richt des Pfarrers Bislig über den Sieg der Katholischen bei Vi
mergen 1656, sind überhaupt zum ersten Male gedruckt; Nr. 2%
und 226, Proclamationen von Ende 1813, gab der Herausgeber am
Flugblättern wieder. U.s. f.
Durch die erhebliche Erweiterung ist jener schon erwähnte Ab
schluß für das Jahr 1815 geboten gewesen. Herausgeber und Ver
leger würden sich ein Verdienst erwerben, wenn sie diesem Bands
eine ähnlich zusammengesetzte, vielleicht etwas weniger umfangreiche
Fortsetzung über das jetzt abgeschlossene Jahrhundert folgen lasm
wollten; besonders für dessen zweite Hälfte fehlt eine solche &
sammenfassung.
Zürich, 16. October 1901. G. Meyer von Knonau.
(Schluß des Jahrgangs 1901.)
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel in Géttiogtt
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
163. Jahrgang. 1901.
Nr. X. | December.
Inhalt.
Kunze, Glaubensregel, Heilige Schrift und Taufbekenntnis. (Schluß.)
Von O. Scheel. 2 ea ren 913-948
Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Von H. Holtz-
7 77) FE 948—960
Pindari carmina rec. Otto Schroeder. Von A. Korte. . . . . 960—972
Herrmann, Jabrmarktsfest zu Plundersweilern. Von O. Walzel. . 972—991
Studia Sinaitica No. IX/X. Von Fr. Schulthess. . . .... 891—996
Budge, The earliest known koptic Psalter. Von C. Schmidt... . . 996989
Quellenbuch zur Schweizergeschichte Von @. Meyer
von Knonau, . 2 2 0 ren 999—1000
Register.
Berlin 1901.
Weidmannsche Buchhandlung.
SW. ZimmerstraBe 94.
Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gött. gel. Anz. ist verboten.
Als selbstverständlich wird betrachtet, daß Jemand, der eine
Arbeit in den Gött. gel. Anzeigen recensiert, die gleiche Arbeit nicht
noch an andrem Orte recensiert, auch nicht in kürzrer Form.
Für die Redaction verantwortlich: Prof. Dr. Georg Wentzel.
Recensionsexemplare, die für die Gött. gel. Anz. bestimmt sind,
wolle man entweder an Prof. Dr. Georg Wentzel, Göttingen, Friedländer
Weg 17 oder an die Weidmannsche Buchhandlung, Berlin SW.
Zimmerstr. 94 senden.
Der Jahrgang erscheint in 12 Heften von je 5—5!/s Bogen
und kostet 24 Mark. |
Verlag der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin S.W. 12.
Soeben erschien:
GRIECHISCHES LESEBUCH
VON
ULRICH von WILAMOWITZ - MOELLENDORFF.
I. Text. | Il. Erläuterungen.
Erster Halbband. Erster Halbband.
gr.8. (XD u. 1808.) Geb. M. 2.60. er. § (IV u 126 8.) Geb. M. 2.—.
Zweiter Halbband. Zweiter HWalbband.
gr.8. (1Vu.8.181- -402.) Geb. M. 2.80. gr.8. (IVu.8.127— 270.) Geb. M.2.—.
Die Verlagshandlung hat die Freude, das auf Veranlassung des Kgl.
Preufs. Kultusministeriums von U. von Wilamowitz-Moellendorff bearbeitete
Griechische Lesebuch hiermit der Öffentlichkeit übergeben zu können. Das
überall mit Spannung erwartete Werk ist durch jede Buchhandlung zu beziehen.
VORREDE.
Dieses Buch ist bestimmt in die Hände der Schüler zu kommen, so-
bald sie von der Sprache so viel gelernt haben, dafs sie ein Buch um des-
willen lesen können, was darin steht. Es ist vorausgesetzt. dals Homer, die
Tragödie, das neue Testament und etwas Grofses und Ganzes von Platon im
Laufe der vier verfügbaren Jahre gelesen wird: auch von Herodot ist nichts
aufgenommen, weil die Vorzüge dieses grolsen Erzählers nur zur Geltung
Vorrede.
kommen, wenn man viel und rasch liest. Im übrigen will es besseren end
reicheren Lesestoff liefern als bisher den Schülern geboten ward, und es liefert
ihn in solcher Fülle, dafs die Sachkunde und auch die Neigung des einzensı
Lehrers auswählen kann, was ihr für die Klassenlektüre geeignet scheint. Ay:
der Unterricht in ziemlich allen andern Schulfächern wird hier Handhaben zur
Anknüpfung finden. Schliefslich aber ist nicht das Schlechteste das, was man für
sich und durch sich lernt, und so wird gehofft, dafs die freie Lust des Schite:.
und eines jeden. der die elementaren Sprachkenntnisse besitzt, sich suchar
möge was ihm behagt, und die Erläuterungen wollen ihm liefern, was er in
der Grammatik und den landläufigen Schulwörterbüchern nicht finden kann.
Natürlich wird jeder Kenner der griechischen Litteratur dies und das ver-
missen; nur erkläre er nicht anderes deshalb für entbehrlich, weil es ihn nicht
interessiert. Denn der Rahmen ist darum so weit gespannt, weil die griechische
Litteratur so weit reicht, und ihre Weite zu zeigen, darauf kam es eben an.
Unsere Schüler lernen Griechisch nicht wie sie Französisch und Engiix’
lernen. oder wie die Römerknaben Griechisch lernten, die das Schulgespr:!.
S. 400, bei der Arbeit zeigt. Sie lernen es nicht, um es zu sprechen cder :
schreiben. Die Sprache lebt ja freilich im Munde ihres Volkes noch hai
(und die Erläuterungen haben einzeln moderne Wörter und Sitten herangezezn
aber es geht nicht an, von ihrem gegenwärtigen Stande rückwärts zu schreit.
während wer dies Lesebuch versteht, ohne Mühe ein neugriechisches wisse-
schaftliches Buch oder eine Zeitung lesen wird. Wir lernen aber auch ri.l:
Griechisch, um durch Grammatik und Stilistik unsern Geist zu formen. Gi:
würde sich das Griechische auch dazu schicken; der Besitz dieser Spra-te
fördert die allgemeine grammatische Einsicht mehr als der irgend einer aul:ra
(sind doch unsere grammatischen begriffe und Termini an ihr und fur sie er-
funden, IX 3+; aber dem Zwecke der formalen Schulung dient hergebrach:::-
und berechtigtermalsen das Latein. Wir lernen also griechisch ausschlieixxi.
um griechische Bücher zu lesen. Und zwar darf man sich darüber tic:
täuschen, dafs zur Zeit die meisten Griechisch nur auf der Schule less
Vielleicht ändert sich das, wenn es gelingt, dals das Gymnasium jedem or.ieat
lichen Schüler das mitgiebt, was jeder Römerknabe und jedes Römermädche:
von einiger Bildung erreichte, die Fähigkeit das Durchschnittsgriechisch z
verstehen. Jedenfalls aber soll das, was sie lesen, allen die auf Erfahruz:
begründete Überzeugung mitgeben, dafs Griechisch mehr ist als eine Sprach:
in der etliche Heroen in einem fernen, schönen Weltenfrühling mit unerre:i
barem Wohllaute gesungen und geredet haben. Unter diesem Lichte wird da
alte Hellas selbst zu einem Märchenlande, die Burg Athens kaum minder a
die Insel der Phäaken, und die griechische Geschichte wird zu einem Herve:
tum, die Perserkriege nicht minder als der Kampf um Dios. Aber das i
ein künstliches. falsches Licht, und unsere Knaben haben ein Anrecht auf d
Wahrheit. Die mufs am Ende doch auch immer köstlicher sein als jed
Vorrede.
schöne Wahn, denn den Wahn machen sich die Menschen, die Wahrheit aber
ist Gottes.
Blicken wir dagegen nur über die wenigen in diesem Bande vereinigten
Stücke: aus jedem der Jahrhunderte vom sechsten vor Christus bis zum vierten
nach Christus ist etwas darin. Sehen wir uns die Herkunft der Verfasser an:
da ist Strabon aus dem fernen Pontos, Epiktet aus dem inneren Phrygien,
Poseidonios aus Syrien, Maximus aus Phönikien, Heron aus Ägypten, Diodoros
aus einer Sikelerstadt, Marcus aus Rom: und alle diese Männer aus allen
diesen Jahrhunderten schreiben im wesentlichen dieselbe Sprache, selbst der
dorische Dialekt liegt bei Archimedes nur als ein leichter Schleier darüber,
unter dem dieselbe Art zu denken und sich auszudrücken dem Leser sofort
vertraut entgegentritt. Und alle diese zeitlich und räumlich so weit von ein-
ander getrennten Leute reden innerhalb des gemeinsamen Griechisch individuell
verschieden, denn es ist ihnen allen so gut wie die Muttersprache, in der sie
denken. Ein Jahrtausend lang ist diese selbe Sprache die Trägerin jeder höheren
Bildung gewesen, ihr Besitz also die Vorbedingung für die Teilnahme an
dieser Bildung. und sind alle grofsen Gedanken, wenn nicht in ihr gedacht.
so doch in ihr ausgesprochen worden, damit sie wirken konnten. Schon im
dritten Jahrhundert v. Chr. haben der babylonische Oberpriester Berossos und
der ägyptische Schriftgelehrte Manethos die alte Geschichte ihrer Völker, denen
gegenüber die Hellenen Kinder waren, griechisch schreiben müssen, damit sie
nicht unterginge. Griechisch hat hundert Jahre später der alte Cato gelernt,
der erbitterte Griechenfeind, denn wo sollte er sonst das hernehmen, was er
seinen Sohn lehren wollte? Damals gehorchten die Griechen schon der römi-
schen Herrschaft, und doch hat sich nie daran etwas geändert. dals ihre
Herren bei ihnen in die Schule gingen, und die Sprache der wirklichen Wissen-
schaft ist immer ausschiliefslich griechisch geblieben. So hat denn auch das
Evangelium griechisch gepredigt und geschrieben werden müssen, damit es alle
Völker lehrte. und selbst Paulus, der Vharisier, hat das alte Testament in
der griechischen Übersetzung gelesen. Griechisch ist das Organ des Geistes
einer ganzen Weltperiode.
Dieses Organes müssen wir uns bemächtigen, wenn wir jene Periode
verstehen wollen. Es sagen ja freilich manche, zu diesem Verständnis bedürfte
man der Sprache nicht; das sind aber immer solche, die sie eben nicht können.
Die Sprache ist ja nicht das Kleid des Gedankens, das man wechseln könnte.
sondern sein lebendiger Leib. Das Vorurteil der Trägheit wird schon der
Sekundaner los sein, wenn er die Witze des Äsop versteht und doppelt be-
acht, weil er sie nicht übersetzen kann. Ernsthaft klar wird es dem Primaner
werden. sobald er die spielende Leichtigkeit schätzen kann, mit der diese
Sprache ohne Fremdwörter jedem wissenschaftlichen Gegenstände gewachsen
ist, und wenn er begriffen hat, wie tief der philosophische Gedanke in der
Sprache wurzelt, ganz abgesehen davon. dafs der Schmelz der ionischen An-
%
Vorrede.
mut des Hippokrates und die Zauberkraft des Demosthenes und Thukydides
in viel höherem Grade unübersetzbar sind als jede Poesie. Die Poesie der
Hellenen hat während der ganzen Zeit, in der ihre Sprache die Welt be-
herrschte, nichts mehr von ewiger Bedeutung hervorgebracht, gerade weil sie
an den alten Formen klebte; und von der alten, die schon zu Alexanders Zeit
klassisch war, besitzt nichts zugleich diese Bedeutung und ist der Schule zu-
gänglich aufser Homer und der Tragödie — von welcher doch auch nur ein
oder das andere Stück einem annähernden Verständnis erschlossen werden
kann, In diesem Buche konnte also etwas Poetisches nur trotz seiner Form
um des geschichtlich bedeutenden Inhaltes willen Platz finden.
Griechisch müssen wir also lernen, wenn wir jene Weltperiode verstehen
wollen. Dafs ihr Verständnis aber erreicht werde, daran hängt die Be-
rechtigung der Jugendbildung, welche das Gymnasium verleihen will. Es giebt
andere Wege der Jugendbildung neben ihm, und fern sei es von uns, sie gering
zu schätzen; aber wenn das Ilauptgewicht auf die Beschäftigung mit den alten
Sprachen gelegt wird, so ist das nur gerechtfertigt, wenn dadurch die Fähig-
keit gewonnen wird, geschichtlich zu sehen und das Gegenwärtige aus seinem
Werden zu begreifen. Gewifs hat sich das Gymnasium im Anschlufs an die
Jugendbildung der römischen Kaiserzeit entwickelt, auf deren Kultur man seit
der Renaissance zurückgriff. Damals sollte die Bildung in der Einprägung
bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten bestehen, die begründet und zusammen-
gehalten wurden durch die formalen Künste der Grammatik und Rhetorik.
Aber diese ganze Bildung haben wir Modernen durch die Wissenschaft über-
wunden: wir haben in dem ewigen Streite, den Platon im Phaidros ausficht
(IX 1) uns auf seine Seite gestellt, ja wir sind über ihn hinweggeschritten,
eben weil wir geschichtlich zu sehen gelernt haben. Weil nun unser Anschauen
und Denken, unser Leben in Staat und Gesellschaft, unser Eigenstes in Kunst
und Wissenschaft und Religion mit dem Altertume durch tausend Fäden ver-
bunden ist, so können wir nicht verstehen, was wir sind noch was wir sollen,
ohne das Erbe des Altertums geschichtlich zu erfassen, und daher bilden
wir einen Teil unserer Jugend dadurch aus. dafs wir ihnen diese geschichtliche
Einsicht als eine lebendige Kraft übermitteln. Diese Vorrede wird es nicht
versuchen, die Zusammenhänge der Lesestücke mit unserer gegenwärtigen
Kultur aufzuzeigen. und auch die Erläuterungen haben das vermieden (nur
vereinzelt ist einmal auf etwas Goethisches hingedeutet): gerade das Beste
soll dem Lehrer nicht durch einen Fremden vorweggenommen werden. Aber
Auswahl und Anordnung ist allerdings von diesem Gesichtspunkte aus gemacht.
Daher ist die Anordnung rein stofflich. Es ist mehr ein Zufall, dals der erste
Abschnitt überwiegend ganz leichte Stücke enthält (was doch auch von Arrian
II 6. Platons Menon VII I und manchen Briefen gilt) und die Teilung in zwei
Halbbände ist nur geschehen, um die Mappen der Schüler nicht zu sehr zu
belasten: das Buch als solches ist eine unteilbare Einheit.
Vorrede.
Die Auswahl würde ganz anders ausgefallen sein, wenn sie angehende
Philologen in das Altertum einführen wollte. So ist z. B. nicht die Schilderung
einer griechischen Landschaft ausgehoben, sondern der deutsche Knabe, dem
Tacitus die Urzeit seiner eigenen Vorfahren zeigt, soll sehen, wie Frankreich
und England in die Weltgeschichte eintreten; und Strabons reichere Schilderung
der Weltstadt Alexandreia hat hinter Rom zurückstehen müssen. Die Kon-
struktion des Weltgebäudes, die bis auf Copernicus und Galilei geherrscht hat,
in ihrer grolsartigen Geschlossenheit würdigen zu können ist ein Hauptstück
geschichtlich-philosophischer Bildung, und dafs diese grofsen Männer nicht ohne
Hilfe hellenischer Ahnungen zu einer neuen Konstruktion gelangt sind, ist be-
sonders beherzigenswert: dem soll die schwungvolle Schilderung IV ] in Ver-
bindung mit der vornehmen Wissenschaftlichkeit des Archimedes, V 2, dienen.
Andererseits führt der auf der Physik beruhende Monotheismus von IV 1 hin-
über zu dem moralischen Monotheismus von VII 5, 6,8 und weiter zu der
Lehre und dem Glauben der alten Christen. Die Mathematik nimmt auf dem
Gymnasium eine so hohe Stelle ein und erscheint nicht nur den Knaben so
oft zu der Beschäftigung mit der Sprache und Geschichte im Gegensatze, dafs
es angezeigt war, ihre hellenische Wurzel aufzuzeigen (V 1) und zugleich ihre
unvergleichliche logische Bedeutung (VII 1). Wenn die wissenschaftlich be-
gründete Gesundheitspflege in unserm Leben immer weiter herrschend wird,
so hätte aus dem Reichtum der griechischen medizinischen Litteratur vielleicht
noch mehr ausgehoben werden sollen. Immerhin wird die Schrift von der
heiligen Krankheit (VI 1), beweisen, nicht nur, dafs die Griechen die Medizin
auf den festen Grund der empirischen Wissenschaft gestellt haben, sondern
auch wie sehr die Einsicht in die Gesetzmäfsigkeit der Natur einer reinen
Frömmigkeit zum Siege über den Aberglauben verhilft. Ein unleugbarer
Mangel ist es, dafs die Botanik des Theophrastos und die Zoologie des Ari-
stoteles nicht vertreten sind: das liefs sich zur Zeit nicht ändern. Vielleicht
kann auch getadelt werden, dafs die Logik und Rhetorik ganz unvertreten ist.
Wenn so der Stoff die Auswahl bestimmte, so konnte die künstlerische
Form nicht mafsgebend sein, am wenigsten die von einem ungesunden Purismus
geleiteten Urteile der antiken Rhetoren. Indessen sind gerade von Demosthenes
und Thukydides Stücke allerersten Rauges ausgehoben, und selbst der Philologe
kann an diesem Buche etwas weit wertvolleres übersehen als es eine Sammlung
stilistischer Muster ware, nämlich die Geschichte der Prosa. Das geht den
Schüler im ganzen nichts an (einzelne Hinweise werden auch ihm erwünscht
kommen), aber wohl wird auch er dafür empfänglich sein, wie anders und
doch immer meisterhaft Aristoteles redet, je nachdem er für das grolse
Publikum schreibt (II 1) oder seinen Zuhörern vorträgt (III 2. V1I 2). Die
hochpathetischen Perioden der Schrift eg: xoouov und die nicht immer ge-
sunden und erfreulichen rhetorischen Künsteleien bei Maximus und Clemens
heben sich für jeden fühlbar ab von der edlen Schlichtheit altionischer Rede
Vorrede.
bei Hippokrates und der gewollten Einfachheit der späteren wissenschaftlichen
Prosa, neben der wieder Polybios mit seiner Umständlichkeit steht, wo der
Gedanke in dem Bausche der Worte sich fast verbirgt, während die thukydi-
deische Erzählung für die Fülle der Gedanken mit den Worten kaum aus-
kommt. Und wiederum der gemessene Kanzleistil und die überwuchernden
Formeln des ungebildeten Briefes, und daneben die trotz aller Lässigkeit
packende Frische der mündlichen Katechese des Epiktet und die ungelenke
Treuherzigkeit der Apostellehre: wahrlich, auch das deutsche Lesebuch wird
schwerlich etwas Vergleichbares liefern. Der Schüler aber wird daraus keines-
weges nur die geschichtliche Billigkeit lernen, die alles versteht und verzeiht:
im Gegenteil, sein Urteil wird er sich befreien, indem er aus der Vergleichung
lernt, was echt und was geheuchelt ist, und nur das Echte wird vor seinem
Urteile bestehen. Erst so wird die griechische Lektüre, die ja in der edelsten
und echtesten Poesie, in Homer und Platon, ihre Hauptstücke hat, in Harmonie
mit den grofsen Werken unserer eigenen Litteratur dem Jüngling Verständnis,
und damit Achtung und Liebe für das Echte und Grofse mitgeben.
Der Jüngling, der aus der Schule in das Leben tritt, ist berufen ein
Bürger seines Staates, ein für das Gemeinwohl thätiges Glied der Gesellschaft
zu werden. Dazu wird ihn jede Schule erziehen, und die nationale Geschichte
wird sein patriotisches Empfinden vertiefen. Aber was ein Staat ist und sein
soll, das kann sie nicht zum Gegenstande ihrer Unterweisung machen. Hier
ist ihm nicht nur eine Beleuchtung des athenischen Staates von verschiedenen
Seiten (II 1. II 1. 2g) und die beste Würdigung des römischen Gemeinwesens
in seiner Blüte (III3) geboten, sondern auch die Hauptstücke der aristotelischen
Staatslehre. Da kann er das Wesen der Dinge und die ewig gleichen Grund-
bedingungen und Endziele der Gesellschaftsordnung unbeirrt durch die Fülle
des modernen Lebens und die Schlagworte der modernen Parteimeinungen
kennen lernen, und an denkwürdigen, leicht und voll übersehbaren Lösungs-
versuchen sein Urteil bilden und seine Gesinnung befestigen.
Und endlich das Wichtigste: höher als alles Wissen und Können unserer
Söhne, höher als dafs sie tüchtige Bürger unseres Vaterlandes werden, steht
uns doch, dals ihre Seelen für das Reich Gottes gewonnen werden. Giebt es
da überhaupt etwas Wirksameres als es zu machen wie Clemens, die griechische
Philosophie neben dem Evangelium und dem Apostel aufzurufen? Epiktet
und Marcus und Poseidonios und Aristoteles und Platon, sie weisen wohl ver-
schiedene Wege, aber das Ziel ist dasselbe: sie alle weisen zu Gott.
Das ist viel; aber dafs die Griechen so viel zu bieten haben, wird niemand
leugnen, der sie kennt. Schon die Probe, welche dieses Lesebuch giebt, mufs
so viel zeigen. dafs hier eine lebendige Kraft ist. die Gunst, das Charisma der
Muse. die Unvergängliches verheifst und gewährt,
den (rehalt in unserm Busen
und die Form in unserm Geist.
Nachwort.
Sollen unsere Söhne dieses Unvergänglichen teilhaftig werden oder nicht?
Entscheiden werden das am letzten Ende die Eltern; aber auch sie müssen
erst kennen, um zu entscheiden. Dafür haben diejenigen zu sorgen, die ihr
Leben dem Ilellenentume geweiht haben, einerlei ob sie es Studenten oder
Schülern erschliefsen. Ig Eintracht und in edlem Wetteifer sollen sie daran
arbeiten: dann wird es gelingen.
Das Nötigste freilich müfst ihr selbst dazu bringen, liebe Schüler: euren
redlichen Willen. Ihr seid deutsche Knaben und wollt deutsche Männer werden:
das bischen Arbeit wird euch doch nicht schrecken. Gesegnete Arbeit ist
das Köstlichste, was das Erdenleben gewährt; darum fordert Gott Arbeit von
uns, aber er segnet sie auch. Frei ist der Mensch, darum mufs er das Beste
für sich selber leisten,
AR" Or 07EVÖL tig utrog, yo Geog Fulliwera.
NACHWORT.
Dies Buch ist in folgender Weise zu stande gekommen. Die Grundlage
ist meine Denkschrift über den griechischen Unterricht, die nun als Anlage
der „Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichtes, Berlin 1900“ ver-
öffentlicht ist. Unmittelbar nach der Konferenz berief der Herr Kultusminister
eine Kommission in Sachen des Lesebuches, der als sein Vertreter Herr
Geheimrat Matthias vorsafs. Mitglieder waren aufser mir Geheimrat Diels,
Direktor C. Bardt, Dircktor Reinhardt (leider an der Teilnahme verhindert),
Oberlehrer Dr. Wendland und Oberlehrer Dr. E. Bruhn. Die Kommission
beschlofs, dafs ich das Buch als mein individuelles Werk machen und einen
besonderen Band Anmerkungen hinzufügen sollte, nahm aber an meiner Skizze
des Inhaltes sehr wesentliche Verbesserungen vor, und ihre Mitglieder haben
mich auch sonst mit Rat und That wesentlich gefördert, mehr als ich im
einzelnen anführen kann.
Da es mein Buch sein soll, so trage ich natürlich auch für das die
ganze Verantwortung. was ich freundlicher Beihilfe verdanke, habe auch die
Entscheidung schliefslich nach eigener Einsicht und eigenem Gewissen getroffen.
So ist es schon bei der Auswahl und Abgrenzung der Lesestücke nicht ganz
bei den Festsetzungen der Kommission geblieben. Von dem, was ich in meiner
vorläufigen Skizze des Inhaltes bezeichnet hatte, sind trotz ihrer Zustimmung
zwei Stücke fortgefallen. Ich habe kein Martyrium gefunden. das dem Zwecke
Nachwort.
wirklich genügte, den es hier erfüllen mülste, den Adel und das Heroentum
der christlichen Märtyrer zu zeigen; selbst Polykarp, den A. Harnack empfahl,
steht seinen Verfolgern nicht überlegen genug gegenüber, und der Bericht-
erstatter mischt bereits Unerfreuliches ein. Was inhaltlich geeignet war,
Perpetua und die Scillitaner, konnte doch nicht in der griechischen Uber-
setzung auftreten. Aus einem anderen Grunde habe ich Priscus bei der Aus-
arbeitung fallen lassen. Seine Sprache ist schliefslich zu unerfreulich, nicht
weil sie barbarisch wäre, sondern weil der Mann eine tote Sprache zu
schreiben versucht und das auch nicht ordentlich kann. Solche Stücke sind
wirklich in der Übersetzung ziemlich ebenso gut zu geniefsen, und diese liegt
in Freytags Bildern aus der Deutschen Vergangenheit auch den Schülern nahe.
Die Kommission batte mit Rücksicht auf den Unterricht im Deutschen
Auszüge aus der Poetik des Aristoteles gewünscht. Das hätte sich, wie
E. Bruhn bei dem Versuche ihrer Auslösung erkannte, nicht wohl anders
liefern lassen, als durch die Aufnahme eines grofsen Teiles der Schrift. Ich
traue mir nicht zu, sie so zu erklären, wie sie es verdient; und dafs was mir
zu schwer ist cine geeignete Lektüre für Primaner sein könnte, ist mir un-
wahrscheinlich, zumal diesen doch die Kenntnis der Dramen fehlen mufs, die
Aristoteles voraussetzt. Auch müfste der Kommentar ehrlicherweise zeigen,
dafs das Kunsturteil des Aristoteles uns weder binden noch befriedigen kann.
Endlich hat grade seine Poetik auf das Altertum keinen tiefen Einflufs geübt;
ibr Wert läfst sich mit dem der Rhetorik nicht vergleichen. Und wir wollen
nicht vergessen, dafs IIoraz seine wundervolle Ars geschrieben hat: die liefert
von antiker Poetik dem Schüler genug — wenn er sie zu lesen bekommt.
Andererseits habe ich über das von der Kommission Fixierte nicht nur
den Umfang der Ausschnitte zuweilen erweitert (z. B. im sechsten Buche des
Polybios und bei Epiktet), sondern auch freundlicher Mahnung folgend einige
Charaktere des Theophrast und die »chöne Ausführung des Aristoteles über
das Studium der Natur (VII 3) aufgenommen und diese auch festgehalten, als
die Stücke aus der Tiergeschichte, denen sie präludieren sollte, fortfallen
mufsten, weil der berufene Bearbeiter erkrankte, den ich zu ersetzen aulser
Stande war.
Die Auswahl aus Eukleides und dem Psammites des Archimedes zu
treffen hat Professor J. Heiberg in Kopenliagen die grofse Freundlichkeit ge-
habt und auch den Grundstock der Anmerkungen verfafst, die dann durch
E. Bruhn in Einklang mit dem übrigen Buche gebracht sind. so dafs mir hier
eigentlich nur die Entscheidung in wenigen zweifelhaften Fällen blieb. Die
Auswahl aus Heron verdanke ich JIerrn Oberlehrer F. Knauff, dem Verfasser
eines belehrenden Programmes über die Physik des Heron. In der Text-
gestaltung mufste der Philologe freilich doch der Überlieferung sich näher an-
schliefsen, als dem Physiker notwendig schien; dem entspricht es, dafs der
Kommentar im wesentlichen von mir herrührt. Eine besondere Schwierigkeit
Nachwort.
bot der Wegmesser, da er in der neuen Heronausgabe noch nicht vorliegt.
Da hat mir der künftige Herausgeber, mein Kollege Dr. H. Schöne, freund-
lichst seinen Text mitgeteilt und mich auch sonst beraten; bis zum Erscheinen
der Ausgabe, die alles Nähere bringen wird, kann man dies Instrument nur
hier in verständlichem Texte und zutreffendem Bilde finden. Auch einige
andere Abbildungen habe ich etwas anders zeichnen lassen, als sie in der
Ausgabe von W. Schmidt stehen; der Weihwasserautomat ist freilich auch hier
in der Form des Gefälses unbefriedigend. Die zu der viel, aber falsch
behandelten Stelle S. 261, 5 angeführten Münzen hat mir Dr. v. Fritze gezeigt.
Fine ganz neue Textgestalt zeigt auch die Schrift zea: xuouor, wenn auch
eine provisorische. Sie wird P. Wendland verdankt, der hoffentlich eine
kritische Ausgabe der auch textkritisch durch die Nebenüberlieferung in
der lateinischen und armenischen Übersetzung merkwürdigen Schrift machen
wird, wo sich denn das wenige abheben mag, das ich selbst zum Texte bei-
gesteuert habe. Der Kommentar und die Vorbemerkung ist zum überwiegenden
Teile von mir. Ganz dagegen gehört Wendland die Bearbeitung der Apostel-
lehre an, fast ganz die des Briefes an Diognetos, und auch zu Epiktet hat er
manches beigesteuert. Die Abschnitte II 7, 8, 9 hat, nachdem ich den Text
konstituiert hatte, C. Bardt erläutert und auch die Vorbemerkung zu Tiberius
Gracchus im wesentlichen geschrieben. Ich habe die gröfsere Gelehrsamkeit
und wissenschaftlichere Haltung seiner Erläuterungen nicht verwischen mögen,
aber allerdings einiges gekürzt, da ich namentlich im Polybios die sprachliche
Erklärung erweitern oder doch meiner Weise angleichen mufste. So kann
nur das Sachliche im ganzen auf Bardts Rechnung gehn.
Der Text ist natürlich überall auf Grund der erreichbaren Überlieferung
zunächst philologisch konstituiert. Dabei ergab sich, wie zu erwarten, oft die
Unzulänglichkeit des bisher erschlossenen Materiales. Für Lukian hat Eduard
Schwartz die bereits gesichtete Überlieferung zur Verfügung gestellt (der u. a.
der Titel «2,07 diyruara statt des üblichen «Aydeis iozopiaı entstammt);
derselbe machte für Plutarchs Caesar, dessen Handschriften sehr sparsam sind,
auf den Parisinus 1678 aufmerksam, der älter als das Corpus der Vitae ist,
von dem er das eine Paar, Alexander und Caesar, enthält. Eine Vergleichung
der ausgehobenen Partie, die Herr Dr. Lietzmann aus Bonn anzustellen die
Freundlichkeit hatte, hat leider gezeigt, dafs die Handschrift uns wenigstens
hier über die Überlieferung des Corpus der Vitae, die schon bei Sintenis
steht, nicht hinaushilft. Offenbar ist dieses Paar der Vitae nur in einem
Exemplar den Byzantinern zugänglich gewesen, als das Interesse für Plutarch
wieder erwachte. Anders steht es mit der Sammlung 'H&ıx«, aus der ich die
Schrift zeoı derardctpoviag xat aOecrytos (dies der richtige Titel) aufgenommen
habe. Obwohl mir leider kein neues handschriftliches Material zu Gebote
stand, hat sich das Verhältnis der beiden Redaktionen genau so herausgestellt,
wie ich es an der Hand von Patons Ausgabe der Schrift zee: gulozkorzias
Nachwort.
dargelegt habe (Götting. gel. Anzeigen 1896). Der Text ist danach nicht un-
wesentlich verbessert, aber doch nur provisorisch. Ungedrucktes Material
habe ich auch für die beiden hippokratischen Bücher nicht gehabt; wenn
namentlich zegi ioe vorouv hier so ganz anders aussiebt als bei Littre, so
habe ich in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie 1900 davon Rechen-
schaft gegeben. Auch die beiden Stücke aus Oribasius mulsten, überwiegend
durch Konjektur, aus dem Rohen gearbeitet werden; daran hat auch die Aus-
gabe des Diokles von Wellmann, die ich noch benutzen konnte, nichts ge-
ändert. Dagegen hat mir für Clemens sein künftiger Herausgeber, Herr
Dr. Stähelin in Nürnberg, freundlichst alles zur Verfügung gestellt, was er
gesammelt hatte.
Positiver Gewinn für den Text ist nur bei wenigen Stücken nicht ab-
gefallen; ich denke das Wichtigste davon im Hermes zur Kenntnis der Fach-
genossen zu bringen, die es sich hier nicht heraussuchen können. Allein die
Emendation war hier ja in keiner Weise das Ziel. Hier mulste mit allen
Mitteln ein lesbarer Text erreicht werden, und so ist denn nicht nur manch-
mal etwas Mögliches eingesetzt, auch wenn ungewifs war, ob der Autor so
geschrieben hätte, oder auch gewifs, dafs er es nicht gethan hätte: es ist
manchmal eine sinngemäfse Ergänzung als Text gegeben oder etwas fort-
gelassen, weil es unverständlich war. Für die Schüler ist das Buch bestimmt,
und denen mit Textkritik zu kommen, halte ich für einen Unfug, grade weil
ich weils, dafs zum Philologen verdorben ist wer sie nicht zu schätzen und
zu üben versteht. Übrigens sind zu meiner Überraschung diese äufsersten
Mittel recht selten und in der Mehrzahl grade der bedeutendsten Stücke
gar nicht notwendig geworden. Eine Auswahl, wie ich sie in der Politik und
Ethik des Aristoteles vorgenommen habe, ist zwar auch Willkür, aber un-
schädlichere, als was sich in den meisten Ausgaben als Textkritik giebt.
Eine besondere Behandlung haben die Apophthegmen und in noch
höherem Grade die beiden äsopischen Stücke erfahren. Konnte in den
ersteren von philologischer Gewähr des Textes schon darum nicht immer die
Rede sein, weil sie aus einem zusammenhängenden Texte ausgehoben wurden,
so waren diese, wie sie überliefert sind, überhaupt nicht zu brauchen. Die
Fassung, wie sie für die Fabeln bei Halm auf ungenügender handschriftlicher
Grundlage gegeben ist, und wie sie Eberhard zuverlässig für das Leben
Äsops gegeben hat, ist nicht älter als das Ende des vierten Jahrhunderts,
vermutlich jünger, da sie die accentuierten Satzschlüsse zeigt. Wie sehr diese
neue Prosa zu Änderungen der Wortstellung und auch der Syntax verführt
hat, weils wer sein Ohr geschult hat, ihre Künste zu empfinden. Mit diesen
Dingen aber durfte der Sekundaner nicht behelligt werden, und der ganze
Text hatte auf pietätvolle Behandlung keinen Anspruch. Da ist also
mancherlei ganz gewaltsam geändert, und es hätte diese Willkür vielleicht noch
weiter gehen sollen. Übrigens sind diese Partien die. welche auch in der
Nachwort.
Auswahl mich am wenigsten befriedigen, und ich glaube bereits zu sehen,
wie die Apophthegmen richtiger zu behandeln sind.
Orthographie und Interpunktion haben beträchtliche Mühe gemacht und
werden dennoch der Verbesserung bedürfen. Die Schule muls eine Gleich-
förmigkeit wünschen, die in den Ausgaben und Handschriften nicht vorhanden
ist, je näher sie der Ilandschrift der Autoren kommen, desto weniger. Im
allgemeinen habe ich da, meiner Neigung und Übung entgegen, normalisiert,
selbst in den Urkunden und Briefen, aber überall das zu thun, auch einem
Aristoteles und Polybios gegenüber, konnte ich mich nicht entschliefsen; so
etwas wie ouder und ouder, Tegeoroy und Tigéoros ist doch nicht schlimmer
als die ionische Vokalisation gegenüber der attischen, und ich meine, auch
dem Schüler nützt es etwas, wenn er neben dem Terrorismus unserer
modernen orthographischen Schablone eine Alınung von dem Leben der
Sprache erhält. Accentuation und Interpunktion, also etwas, das auch dann
nicht überliefert ist, wenn cs den Handschriften entnommen wird, war
namentlich deshalb so schwer auszugleichen, weil man unwillkürlich etwas
unter dem Banne des gedruckten Textes steht, den man durchkorrigiert. Wie
sehr die Herausgeber auch in der Accentuation auseinandergehen, habe ich
hier erst ganz klar erkannt. Darin hoffe ich leidliche Gleichförmigkeit er-
reicht zu haben; nicht so in der Interpunktion. Zwar würde ich mich darin
niemals zu einer schematischen Gleichmacherei verstehn, habe vielmehr von
neuem die Meisterschaft bewundert, die in Immanuel Bekkers Inkonstanz liegt.
Aber ich fürchte, dem nächsten Zwecke, die Schüler nicht zu verwirren und
es ibnen möglichst zu erleichtern, hätte man noch besser dienen können.
Dafs ich aber diesem Gesichtspunkte auch gegenüber dem, was ich für an
sich richtig halte, Rechnung getragen habe, kann ich versichern. Richtig
werden wir erst interpungieren, wenn wir durch genaue und von Phantasmen
freie Untersuchung des reduerischen Rhythmus die Punkte kennen gelernt
haben, an denen die Stimme inne hielt: das wollte die antike Interpunktion
bezeichnen, und es ist das einzig verständige.
Die Erläuterungen sind in der Weise zu stande gekommen, dafs sie,
wenn ich sie entworfen hatte, Ewald Bruhn vorgelegt wurden und erst auf Grund
seiner Bemerkungen ihre definitive Gestalt erhielten. Seine besondere Aufgabe
war die Vokabeln festzustellen, die in den geläufigen Schulwörterbüchern
fehlen und nicht ohne weiteres dem Schüler aus seiner allgemeinen Sprach-
kenntnis verständlich sein müssen. Diese sind dann. womöglich nicht blofs durch
eine Übersetzung. erklärt. Ich halte es übrigens für gar keinen Schaden, wenn
dem Schüler hie und da das Aufschlagen erspart wird: an das, was er nicht
zu behalten braucht, soll er so wenig wie möglich Zeit verlieren. Aber aller-
dings habe ich mich entsetzt, wie grausam der unselige Klassicismus unserer
Schullektüre die Wörterbücher ausgemergelt hat: keine Seite Polybios oder
Dinodar kann jemand mit ihnen verstehen. Es würde ein nicht geringer Nutzen
Nachwort.
dieses Buches sein, wenn es damit etwas besser würde, und dazu sind er-
freuliche Ansätze bereits gemacht. Von der sonstigen Qualität meiner Er-
klärung will ich nicht reden: ich habe es so gut gemacht, wie ich konnte,
aber ich wollte nicht das Bessere suchen gehen, geschweige denn das absolut
Gute: ich wollte fertig werden. Beim Korrigieren sind mir zahlreiche Dubletten
aufgefallen. Beseitigt würde ich sie wohl nicht baben, denn das Buch ist ja
nicht zum Durchlesen da, und so schaden sie nichts; aber auszugleichen wäre
manches gewesen, und wie sollte mein Auge nicht vieles sehen, was fehlen
sollte und was fehlt? Dennoch habe ich nicht geändert; es mufs sich zeigen,
ob das Buch lebensfähig ist. Das werden diese Mängel nicht hindern; vor
allen Dingen mufste es gemacht werden. Gemacht ist es nicht für Philologen,
sondern für die Lehrer und Schüler, die es brauchen wollen. Daher kramt
es keine Gelehrsamkeit aus; nur habe ich gern hie und da etwas Schönes
an Citaten eingesetzt, und dieses mir wichtige Komplement schien mir das
beigegebene Verzeichnis zu verdienen.
Der Einflufs von Bruhn ist viel tiefer gegangen, als ich anzeigen kann.
Den Mahnungen des erfahrenen Lehrers bin ich gern gefolgt, bis an die
Grenze, wo ich mich selbst hätte aufgeben müssen; womit nicht geleugnet
wird, dafs er auch weiter hinaus recht gehabt hätte. Aber mir und meinem
Verständnis des Textes kam es auch sehr zu statten, dafs noch ein wirklich
des Griechischen mächtiger Philologe alles mit arbeitete. Es ist wirklich das
wenigste,- dafs er eine Anzahl Erläuterungen und Verbesserungen des Textes
beigesteuert hat, obwohl auch das so viel ist, dafs er notwendig einen Aufsatz
darüber schreiben mufs. Endlich hat er das Schwerste der Korrektur auch
noch auf sich genommen, unterstützt von unserem gemeinschaftlichen Freunde
Dr. Hans Petersen in Flensburg. Wenn ich also am Schlusse dieses Buches
allen meinen Mitarbeitern meinen Dank ausspreche, so mufs ich Bruhn gradezu
als Mitarbeiter an allem bezeichnen und auch dem vorgesetzten Ministerium
besonders dafür danken, dafs Bruhn von seinen Amtspflichten soweit entlastet
worden ist, dafs er mir diese lilfe zu leisten im stande war. Was endlich
die Verlagsbuchhandlung geleistet hat, das liegt zu Tage. Möchte es doch
vorbildliche Bedeutung haben, wie hier die leitende Behörde, Universitätslehrer
und praktische Schulmänner und der Verleger sich einträchtig und opferwillig
zusammengefunden haben, ausgehend von dem gemeinschaftlichen Grunde
ernster Wissenschaftlichkeit, hinstrebend zu demselben Ziele, dem Wohle des
Gymnasiums, getragen von dem Vertrauen zu unserm wissenschaftlichen
Lehrerstande, dem Vertrauen zu unsern Schülern, vor allem von dem Ver-
trauen zu der welterziehenden Mission des Hellenismus: darum steht Alexander
auf unserm Titelblatt.
©
Druckprobe des Textes.
988 X. Urkunden und Briefe. 2. Stiftungsurkunde des zweiten Seebundes.
2. Stiftungsurkunde des zweiten Seebundes.
(Dittenberger Sylloge 80.)
“Ent Navowixov &oyovros, KaAklfıos Knypıoopwvrog Haavısög
Eyoaundrever.
’Eni vis Innodwrrldos EBödung movravelas &öoße vy Povdg
xal tH dium, Xagivog “Aduovets Ensordreı‘ Aguororeing eine
ron Ayady vy Admvalov xai Tor ovppdyor Tor "Adnvalav' so
Snag Av Aaxsdaruövioı Eücı tods “FAAnvas LAsvdeoovg xal adcovd-
hous hovzlay Äyeım viv yoga Exovrag Ev Beßalp viv éavtdy * * *
**** 2ungloda tH djuo édv tug Bodinru vüv ‘Eddjvov ih
or PagBdgwv tiv ev Ijnelgpw evoxodytwr N THY vnowwtéy, Goor
un Baovkéws eioiv, “AInvalow cdppazos slvar xai tdY ovundzwn, 1
Eeiva adt@ ehevdéow Svc zal adrovéum@, mokirevopévw mokırelav
aw dy Botdytas, pave poovoav elodsxopévep jujve dgyovta Önodeyo-
Hévr@ pate gogov gégovtt, Enl 6&8 vols adtois, Ep’ oloneg Xior xal
OnBaior xai of G2Aot otupazor. vols d& momoapévors ovpmaziay s
zoog Adnvalovg xai cobs ouupdzovs dgetvar tov dijuov ta éyxcij-
mata, d:60’ dv tuyzdvy Svea 7 Ida ) Ömudara Adnvalov Ev ti
HOG thy olovperoy THY ovuuazlav' xal aegi rodror alot
dota “Adnraiovs. bay 08 toyzdiy row adden THY owvueror
Thy ovunazlar zoo Aldyraulovz orijiu oboar “Adjvnot dvenctydecot, 10
Thy Bovdsyw viv dei Bovdetovoay xugiay eivar xadaigeiv. dnd 6é
Navowizow dozovtos po) eSetvar wire ida wire Önuoolg ‘Adnvalor
underi eyxrijonoda év rals Tor ovoppdzor zadoais wire olxlav pure
zwoiov wire zouauerp wire brodenivp jujte GAA toda pndevi.
bay ÖE tg viva N zräraı 7) rıdiraı toda Örwoöv, Eelvu tH 15
BovAoutrp or cvppdzor gira rgös tods ovvédqovs THY auundgor"
of 62 ouvednoı dnodduevor AtoddvTON TO fev Fuov TH grjvartt, TO
6& dAko xowdr Forw THY ovuudzan. fav ÖE tis ty Eni nokiup
omoauevong Thy avpaglar 7 zara zijv i) zard Oddatcar,
Atywaioug xai robs Grundzovz Tovroz zai xara yijv za 20
éxito
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7 éxepngloy 7 dozov 7 löimens azagd Tode To yiigioua, ws Adew
ru det Tor Ev Tode tH ymglouarı sionuror, bragyerw wer
abt@ dating elvac xal ta zorjpata adtod dnudaa Edorw xal tis
deod ro exdéxatows xal zowiodo tv Adyraioız zai tots ovumdyog
INHALT.
Text. Erster Halbband.
I Fabeln und Erzählungen. Seite
1. Äsopische Fabeln . . . » .: 2: 22 22200. |
2. Aus dem Leben Äsops. . 2 2: 2 mem. 7
3. Aus Lukians Wahrhaftigen Geschichten. .......2..... BR
4. Der Jäger, von Dion von Prusa ........ |‘
5. Gnomen und Apophthegmen . . . . 2:22 2 2 2 nenn 32
a) ‘Upaxielrou "Eyeoiov yrouer. . . 2.2... Er »;
b) .Mmuoxglrov ABdnolrov yyuumı... . . . en of
C) Anoydlyguue . . we ee ee ee ee ou
II. Geschichte.
1. Solon, aus der Molıreia A9rvalov des Aristoteles. . ....... 3
2. Pausanias und Themistokles, aus Thukydides I. ......... 0
3. Die Schlacht bei Salamis, aus den Persern des Aischylos . ... . in
4. Perikles.
a) Gründungen und Bauten der Friedensjahre, aus Plutarchs
Perikles. . 2: ww we ee ee te ee ee ee tt i?
b) Lebensende, aus Plutarchs Perikles . ........2.2.2.. «40
c) Stimmen von Zeitgenossen.
1. Thukydides. .. 2... or en“ 6%
2. Eupolis . 2. 2 oo onen. MM
3. Protagoras . . ......+2-+ eee |
5. Demosthenes, aus der Kranzrede . . . . 2 2 2 2000 nenn i)
6. Alexander der Grofse, aus Arrians Anabasis. .......... 4
a) Der Kampf mit Poros ... . 2... 2 nenn nenne. dr
b) Der Anfstand der Makedonen. . .-. . 2. 2222 en nen ah
c) Alexanders Tod... 2... 22 eee ee ee ee ee 102
7. Scipio Aemilianus als Jüngling, aus Polybios . ......... 106
8. Tiberius Gracchus, aus Appians Bürgerkriegen. .. ....... Ile
9) Caesars Lebensende, aus Plutarchs Caesar . . .. 2.2 220 .. 123
I. Politik.
1. Das Ideal der athenischen Demokratie, Leichenrede des Perikles
bei Thukydides. . . 2 22 Co oo Ce 13.
Anhang: Epigramme . .: 2:2 ren 144
2. Staatslehre des Aristoteles... . 2... Fa 148
a) Begriff des Staates . . 2... 1 1 ee ee ee en 150
b) Begriff des Staatsbürgers . .. . 000 0 2-21 rn 15?
c) Verfassungsformen. . 2: 2: 00 +2 ee nn 154
d) Berechtigung des Majoritätsprinzipes .......2..2.2.. 14
e) Die natürlichen Stände im Staate . .......4..2.22... 156
f) Die Formen der Demokratie und Oligarchie ......4... 158
g) Die äufserste Demokratie... . 2... oe eee we we ew 159
h) Der beste Staat. . . 2. 2... rn 160
3. Polybios über den Kreislauf der Verfassungen und den Vorzug der
Verfassung des römischen Volkes, ... 22... oe ew we we 168
Inhalt.
Text. Zweiter Halbband.
Seite
IV. Erd- und Himmelskunde . .. 22 22 m 2 2a 181
1. Das Weltgebäude, aus der Schrift seo xoauov . ...... .. 186
2. Asiaten und Europäer, aus Hippokrates zei «dowy vdarwy tommy . 199
3. Das Keltenland und seine Bewohner, aus Strabons Geographie 207
4. Sitten der Kelten, aus Poseidonios.
a) Auszug des Strabon . . 2 2m mern 217
b) Auszug des Diodoros . . 2 >: 2 nenn 219
c) Bruchstück bei Athenaios ........2.2..28.2.8448. 224
5. Britannien, aus Strabon . . .. 22 onen 226
6. Die latinische Küste und Rom, aus Strabon . . . . 2 2 2 2 202. 229
V. Mathemathik und Mechanik.
1. Aus den Elementen des Eukleides . . 2 2 2 2: 2 2 nr 2 2 2 nen 235
2, Archimedes Buch von der Sandzahl ........... 2 ee 242
3. Aus Heron von Alexandreia . . . .. 1... nr ee eee 252
a) Lehre vom Vacuum . . 2. 2: 2:2 onen Di
b) Windkessel . 2 2 2 22 Co one 257
c) Feuerspritze . 2. 2: 2 Con 259
d) Weihwasserautomat . 2 2: 2 0 mr ren 261
e) Kugel von Dampf bewegt ...........2.2-+.2446- 261
f) Wegmesser ... 2 00 rer. 262
4. Das Riesenschiff des Hieron, von Moschion ........... 265
VI. Medizin.
1. Hippokrates von der heiligen Krankheit. . nennen. 269
2. Gesundheitspflege . . . 2 2: 00 m onen 277
a) Aus Diokles von Karystos . 2. 2 2 2 or ren 279
b) Aus Athenaios von Attaleia .......... +62 ee eae 284
VII. Philosophie.
1. Sokratische Methode, aus Platons Menon .......2.2.2... 287
2. Die Lebensziele, Gliickseligkeit, aus der Ethik des Aristoteles. . . 294
3. Über das Studium der Natur, aus Aristoteles evi (yw uoplwor . . 300
4. Menschliche Charaktertypen, aus den Charakteren des Theophrastos 302
5. Philosophie als Regel und Trost des Lebens, aus Marcus eis éevrey 308
6. Erziehung zu Gott wohlgefälligem Leben, aus den (Gresprächen des
Epiktet . 22 oo onen nenn. 320
7. Aberglaube und Unglaube, von Plutarch . . . 2.2: 2 2220. 328
8. Berechtigung des Bilderdienstes, von Maximus von Tyros. . . . . 338
VIH. Altchristliches.
1. Verfassung und Gottesdienst der altchristlichen Gemeinde, aus der
Apostellehre . .......2..... ER 343
2. Das Christentum als Offenbarung der wahren Wissenschaft, aus dem
Protreptikos des Clemens . . . . 2: 2 re rennen 347
3. Die Christen als Träger eines neuen Lebens, der Brief an Diognet . 306
Inhalt.
Seite
IX. Ästhetik und Grammatik.
1. Redekünste oder wissenschaftliche Forschung?, aus dem Phaidros
des Platon. . 2 2 00 00 et ern. 354
2. Regel und Genie, aus der Schrift zepd Uwous - . . - 2 22.2.0. 377
8. Die Elemente der Grammatik, aus dem Lehrbuche des Dionysios
Thrax . 2 2 200 en 382
X. Urkunden und Briefe.
Urkunden:
1. Volksbeschlüsse über Methone .......2.2.2... .... 387
2. Stiftungsurkunde des zweiten Seebundes. ......2.2.2.2... 388
3. Ehrung eines Agonotheten. . . . » 2 200 22 0 +22 ee ee 390
Erlasse:
4. Dareios an Gadatas. . 2. 2 22 1 1 ee nen 591
5. Alexander an das Volk von Chios . . . . 2 2 2 2 ee nen 391
6. Philippos V an die Stadt Larisa. . -.....-.-2..4... 392
7. Attalos II an den Hohenpriester von Pessinus . . - .. 2. 2... 333
8. Mithradates Eupator, Achtung eines Römerfreunde ....... 24
9. Augustus an die freie Stadt Knidos . . 2. 2 2 22 nenn ood
10. Nero, Rede an die Griechen in Korinth. ............ 39
Privatbriefe:
11. Epikuros an ein Kind... . 22 2 Cu eee ee ee eee 39
12. Epikuros auf dem Sterbebette an Idomeneus .......... 83%
13. Zwei Söhne an ihren alten Vater ...... Swe eee ee 8M
14. Eine verlassene Frau an ihren Gatten ......2.2.2.2..2.+. 991
15. Einladungskarte zur Hochzeit . . . 2 2 2 2 0 2 ee we eae 398
16. Kondolenzbrief . . .. 2... we ee 0 ee tt th een 395
17. Geschäftsbrief nn nn 309
auf Rechnung — zur Ansicht:
v. Wilamowitz-Moellendorff, Griechisches Lesebuch.
Text 2 Halbbände. — Erläuterungen 2 Halbbände.
(Verlag der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin)
Ort und Datum. Name.
Druck von W. Pormetter in Berlin.
Verlag der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin SW. 12.
Vom Januar 1902 an erscheint im unterzeichneten Verlage und ist durch alle
Buchhandlungen des In- und Auslandes zu beziehen:
Monatschrift für höhere Schulen
Herausgegeben
unter Mitwirkung namhafter Schulmänner, Universitatslehrer und Verwaltungsbeamten
von
Dr. R. Köpke, „, Dr. A. Matthias,
Geh. Ober-Reg.-Rat Geh. Reg.-Rat,
Vortragenden Räten im Königl. Preuss. Kultusmimsterium.
Jährlich 12 Hefte im Gesamtumfange von ca. 4° {ogen im Format dieses Prospektes.
Preis für den Jahrgang: 15 Mark.
Die Monatschrift für höhere Schulen soll im Gegensatz zu den bestchen-
den Zeitschriften für das höhere Schulwesen, welche alle mehr oder weniger
die Interessen einer bestimmten Schulart oder cines bestimmten Unterrichts-
zweiges vertreten, das gesamte höhere Unterrichtswesen behandeln.
Auf Anregung des Königlich Preussischen Kultusministeriums ins Leben
gerufen, von zwei an hervorragender Stelle stehenden bedeutenden Schulmännern
herausgegeben und durch eine grosse Zahl ausgezeichneter Mitarbeiter unter-
stüzt, dürfte die neue Monatschrift berufen sein, eine führende Rolle in der
pädagogischen Zeitschriftenlitteratur einzunehmen. Von einer hohen Warte soll
hier das höhere Unterrichtswesen in allen seinen Zweigen betrachtet und ge-
fördert werden und zwar in einer Weise, dass nicht nur der Fachmann, sondern
jeder Gebildete, der an den Fragen des Unterrichts und der Erziehung teilnimmt,
dabei seine Befriedigung findet.
Die Verlagshandlung hotit. dass die Grundsätze, welche als die für die
Monatschriit massgebenden in dem Artikel „Zur Einführung“ dargelegt sind,
die Zustimmung weiter Kreise besonders auch der deutschen Lehrerschait
der höheren Schulen finden werden, und dass die Monatschrift tür höhere
Schulen sich der dauernden Teilnahme dieser Kreise erireuen wird.
Weidmannsche Buchtantuns..
Aus dem Artikel „Zur Einführung“.
Die neue Monatschrift wird bemüht sein, die Interessen der höheren
Schulen nach allen Richtungen hin in sachgemäßer Weise zu vertreten
und von allgemeinen Gesichtspunkten aus das ganze Gebiet des höheren
Unterrichtswesens zu umfassen.
Das Programm der Monatschrift wird daher so weit gesteckt sein, daß alle
prinzipiellen und praktischen Fragen des Schulwesens hineinfallen. Schulgeschichte,
Organisation, Statistik, alle sogenannten Externa, auch Schulgesundheitspflege,
pädagogische und didaktische Fragen allgemeiner Art sowie Lehrpläne und Lehr-
aufgaben der einzelnen Unterrichtsfächer sollen in größeren Abhandlungen, kurzen
Weisungen und Bücherbesprechungen behandelt werden, auch Personalien, soweit
sie allgemeine Beachtung verdienen, gebührende Berücksichtigung erfahren. Mit
der Herausgabe der Zeitschrift verbindet sich die Hoffnung, daß die betrübende Zer-
splitterung der Richtungen und Kräfte auf dem Gebiete des Unterrichtswesens be-
seitigt oder doch vermindert wird durch eine Sammelstelle für alle die bezeichneten
Fragen der gesamten Organisation des höheren Unterrichts, auch des Universitäts-
unterrichts, soweit er die höheren Schulen berührt. Und wenn sich unter den
Mitarbeitern, die bis jetzt freundlich zugesagt haben, auch Männer befinden, die nicht
dem Schul- oder Lehriache angehören, so entspricht das den weitgesteckten Zielen
der Monatschrift, die jeden, der dem Leben der deutschen höheren Schule Auf-
merksamkeit und Wohlwollen schenkt, in ihre Kreise ziehen möchte, damit alle
gebildeten Freunde der Schule und daran hat Deutschland keinen Mangel -—
nicht nur aus den Tagesblättern über wichtige Schulfragen ihre Nahrung schöpfen,
sondern aus einem Fachblatte, das sich in den Dienst aller derer stellen möchte,
denen daran grelegen ist, das Leben der Schule mit dem frisch pulsierenden Leben
unseres Volkes in inniger Berührung zu halten.
Insbesondere will die Monatschrift die Weiterführung der Schul-
reform unterstützen und an ihrem Teile dazu beitragen, daß die Aus-
liihrungen des Allerhöchsten Erlasses vom 26. November 1900 im Leben
der höheren Schule volle Geltung gewinnen. Der leitende Grundsatz
des Erlasses Gleichwertigkeit der Gymnasien, Realgymnasien und
Oberrealschulen- sollmaßgebend sein auch für dieses neue Organ des
höheren Unterrichts. Es werden deshalb die Vertreter aller Schul-
Faltungen gebeten an gemeinsamer Arbeit teilzunehmen, um durch
3
gegenseitige Anregung und Wertschätzung und durch den Grundsatz,
daß die drei Anstalten sich nicht in den Bildungszielen, sondern nur
in den Mitteln und Wegen zu gemeinsamen Erziehungsidealen unter-
scheiden, die Gegensätze zwischen der sogenannten humanistischen
und realistischen Richtung zu mildern und einem versöhnenden Aus-
gleiche entgegen zu führen.
Daß gegen den leitenden Grundsatz des Allerhöchsten Erlasses die Gleich-
wertigkeit unserer verschiedenen höheren Schularten - -- noch mannigfache Bedenken
sich regen und daß gewissenhafte Männer zur Vorsicht mahnen bei Neuerungen,
die nach ihrer Meinung an bewährten Grundlagen rütteln, kann man verstehen
und würdigen. Von diesen Männern fürchten die einen, daß der unsere Gebildeten
erfüllende Geist klassischer, humaner und idealer Bildung, der so Großes in unseres
Volkes Vergangenheit geschaffen hat, verflacht werden könne und daß unser Volk,
namentlich in seinen leitenden Kreisen, ohne eine gründliche Schulung durch die
alten Sprachen und Schriftsteller eine unersetzliche Einbuße an Kraft und Hoheit
des Geistes erleiden werde. Andere machcı. sich stille Sorge, es solle durch die
Gleichstellung der drei Schularten eine Umwandlung aller Bildungswerte in der
Richtung des „Amerikanismus* angebahnt werden. Wieder andere können von
der Anschauung nicht lassen, daß die Gymnasialbildung vor allem wegen des
Zusammenhangs mit der Geschichte, in den die Jugend selbsterlebend und selbst-
schöpfend und -schaffend eingeführt werde, eine tiefergehende und ernstere sei,
als die sonst in manchen Stücken für den unmittelbaren Gebrauch in Haus und
Beruf nützlichere Bildung der anderen Schulen. Und weiterhin ist man besorgt,
daß die Eröffnung der Fakultätstudien für die Reatabiturienten nicht nur die
Wirksamkeit unserer Universitäten herabzichen, sondern in ihren Folgen den ge-
samten nationalen Bildungstand schwer schädigen müsse; man prophezeit bereits
einen Niedergangsprozeß, dessen Fortgang den Universitäten das rauben werde,
was ihnen bisher den Vorrang vor den ähnlichen Bildungsanstalten anderer Völker
sicherte: den Geist der Wissenschaftlichkeit.
Allen diesen Bedenken, Sorgen und Befürchtungen gegenüber muß man doch
fragen: Will denn der Alterhöchste Erlaß dem alten Guten seine Berechtigung
nehmen? Soll nicht vielmehr jeder Schule und gerade dem Gymnasium ---
Gelegenheit gegeben werden, sich in ihrer Eigenart und der ilır eigenen Wirkungs-
kraft zu entfalten? Das Gymnasium hat kraft seines Berechtigungsmonopols viel-
fach auf seinen Lorbeern stark ausgeruht. Quandoque bonus dormitat Homerus.
Und nicht selten waren es eingebildete Lorbeern, auf denen man sich behaglich
streckte. Jetzt soll diese Schule ihrem eigenen Wesen wiedergegeben werden,
aber sie soll und nur das ist das Neue an der Entwicklung in einen Wett-
kampf edelster Art nach idealen Zielen mit ihren Schwestern eintreten, die bisher
nicht auf Lorbeern und Rosen gebettet waren, sondern in der Asche saßen.
Jenen Bedenken gegenüber muß man ferner fragen: Sind denn die realen Anstalten,
denen jetzt auch ein Platz an der Berechtigungssonne gegönnt wird, heute noch
das, was sie waren oder in ihren ersten Entwicklungsstadien zu werden drohten:
Schulen trivialen Nutzens, bei denen wie bei den Gymnasien akademische
4
gute Wille in ihnen jetzt ein ganz anderer als vor mehreren Jahrzehnten? Heute
ist man doch der Ansicht, daß jede höhere Schule lediglich der Allgemeinbildung
dienen und sich nicht knechtisch in den Dienst und die Abhängigkeit irgend einer
Art von Fachbildung oder einer der vielen Berechtigungen stellen soll, die mit
jedem Jahre sich mehren. Alle höheren Schulen - das ist heute die Meinung --
sollen dem Ganzen dadurch dienen, daß sie begrifflich klares Denken wecken, die
Phantasie, das Gemüt und den Willen stärken und so den ganzen Menschen in
Zucht nehmen. Die Aufgabe der höheren Schule für die so oder so geartcte
spätere Fachbildung kann nur darin bestehen, die allgemeinen, unerläßlichen Vor-
bedingungen für jede Art von höherer Berufsthätigkeit und eine von Vorurteilen
möglichst freie Geistesbildung zu gewähren durch einen festen Kenntnisbestand
und sicheres Können in einem bestimmten Kreise vornehmen Wissens. Die huma-
nistische Bildung, deren Pflege das Gynınasium für sich allein beanspruchte, soll
auch an den Realanstalten das ideale Endziel bilden, um einen Riß der höheren
Bildung unseres Volkes und eine Scheidung in eine Allgemeinbildung besser- und
minderwertiger Art zu verhindern. Sind die gesamten Geisteskräfte in richtiger
Weise an den verschiedensten mehr oder minder schwierigen Stoffen der mannig-
faltigen Unterrichtsfacher erst einmal geweckt und gestärkt, so wird - - das ist
Grundsatz der humanistischen Bildung im weitesten Sinne und der Grundgedanke
der Gleichwertigkeit der drei Schularten - der also gebildete Jüngling jedes
weitere Studium angreifen, indem er mit seinen geistigen Kräften sich einsichts-
bereit, eindringlich und willensstark in die jedesmaligen Besonderheiten seines
Berufs hineinarbeitet und die mannigfachen Schwierigkeiten der Fachvorbildung
olıne weitere Vormundschaft allein überwindet. Man begreiit es schwer, daß man in
unserem Lande und in unserer Zeit, wo man nie genug Freiheiten haben zu können
meint, dem Grundsatz des Allerhöchsten Erlasses, welcher der Bewegung der
Individualität den freiesten Spielraum gewährt, indem er jeden nach seiner Fagon
seinen Bildunysweg in Frieden ziehen läßt, nicht in allen Kreisen volles Verständnis
entgegen bringt und es nicht begreifen will, daß auch auf den realen Anstalten
Ideale so gut wrepflegt werden können, wie auf den Gymnasien. Wer das Leben
unserer Schulen in den letzten Jahrzehnten genau beobachtet hat, kann Thatsachen
von idealer Bedeutung gar nicht übersehen haben. Diejenigen, die auf den Namen
Humanisten den ersten Anspruch machten, haben 1882 und 1892 in den L.ehr-
plänen jener Jahre eines der idealsten Fächer, die philosophische Propädeutik,
preisgeyeben ohne Sang und ohne Klang. Männer aber, die man den Realisten
zuzurechnen sich gewöhnt hat, haben dann diesen Unterrichtsgegenstand in ihre
Pflege genommen und mit dazu beigetragen, daß die Lehrpläne von 1901 wieder
den Mut zeigen, auch das Studium der Philosophie den oberen Klassen unserer
höheren Schulen warm zu empfehlen. Und unter den Lehrern der matlicinatisch-
naturwissenschättlichen Fächer zeigen sich heute Männer, die ihr Lehrfach nach
vornelimen humanistischen Grundsätzen betreiben im Gegensatz zu der realistischen
Meinung derer, die den Stoff einzie und allein nach der Wichtigkeit der Gesetze
für das praktische Leben im allgemeinen und nach den Bedürfnissen der Technik
im besonderen auswählen möchten.
Wenn so schon Vorsien geboten ist mit der Mibachtung des idealen Wertes
der sogenannten realen Unterrichtsfächer, so sollen andcretseits dieienigen vor-
9)
sichtig sein, die die Pflege idealen Sinnes nur dem gymnasialen Unterricht zu-
weisen, und, um Eins herauszugreifen, behaupten, daß nur der altsprachliche
Unterricht der Bildung historischen Sinnes dienstbar gemacht werden könne. Wer
sich wesentlich auf das Altertum beschränkt für die Ausbildung geschichtlichen
Denkens, der überläßt den schwierigen Teil der Aufgabe, nämlich die Verwertung
des im Unterricht gebotenen Stoffes für die Bedürfnisse der Gegenwart dem Schüler
allein und er stellt ihm damit die oft unlösbare Aufgabe, die Berührungspunkte
zwischen den einfachen ihm im Unterricht vorgeführten Verhältnissen und den
Verhältnissen des modernen Lebens, in das er eintreten und auf dessen Weiter-
entwicklung er selbst vielleicht einmal Einfluß üben soll, selber herauszufinden,
olıne ihm für diese Berührungspunkte auch nur einen Fingerzeig zu geben. Und
mit gleicher Vorsicht sollte man die Behauptung aufnehmen, als ob das Selbst-
bilden und Selbsterleben geschichtlicher Vorgänge nur durch den altsprachlichen
Unterricht möglich wäre. Es ist doch nicht einzusehen, weshalb nicht auch treff-
liche Übersetzungen antiker Schriftsteller, an denen wir leider noch immer großen
Mangel leiden, unsere Schüler in das Geistes- und Kulturleben des Altertums
einführen sollten, und es ist, abgeschen von der Einführung in die alte Ge-
schichte, nicht einzuschen, weshalb nicht französische, englische und deutsche
Geschichtsquellen aus abgeklärten Zeiten die Schüler anleiten sollten zum Selbst-
bilden und Selbsterleben und vielleicht zu gesunderem Selbstschaffen, als es
an antiken Reden oder historischen Darstellungen möglich ist, von denen jene
vielfach gar nicht so gehalten sind, wie sie die Überlieferung darbietet, und diese
und jene das wirkliche Leben der Vergangenheit durch ihren panegyrischen Charakter
nicht selten schief darstellen, verbrämen und verdecken. Eine Rede des älteren Pitt,
der im 18. Jahrhundert die künstlerische Behandlung der parlamentarischen Rede
zur Meisterschaft gebracht hat, oder eines Macaulay, der mit wenig rhetorischen
Mitteln Musterstücke edelster Beredsamkeit geschaffen hat, oder eines der großen
französischen Parlamentarier aus der Schöpfungszeit des modernen Staates wird
doch bei geschickter Behandlung durch tüchtige Lehrer ein Selbstbilden und
Selbstschaffen so ermöglichen, daß das Bild vergangener Zeiten plastisch vor
das Schülerauge tritt und seinem historischen Sinn reichliche Nahrung spendet.
Auch hier tiegt noch ein reiches Arbeitsfeld für die Unterrichtsaufyaben der realen
Anstalten. Die Monatschrift wird sich bemühen, dieses Feld ergiebig und frucht-
bar zu machen®). Und wenn immer das Monopol klassischer Bildung und
der Vertieiung ins klassische Altertum nur den Gymnasien zugewiesen wird,
so vergesse man doch nicht, daß es auch dem Schüler der realen Anstalten
vergönnt ist, durch Shakespeares Vermittlung Freude am römischen Staat und
dessen gvewaltiger Laufbahn nachzuempfinden. Weshalb sollen die Schüler denn
nicht wie der große britische Dichter gleichsam init dem stolzen Wohlgefallen
eines Angehörigen an Coriolans Wirken und dem Kampfe zwischen der Macht
des Adels und des Volkes oder an Cäsars Thaten und dem Kampfe des Freistaates
mit der Alleinberrschaft nacherlebend teilnehmen und an diesen Stofien aus weiter
*) Eine der nächsten Nummern der Monatschrift wird eine Abhandlung bringen über die
Frage, wie das Realeymnasium tiefer in das Verständnis des klassischen Altertums cia-
führen und zu geschichtlichem Denken erziehen kann.
Oe eee oo nn
6
Fremde und ferner Zeit die tiefsten und wirksamsten Gefühle von universaler Be-
deutung mitempfinden! Das Bewußtsein aber, daß deutsches und hellenisches
Wesen innig verwandt sind, und die Empfindung, daß wir geistig verarmen und auf-
hören würden, in der Kulturgeschichte der Menschheit eine führende Stellung zu
behaupten, haben wir doch nicht lediglich dem altsprachlichen Unterricht zu ver-
danken, sondern deutschen Geistesschöpfungen, die unserem Auge die stille Einfalt
und Größe der Antike unmittelbar nahe gebracht haben. Es führen viele Wege nach
Rom und ins klassische Altertum, z.B. auch der Weg durch Herders, Lessings, Goethes
und Schillers Dichtungen und Prosaschriften und durch die antike Kunstgeschichte, die
dem Realschüler auch im Zeichenunterrichte erschlossen werden kann. Und vielleicht
führt mancher dieser Wege sicherer zu lebendiger Anschauung als dieser oder jener
Weg, auf dem der landesübliche Betrieb des altsprachlichen Unterrichts über
grammatische Schwierigkeiten holpernd und stolpernd in die Antike bisher vergeb-
lich einzudringen versucht hat. Wir sollten doch auch nicht vergessen, wie die reale
Weltauffassung von jeher reinigend und klärend auf unsere idealen Träume ge-
wirkt hat, wie die klassisch begeisterten und zugleich nüchtern praktischen Be-
strebungen eines Schliemann, die ihren Nährboden nicht auf den Bänken eines
Gymnasiums hatten, der Forschung einen Antrieb gegeben haben, der die inhalt-
losen Räume der griechischen Vorgeschichte mit Leben erfüllte und jenen Ge-
stalten Fleisch und Blut verschafite, die bis dahin gleich farblosen Schattenbildern
vor unseren Blicken vorüberzogen.
Eine weitere Aufgabe wird die neue Monatschrift darin sehen,
gleichsam einen ausführenden Kommentar zu bilden zu den durch die
Weiterführung der Schulreform geschaffenen neuen Lehrplänen und
Lehraufgaben, sowie zu den weiteren Verfügungen der Central- und
Provinzialbehörden. Verfügungen müssen sich naturgemäß nur in
kurzen Sätzen und knappen Fassungen bewegen Diese knappen
Auslassungen ihren Intentionen nach zu verdeutlichen, die Verfügun-
gen mit frischen Geiste zu erfüllen, in lebendige That umzusetzen
und das vertrauensvolle Zusammenwirken von Behörden und Lehrer-
kollegien dadurch zu fördern, wird Aufgabe der neuen Zeitschrift sein.
Die gedeihliche Ausführung der allgemeinen Anordnungensolldurch die
individuelle Überzeugung jedes einzelnen, der zur Mitarbeit an den
Aufgaben der Schule berufen ist. gesichert werden. Dazu hofft die Zeit-
schrift die treimiitige Mitwirkung aller beteiligten Kreise zu gewinnen.
In der Aufsrabe, die in den vorstehenden Sätzen dargelegt ist, sehen manche
Mitarbeiter den Schwerpunkt der Zeitschrift. Mit Recht weisen sie darauf lin,
daß die L.chrpläne von 18092 eine Menge von feinen und treiflichen Anregungen
enthielten. welche meistenteils ungenützt geblicben seien. Maßgebende Persönlich-
keiten. die zu jenen Lehrplinen in naher Beziehung standen, haben keine Gelegenheit
versännmmt zu betonen. dab die Lehraufgaben keine beengende Vorschritt, sondern
nur em Mester veben sollten: daß man ihre Vorschläge im einzelnen nachdenklich
daetelimmen aber vor ahem ihren Geist zu erfassen suchen mége. Die Behörden
haben ja adden „Jahren nach 1802 °mmer wieder und wieder hervorgehoben, daß es
ihnen Feb seh, wenn die Anslührung der Lehrpläne weitherzig gehandhabt werde.
Verständhor cid Seeinitiac Direktoren und selbstbewußte, tüchtige Lehrerkollegien
7
haben das Ihrige gethan, um sich keine spanischen Schnürstiefel anziehen zu
lassen. Alles vergeblich. Man mußte immer wieder erfahren, daß Leute, die als
ganz verständig galten, aus reiner Bequemlichkeit buchstabengläubig waren, um sich
des eigenen Urteils entschlagen zu können. Die pedantische Neigung, die in
manchem Deutschen liegt, sich im ganzen und im einzelnen nach beengenden
Normen und Vorschriften zu sehnen, stellte sich freier und optimistischer Anwen-
dung der Lehrpläne immer wieder in den Weg. Das Glück der Arbeit schien in
den Schulen geringer werden zu sollen, indem man dem mechanisierenden Zeit-
geist allzuweit entgegen kam. Die Schulen wurden nicht selten Fabriken gleich, in
denen überall derselbe Faden gesponnen wird und alle Arbeit als eine Last und
nicht als eine Lust erscheint; dazu schauten ängstlich besorgte Erziehungsmächte
beständig aus, ob aus solcher Arbeit der Jugend auch ja nicht zu viel Mühe
erwachse, und man begann in burcaukratischer Korrektheit das Pflichtmaß der
Jugend nachgerade nur noch mit der Elle zu messen. Daß man Arbeitspläne
und Arbeitsmaß verständig überlegt, ehe man Arbeitsforderungen stellt, ist
in jedem gewissenhaften Lehrerkollegium selbstverständlich, weil es einfach
Menschenpflicht und Sache jreundschaftlichen Wohlwollens zur Jugend ist,
besonders so lange sie in den Kinderschuhen steckt, daß diese auch leisten
kann, was man von ihr fordert. Daß man aber auch heranwachsende Jünglinge
wie Kinder behandelt in ihrer Arbeitseinteilung, entspricht nicht einer kraftvollen
und wirksamen Erziehung, da „die Götter Schweiß verlangen, bevor wir die
Tugend erreichen“, und da es dem deutschen Empfinden zuwider ist, kraftvolle
Eigenart durch ängstliche und künstliche Gleichmacherei und Bevormundung zu
hemmen. Es wäre ein Unglück, wenn auch die neuen Lehrpläne von 1901
unter unfreie Anschauung gestellt würden.
Die Besorgnis also, die uns entgegengehalten ist, als der Plan zu dieser
Monatschrift im Werden war, daß die freie Meinung nicht zu Worte kommen
werde, und daß nur solchen Aufsätzen Raum gegeben werden solle, die sich in
engen und strengen amtlichen Bahnen bewegten, dürfte unbegründet sein; ebenso
ist von vornherein der Gedanke abzuweisen, als ob alles, was in dieser Zeitschrift
steht, auch sofort befolgt werden müsse. Die preußischen Direktorenkonferenzen,
auf denen manch freimütiges Wort über amtliche l.ehrauigaben gesprochen worden
ist, haben doch wahrlich zu frischem Leben viel beigetragen und Leben und Segen
verbreitet, aber der guten Disziplin unserer Schule und unserer Lebrauffassung
nicht den geringsten Schaden gethan. Weshalb sollte die Monatschrift nicht in
ähnlichen Bahnen wandeln können? Dafür bürgen ja auch die zahlreichen Mit-
arbeiter aus allen Kreisen und aus allen Richtungen, die sich bis jetzt freudig
zur Verfügung gestellt haben.
Ganz ungerechtfertigt erscheint aber der Einwurf, daß „ein abhängiges Organ
die für eine wahrhaft fruchtbare Behandlung unentbehrliche freie Bewegung der
Natur der Sache nach niemals haben könne, weil ein solches Organ, drastisch aus-
gedrückt, nicht das Recht und nicht die Freiheit habe, auch einmal Dummheiten
zu machen.“ Dem Abstraktum, was man so „Organ“ nennt, mag ja dieses Recht
nicht zustehen; aber den einzelnen Mitarbeitern möchte die Leitung der Zeitschrift
die Freiheit liebenswürdiger Thorheiten nicht verkürzen, da diese zu begehen für
8
freimütigen Auffassung des Wesens der neuen Monatschrift ist auch ein anderes
Bedenken, das mit dem cbenbezeichneten zusammenhängt, hinfällig, daß .das
Publikum der Monatschrift den Reiz der Polemik vermissen werde.“ Auf diesen
Reiz will die Monatschrift keineswegs verzichten. Überall, wo es der Sache
dienlich ist, wird Auseinandersetzung verschiedener Ansichten geradezu erbeten
werden. Amicus Plato, amicus Socrates, sed praehonoranda veritas.
Damit hängt eng zusammen ein weiteres Ziel der Zeitschrift: Sie hat es sich
vor allem zur Aufgabe gemacht, die höhere Schule in steter lebendiger
Fühlung mit den Fortschritten der Wissenschaft zu halten. Die be-
ständige Berührung mit der Wissenschaft wird dazu dienen, in den
alltäglichen Verzweigungen der Einzelarbeit das Interesse wach zu
halten für große erziehliche (Grundsätze, für weite leitende Gesichts-
punkte und für die Festigung der idealen Auffassung des schwierigen
Lehrerberufs. Die Ausbildung in den pädagogischen Seminarien, die
seit etwas melir als einem Jahrzelint ins Leben getreten sind, hat diz
technische Seite und die Methodik des Unterrichtsbetriebes erfreulich
gefördert, aber auch die Gefahr bedenklich nahe gerückt, daß hank-
werksmäßiges Geschick und äußere methodische Fertigkeit im Unter-
richt überschätzt, die wissenschaftliche treibende Kraft des Unter
richts aber unterschätzt wird. Dieser Gefahr kann mit Erfolg nur be-
gegnet werden durch beständige wissenschaftliche Vertiefung des
Unterrichtenden. Deshalb wendet sich diese Zeitschrift nicht nur an
praktische Schulmänner, sondern auch an die Professoren und Dozenten
der Universitäten und technischen Hochschulen. Wenn diese, die vie!
zu weit ab vom praktischen Unterrichtsbetriebe der Schulen gestanden
haben, gemeinsam mit den Schulmännern ihre Arbeit in den Dienst Je:
Schule stellen, so wird diese vor Verflachung und Veräußcerlichun« am
sichersten bewahrt bleiben.
In den letzten Jahrzehnten des eben verflossenen Jahrhunderts hat ja unstreitig
durch die Berründung zahlreicher pädagogischer Seminarien an den höheren Lehr-
anstalten die Technik und Methodik des Unterrichts eine feinere und soryfaltigere
Ausbildung erfahren und die Genauigkeit auf diesem Gebiete erfreulich zuge-
nommen. Auf diese Erfolge soll man aber nicht zu stolz sein; denn mit diese:
methodischen Vervollkommnunge sind doch auch gewisse Gefahren verbunden.
Es wird von besonnen urteilenden Mitarbeitern bereits mit einiger Besorgnis hir-
gewiesen auf eine Art von pädagorisch-didaktischem Hochmut der jüngeren Schul-
männer, der dem älteren Geschlechte iremd war, und auf gefährliche äuberliche
Richtungen, z.B. auf die Richtung, welche die Ausbildung der künftigen Lehrer au!
neusprachlichen Gebiet im wesentlichen auf die Fertigkeit im mündlichen unc
schriftlichen Ausdruck sowie anf die sogenannten Realien beschränken möchte.
die philologisch-historischen Grundlagen der Sprachwissenschaft aber unterschätz:
und so den Unterricht auf das Niveau der Sprachmeisterei herabzudrücken dront.
Man fürchtet mit Recht. auf diesem Wege werde der Unterricht veräußerlicht une
jedes tieieren Bildungswertes beraubt. Wenn diesen Abweg aber gar diejenizer
walen Anstalten beschreiten würden, auf denen der neusprachliche Unterricht der
altsprachlichen Unterricht mit seiner sprachlich-logischen Schulung zu ersetzen be:
9
rufen ist, so wiirde es um die Gleichwertigkeit dicser Anstalten mit den Gymnasien
bald geschehen sein. Und nicht nur diesem Gebiet droht Verflachung, wenn der
wissenschaftliche Charakter der höheren Schulen nicht nach guter Tradition sorgsam
gepflegt wird. Mit Freuden haben deshalb viele Mitarbeiter aus akademischen
Kreisen und aus den Kreisen der Schulmänner die Forderung begrüßt, daß die
Lehrer nach besten Kräften Fühlung behalten sollen mit der Wissenschaft, die
dem gesteigerten geistigen Leben des Schulmannes immer neue Kräfte erweckt
und seiner Unterrichtskunst die rechte Weihe gibt. Die erfolgreiche Ausübung
des schwierigen Lehrerberufes besteht doch im wesentlichen darin, daß eine wissen-
schaftlich gebildete, geistig angeregte und selbständig denkende Persönlichkeit
die Gegenstände ihres Gedanken- und Wissenskreises in freiester Weise zu hand-
haben versteht und in unmittelbarer Frische und Begeisterung der Jugend dar-
zubieten weiß. Mit der trivialen Wahrheit, daß beim Unterricht der Stoff die
Hauptsache sei, läßt sich eine lebensvolle pädagogische Anschauung nicht ab-
speisen; sie ist vielmehr der Meinung, daß es auf den Reiz der lebendigen Persön-
lichkeit ankomme, die der Jugend die Kenntnis des Stoifes vermittelt; die Stoffe
müssen sich fügen, denn der Mensch hat die Kraft zu wollen und die Stoffe zu be-
herrschen, wie er will. Ein jeder weiß doch aus eigener Schulerfahrung, wie sich der
Dank, den er noch in späten Jahren der Stätte seiner Jugendbildung zollt, besonders
auf diejenigen Persönlichkeiten richtet, von denen ein Hauch wissenschaftlichen -
Geistes und wissenschaftlicher Wärme auf ihn begeisternd und erwärmend überging.
Solche Wirkungen können die Vertreter eines jeden Lehrfaches ausüben, wenn sie nur
mit freiem Blicke aus allen Wissens- und Erfahrungsgebicten die Berührungspunkte
zu dem jeweiligen l.chrstoffe und zu den Schülern herausfinden, die gern lernen,
wenn sie mit innerer Teilnahme zu lernen angeregt werden und wenn man sie
tüchtiger, geistiger Anstrengung würdigt. Dem akademisch-gebildeten Lehrer kann
dagegen nichts mehr die lebendige Freude an seinem Beruf so ersticken, als jene
„Kinderstubenpädagogik*, wie sie der Geschichtsschreiber des Materialismus ge-
nannt hat, die sich aus Furcht vor Überbürdung sogar schon in den oberen Klassen
unserer höheren Schulen einzunisten droht unter der Losung: „Was nicht gleich
geleistet werden kann, darf auch nicht verlangt werden.“ Der wissenschaftliche
Charakter der höheren Schulen, der Lehrer an ihnen und des Unterrichtsverfahrens
kann nur erhalten werden, wenn der andere wertvollere Wahlspruch hoch gehalten
wird: „Was verlangt wird, ist nicht gleich zu leisten.“ Diesen wissenschaftlichen
Grundsatz wünscht die neue Zeitschrift zu vertreten. Die trendige Zustimmung,
die ihre Ankiindigung bei Professoren und Dozenten der Universitäten und tech-
nischen Hochulen gefunden hat, berechtigt sie zu der Hoffnung, daß es ihr bei
ihrer Arbeit an reichen Anregunyen aus denjenigen Kreisen, die das Glück ge-
nießen, in lebendigster und unmittelbarster Fühlung mit der Wissenschaft zu stehen,
nicht fehlen wird. Nach wie vor bedürfen wir an unseren höheren Schulen des
wissenschaitlichen Nährbodens für unsere Jugend. nach wie vor des Schulmannes
von alter Art. der sich liebevoll und treu auch in seine wissenschättlichen Auf-
gaben versenkt. Es ist selbstverständlich, daß die mäterielle Blüte unserer Nation
auch ihm zu gute kommt, da jeder Arbeiter seines Lolines würdig ist. Aber dieser
Lohn macht den Wert des Lehrers nicht aus. Hauptsache bleibt, daß er selbst
sich als Mitglied des Standes, der dem Staate und dem Vaterlande die Jugend er-
10
zieht, und des hohen Berufes, der mit keinem anderen den Vergleich zu scheuen
braucht, zu den führenden Geistern und zur geistigen Aristokratie der Nation zählt.
Damit aber unserer Schule allezeit der weite Blick gewahrt bleibe,
und damit sie nicht in selbstgefällige Sicherheit und Selbstüber-
schätzung sich einwiege, soll auch das Unterrichtswesen der anderen
deutschen Länder und in angemessener Beschränkung auch des Aus-
landes mit in den Kreis der Betrachtung gezogen werden, um alles
Gute, wo es sich auch immer findet, der eigenen Schule und dem
eigenen Unterricht nutzbar zu machen.
Also auch einer Art von vergleichender Schulwissenschaft wird die Arbeit der
Monatschrift dienen. Dazu wird die Kenntnis und die Würdigung des Unter-
richtswesens aller Länder, in denen die deutsche Zunge klingt, und auch des
außerdeutschen Schulwesens wesentlich beitragen, wenn die Eigenheiten des ge-
samten deutschen und fremden Lebens in solche Betrachtung gerückt werden, daß
die charakteristischen Unterschiede der eigenen Verhältnisse im Spiegel anders-
gearteter Zustände ausdrucksvoller hervortreten. Es wird also darauf ankommen,
interessante und Ichrreiche Parallelen zu finden und auszubeuten, um daraus für
unser Wirken zu lernen und den Fehler bei unserer Arbeit für die Schule zu meiden,
uns mehr zu dünken als wir sind und uns weniger zu schätzen, als wir wert sind.
Berlin. Adolf Matthias.
Verzeichnis der bis jetzt gewonnenen Mitarbeiter.
Dr. Baer. Professor, Direktor der stiidt Leal-
schule in Kiel.
Adeneuer, Professor. Oberlehrer am städtischen
Gymnasium in Köln.
Dr. Adickes, Oberbürgermeister, Frankfurt a.M.
Dr. Albrecht, Ministerialrat. Direktor des Ober-
Schulrats für Elsass- Lothringen in Strassburg U.
Dr. Althoff. Ministerialdirektor. Wirklicher Ge-
heimer Ober-Regierungsrat in Kultusministerium
Berlin.
Dr. Appel, o. Professor an der Universität Breslau.
Dr. R. Arendt. Professor an «ler öffentlichen
Handelslehranstalt in Leipzig.
Dr. von Arnim. o. Professor an der Universität
Wien.
Dr. Arnoldt. Direktor der kel. Christianeum in
Altona.
Pr. Asbach, Direktor des kel.
Düs-eltleorf.
Dr Auler, Direktor des stäet. Resizyimnastnes in
Dortinunel.
Dr Bagin-ki. ao.
Berlin.
sähre, Direktor der
nach.
Pr. Iris,
Dr. v. Ba mberyu, (ie
(fern Cavaniersitren borers tian
Ir. Banner. Oendienier cm.
nassom ın vonltnurtn MM
Crvinnasitaas in
tı eler Universitat
Pieter
tieit. hral-chub in Kıenz-
Pıiufenseor I Pre, N
Pers poser zul ltir- Khor
1 Grothe.
t sort}. SOV
bil,
Dr. Bardt. Direktor des kel. Joachimthalseben
Gymnasiums in Berlin.
Dr. P. Barth. ao. Professor an der Universität
Leipzig.
Dr. Baumgart, o. Professor an der Universitit
Königsberg i. Pr.
Dr. Baumgartner. o, Professor an der Univer-
sität Breslau.
Dr. theol. Becker, Professor, Oberlehrer am kgl.
Gymnasium in Bonn.
Dr berghoff. Oberlehrer an
realschule in Düsseldorf.
Dr. Bergmann, (reh. Rex.-Rat. o.
der Universität Marburg i. H.
Dr. Bermbach. Oberlelirer an der Handels-Hoch
schule in Köln.
Dr Beamer. Generalsekretär in
Mitel. d. Reiehst. u. d. H. d. Abe.
Beurirer. Oberl. am kgl Gymnasium in Bonn
Dr Beyer. Provinzial-Schulrat in Magdeburg.
D. Dr von Bezold. o. Professor an der Univer:
ait Bonn.
Dr. A. Diese. Professor, Direktor des kel Gym
nasiumes in Neuwied,
Dr, Blind Professor an der
Köln,
der städt. Ober-
Professor an
Düsseldorf
Handelssehule 1
11
au, Professor, Uberlehrer am kgl. Pro- .
siun in Pr.-Friedland.
ch. Geh. Reg.-Rat. o. Hon.-Professor an
versität Berlin. Direktor des statistischen
der Stadt Berlin.
e, Direktor der städt. Adlerflychtschule
nkfurt a. M.
me. Oberlehrer am fürstl. Gymnasium
ıleiz.
ler Borght. Geh. Reg.-Rat und vortrag.
Reichsamt des Innern. Professor in Berlin.
cowsky. Oberlehrer ain kgl. Kadetten-
Gross-Lichterfelde.
ier, Direktor des städt. Realgvmnasiums
erfeld.
inger, Fabrikdirektor in Elberfeld. Mit-
des Hauses d. Abg.
ıdl, o. Professor an der Universitit
8. Oberlehrer an der städt. Realschule
ttbus.
ter. Geh.
nnover.
‘tsehn vider, Professor,
ıymnasium in Insterburg.
ikmann, o. Professor an der Universität
sberir i. Pr.
:ks. Provinzial-Schulrat in Schleswig.
‘kner. Oberlehrer am kyl. Prinz Heinrich-
asinm in Schöneberg b. Berlin.
hn, Oberlehrer am städt. Goethe-Gym-
nin Frankfurt a. M.
'heler. Geh. Reg.-Rat, o. Professor an
niversität Bonn.
bring, o. Professor an der Universität
Reg.-Rat, Provinzial-Schulrat
Oberlehrer am
:hmann. Geh. Reg.-Rat. Provinzial-Sehul-
Coblenz.
olt. o.
yen.
lf Busse, Professor am städt. Friedrich-
asinm in Berlin.
usse. Professor. Oberlehrer am kyl. Wilh.
asium in Berlin.
se, 0. Professor an der Universität Königs-
. Pr.
‚elle, Professor. Direktor
‚I in Thannover.
», Oberlehrer an der Realschule der [sraeli-
n Relirionsgesellschaft in Frankfurt a.M.
er. Professor, Direktor des städt. Gvin-
ns in Düsseldorf.
ritius. Professor. Oberlehrer kel.
sium in Landsberg a. d. W.
n. o. Professor an der Universität Leipzig.
sen. Professor, Oberlehrer am herzogl.
ı Gymnasium in Braunschweig.
lmann, Provinzial-Sehulrat in Danzig.
‚sen, Oberlehrer am Bismarck -t
. Wilmersdorf b. berlin.
"ramer, Oherlehrer am stidt. Gymmnasimmn
issellorf,
‚remer. Konz Rat, 0.
ırsjtät Greifswald.
nemann, Direktor der
rınen
ters, Rew
blenz.
Professor an der Universität
des städt. Ly-
am
ASHES Een
Professor an der
städt. Realschule
(ieh. „Rat. Provinzial-Schulrat
Dr. Denicke, Pirektor der städt. Realschule in
Rixdorf.
Dr. Dennert, Lehrer am evangel. Pädagogium in
Godesberg.
Oe o. Professor an der Universität
ie
Dr. Deuticke, Professor, Oberlehrer am städt.
Humboldt-Gymnasium in Berlin.
Dr. Diekmann, Direktor der städt. Ober-Real-
schule in Köln.
Dr. Dilthev. Geh. Reg.-Rat, o. Professor an der
Universität Berlin.
Dr. Dittrich, o. Professor am Lyceum-Hosianam
in Braunsberg. Mitgl. d. H. d. Abgeordneten.
Drenekhahn, Direktor (es stüdt. Gymnasiums
in Mühlhausen (Pr. Sachsen.)
Dr. Duden, Direktor des kgl. Gymnasiums in
Hersfeld.
Dunker, Oberlehrer
Hadersleben.
am kgl. (ivymnasium in
‚ Dr. von Dyck, o. Professor an der Technischen
' Dr.
Hochschule in München.
Dr. Ebeling, Oberlehrer a. d. 4. stiidt. Realschule
in Berlin.
Dr. Elster, Geh. OÖ. Reg.-Rat und vortr. Rat im
Kultusministerium Berlin.
Dr. Elster. Professor, Oberlehrer am herzogl.
Gymnasium in Wolfenbüttel.
Erbe, Rektor des kgl. Gymnasiums in Ludwigs-
burg,
Dr. Erdmann, 0. Professoran der Universität Bonn.
Eucken, Geh. Hofrat, o. Professor an der
Universität Jena.
Dr. Eulenburg, Geh. Medizinalrat, ao. Professor
an der Universität Berlin.
Evers, Professor, Direktor des städt. Gymna-
sinms in Barmen.
Dr. Fauth, Professor. Direktor des städt. u. kgl.
Gymnasiums in Höxter.
Fiedler, Zeichenlehrer am kerl.
Flensburg.
Dr. Finke, o. Professor an der Universität Frei-
burg i. Br.
Dr. Flügge. Geh. Med.-Rat, v.
Universität Breslau.
Dr. Richard Foerster, Geh. Reg.-Rat, o. Prof.
a. d. Universität Breslau.
Franck, Professor u. Lehrer an der kgl. Kunst-
schule in Berlin.
Dr. Fränkel. Prof, an der Universität Halle a. S.
Dr. Franz. Direktor des städt. Matthias Claudius-
Gymnasiums in Wandsbek.
Dr. Freudenthal, o. Professor
„ität Breslau,
Dr. Friedel, Provinzial-Schulrat in Stettin.
Dr. Fries. (ieh. Reg.-Rat, Direktor der Franeke-
schen Stiftungen, o. Han. -Professor an der Uni-
versität Halle als,
Dr. Fritzsehe. Professor,
Berlinischen Gymnasium
in Berlin.
Dr. Fuchs. treh
versitäit Berlin
Dr. F iene rs Professor, Oberlehrer am kgl. Kais.
Wilh. Gymnasium in Hannover.
Dr. Bruno Gebhardt, Professor an der 4. städt.
"Realschule in Berlin.
(zymnasium in
Professor an der
an der Univer-
Oberlehrer am stidt.
zum grauen Kloster
Rep.-Rat. o. Professor a. d. Uni-
Dr. hon. (seitel. Professor, Oberlehrer am her-
z0gl. Gymnasium in Wolfenbiittel.
Dr. Genniges, Direktor des kel.
in Konitz.
Dr. Genz, Professor. (reh. Reg.- n. Prov.-Schulrat
in Berlin.
Dr. Gercken. Professor,
Realgymnasium in Perleberg.
Gerschmann, Oberlehrer am
nasium in Königsberg i. Pr.
Dr. Gey er. Professor, Oberlehrer am stält. Gvin-
nasium in Dor tmund.
Dr. Gneisse, Professor. Oberlehrer
Lyceum in Strassburg i. E.
Dr. Goebel. Geh. Reg.-Rat. Gvmnasialdirektor a.
D.. Mitgl. d. H. d. Abg. Fulda.
Dr. Goldbeck. Oberlehrer am
städt. (rymnasium in Berlin.
Dr. Goldscheider, Professor,
stiidt. Gymnasiums in Mülheim (Ithein.)
Gymnasiums
städf. Realgyın-
am kaiserl.
stiidr. Luisen-
Gossner, Regierungs-Rat, Justitiar u. Verwaltungs- -
rat im Prove Sehulkoll. in Coblenz
Grimm, Stadtrat, Frankfurt a. M.
Dr. Gropp, Professor. Direktor der städt. Ober-
realschule in Charlottenbur
Dr. Grosse, Geh. Ree.-Rat. Pı ‘ofessor, Direktor
des kel. Wilh, Gymnasinmmms in Königsberg i. Pr.
Gruhl, Geh. Ober-Revierungsrat und vortragender
Rat im Kultnsministerium Berlin.
Dr. Griinbaum, Prof... Oberlehrer an
Ritterakademie in Brandenburg a. HL.
Dr. Gruppe, Professor am stadt. Askanischen
Gymnasium in Beriin.
Dr. Halfmann,
Eisleben.
Dr. RB. Hanncke, Professor.
Gymnasium in Köslin.
D. Dr. Harnack. o. Professor an der Universität
Berlin.
Dr. Harniseh,
Cassel.
Dr. med. A. Hartmann in Berlin.
Dr. Hauck, Geh. Rer.-Rat, Professor an der Tech-
nischen Hochschule in Charlottenburg.
Dr. Ad. Hanffen. ao. Professor an der deutschen
Universität in Prag.
Dr. Hauskneeht. Professor. Direktor
Ober-Realsehule in Kiel.
Dr. Hechelmann. Geh.
Schnlrat in Münster.
Dr. Heidrieh. Professor, Direktor des kul. Gvin-
nasiums in Nakel.
lleinriech, Oberlehrer
in Sonderbur:r.
Dr. Henke, Professor.
in Bremen.
der kel.
Oberlehrer am kel,
Direktor der stidt. Realschule in
der stäcdt.
Ree.-Rat.. Provinzial-
an (der städt. Realschule
Direktor des Gymmasinms
Dr. Hense. Professor, Direktor des kel. Gym-
_nasiume in Pirlerborn.
Dr. Hermann, Professor, Oberlehrer am städt.
Ask: anischen (rvmmasinm in Berlin.
D. Dr. Herrmann. o. Professor an der Univer-
sität Marbure i. Hl.
Dr. Heubaum. Oberlenrer am
Gymmasinn in Berlin.
Dr. IHeynacher. Professor, Direktor des kel.
Gymnasium Andreantms in Jlildesheim
Heyne, Professor. Oberlehrer ain stäct. Palk-Real-
gymnasium in Berlin.
stiilt. Lessine-
Oberlehrer am kyl. /
Direktor des ©
Direktor der stidt. Realschule in:
Dr. Heyne. Geh. Reg.-Rat, 0. Professor an de
Universität Göttingen.
Dr. Hintzmann, Direktor der städt. Oberrea
schule in Elberfeld.
Dr. van Hoffs, Professor.
Gymnasium in Coblenz.
Dr. A. Hifler, k. k. Schulrat. Professor a
Gymnasium d. k. k. Theresianischen Akademi
Privatdoeent an der Universität Wien.
Dr. Holfeld, Professor, Prov. Schulrat in Bresla
Dr. Holthausen. ao. Professor an der Unive
sität Kiel.
Dr. Holzmüller. Professor, Realschul-Direkt
a. D. in Hagen i, W.
Dr. Holzw eissig. Direktor des kel. Dom-Gyn
nasiums in Magdeburg.
Dr. Höpfner, Geh. Ober-Reg.-Rat,
Universität "Göttingen.
Dr. Hubatseh, Direktor des
nasiums in Charlottenburg.
Dr. Huckert. Professor, Oberlehrer
Kealevinnasium in Breslau.
Dr. Joh. IInemer. k. k. Hofrat u. Landesschul
inspektor im Ministerium für Kultus u. Unter
richt in Wien.
Dr. Huther, Gymnasialoberlehrera.D.. Heidelberg
Dr. Jaever, Geh. Reg.-Rat. o. Hon.-Professor ar
der Universität Bonn.
Dr. Jahnke, Direktor der
Brüssel.
Dr. Jansen. Professor, Direktor des stärlt. Real
Gvinnasiums in Münster i. W.
Dr. Imelmann. Professor, Oberlehrer am kal
Joachimthalschen Gymnasium in Berlin.
Dr. Jonas, Direktor des kgl. Gymnasiums in
Köslin.
Dr. Irmer, Professor, Redaktear der Kreuzzeitung.
Mitel. d, H. d. Abg. in Berlin.
Dr. Karri. o,f Professor an der Universität in
"zürich.
Dr. Kaiser, Provinzial-Sehulrat in Kassel.
Dr. Kammer, Ober- u. Geh. Reg.-Rat, Professor.
Dir. des Kgl Provinzial-Schul-Kollegiums in
Koniesberg i. Pr.
D. Dr. Kautzseh. o.
Halle.
D. Kawerau, Konsist.-Rat. 0.
Universitit: breslan.
Dr. Kehr. Direktor der kel. Ritter- Akademie ıD
Brandenburg a. H.
Dr. Kettner. Professor. Oberlehrer
L.andesschule Pforta.
Dr. Kiepert, Geh. Rer.-Rat. Professor
Technischen Toehsehule in Hannover.
Dr. J. Kiesslinge. Professor am Johannenm in
Hamburg.
Dr. Kirchhoff.
Halle a. 8.
Dr Kirchner, Geh. Ober -Med.-Rat um vortr.
Rat i. Knltusministerinim, ao. Professor an der
Universitit) Berlin.
Dr. Klatt. Professor. Oberlehren aim städt. Lessing
Gvinnasium in Berlin.
Oberlehrer am kg
Kurator de
stiidt. Realgym
am städt
deutschen Schule ir
Professor an der Universität
Protessor an der
an der kgl.
an der
o. Professor an der Universität
Dr. Klein. Geh. Rew-Rat. o. Professor an det
Universität Gottingen.
D. Dr. Kleinert. Ober Kons. Rat. a. Professor
an der Universität Berlin.
e. Konsist.-Rat, Professor der
sität Göttingen.
Kobilinski. Oberlehrer am Wilhelms-
sium in Königsberg i. Pr.
3ldewey, Sehulrat. Prof., Direktor des
»-Katharineum in Braunschweig.
önig. o. Professor an der Universitit
Qa, an
se. Geh. Ober-Reg.-Rat nnd vortrag.
Kultusministerium Berlin.
hwitz, o. Professor an der Universität
wi. TL
r. Geh. Ober-Reg.-Rat, Gen.-Direktor d.
itsarehive und des Geh. Staatsarehivs
‘tenburg.
ister, Professor, Oberlehrer am Real-
sium in Iserlohn.
er, 0. Professor an der Universität
chmann., Direktor des kyl. Gvinnasiums
rAT La
‘rg. Oberlehrer am städt. Gymnasium in
lorf,
13
tzer, Oberlehrer am kel. Friedr. Wilh - .
slum in Cöln.
‚atscheck. Professor, Chef-Redakteur
uzzeitung, Mitgl. d. H. d. Abg. in Berlin.
er, Professor, (ieh. Schulrat in Dessau.
2, ao. Professor an der Universität Bonn.
e. Geh. Reg-Rat in Danzig.
er, (ich. Reg-Rat. Professor, Direktor
. Wilhelms Gymnasiums in Berlin.
n. Zeichenlehrer am stidt. Realeym-
in Altona.
. Professor. Oberlehrer am kel. Real-
Jum in Wiesbaden,
emann, ao, Professor an der Universitit
vr ı. 11.
+, Oberlehrer am kgl. Luisen-Gymmasium
in.
ahmever, Ober und Geh. Rer.-Rat.
7 des | Provinzial-Sehalkollegiums in
Professor, Direktor des städt. Real-
lums in Barınen.
rerhirt, Oberlehrer am Gymnasium in
re.
rw. treh. Rew-Rat Professor an
when Hochschule in Charlottenburg.
recht. o. Professor an der Universität
der
erat. Professor am Wilh.-Gyinnasium in
Vt.
sberg. Ober am kel Gyinnasium in
1 0, Pr.
. Direktor des städt.
TWintasiiimns in Berlin.
Friedrich Lange, Redakteur der Deut-
„tung in berlin.
‘oa, Professor asd Universität Tübingen.
Friedr. Wertder-
Vite. Professor, Oberlehrer am herzosel.
din Ernestinmm in Gotlia.
Direktor des städt. Johannes-Gymna-
ı Breslau.
"lotz. Direktor des kgl. Gvienasiums
wertel,
Dr. Rudolf Lehmann, Professor, Oberlehrer ain
städt. Luisenstädtischen Gymnasium, Privat-
docent an der Universität Berlin.
Max Lehmann, (ieh. Reg.-Rat, o. Pro-
fessor an der Universität Gottingen.
Dr. R. Lehmann, o. Professor, an der Akademie
in Münster i. W.
Lie. Dr. Leimbach, Prov.-Schulrat in Hannover.
Leitritz. Oberlehrer am kgl. Marienstiftsgymna-
sium in Stettin.
Dr. Lenssen, Prof, Prov.-Schulrat in Hannover.
Dr. Lentz. Professor, Oberlehrer am kgl. Gym-
nasium in Rastenburg.
Dr. Leo. o. Professor an der Universität Göttingen.
Dr. Leonhard, Prof., Oberlehrer am Bismarck-
(Gymnasium in Dt. Wilmersdorf b. Berlin.
Dr. Leuehtenberger. Geh. Reg.-Rat, Direktor
des kgl. Friedr. Wilh.-Gymnasiums in Cöln.
Dr. Lexis, Geh. Reg.-Rat, o. Professor an der
Universitit Göttingen.
Dr. Liedtke, Oberlehrer am städt. Realgvmnasium
in Barmen.
Dr. Lindner. (ieh. Reg -Rat. o. Professor an der
Universität Halle a. S.
Dr. Lingen, Professor, Oberlehrer am städt. Gym
nasium in Diisseldorf. -
Dr. Lipps. o. Professor an der Universitit München.
Dr. Litzmann, o. Professor an der Universitit
Bonn.
Loeber. Professor, Direktor des kyl. Gvinnasiums
in Kiel.
Dr. Loos, k. k. Landesschulinspekt. zu Linz a. d.D.
Dr. Lorentz, Oberlehrer am kel. Gymnasium in
Dr.
Sorau.
Dr. Lorenz, o. Professor an der Universität Jena.
Loew. Professor, Oberlehrer am kgl. Kaiser
Wilhelm-Realgyimnasium in Berlin.
Liideling. ständiger Mitarbeiter am Kgl.
Meteorologischen-Magnetisehen Observatorium
in Potsdam.
Dr. Ludwig. Geh. Reg.-Rat. 0. Professor an der
Universität Bonn.
l.utseh. Direktor kel.
Kreuznach.
Dr.
dex (ivinnasiums in
Dr. Mangold, Professor, Oberlehrer am städt.
Askanischen Gymnasium in Berlin.
Dr. Mareks, 0. Professor an der Universität
Heidelberg.
Dr. Friedr. Mareks, Oberlehr. am kel. Friedrich
Wilhelms-Gymmasium in Kol.
Martius, o. Professor an
Kiel.
Masbere. Professor, Direktor der städt. Real-
schule in Düsseklort.
Matthaei. ao. Professor an der Universität
Kiel.
Dr. Matthias. Geh. Ree Rat nm. vortrag. Rat im
Kultusministeriam Berlin.
Manrer, Direktor der
in Saarbrücken.
Dr. Meiners, Oberlehrer ion stiidt. Gymnasium in
K.lberreld.
Dr. Meinertz,. Geh. Oher-Regierungsrat u. vor-
tragrender Bat im Kultu-ministerium Berlin.
Meltzer. Professor, Rektor Wettiner
(rvinnasiums in Dresden.
Dr. Menge, Direktor des stidt. Progvmmasiums in
Boppard.
Dr. der Universität
Dr.
kel.
Dr. Oberrealsehule
des
Dr
Dr. Mertens, Direktor des stüdt. Progymnasiums |
in Briihl.
Dr. Metger, Prof. am kgl. Gymnasium in Flens- |
burg, Mitgl. d. II. d. Abe.
Dr. Meusel. Professor. Direktor
Köllnischen Gymnasiums in Berlin.
Dr. Mev. Oberlehrer am städt. Gymnasium
Dortmund.
Dr. Meyer, Professor, Direktor des städt. Luisen-
städtischen Realgymnasiums in Berlin.
Dr. Meyer, Prov.-Schulrat in Coblenz.
Dr. Michaelis. Prov.-Schulrat in Berlin.
Dr. Milkau, Ober-Bibliothekar a. d. Universitiits-
Bibliothek, Hülfsurbeiter im Kultusministeriun
Berlin.
Mohn, Professor an der kgl. Kunstschule in Berlin.
Moldenhauer, Professor. Oberlehrer am kgl.
Friedrich Wilhelms-Gymnasium in (’öln.
Dr. Montag, Geh. Reg.-Rat. Provinzial-Schulrat
in Breslau.
des städt.
in
Dr. Morsbach, o. Professor an der Universität
Göttingen.
Dr. Mücke, Professor. Direktor d. kgl. Kloster-
schule in Ilfeld.
14
Dr. Peters, Öberlehrer am kgl. Gymnasium in
Düsseldorf.
Dr. Peters, Reg.-Assessor, Verwaltungs-Rat und
Justitiarius Prov.-Schulkoll. in Posen.
Dr. Petersdorff, Direktor des kgl. Gymnasiums
in Strehlen.
Dr. Pfuhl, Professor, Oberlehrer am kyl. Marien.
Pietzker, Professor, Oberlehrer am kpl.
. Dr.
Dr. Muff, Professor, Rektor der kgl. Landesschule ©
Pforta.
Mülder. Öberlehrer am kgl. Gymnasium An-
dreanum in Jlildesheim.
Dr. Müllenhoff, Professor, Direktor der 7. Real-
schule in Berlin.
Dr. H. Müller, Professor. Direktor des städt.
Luisenstädt. Gymnasiums in Berlin.
Dr. Münch, (ieh. Ree.-Rat, o. Hon. Professor
an der Universität Berlin.
Dr. Nath, Oberlehrer. schultechnischer Mitarbeiter
im Provinzial-Schulkollegium in Berlin.
Dr. Natorp,_o. Professor an der Universitit
Marburg i. H.
Dr. Nelso: n. Professor, Prov.-Schulrat in Coblenz.
Dr. Neubauer, Oberlehrer an der lat. Haupt-
schule in Tlalle a. 8.
Dr. Nieberding, Provinzial-Schulrat in Breslau.
Dr. Nissen, Geh. Ree-Rat, o.
Universität Bonn.
Dr. Noack, Professor, Direktor des städt. Real-
Gymnasiums in Frankfurt a. ©,
Nodnagel, Geh. Ober-Schulrat in Darmstadt.
Dr. Norden, o. Professor an der Universität
Breslau.
Dr. Norrenberg. Oberlehrer.
Mitarbeiter am Prov.Schulkollerium in Posen.
J. Omura, Professor an der kaiserl.
in Tokyo.
Dr. Ostermann, Provinzial-Sehulrat in Breslau.
Dr. Otto, Provinzial-Schulrat in Cassel,
Dr. Paehler, Geh. Rer.-Rat. Prov.-Schulrat
Cassel,
Dr. Paetzoldt. kel.
in Brie.
Professor an der
in
Direktor des (iynmasinms
Pr. P: abide ‚ Vberlehrer ame stidt. Realevmnasinm
in Krefeld,
Dr. Pallat, Professor. Musenms- Vorsteher, Tlilfs-
arbeiter iin Kultusmini-ter.um berlin
Dr. Paulsen. oe. Professor an der Universität
Berlin.
Dr. Perle, Direktor der stäidt. Oberrenlschule
in Halberstaelt.
gvinnasium in Posen.
Gym.
nasium in Nordhausen.
Pilger. Geh. Reg.-Rat,
Berlin.
D. Polte, Geh. Reg.-Rat, Prov.-Schulrat in Posen
Dr. Poske, Professor, Oberlehrer am städt
Askanischen Gymnasium in Berlin.
Dr. Puls, Oberlehrer am kel.
Christianeum in Altona.
Quade, Professor, Direktor des kgl. Gymnasium:
in Meseritz.
Dr. Quiehl. Direktor
in Kassel.
Prov.-Schulrat ın
(ymnasiun
der städt. Oberrvealschul:
Quossek, Direktor der städt. Ober-Realschule
in Kreteld.
: Dr. Ratzel, o. Professor an der Universität
Leipzig.
Dr. Rehmke,. o. Professor an der Universitit
Greifswald.
»chulteehnischer —
Adelsschule —
Dr. Rehrmann, Professor, Stutiendirektor an der
Haupt-Kadettenanstalt in Gr.-Lichiterfelde.
‚ Dr. Rein, Geh. Reg.-Rat, o. Professor an der
Universität Bonn.
Dr. Reinhardt, Professor, Direktor der 2. Real-
schule in Berlin.
Dr. Reinhardt, (ieh. Reg.-Rat. Direktor des
städt. Goethe-Gymnasiums in Frankfurt a. M.
Dr. Reinke, Geh. Reg-Rat, o. Professor an der
Universität Kiel.
D. Reischle, vo. Professor an der Universität
Halle a. S,
tethwisch. Professor, Direktor des kel.
Kaiserin-Augusta-Gvinnasiums i. Charlottenburg.
Dr. Reuter, Direktor des kyl. Gymnasiums in
Demmin.
Dr. Riehter, Professor. Direktor des
Heinrich-Gyninasinms in Schöneberg.
Dr. Riehl, Hofrat. o. Professor an der Univer:
‘sitiit Halle a. S,
. Ritter. Geh. Reg.-Rar, o.
Universität Bonn.
Dr. Rothert, Gymnasial-Professor in Düsseldorf
Dr. Rothfuchs, Geh. Reg.-Rat, Provinzial-Schulra!
in Münster i. W.
Dr. Sachau, Geh. Reg.-Rat, Direktor des Seminar
fiir Orient.-Sprachen, o. Professor an der Uni
versität Berlin.
Suchse, Reg.- u. Schulrat in Hildesheim,
von Sallwürk, Geh. Hofrat, Mitglied de
Ober-Schulrats in Karlsruhe.
Sander, Schulrat der freien Hansestadt Breinen
Dr. Sattler. Geh. Item. -Rat, Direktor der Staats
Archive in Berlin, Mitgel. d. H. d. Aber.
Dr. Schaarschmidt. Geh. Reg.-Rat, Bibl.-Direkt
a.D. o. Hon. Professor an der Universität Bonn
Schäfer, Professor, Direktor des städt. Lyceum I
in Hannover.
Schäfer. o.
Heidelberg.
Dr.
kel. Prinz
Dr Professor an det
Dr.
Dr.
Dr. Professor an der Universiti
schaube. Professor, Oberlehrer am kgl. Gym-
nasium in Brieg, Mitgl. d. H. d. Abg.
Schilling, Professor, Oberlehrer am kgl.
nasium in Glogau.
Dr. Schlee, Geh. Reg.-Rat, Direktor des städt.
Realgymnasinms in Altona.
Ir. Schlemmer, Oberlehrer aın kgl. Gymnasium
in Treptow a. R.
Gym-
Ir. Schmidt, Geh. Ober-Reg.-Rat u. vortr. Rat
im Kultusministerium Berlin.
Ir. Schotten. Direktor der städt. Oberreal-
schule in Ifalle a. S.
Ir. O. Schrüder, Professor, Oberlehrer am kgl.
Jonchimthalschen Gyinnasium in Berlin.
Dr. Schröder, o. Professor an der Universität
Marburg i. H.
Dr. Schulte, o.
Breslau.
Ir. Schulte-Tigges. Direktor des städt. Real-
gymnasiums in Lüdenscheid.
Dr. P. Schultze, Professor. Oberlehrer am ker.
W ilhelmsgymnasium in Berlin.
Dr. G. Schulze. Direktor des
Gymnasiums in Berlin.
Dr. Schwering, Professor, Direktor (des kel-
Aposteln-Gymnasiums in Köln.
Schwertzell, Direktor des
nasiums in Solingen.
Professor an «der Universität
kel. Französ.
Dr. städt. Gym-
D. Seeberg, o. Professor an der Universität
Berlin.
Dr. Sieglin. o. Professor an der Universität
Berlin.
Dr. Simon. Professor, Oberlehrer am kaiserl.
Lyeeum in Strasshure i. E.
Dr. Slaby, Geh. Reg.- Rat, Professor an der Teeh-
nischen Hochschule in Charlottenburg.
Dr. Spiess. Direktor des städt. Gymnasiums in
Bochum.
Dr. Stiickel, ©. Professor an der Universität
Kiel.
Dr. Stahl, (Geh. Reg-Rat, o. Professor an der
Ak: idemie Münster i. W.
Dr. Steinbart, Direktor des stält. Realgvin-
nasiums in Duisburg.
Steineeke, Direktor
nasining in Esse nN.
Dr. Stimming. o. Professor an der Universität
Göttingen.
Dr. Storck, Geh. Reg.-Rat, o.
Akademie Münster i. W.
Dr. Strauch, o. Professor
Halle a. S.
Dr. des stiidt. Realgym-
Professor an der
an der Universität
Dr. Stutzer, Professor, Direktor des stiidt. Gym-
nasiuns in Gorlitz.
Dr. Suchier, o. Professor an der Universität
Halle a. 8.
Dr. Tendering, Professor, Direktor des Real-
gy mnasiums des Johannemms in Hamburg
Thalheim, Provinzial-Nehulrat in Breslau.
Dr. Thome, Professor, Direktor der stärlt.
schule in Köln.
Tilmann. Regierungsassessor,
Kultusministerium Berlin.
Dr. Trautmann. o. Professor an der Universität
Bonn.
Trosien, Geh. GQher-Ree.-Rat, Direktor des Prov.-
Schulkollegiums in Magdeburg.
Real-
llilfsarbeiter im
Dr. Uibrich,
‘ Dr. Volkelt,
Dr. Tschirch, Oberlehrer am städt.
nasium in Brandenburg a. H.
Professor, Direktor des städt.
Dorotheenstädt. Realgyınnasiums in Berlin.
Dr. Vaihinger, o. Professor an der Universität
Halle a. S.
Viehoff, Direktor der städt. Oberrealschule in
Düsseldorf.
Dr. Viereck, Professor, Oberlehrer an der städt.
Oberrealschule in Braunschweig.
Dr. Viertel. Professor, Direktor des kgl. Gym-
nasiums in (zöttingen.
Dr. Vogel, Geh. Reg.-Rat und Prov.-Schulrat in
Berlin.
D. Dr. Vogel. Gel. Schulrat in Dresden.
Dr. Vogt, o. Professor an der Universität Breslau.
Dr. Voigt, Professor, Stadt-Schulrat in Berlin.
o. Professor an der Universitit
Reagym-
Leipzig.
Dr. Wagner, Geh. Reg.-Rat, o. Professor an der
Universität Göttingen.
Waldeck, Professor, Oberlelirer am fürstl. Gym-
nasium in Corbach.
Walter, Direktor der stiidt. Musterschule in
Frankfurt a. M.
Dr. Walter, o. Professor an der Universität
i. Pr.
Konigsbery
Dr. Wangerin. o. Professor an der Universität
Halle a. S.
Dr. Waetzoldt. Professor, Geh. Reg.-Rat und
vortr. Rat im Kultusininisterium Berlin.
Wehrmann. Direktor der städt.
realschule in Bochum.
0. Weise, Professor, Oberlehror am herzogl.
Gymnasium in Kisenberg >. -
D. Dr. Weiss, Wirkl. Ober- Kons.- Rat, Pro-
fessor an der Universität Berlin.
Dr. Weissenfels. Professor, Oberlehrer am kgl.
Französischen Gymnasium in Berlin.
Dr. Weisweiler, Direktor des kgl. Gymmasiums
in Münstereifel.
Dr. Wellmann, Oberlehrer am kgl. Marienstifts-
Gym tim in Stettin.
Dr. Wendland. Oberlehrer am städt. Köllnischen
Gymnasium in Berlin.
Dr.
D
Dr.
Dr.
Ober-
0.
Wendt, Geh. Rat, Oberschulrat. Direktor des
erossherzogl Gvninasiums in Karlsruhe i. D.
r. Weniger, Geh. Hofrat. Direkror des gross-
herzogliehen Wilh. Ernestinischen Gymnasiums
in Wennar.
Wernieke, Direktor der städt Oberreal-
schule, Professor ander Teehnisehen Hochschule
in Braunschweig
Dr. Wessel, Professor,
nasiums in Wittstock.
Wetekamp, Oberlehrer am städt.
z. heil. Geist in Dreslau, Mitel. dl.
Dr. Wetzel. Protessor, Direktor des
nasiums an Marzellen ın Köln,
Wickenhagen, Protessor,. Oberlehrer
Gyınnasium in Rendsburg.
Widmann. Direktor
in Iladlamar.
von Wilamowitz-Moellendorff, Geh.
teg.-Rat, o. Professor an der Universität Berlin.
r. Wilinanns, (ich. Rer.-Rat. vo. Professor an der
Universitit Bonn.
Dr.
Direktor
des kel. Gym-
(ivinnasium
Ii, d. Abg.
kel. (iym-
kgl.
tin
Dr. des kel. Gymnasiums
Dr.
D
Dr. Wimmenauer, Professor, Oberlehrer am
kg). Gymnasium in Moers.
Dr. Wissowa, o. Professor an der Universitit
Halle a. S.
Dr. Wohlrab, Professor. Oberschulrat, Rektor
des kel. Gymnasiums in der Neustadt Dresden.
Wolff, "Professor. Direktor der kel. Domsehule
in Schleswi ig.
Dr. Wossidlo, Geh. Ree.-Rat. Gymnasialdirektor
a. D. in Tarnow itz.
Dr. Wulff, Professor, Oberlelrer am stiidt. Goethe-
Gymnasium in Frankfurt a. M.
16
lr. Zange, Professor, Direktor des kgl. Realgym
nasiums in Erfurt.
Dr. Zehme, Direktor des städt. Gymnasiums it
Stendal.
Dr. Ziegler, o. Professor
Strassburg i. E.
Dr. Ziehen, Oberstudiendirektor des kgl. Kadetten
korps Berlin.
an der Universita
Dr. Ziemer, Professor, Oberlehrer am kgl. Gym
nasium in Kolberg.
Inhalt des soeben erschienenen ersten Heftes:
Zur Einführung von Geh. Reg.-Rat Dr. A.
Matthias in Berlin.
I. Abhandlungen.
Die Gleichwertigkeit der Gymnasien, Realgymnasien und Oberrealschulen
aui dem Gebiete
der ethisch bedeutsamsten Lehrfächer von Professor Dr. P. Geyer in Dortmund.
Die Geschichte des ersten preußischen Schulgesetzentwurfes von Oberlehrer Dr. A. Heubaum
in Berlin.
Die Erziehung zum Urteil von Geh. Reg.-Rat Professor Dr. W. Münch in Berlin.
Zur römischen Kaisergeschichte von Oberlehrer Dr.
I, Kreutzer in Köln.
Zur Behandlung der römischen Kaisergeschichte auf der Schule von Professor D. Dr. A.Harnack
in Berlin.
Die Frage
in Frankfurt a. M.
Il. Bücher-Besprechungen. -
der Gymnasial- und Realschulbildung in Frankreich von Oberlehrer Dr. J. Caro
III. Vermischtes.
Unterzeichneter bestellt hiermit bei der Buchhandlung von
Monatschrift für höhere Schulen,
An
Herausgegeben von
Dr. R. Köpke, (ieh. Ober-Reg.-Rat und Dr. A. Matthias,
Geh. Reg.-Rat.
tür das Jahr 1902. 1.
Probeheft gratis.
Vortragenden Raten im Kyl.
(Verlag der Weidmannschen Buchhandiung in Berlin.)
Preuss. Kultusministerium.
Jahrgang.
bo zıma.
ve von Gy Varela ow BaUn.
Verlag der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin.
Soeben erschien:
POETARUM GRAECORUM FRAGMENTA
AUCTORE U. DE WILAMOWITZ-MOELLENDORFF COLLECTA.
VOLUMINIS III FASCICULUS PRIOR:
POETARVM PHILOSOPHORVM™
FRAGMENTA
EDIDIT
HERMANNVS DIELS.
gr. 8. (VIII u. 270 S.) geh. 10 M.
Vol. I. Poetae heroici, ed. Bethe.
II. Poetae sacri.
l. oracula, ed. E. Schwartz.
2. orphica et mystica, ed. A. Dieterich et W. Kroll.
+ III. 1. Poetae philosophi, ed. II. Diels 1901. (VIII u. 2708.) 10M.
2. Elegiaci et iambici, ed. W. Schulze.
N Lyric, ed. U. de Wilamowitz-Moellendorff.
V. Tragici,
VI VIL Comici.
+VI. 1. Doriensium comoediae inimi phlyaces,
ed. G. Kaibel 1899. (VIII u. 256 S.) 10 M.
*2, atticorum prisca comoedia, ed. G. Kaibel.
VII. Atticorum media, nova comoedia.
VIII. IX. Poetae aetatis Hellenisticae, ed. G. Knaack.
X. 1. Poetae aetatis Romanae, ed. E. Oder.
2. Proverbia, lusus aenigmata etc.
3. Adespota.
XI. Carmina e lapidibus collecta.
XII. Indices.
Volumina cruce notata sunt edita, asterisco notata ab editoribus
propemodum perscripta mox prelo tradentur.
Verlag der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin.
Soeben erschienen:
GRIECHISCHES LESEBUCH
VON
ULRICH VON WILAMOWITZ-MOELLENDORFF.
I. Text. | Il. Erläuterungen.
Erster Halbband. Erster Halbband.
gr. 8 (XI u. 180 S.) Geb. M. 2.60. | ur. 8. (IV u. 126 8S.) Geb. M. 2.—.
Zweiter Halbband. | Zweiter Halbband.
gr.8. (IV u. S. 181—402.) Geb. M.2.80.| gr. 8. (IV u. 8. 127—270.) Geb. M.2.—.
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9018 02760 8853